Die literatur- und kulturwissenschaftliche Studie geht von der These aus, dass die Identiät der spanischen Aufklärung in
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German Pages 372 Year 2009
Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
EINLEITUNG
1. Fragestellung und Methode
2. Identität, Literatur und literarische Evolution
3. Textauswahl und thematischer Aufriss
ERSTER TEIL. KULTUR- UND LITERARHISTORISCHE RAHMENBEDINGUNGEN
1. Die Schlüsselrolle des 18. Jahrhunderts
2. Formatoren des Identitätsdiskurses
3. Literatur als Objekt und Medium des Identitätsdiskurses
ZWEITER TEIL. LITERARISCHE INSZENIERUNGSFORMEN DES IDENTITÄTSDISKURSES
1. Benito Jerónimo Feijoo: Teatro crítico universal (1726-1740)
2. Diario de los literatos de España (1737-1742)
3. José Cadalso: Defensa de la nación española contra la „carta persiana LXXVIII“ de Montesquieu (1768/1771)
4. Juan Pablo Forner: Oración apologética por la España y su mérito literario (1786)
5. José Cadalso: Cartas marruecas (1774/1789)
SCHLUSS
LITERATURVERZEICHNIS
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Christian von Tschilschke I DE NT I T Ä T DE R A U F K L Ä RU NG / A U F K L Ä RU NG DE R I DE NT I T Ä T Literatur und Identitätsdiskurs im Spanien des 18. Jahrhunderts
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LA CUESTIÓN PALPITANTE LOS SIGLOS XVIII Y XIX EN ESPAÑA Vol. 9 CONSEJO EDITORIAL Joaquín Álvarez Barrientos (Consejo Superior de Investigaciones Científicas, Madrid) Pedro Álvarez de Miranda (Universidad Autónoma de Madrid) Philip Deacon (University of Sheffield) Andreas Gelz (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg) David T. Gies (University of Virginia, Charlottesville) Yvan Lissorgues (Université Toulouse - Le Mirail) François Lopez (Université Bordeaux III) Elena de Lorenzo (Consejo Superior de Investigaciones Científicas, Madrid) Leonardo Romero Tobar (Universidad de Zaragoza) Ana Rueda (University of Kentucky, Lexington) Josep Maria Sala Valldaura (Universitat de Lleida) Manfred Tietz (Ruhr-Universität Bochum) Inmaculada Urzainqui (Universidad de Oviedo)
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ID ENT IT ÄT DER AUFKLÄRUNG/ AUFKLÄRUNG DER IDENTITÄT
Literatur und Identitätsdiskurs im Spanien des 18. Jahrhunderts
CHRISTIAN VON TSCHILSCHKE
Vervuert Verlag Frankfurt am Main 2009
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Bibliographic information published by Die Deutsche Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available on the Internet at http://dnb.ddb.de
Alle Rechte vorbehalten © Vervuert Verlag, 2009 Elisabethenstr. 3-9 – D-60594 Frankfurt am Main Tel. +49 69 597 46 17 Fax +49 69 597 87 43 ISBN 978-3-86527-437-3 (Vervuert) Umschlagabbildung: Juan Bernabé Palomino, Retrato de Benito Jerónimo Feijoo, 1781 Umschlag: Marcelo Alfaro
The paper on which this book is printed meets the requirements of ISO 9706
Printed in Spain
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Für Kristin, Jannis und Julian
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INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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EINLEITUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Fragestellung und Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Identität, Literatur und literarische Evolution . . . . . . . . . . . . . 3. Textauswahl und thematischer Aufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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ERSTER TEIL KULTUR- UND LITERARHISTORISCHE RAHMENBEDINGUNGEN 1. Die Schlüsselrolle des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Spanien als Staat und Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schwierige Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die spezifische Differenz der spanischen Aufklärung . . . . . .
49 49 54 58
2. Formatoren des Identitätsdiskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Bewusstsein der Rück- und Randständigkeit . . . . . . . . . . b) Die Präsenz der französischen Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Zerrbild der französischen Aufklärer . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die tabuisierte Kritik an Staat und Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Literatur als Objekt und Medium des Identitätsdiskurses . . . . . .
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ZWEITER TEIL LITERARISCHE INSZENIERUNGSFORMEN DES IDENTITÄTSDISKURSES 1. Benito Jerónimo Feijoo: Teatro crítico universal (1726-1740) . . . . . . a) Das Verhältnis von Aufklärung und Identität . . . . . . . . . . . . . . b) Literatur als Interdiskurs: Feijoos discursos . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Feijoos dreifacher Kulturbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das neue Paradigma der Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Identität der Aufklärung/Aufklärung der Identität
2. Diario de los literatos de España (1737-1742) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kritik an der kulturellenTradition und nationales Bewusstsein b) Medium und Gattung als Foren aufklärerischer Identitätsverhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Nationale und kulturelle Identität als transdiskursive Konzepte d) Der Rekurs auf die Nation als Legitimations- und Machtstrategie 3. José Cadalso: Defensa de la nación española contra la „carta persiana LXXVIII“ de Montesquieu (1768/1771) . . . . . . . . a) Apologie und Replik als kulturelle Symptome . . . . . . . . . . . . . b) Die Geschichte der Verteidigungsschriften – eine Skizze . . . . c) Der 78. Brief der Lettres persanes (1721): doppelte Satire und Emblemcharakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Cadalsos Defensa: Anatomie eines kulturellen Missverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Juan Pablo Forner: Oración apologética por la España y su mérito literario (1786) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Forners dritter Weg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Identitätsstrategien und Entwurf einer spanischen Gegenidentität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Apologie: Bewertung, Funktion, Kontext . . . . . . . . . . . . . . d) Identitätsstiftung zwischen Rhetorik und Dichtung . . . . . . . .
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5. José Cadalso: Cartas marruecas (1774/1789) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Modellimitation und Kontextbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Reflexives Identitätskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Spanien als Afrika Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Narration, Fiktion, Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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SCHLUSS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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LITERATURVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VORWORT
Die hier vorgelegte Studie wurde im Februar 2006 von der Philosophischen Fakultät IV der Universität Regensburg als Habilitationsschrift angenommen. Sie will ihren Teil zu dem seit Jahren steigenden Interesse an der Erforschung der Literatur und Kultur des spanischen 18. Jahrhunderts beitragen, indem sie drei, bisher weitgehend separat behandelte Themenkreise zu einer Epochendiagnose verknüpft: die Frage nach der Spezifik der spanischen Aufklärung, die Entstehung des modernen Literatursystems in Spanien und die für die spanische Kultur insgesamt kennzeichnende Bedeutung der Identitätsproblematik. Dafür, dass diese Studie auf den Weg und dann auch im zeitlichen Rahmen zum Abschluss gebracht werden konnte, möchte ich zunächst und vor allem Jochen Mecke (Regensburg) danken, der mich über die Jahre hinweg jederzeit und mit der größten Selbstverständlichkeit unterstützt und gefördert hat. Darüber hinaus gilt mein Dank Hermann H. Wetzel (Regensburg) und Andreas Gelz (Freiburg), die so freundlich waren, die weiteren Gutachten zu übernehmen. Ihre Anregungen und Verbesserungsvorschläge sind in die endgültige Fassung des Textes eingegangen. Besonderen Dank schulde ich nicht zuletzt meiner Regensburger Kollegin Dagmar Schmelzer, deren Hilfe bei der Korrektur des ursprünglichen Manuskriptes ich auch sehr kurzfristig immer in Anspruch nehmen durfte. In den vergangenen Jahren konnte ich einzelne Thesen und Abschnitte der Arbeit bei verschiedenen Gelegenheiten mit (für mich) großem Gewinn zur Diskussion stellen: Zum ersten Mal im Februar
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Identität der Aufklärung/Aufklärung der Identität
2001, in einem von Jochen Mecke und Georg Braungart an der Universität Regensburg abgehaltenen Oberseminar, später im Rahmen der von Andreas Gelz und mir im März 2003 auf dem 14. Deutschen Hispanistentag in Regensburg veranstalteten Sektion „Literatur – Kultur – Medien – Sprache: Neuere Ansätze zur Erforschung des 18. Jahrhunderts in Spanien und Lateinamerika“, dann anlässlich der von Siegfried Jüttner im Januar 2005 in Mülheim an der Ruhr ausgerichteten Tagung „Anfänge des Wissenschaftsjournalismus in Spanien: Der Diario de los literatos de España – Horizonte des Kulturtransfers“ sowie ebenfalls im Januar 2005 in dem von Kai Nonnenmacher ins Leben gerufenen „Forschungskolloquium Philologien“ an der Philosophischen Fakultät IV der Universität Regensburg, außerdem auf dem 29. Deutschen Romanistentag im September 2005 in Saarbrücken in der von Siegfried Jüttner und Volker Steinkamp geleiteten Sektion „Die Konstituierung eines europäischen Kommunikationsraumes im Wandel der Medienlandschaft des 18. Jahrhunderts“, auf dem 16. Deutschen Hispanistentag in Dresden im März 2007 in der von Siegfried Jüttner und Jan-Henrik Witthaus verantworteten Sektion „La nacionalización de la(s) cultura(s) en los medios escritos españoles en el umbral de la Modernidad“ und schließlich im September 2007 auf dem 30. Deutschen Romanistentag in Wien, in der von Barbara Kuhn und Ludger Scherer organisierten Sektion „Peripher oder polyzentrisch? Alternative (Roman-)Welten im XVIII. Jahrhundert“. Bei der Korrektur des nun vorliegenden Textes haben mir dankenswerter Weise meine Siegener Mitarbeiterinnen Beatrice Schuchardt und Andrea Stahl mit bewährter Sorgfalt zur Seite gestanden. Christian von Tschilschke Siegen, im August 2008
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EINLEITUNG
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1 FRAGESTELLUNG UND METHODE
Identität der Aufklärung/Aufklärung der Identität – der Titel der vorliegenden Arbeit enthält bereits ihre Hauptthese. Es ist die Annahme, dass die Identität der spanischen Aufklärung – ihre Besonderheit im europäischen Vergleich – in der Thematisierung, Infragestellung und Verteidigung der kulturellen und nationalen Identität Spaniens besteht. Zeigen lässt sich das vor allem anhand der Literatur, deren Entwicklung als Symbol- und Sozialsystem nicht von der Rolle zu trennen ist, die sie als Medium und Objekt des sich im 18. Jahrhundert dauerhaft konfigurierenden und für die spanische Kultur seitdem charakteristischen Identitätsdiskurses übernimmt. Die Arbeit verfolgt ein zweifaches Ziel: In exemplarischen Einzelanalysen diskursiver und narrativer Texte soll einerseits der spezifische Anteil der Literatur an der Modellierung des Identitätsdiskurses herausgearbeitet werden; andererseits wird es darum gehen, die Auswirkungen unterschiedlicher Identitätskonzepte und -strategien auf die Themen, Formen, Verfahren und Funktionen der Literatur und der literarischen Evolution in ihrer ganzen Tragweite deutlich zu machen. Angestrebt wird so neben einer Korrektur der vorherrschenden, an den Verlaufsformen der französischen, deutschen und englischen Aufklärung orientierten Erklärungsmodelle auch ein Beitrag zur aktuellen Diskussion um das Verhältnis von Literatur- und Kulturwissenschaft – auf dem Gebiet der Erforschung des spanischen 18. Jahrhunderts und darüber hinaus.
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Einleitung
Meine Untersuchung geht von der Beobachtung aus, dass das spanische 18. Jahrhundert und insbesondere die Frage nach der Existenz einer spanischen Aufklärung fast immer explizit oder implizit im Koordinatenkreuz von Normalität und Abweichung, das heißt im Licht einer Identitäts- bzw. Alteritätsproblematik gesehen wurde. Die Literatur und Kultur des 18. Jahrhunderts dienten bekanntlich lange Zeit als bevorzugter Beweis für die von José Ortega y Gasset in seinem 1921 erschienenen Essay „España invertebrada“ pauschal konstatierte „anormalidad de la historia española“ (zit. n. Fusi 2000, 14). Den einen erschien das 18. Jahrhundert zu wenig spanisch, den anderen zu sehr. In beiden Fällen wurde es als Abweichung von einer Norm aufgefasst, als Anormalität, unabhängig davon, was jeweils unter dieser Norm verstanden wurde: ein unveränderliches, transzendentales spanisches Wesen oder ein nicht weniger konstruierter europäischer, und das hieß meistens: französischer Regelfall. Die Unhaltbarkeit dieser Vorurteile und Wertungen steht heute längst außer Frage.1 In der außerspanischen, aber auch in der spanischen Hispanistik, soweit sie die Problematik angesichts der in den letzten 1 Auf die Geschichte der Erforschung des spanischen 18. Jahrhunderts, seiner Literatur und Kultur, muss an dieser Stelle nicht mehr ausführlich eingegangen werden. Sie ist insbesondere unter Berücksichtigung der deutschsprachigen Beiträge gut dokumentiert und kommentiert bei Lope (1991); Tietz (1993) u. Jüttner (1991c; 1992b; 1999). Über die jüngere Entwicklung informieren Tschilschke/Gelz (2005, IX-XIII). Um einen Eindruck von der außerordentlichen Dynamik zu geben, die seit ca. zehn Jahren auf dem Gebiet der Erforschung des spanischen 18. Jahrhunderts zu beobachten ist, seien aus der deutschen Hispanistik (einschließlich der in Deutschland lehrenden Hispanisten spanischer Herkunft) die folgenden Monographien und Sammelbände genannt: zum Zeitschriftenwesen Ertler (2003b; 2004); Uzcanga Meinecke (2004) u. Jüttner (2008a/b); zum Roman Wolfzettel (1999) u. im Hinblick auf die Geschlechterdarstellung Hertel-Mesenhöller (2001) sowie Kilian (2002); zu Friedrich II. und Spanien Lope (2000); zur Kulturleistung der exilierten Jesuiten Tietz (2001a); zum Soziabilitätsphänomen der Tertulia Gelz (2006); zu Goya Schlünder (2003) u. Jacobs (2007); sowie zur Aufklärung unter übergreifenden Aspekten Sánchez-Blanco (1999; 2002); Ertler (2003a); Frank/Hänsel (2003) u. Tschilschke/Gelz (2005). Aus Spanien sind u. a. zu verzeichnen: zum Theater Palacios Fernández (1998) u. Pérez Magallón (2001); zur Volkskultur Huerta Calvo/Palacios Fernández (1998); zur Poetik Checa Beltrán (1998); zum Briefroman Rueda (2001); zum cuento Rodríguez Gutiérrez (2004); zum Identitätsdiskurs Diz (2000), Onaindía (2002), Santos (2002) u. Mestre (2003); zur philosophischen u. didaktischen Lyrik Lorenzo Álvarez (2002) u. Cebrián (2004); zu Frauen u. Literatur Bolufer Peruga (1998); Palacios Fernández (2002) u. Gil-Albarellos
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1. Fragestellung und Methode
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Jahren vor Ort erschlossenen und weiterhin zu erschließenden Textfülle nicht sowieso schon als überholt betrachtet,2 herrscht längst Konsens darüber, dass inzwischen eine Haltung gilt oder gelten sollte, die sich, wie Siegfried Jüttner formuliert, „die Integration des Besonderen in das Allgemeine“ (1999, 11) zur Aufgabe gemacht hat, ohne das Besondere noch mit einer abwertenden Intention zu verbinden. Von diesem Standpunkt aus erscheine die spanische Aufklärungsbewegung „als eine historische Option neben anderen innerhalb einer europaweiten Bewegung“ (12). Auch die französische Aufklärung sei schließlich nur eine Option, soweit sie nicht überhaupt eine große Ausnahme darstelle: „War es nicht vorschnell, die historische Aufklärung und sei es auch nur heuristisch, auf ein Modell zu reduzieren? Und dabei Frankreich – den Sonderfall in Europa – zur Regel zu erheben?“ (23)3 Doch der Topos der Anormalität des spanischen 18. Jahrhunderts ist weiterhin präsent: explizit und implizit. Explizit tritt er gelegentlich noch auf, weil es die Erinnerung an diesen Topos erlaubt, auch die eigenen Forschungen, mit dem dieser Geste innewohnenden Pathos, Pérez-Pedrero/Rodríguez Pequeño (2006); zur literarischen Kommunikation u. Herausbildung der Öffentlichkeit Álvarez Barrientos (2002) u. Cantos Casenave (2006); zum Verhältnis von Kultur und Politik Álvarez Barrientos (2004) sowie die neue Epochensynthese von Álvarez Barrientos (2005). Aus der französischen Hispanistik ist Serrano/Duviols/Molinié (1998) hervorzuheben und über das Verhältnis der Aufklärung zum Körper aus den USA Haidt (1998). Nicht zu vergessen sind schließlich die Festschriften für Russell P. Sebold (Carnero/López/Rubio 1999); Rinaldo Froldi (Garelli/Marchetti 2004), Hans-Joachim Lope (Cañas Murillo/Schmitz 2004) u. Manfred Tietz (Arnscheidt/Tous 2007). 2 „Vor Ort“ bedeutet in einzelnen regionalen Zentren, wie Valencia, Cádiz, Oviedo oder Badajoz, auf die sich die spanische Aufklärungsforschung schon seit einigen Jahren konzentriert. 3 Programmatisch für dieses Aufklärungsverständnis ist auch der Titel des von Siegfried Jüttner und Jochen Schlobach herausgegebenen Tagungsbandes Europäische Aufklärung(en). Einheit und nationale Vielfalt (1992a). Der darin enthaltene Aufsatz von Manfred Kossok „Historische Bedingungen der europäischen Aufklärung(en)“ führt darüber hinaus exemplarisch vor Augen, mit welchen massiven Sinnkonstruktionen ein hegelianisch-marxistisches Geschichtsverständnis der europäischen Aufklärungen arbeitet(e) (teleologischer Geschichtsprozess, Einteilungen in Übergang/Ziel, Zentrum/Peripherie, Grund- und Sondertypen, Fortschritt/Verspätung usw.). Für eine differenzierte Sicht auf die Literaturen der einzelnen nationalen Aufklärungsbewegungen hatte schon Werner Krauss im Jahr 1972 in seinem Aufsatz „Der komparatistische Aspekt der Aufklärungsliteratur“ (1996d) plädiert.
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Einleitung
in eine aufklärerische Tradition zu stellen.4 Implizit klingt dieser Topos nahezu unweigerlich immer dann an, wenn die Besonderheiten der spanischen Literaturentwicklung zur Sprache kommen – unabhängig davon, aus welcher disziplinären Perspektive sie thematisiert werden. So kommen sozialgeschichtliche Ansätze nicht umhin, die schwache Ausprägung der Rollen von Autor, Leser, Kritik und Buchhandel hervorzuheben.5 Aus Sicht der Geistes- und Mentalitätsgeschichte ist die fortdauernde Dominanz der Religion zu konstatieren, die dem Säkularisierungsprozess, verstanden als „laizistische Sicht der Welt, des Menschen und der Moral“ (Tietz 1986, 59), in Spanien stärkere Widerstände entgegensetze als in anderen Ländern Europas, auch wenn sich hier angesichts jüngerer Forschungsergebnisse, die auf starke regionale Unterschiede in Bezug auf den Grad der Säkularisierung und Verbürgerlichung hindeuten, pauschale Urteile verbieten.6 In gattungsgeschichtlicher Hinsicht, genauer gesagt im Hinblick auf die Entwicklung des Romans, glaubt zum Beispiel Friedrich Wolfzettel feststellen zu können: „Die wenigen signifikanten Romanbeispiele des Zeitraums sind [...] durch ihre defiziente Modernität gekennzeichnet.“ (1999, 16)7 Vom Standpunkt der Geschichte der ästhe-
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Vgl. z. B. Francisco Sánchez-Blanco im Vorwort zu seinem Buch La mentalidad ilustrada: „Por mi parte, creo ofrecer suficientes elementos para demostrar que el fenómeno de las Luces se da en nuestro país y que no se reduce a algunas obras públicas o a la lenta y tímida reforma administrativa de Carlos III“ (1999, 11) sowie Fernando Durán López, der seine Beschäftigung mit der spanischen Autobiographie im 18. Jahrhundert folgendermaßen rechtfertigt: „despejar parte de las sombras y las dudas que existían sobre este sector de las letras hispanas“ (2005, 163) oder Heike HertelMesenhöller über ihre Arbeit zum Bild der Frau im spanischen Roman des 18. Jahrhunderts: „So ist auch diese Untersuchung darauf ausgerichtet, bisher kaum rezipierte Literatur des 18. Jahrhunderts aus ihrem Schattendasein hervortreten zu lassen.“ (2001, 13) Kaum eine (deutschsprachige) Einleitung in die Geschichte der spanischen Literatur des 18. Jahrhunderts verzichtet auf diesen Topos; vgl. u. a. Floeck (1980); Lope (1991); Tietz (1991b). 5 Vgl. z. B. die entsprechenden Bemerkungen in den Publikationen von Manfred Tietz (1986; 1991b; 1992a). 6 Vgl. u. a. Tietz (1992b, XIV) u. Ertler (2003b, 16f.). 7 Wolfzettel bezieht sich konkret auf die noch unentwickelte Subjektivität und das Fortwirken barocker ästhetischer Muster in Diego de Torres Villarroels Vida (1743/1752/1758), José Francisco de Islas Fray Gerundio (1758), Pedro de Montengóns Eusebio (1786-88) und José Cadalsos Cartas marruecas (1773/1791). Siehe zur
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1. Fragestellung und Methode
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tischen Theorie im 18. Jahrhundert kommt Helmut C. Jacobs zu dem Ergebnis, dass der spezifisch spanische Beitrag in der Art und Weise zu sehen sei, wie innovative Impulse aus der Rückwendung auf die barocke Vergangenheit gewonnen werden: „Die Reaktualisierung der barocken, nicht regelorientierten Anschauungen und ihre Verknüpfung mit dem aufklärerischen Prinzip der Vernunft machen ein besonderes Charakteristikum der spanischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts aus.“ (1996, 364) Aus begriffsgeschichtlicher Perspektive schließlich ist das lange Festhalten an einem weiten Literaturbegriff zu erwähnen: So unterscheidet etwa Jovellanos zwar 1797 in seiner Oración sobre la necesidad de unir el estudio de la Literatura al de las Ciencias bereits eindeutig zwischen „literatura“ und „ciencias“, versteht „literatura“ aber immer noch in einem vergleichsweise weiten, philosophischen Sinn als „expresión de nuestras ideas“ (zit. n. Álvarez de Miranda 1992, 436f.). Als eine mögliche Reaktion auf diese aus verschiedenen Teilgebieten zusammengetragenen Befunde stellt sich die Frage, inwiefern das Denken in den Kategorien von Norm und Abweichung nicht auch dadurch konserviert wird, dass auf das spanische 18. Jahrhundert Modelle angewendet werden, die am Beispiel anderer Länder entwickelt wurden.8 Mit besonderem Nachdruck stellt sich diese Frage in Bezug auf maßgebliche soziologische und sozialhistorische Modelle des gesellschaftlichen Wandels wie Jürgen Habermas’ Untersuchung zum „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (1990 [1962]), Niklas Luhmanns Theorie der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Funktionssysteme, vor allem in der literaturwissenschaftlichen Applikation Siegfried J. Schmidts (1989), und Pierre Bourdieus in Les règles de l’art (1998 [1992]) zum Abschluss gebrachtes Konzept des „literarischen Feldes“. Diese dominie-
Relativierung der weit verbreiteten Ansicht, dass es im 18. Jahrhundert in Spanien keine nennenswerte Romanproduktion gegeben habe: Álvarez Barrientos (1991) und Hertel-Mesenhöller (2001, 19-21). Weiterhin kritisch äußert sich dagegen Kilian (2002, 31-41). 8 Vor der unreflektierten Übertragung solcher „Verlaufs- und Strukturschemata aus der Vergangenheit der zentraleuropäischen Nationen auf die spanische Geschichte“ warnt z. B. Hans Ulrich Gumbrecht (1990, 495), der damit jedoch seinerseits zu einer Fortschreibung der „romantischen Perspektive“ tendiert, wie Siegfried Jüttner kritisch bemerkt (1999, 26f.).
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Einleitung
renden theoretischen Beschreibungsmodelle orientieren sich alle drei an der Entwicklung der zentraleuropäischen Gesellschaften Englands, Deutschlands und Frankreichs und lassen sich mehr oder weniger deutlich von einem positiven Begriff der bürgerlichen Öffentlichkeit, der Komplexität und Differenziertheit bzw. der Autonomie oder Autonomisierung leiten.9 Auf die spanische Gesellschaft des 18. Jahrhunderts angewendet ist daher die Wahrscheinlichkeit relativ groß, dass diese Theorien überwiegend zur Diagnose von Defiziten führen.10 Mit der Privilegierung des holistischen, auf Synchronie umgestellten und quer zu den literarischen Gattungen und Disziplinen, aber auch zu den verschiedenen kulturellen und gesellschaftlichen Teilbereichen stehenden Konzepts der Identität wird die Darstellung der spanischen Aufklärung und ihrer Literatur zunächst davon entlastet, auf die vorherrschenden, mehr oder weniger teleologisch und normativ unterfütterten Modelle der kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklung bezogen zu werden. Aber auch die Phänomene des grundlegenden historischen Wandels, den Spanien, wie die anderen europäischen Länder, im 18. Jahrhundert ja zweifellos durchläuft, können und sollen, wie ich zeigen will, konsequenterweise aus einer identitätsbezogenen Perspektive beschrieben werden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es die Fokussierung auf die Identitätsfrage erlaubt, eine große Zahl jener Sachverhalte zu positivieren oder zumindest einer produktiven Betrachtung zu unterziehen, die dem Beobachter ansonsten nur negativ, als Unzulänglichkeiten oder Hemmnisse, erscheinen. In der zentralen Stellung des Identitätsbegriffs, der hier im Wesentlichen – das nächste Kapitel liefert dafür eine ausführliche 9
So bemerkt Joseph Jurt z. B. in Bezug auf Bourdieus Rekonstruktion von Autonomisierungsprozessen und die Offenlegung der ihnen eigenen Logik: „Künstlerische, literarische, intellektuelle Autonomie wird dabei – unausgesprochen – immer positiv valorisiert.“ (1994, 337) 10 Im Rahmen der Erforschung der spanischen Literatur des 18. Jahrhunderts sind die Konzepte Luhmanns vor allem von Klaus-Dieter Ertler (2003b; 2004) und die Bourdieus von Inke Gunia (1998; 2005; 2008) adaptiert worden. Ertler zieht Luhmanns Begriffe hauptsächlich zur Gliederung seiner primär thematologischen Studien heran. Gunia beschreibt zwar die Autonomisierung der verschiedenen gesellschaftlichen Teilgebiete, beschränkt sich aber dann auf die Rekonstruktion der Herausbildung des modernen Literaturbegriffs, ohne dabei direkt auf literarische Formen und Strukturen einzugehen.
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Begründung – semiotisch verstanden wird, kommt die kulturwissenschaftliche Prägung des vorliegenden Ansatzes sicherlich am deutlichsten zum Ausdruck. Auch der zugrunde gelegte Kulturbegriff ist semiotisch und bedeutungsorientiert. Er bewegt sich in der Tradition der grundlegenden Kulturkonzepte von Max Weber, Ernst Cassirer und Clifford Geertz. Diesen folgend wird Kultur „als der von Menschen erzeugte Gesamtkomplex von Vorstellungen, Denkformen, Empfindungsweisen, Werten und Bedeutungen aufgefaßt, der sich in Symbolsystemen materialisiert“ (Nünning/Nünning, 2003, 6).11 Vielleicht ist es nicht überflüssig, noch einmal dem Eindruck entgegenzutreten, dass durch die Konzentration auf die Identitätsproblematik im Rahmen einer kulturwissenschaftlich geprägten Vorgehensweise erneut – gewissermaßen durch die Hintertür – der Befund defizienter Modernität bestätigt werde. Zum einen fördert die Identitätsproblematik ja in der Tat die Bereitschaft, aufklärerische Impulse zu übersehen – nicht zuletzt, weil sie bestimmten Vorurteilsstrukturen entgegenkommt. Zum anderen herrscht immer noch die Tendenz vor, die Identitätsproblematik als Gegenpol und Verhinderung von Modernität zu sehen. Diese Haltung beruht auf zwei Voraussetzungen: Sie geht erstens von einem statischen Identitätsbegriff aus, der Identität mit der Bindung an Bestehendes und einem sich auf unhinterfragte Gewissheiten stützenden Bewusstsein identifiziert. Und zweitens verknüpft sie den Beginn der Moderne mit einem
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Moritz Baßler verdeutlicht, worin die Provokation dieses Ansatzes z. B. für eine soziologische Theorie der funktionalen Differenzierung besteht: „Luhmann bezeichnet ‘Kultur’ bekanntlich als ‘einen der schlimmsten Begriffe, die je gebildet worden sind’ (Luhmann 1995 [Die Kunst der Gesellschaft], S. 398), gerade weil diese Kategorie alle möglichen Phänomene integriere und damit hinter der Ausdifferenzierung der Gesellschaft seit dem 19. Jahrhundert zurückbleibe. Aus der Sicht einer Theorie, die die Eigenständigkeit modern ausdifferenzierter Systeme voraussetzt, ist es unerträglich, daß ‘Semantiken nicht systemspezifisch in den Blick genommen wurden, sondern system-indifferent als Teil einer integralen Kultur’ (Werber 2001 [‘Ohne Text und Kultur. Die Systemtheorie und der cultural turn der Kulturwissenschaft’, Ms.], ohne Seitenangabe).“ (2003, 139). Vgl. auch Luhmanns folgende, leicht ironische Definition der Kultur: „Kultur ist zunächst einfach eine Verdoppelung aller Artefakte, Texte eingeschlossen. Neben ihrem unmittelbaren Gebrauchssinn gewinnen sie einen zweiten Sinn, eben als Dokumente einer Kultur. Töpfe sind einerseits Töpfe, zum anderen aber auch Anzeichen einer bestimmten Kultur, die sich durch die Art ihrer Töpfe von anderen Kulturen unterscheidet.“ (1995, 145)
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Rationalitätsverständnis, wie es in Kants radikal-autoritärem Anspruch, dass sich alles vor dem „Richterstuhle der Vernunft“ (1910, 469) zu verantworten habe,12 oder in seiner klassischen Definition der Aufklärung von 1784 zum Ausdruck kommt, die den geforderten „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (1974, 9) mit dem Hinweis auf die Autonomie der Vernunft begründet.13 Angesichts dieser Sachlage möchte ich daher zusätzlich vorschlagen, die Kultur der spanischen Aufklärung nicht als Abweichung von „der Moderne“, sondern als Ausprägung einer anderen Moderne zu betrachten, die sie dann nur noch in relativer Hinsicht als antimodern erscheinen lässt und darüber hinaus ihr modernitätskritisches Potenzial besser zur Geltung bringt. Ich greife dazu auf die Rekonstruktion der Geschichte der Moderne zurück, die der britisch-amerikanische Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Stephen Toulmin in seinem Buch Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne (1991) unternommen hat.14 Toulmin geht von der These aus, dass es in der Neuzeit zwei Ausprägungen der Moderne und nicht nur eine einzige gegeben habe: eine mit dem Ausgang des Mittelalters um 1500 beginnende „literarische oder humanistische Phase“ (49), die dann in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts von einer „wissenschaftlichen und philosophischen Phase“ (ebd.) abgelöst worden sei. Diese zweite Phase werde allgemein als „der wahre Beginn der Moderne“ (28) angesehen, die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein maßgeblich geblieben sei. Gegenüber dieser „Standarddarstellung der Moderne“ (33) plädiert Toulmin – letztlich aus gegenwartstherapeutischen Motiven – für eine Rehabilitierung des Renaissance-Humanismus. Die erste Phase der Moderne, für die Erasmus, Montaigne oder Bacon stehen, charakterisiert Toulmin als kontextgebunden: bescheiden, prag12 Kant, der ja verschiedentlich auf Gerichtsmetaphorik zurückgreift, benutzt den Ausdruck, eine säkularisierte Version der biblischen Rede vom „Richterstuhl Gottes“ (Römer 14.10) bzw. dem „Richterstuhl Christi“ (2. Korinther 5.10), an vergleichsweise entlegener Stelle, in dem auf das Erdbeben von Lissabon reagierenden Aufsatz „Fortgesetzte Betrachtung der seit einiger Zeit wahrgenommenen Erderschütterungen“ aus dem Jahre 1756. 13 Jürgen Habermas spricht in Bezug auf Kants berühmten Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ von einem „Text, der den philosophischen Diskurs der Moderne gewissermaßen eröffnet“ (1985, 127). 14 Der Titel der Originalausgabe lautet: Cosmopolis. The Hidden Agenda of Modernity (New York 1990).
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matisch, alltags- und erfahrungsorientiert, „dem Mündlichen, dem Besonderen, dem Lokalen und dem Zeitgebundenen“ (60) zugeneigt. Die zweite, kontextunabhängige Phase, die unter anderem von Galilei, Descartes und Newton repräsentiert wird, ist dagegen theoriezentriert, Rationalität und Allgemeingültigkeit verpflichtet und um „die Abwertung des Mündlichen, des Lokalen, des Zeitgebundenen und des Konkreten“ (129) bemüht.15 Das Streben nach Gewissheit und das Ziel, alle bedeutenden Fragen kontextunabhängig zu formulieren, verdankt sich jedoch – so Toulmins zweite Hauptthese – einem Bedürfnis nach Dekontextualisierung, das – wie Toulmin vor allem am Beispiel Descartes’ zeigt – ganz konkret als Reaktion auf die Ermordung Heinrichs IV. am 14. Mai 1610, die anschließenden Religionskonflikte und die erschütternde Erfahrung des Dreißigjährigen Kriegs zurückzuführen sei.16 Aus Toulmins kulturund wissenschaftshistorischer Darstellung lässt sich nun zum einen die Hypothese gewinnen, dass die spanische Aufklärung in ihrer Gesamtformation als Ausdruck einer kontextgebundenen Ausprägung der Moderne zu betrachten ist – etwa im Unterschied zur französischen, die sich selbst als kontextungebunden versteht und von den übrigen Nationen auch als solche, das heißt als europäisches Gemeingut betrachtet wird.17 Gleichzeitig liefert Toulmin auch bereits eine mögliche historische Erklärung für diese Annahme, denn die spanische Gesellschaft blieb im 17. Jahrhundert von politischen und konfessionellen Zerreißproben ver15
Zu Kant äußert sich Toulmin folgendermaßen: „Kants Werk ist nicht vom Himmel gefallen. Seine Betonung allgemeingültiger moralischer Maximen führt in die Ethik ein ‘Rationalitäts’ideal ein, das mehr als ein Jahrhundert zuvor von Descartes für die Logik und Naturphilosophie formuliert worden war. Damit ist die ‘Moderne’ wieder die historische Epoche, die mit Galileis und Descartes’ Entscheidung für neue, rationale Forschungsmethoden beginnt“ (26). 16 „Das ‘Streben nach Gewissheit’ bei den Philosophen des 17. Jahrhunderts war kein bloßes Programm zur Konstruktion abstrakter und zeitloser theoretischer Schemata, die lediglich als Gegenstände reiner, distanzierter geistiger Betrachtung erdacht worden wären. Es war vielmehr eine zeitgebundene Antwort auf eine bestimmte historische Herausforderung – auf das politische, gesellschaftliche und theologische Chaos, das sich im Dreißigjährigen Krieg niederschlug.“ (122) 17 Vgl. zum Topos der „Europe française“ im 18. Jahrhundert Bahner (1976, 166-168) u. Stackelberg (1980). Mit Manfred Tietz ist zu betonen: „Aufgrund von Übersetzungen, aber auch der fremdsprachlichen Lesefähigkeit der Gebildeten waren etwa Voltaire und Rousseau keine nur französischen, sondern im eigentlichen Sinn europäische, ja ‘universelle’ Autoren.“ (2002, 257)
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schont, ein Umstand, der schon im 18. Jahrhundert von Spaniern wie von Franzosen positiv hervorgehoben wird. Stephen Toulmins im Kontext der Moderne/Postmoderne-Diskussion der 80er und 90er Jahre des 20. Jahrhunderts entstandenes Buch gibt zudem Anlass zu der Feststellung, dass die Aufklärungsbewegung in Spanien gerade für Forschungsinteressen mit einem postmodernen Theoriehintergrund interessant sein könnte.18 Mit dieser Ansicht befinde ich mich im Widerspruch etwa zu Klaus-Dieter Ertler, der in seiner kürzlich erschienenen Einführung Kleine Geschichte der spanischen Aufklärungsliteratur (2003a) von der Vermutung ausgeht, dass die Annäherung an das spanische 18. Jahrhundert durch die Vorherrschaft postmoderner Theorieinteressen, die sich „den aufklärerischen Diskursen der Moderne grundsätzlich mit Mißtrauen nähern“ (10) eher erschwert würde. Zwar ist es richtig, dass beispielsweise der Barock als Stil und Epoche auf die im weitesten Sinne postmoderne Philosophie eine wesentlich größere Anziehungskraft ausgeübt hat, dennoch wäre zu bedenken, ob nicht gerade die behauptete Kontextgebundenheit der spanischen Aufklärung und die mit ihr einhergehende Tendenz zur Korrektur universalistischer Konzepte postmodernen Grundeinstellungen entgegenkommt. So betont etwa Hans Ulrich Gumbrecht in „Eine“ Geschichte der spanischen Literatur in der Einleitung zu dem Abschnitt über das 18. Jahrhundert: „es entstanden Werke, an denen bis heute Begrenzungen und Ambivalenzen der Vernunftkultur exemplarisch erfahrbar werden“ (1990, 473). Gumbrecht will diese Bemerkung freilich auf die Phase eingeschränkt wissen, „als die Reformer unter den wachsenden Druck der durch die Französische Revolution verängstigten Machthaber gerieten“ (ebd.). Mir scheint jedoch, dass sie ohne Weiteres auch auf die Zeit davor ausgedehnt werden kann. Eine andere Quelle möglichen Interesses an der spanischen Kultur der Aufklärung, in der Aufklärung
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So identifiziert etwa Jürgen Habermas die Tendenz, sich eine „rekontextualisierende Vernunftkritik“ (1998, 216) zu eigen zu machen, als Merkmal bestimmter postmoderner Theorien; vgl. auch seine Kritik an dieser Tendenz (216-221). Und Sebastian Neumeister fragt sich unter ausdrücklichem Bezug auf die konzeptuelle und ästhetische Offenheit der Postmoderne: „War die methodische Engführung des Vernunftbegriffes, der in der Frühaufklärung in seinem Verhältnis zur Natur (Newton), zum Mythos (Fontenelle), zur Phantasie (Vico) und zum Glauben (Bayle) noch durchaus offen diskutiert wird, auf ein einsinnig aufklärerisches Dogma unvermeidbar?“ (1994, 8f.)
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nicht prinzipiell als Gegensatz zur Religion gesehen wird, hat in der letzten Zeit indirekt Jürgen Habermas benannt, als er sich für ein verstärktes Nachdenken über das Verhältnis von Glaube und Vernunft in der Gegenwart aussprach und dabei den Gedanken einer „Säkularisierung, die nicht vernichtet“ (2001, 17) ins Spiel brachte.19 Neben der Aktualität, die der hier verfolgten Fragestellung durch ihre Nähe zu Problemen, die vor allem im Rahmen der Debatte um Moderne und Postmoderne diskutiert wurden (und werden), zuwächst, ergeben sich nicht zuletzt auch aufschlussreiche Parallelen zu theoretischen und methodischen Präferenzen, die seit längerer Zeit schon in der Lateinamerikaforschung und in der (Post)-Kolonialismustheorie eine wichtige Rolle spielen. Das gilt natürlich in erster Linie für die zentrale Problematik der kulturellen und nationalen Identität im Verhältnis zu Europa, trifft aber auch auf eine Reihe von Teilaspekten zu, wie zum Beispiel die Relevanz der Kategorien Abhängigkeit/Unabhängigkeit, Fortschrittlichkeit/Rückständigkeit, Peripherie/Zentrum, Imitation/Eigenständigkeit und die Frage nach den angemessenen Strategien zur Selbstbehauptung im Umgang mit der Erfahrung der inneren und äußeren Kolonisierung durch kulturelle und politische Hegemonialmächte.20 Dabei liegt sicherlich eine gewisse Ironie in der Tatsache, dass die unter anderem in der Beschäftigung mit den ehemaligen spanischen Kolonien erarbeiteten Konzepte auch mit Gewinn auf das „Mutterland“ und imperiale Zentrum Spanien selbst angewendet werden können, und noch dazu auf eine historische Periode, in der Spanien immerhin noch zu den stärksten Kolonialmächten der Welt gehörte.
19 Habermas’ Formulierung, die aus der Rede stammt, die er bei der Entgegennahme des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2001 hielt, wird hier nach der am 15.10.2001 in der Süddeutschen Zeitung abgedruckten Version zitiert. In der Buchfassung ist das Zitat in dieser Form nicht enthalten (vgl. 2001, 29). 20 Vgl. dazu Matzat: „Der von den Sozialwissenschaften geprägte Begriff der Identität, der vor allem ab den sechziger und siebziger Jahren in das literaturwissenschaftliche Repertoire Eingang fand, hat sich im Bereich der Lateinamerikanistik als besonders erfolgreich bewiesen.“ (1996, 7) Auf den spezifischen Zusammenhang zwischen Identitätsparadigma, Lateinamerikaforschung und Postkolonialismustheorie geht insbesondere de Toro ein (1999, 36f.).
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„Identität“ ist ein umbrella term, ein Sammelbegriff, unter dem Vieles Platz hat. Nun wird man in der Einleitung zu einer Arbeit, in deren Titel der Begriff „Identität“ gleich dreimal erscheint, kaum erwarten, dass sie sich umstandslos der Klage über die Vagheit, Vieldeutigkeit, Inhaltsleere oder Missbräuchlichkeit des Begriffs anschließt.1 Anstatt die Grundsatzdiskussion um das Für und Wider des Begriffs erneut aufzunehmen – immerhin zeigt seine Konjunktur, dass er ein bestimmtes Kommunikationsbedürfnis zu erfüllen scheint –, möchte ich lieber mit der Definition beginnen, die für die weiteren Ausführungen maßgeblich sein wird. Es ist eine Definition, die eine Art Minimalkonsens unterschiedlicher Theoriekonzepte wiederzugeben versucht und die meiner Ansicht nach eine Reihe von Vorteilen aufweist, die anschließend noch zu erläutern sein werden. Der nicht geringste Vorteil dieser Definition besteht darin, den Begriff von seiner gewohnten semantischen und moralischen Überfrachtung zu befreien. Unter „Identität“ soll daher im Folgenden das Bewusstsein bzw. die Vorstellung einer Einheit und Eigenart verstanden werden, die sich an der Leitdifferenz Eigenes/Fremdes orientiert und die selbst als Produkt der An-
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Eine Zusammenstellung der Kritikpunkte zum Begriff der kollektiven Identität findet sich bei Lutz Niethammer (2000, 9-70: „Annäherungen an ein Plastikwort“). Einige „Antinomien der Identitätsdiskussion“ (Wahl/Schicksal, Autonomie/ Herrschaft, Konstruktion/Realität) erörtert Peter Wagner (1998, 58-65).
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wendung oder des Vollzugs einer solchen differenziellen Basisoperation aufzufassen ist.2 Von einem Minimalkonsens kann bei dieser Definition insofern die Rede sein, als sie auf eine Grundstruktur des Identitätsbegriffs zurückgeht, die von den meisten neueren (sozial-)psychologischen, soziologischen, kulturanthropologischen und philosophischen Identitätstheorien geteilt wird.3 Diese Grundstruktur beruht auf zwei Annahmen: dem konstrukthaften und dem differenziellen Charakter der Identität. Demnach ist Identität eine Vorstellung, ein Konstrukt oder gelegentlich sogar eine Erfindung und nichts Vorgegebenes, Wesenhaftes oder Substanzielles, obwohl eine der wichtigsten Strategien der Identität gerade darin besteht, dies vergessen zu lassen. Das heißt jedoch nicht, dass Identität für diejenigen, die sie betrifft, keine Realität besitzt. Im Gegenteil, aufgrund der stabilisierenden und projektiven Leistung, die sie für Individuen wie Kollektive erfüllt, kommt ihr höchste existenzielle Bedeutsamkeit zu. Was dagegen den differenziellen Charakter der Identität angeht, so verdankt sich dessen Anerkennung der Erkenntnis, dass die Erzeugung von Identität und Alterität ursprünglich zusammengehören: „Am Anfang steht nicht eine Einheit, sondern eine Differenz.“ (Waldenfels 1997, 156, Hervorhebung im Original)4 Diese Erkenntnis teilen in gewisser Weise auch schon die älteren psychologischen und soziologischen Identitätstheorien (Erikson, Mead u. a.), indem sie davon ausgehen, dass sich Identität immer nur in der Interaktion ausbilden kann und eine Reziprozität der Perspektiven voraussetzt.5
2
Das Begriffspaar „Einheit und Eigenart“ übernehme ich von Jan Assmann (1988, 10, 12, 15). 3 Einen guten Einblick in die Gebiete, in denen heute mit dem Identitätsbegriff gearbeitet wird, gibt der von Aleida Assmann und Heidrun Friese herausgegebene Sammelband Identitäten (1998). 4 Am Beispiel der Grenzziehung zwischen Vernunft und Wahnsinn wird diese Einsicht in die korrelative Verfassung von Identität bereits von Michel Foucault im Vorwort zu Folie et déraison. Histoire de la folie à l’âge classique (1961, I-XI) dargelegt, auf das im Zusammenhang mit Montesquieus Lettres persanes noch zurückzukommen sein wird. 5 Vgl. Wolfgang Matzat: „Es ist daran zu erinnern, daß die klassischen Modelle der Identitätsbildung, wie sie von Erik H. Erikson und George Herbert Mead entwickelt worden sind, immer schon ein dekonstruktives Element enthalten, da sie die identi-
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Gegenüber den erwähnten Theorieansätzen lässt sich die von mir verwendete Definition im weitesten Sinne als kommunikationsbezogen bezeichnen, ohne dass damit die kommunikative Dimension der übrigen Theorien geschmälert werden soll. Je nachdem, welcher Aspekt des Identitätsbegriffs jeweils fokussiert wird, stellt sich diese Kommunikationsbezogenheit im Einzelnen als semiotisch, hermeneutisch oder diskurshistorisch fundiert dar. Erst durch diese dreifache Präzisierung wird das Konzept „Identität“ tatsächlich zu einem operablen Instrument der Analyse und Interpretation literarischer Texte. Semiotisch kann der Identitätsbegriff deswegen genannt werden, weil er auf der Annahme beruht, dass sich Identität durch einen Akt der Bezeichnung konstituiert, der beliebigen Objekten im Modus der Denotation oder der Konnotation die Eigenschaften Eigenes/Fremdes zuschreibt und sie damit in den Rang von Identitätszeichen erhebt. Wenn man davon ausgeht, dass sich Kulturen primär als Gewebe von Zeichen, als Systeme von Symbolen und Bedeutungen präsentieren, dann erweist sich Identität damit zugleich als genuines Element der Kultur. Der hermeneutische Aspekt des Identitätsbegriffs tritt in den Vordergrund, wenn man die Leitdifferenz Eigenes/Fremdes genauer ins Auge fasst. Angesichts der Tatsache, dass neben den Begriffen „Eigenes“ und „Fremdes“ zur Bezeichnung der in Frage stehenden Differenz auch noch Begriffe wie „Selbes“ und „Anderes“ zur Verfügung stehen, erfordert die Begriffswahl eine kurze Erklärung.6 Die Verwendung der Begriffe „Eigenes“ und „Fremdes“ soll verdeutlichen, dass die Unterscheidung, die sie vornehmen, nicht die Beschreibung einer vorgegebenen Realität, sondern das Resultat einer Interpretation ist, oder, anders gesagt, dass sie die Unterschiede, die sie bezeichnen, durch die Bezeichnung erst hervorbringen. In den Worten Alois Wierlachers stellt sich damit das Fremde „als Interpretant der Andersheit und Differenz“ (2003, 284) bzw. „als das aufgefaßte Andere“ (285) dar. Das Fremde, aber auch das Eigene – so wäre zu ergänzen –, verliert dadurch den Anschein einer objektiven
tätskonstituierenden Einheitsvorstellungen als immer labile und nie abgeschlossene Entwürfe begreifbar machen.“ (1996, 187) 6 Diskutiert werden diese Begriffe z. B. bei Müller-Funk (2001).
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Eigenschaft. Als Interpretament der Andersheit und Differenz verwandelt es sich in „eine relationale Größe, die den Anderen als Fremden für jemanden an einem bestimmten Ort, in einer bestimmten Hinsicht, zu einer bestimmten Zeit qualifiziert“ (ebd.). Die Koppelung des Fremdheitsbegriffs an den Standpunkt und die Interessen eines Beobachters erhöht auch die Verwendbarkeit der Leitdifferenz Eigenes/Fremdes zu analytischen Zwecken. Durch die Ablösung des Begriffs des Fremden vom kulturell Fremden, also von dem Verhältnis zu Angehörigen einer anderen Ethnie und ihrer Sprache, ihrem Glauben und ihren Sitten, wird das Fremde als das Unverständliche, Ungewohnte, Unvertraute, Unbekannte, Neue, Seltene usw. frei für die Beschreibung von Erfahrungen, die im Bereich der eigenen Kultur gemacht werden, etwa im Verhältnis zur Vergangenheit und zu bestimmten Traditionen oder in der Auseinandersetzung mit dem „Anderen der Vernunft“.7 Ein Identitätsbegriff, der sich an der Leitdifferenz Eigenes/Fremdes orientiert, die wiederum an entsprechende Bezeichnungs- und Interpretationsakte geknüpft ist, ermöglicht es darüber hinaus, auch das Phänomen des Wandels von Identitäten besser zu erfassen, das jetzt als Umpolung herkömmlicher Identifikationen analysiert werden kann. Aus diesem Blickwinkel erscheinen Identitäten dann nicht mehr von vornherein als starr, fest und unbeweglich, nicht mehr als weitgehend identisch mit Kontinuität und Tradition und nicht mehr als tendenzielle Antagonismen zu Aufklärung und Moderne, sondern als bestimmte Formen der Zuschreibung, die ihre Stellung auch wechseln und neu ausgehandelt werden können. Identität erhält dadurch einen prozessualen Charakter.8 Die diskurshistorische Dimension des hier zugrunde gelegten Identitätsbegriffs bezieht sich auf die Annahme, dass sich identitätsstiftende Zuschreibungen und Interpretationen zwar unmittelbar auf 7
So stellt auch Alois Wierlacher fest, dass „Fremdheitserfahrungen nicht nur im interkulturellen, sondern auch im intrakulturellen Referenzrahmen gemacht werden“ (2003, 281). 8 Eine Theorie der kulturellen Identität, die stark die Momente Gedächtnis, Kontinuität, Traditionsbewahrung, Reproduktion und Ritual betont, ist zum Beispiel die Jan Assmanns (2002, bes. 130-160). Dagegen fassen Aleida Assmann und Heidrun Friese Identitäten „als Prozesse eines unabschließbaren Aushandelns“ (1998, 12) auf.
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bestimmte Aussagequellen wie Individuen, Gruppen oder kulturelle Artefakte, etwa literarische Texte, zurückführen lassen, dass deren Aussagen aber zugleich Teil übergeordneter Diskurse im Sinne des Diskursbegriffs Michel Foucaults sind – in diesem Fall Teil eines „Identitätsdiskurses“, durch den die einzelnen Zuschreibungen und Interpretationen wiederum geprägt und in ihren Möglichkeiten beschränkt werden. Allerdings bleibt zu betonen, dass Prägung und Beschränkung nicht allein Effekte des Identitätsdiskurses sind, sondern auch durch Institutionen, soziale Strukturen, politische und private Interessen oder andere Faktoren bewirkt werden.9 Ihr jeweils eigenes Profil gewinnen die Identitätskonzepte in verschiedenen Kulturen und zu verschiedenen Zeiten einmal durch die Art der Gegenstände, auf die sie die Unterscheidung Eigenes/ Fremdes anwenden, und dann durch die Weise, wie sie mit dieser Leitdifferenz selbst umgehen. Der Bereich der Gegenstände, die durch die Akte der Zuschreibung und der Interpretation zu Trägern einer verbindlichen Symbolik gemacht werden, soll im Folgenden „Referenz“ heißen. Zur Referenz von Identität kann buchstäblich alles Mögliche werden: Sprache, Religion, Literatur, Bilder, Bauwerke, Wissensbestände, Lebensweisen, Kleidung, Rituale, Geschichte, Orte, Landschaften usw.10 Eine besondere Rolle kommt in diesem Zusammenhang der semantischen Besetzung der Dimensionen Raum und Zeit zu. Das Verhältnis zu Vergangenheit und Zukunft, das kollektive Gedächtnis und die Einstellung zu Rückständigkeit und Fortschrittlichkeit sind grundlegende Ansatzpunkte kultureller Identitätsbildung. Während der zeitlichen Dimension seit jeher die Aufmerksamkeit der Wissenschaft gilt, ist das Interesse für die Kategorie des Raums in den Kulturwissenschaften erst vor kurzem wieder neu erwacht.11 Die Impulse für dieses Interesse kommen aus verschiedenen Disziplinen: 9
Das hebt beispielsweise Edward Said hervor, der ansonsten Foucaults Diskursbegriff übernimmt (1995, 332-334). 10 Vgl. Jan Assmann: „Alles kann zum Zeichen werden, um Gemeinsamkeit zu kodieren. Nicht das Medium entscheidet, sondern die Symbolfunktion und Zeichenstruktur.“ (2002, 139) 11 Vgl. zum „topographical turn“ in den Kulturwissenschaften Weigel (2002) und Bachmann-Medick (2006, 284-328).
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aus der Kultursemiotik (Jurij Lotman u. a.), die Räume in den Rang von Zeichen erhebt, aus der kognitiven Psychologie, die den Begriff der „mentalen Landkarte“, der „mental map“ geprägt hat, der auf die räumlich-geographische Repräsentation von Wissen abzielt,12 und schließlich aus der historischen Diskursanalyse, wie sie beispielsweise Edward Said in seinem Buch Orientalism. Western Conceptions of the Orient aus dem Jahr 1978 unternommen hat. Die Auswahl und Kombination der einzelnen Elemente, aus denen sich Identitätskonzepte zusammensetzen, und die Fülle der auf diese Elemente angewendeten Einzelunterscheidungen lassen sich in der Regel auf fundamentale, den Betroffenen meistens verborgene Grenzziehungen zurückführen, durch die sich Gemeinschaften als Ganzes voneinander unterscheiden. In Anlehnung an den Soziologen Bernhard Giesen sollen diese einheitsbildenden Grundoperationen, mit denen Gemeinschaften jeweils das Verhältnis von Innenraum und Außenwelt in sehr allgemeiner Weise regeln, „Kodes“ bzw. „Kodierungen“ heißen.13 So können Gemeinschaften beispielsweise „partikularistisch“ oder „universalistisch“ kodiert sein, je nachdem, ob sie das Besondere dem Allgemeinen vorziehen und dazu neigen, die Differenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu betonen, oder ob sie dem Allgemeinen gegenüber dem Besonderen Vorrang einräumen und die Differenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden zugunsten von Ganzheitsvorstellungen (Menschheit, Europa) und universalen Werten (Glaube, Vernunft, Fortschritt) tendenziell ausblenden und unterdrücken. Ein anderes, damit eng verwandtes Kode-Paar wäre die Unterscheidung zwischen „Logozentrismus“ und „Ethnozentrismus“.14 12
Einblick in diese Entwicklung gibt z. B. das Themenheft Mental Maps der Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft Geschichte und Gesellschaft (3/2002); siehe darin vor allem die Beiträge Christoph Conrads und Frithjof Benjamin Schenks. 13 Vgl. Giesen: „Solche zentralen Unterschiede, die eine Vielzahl von Differenzen bündeln, nennen wir Codes.“ (1999, 26) Aus einer (gemäßigt) konstruktivistischen Perspektive unterscheidet Giesen drei „Typen der Konstruktion kollektiver Identität“, und zwar im Hinblick darauf, ob sie durch „primordiale Codes“, „traditionale Codes“ oder „universalistische Codes“ geprägt werden (24-69). Darüber hinaus untersucht Giesen die symbolischen Ausdrucksformen sowie die historische und soziale Einbettung der einzelnen Codes. Diese Differenzierungen werden von mir im Folgenden jedoch nicht übernommen. 14 In der Definition folge ich Bernhard Waldenfels: „Von einem Logozentrismus [...] sprechen wir dann, wenn alles sich nicht im Eigenen, sondern im Allgemeinsamen
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Aus der Logik dieser elementaren Grenzziehungen ergeben sich wiederum Affinitäten zu den einzelnen Identitätsstrategien, die in Kulturen und kulturellen Artefakten (literarischen Texten) nachgewiesen werden können. Als Identitätsstrategien sollen Praktiken der Identitätsbildung bezeichnet werden, die sich daraufhin analysieren lassen, wie sie mit der Differenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden umgehen: Welche symbolischen Besetzungen von Raum und Zeit werden vorgenommen? Überwiegt die Stärkung des Eigenen, zum Beispiel durch eine bestimmte Erzählung von der Vergangenheit, oder die Abgrenzung gegen das Fremde?15 Wird das Fremde differenziert gesehen oder auf wenige Klischees reduziert? Wird das Fremde abgewertet oder idealisiert, um in selbstkritischer Absicht gegen das Eigene gerichtet zu werden? Sind die Selbst- und Fremdbilder spiegelbildlich oder komplementär konstruiert? Werden die Selbst- und Fremdbilder reflektiert oder sogar dekonstruiert, indem das Fremde im Eigenen aufgedeckt wird? Die nachstehend abgebildete Typologie versucht einen möglichst umfassenden Überblick über die verschiedenen Identitätsstrategien zu geben. Sie orientiert sich daran, wie jeweils mit der Opposition zwischen dem Eigenen und dem Fremden umgegangen wird.
eines Logos, einer universalen Vernunft versammelt.“ (1997, 150f.) und Karl-Heinz Kohl: „Als Ethnozentrismus bezeichnet man die Tendenz, die eigenkulturellen Lebensformen, Normen, Wertorientierungen und religiösen Überzeugungen als die einzig wahren anzusehen.“ (2000, 30) Neben dem Logozentrismus und dem Ethnozentrismus analysiert und kritisiert Waldenfels noch eine Reihe weiterer Erscheinungsformen der Zentrierung auf das Eigene und der gleichzeitigen Ausschließung eines Anderen: Egozentrismus, Nationalismus, Regionalismus und Eurozentrismus (1997). 15 Die Bedeutung dieses Kriteriums betonen Aleida und Jan Assmann: „So macht es gewiß einen Unterschied, ob eine Kultur sich primär durch ihre Distinktionskraft nach außen, d. h. gegenüber anderen Kulturen definiert (negative Integration) oder durch ihre Integrationskraft nach innen (positive Integration). In der Beschreibung und Differenzierung dieser Ein- und Ausschluß-Bewegungen liegen die Aufgaben einer historischen Xenologie.“ (1990, 27). Siehe auch Jan Assmann (2002, 151-160).
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Einleitung Gegensatz Eigenes/Fremdes
Aufrechterhaltung
Abschaffung
des Gegensatzes
des Gegensatzes
Sehnsucht Nostalgie Faszination
Mischung Relativismus
Selbstkritik Selbsterhöhung
Assimilation
Hybridität Dekonstruktion
Aggression Zerstörung
Abbildung 1: Identitätsstrategien Zu den Strategien, die an der Aufrechterhaltung des Gegensatzes zwischen dem Eigenen und dem Fremden interessiert sind, gehört zunächst die Verklärung des Fremden, wie sie beispielsweise für die sentimentalische Grundhaltung der Romantik und viele Formen des Exotismus kennzeichnend ist. Aber auch eine kulturrelativistische Einstellung, die deskriptiv vorgeht, auf Urteile verzichtet und den Anderen in seiner Andersheit anerkennt – ansatzweise begegnet sie uns etwa schon in Montaignes Essay „Des cannibales“ (1580) –, setzt die Dichotomie Eigenes/Fremdes voraus. Das gilt erst recht für „Fremdheitsbildungen, die mehr oder weniger bewußt gesteuerte, voluntative Fremdstellungen von Menschen, Kulturen oder Sachen vornehmen“ (Wierlacher 2003, 295) – zum Zweck der Bestätigung oder der Kritik der eigenen Kultur. Diese Strategie wird zum Beispiel von aggressiv national oder rassistisch gesinnten Gruppen, doch ebenso von jenen Aufklärern benutzt, die das Fremde instrumentalisieren, um damit die Mängel ihrer eigenen Gesellschaft zu entlarven oder ihr ein Vorbild vor Augen zu stellen, auf das sie sich zubewegen soll – und nicht zuletzt, um sich ihre eigene Vernünftigkeit zu bestätigen.16 16 Diese Strategie findet sich unter den bevorzugten narrativen Techniken der aufklärerischen Schriftsteller wieder. So unterscheidet Jean-Michel Racault (1988, 34-37)
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Prinzipiell auf die Abschaffung des Gegensatzes zwischen dem Eigenen und dem Fremden ist dagegen die Strategie der Assimilation angelegt, die entweder das Fremde ganz im Eigenen oder das Eigene ganz im Fremden aufgehen lassen möchte. Im Rahmen der postmodernen Interkulturalitätsdiskussion und der postkolonialen Theoriebildung sind wiederum Konzepte und Strategien in den Vordergrund getreten – zu nennen sind vor allem „Métissage, ‘Transkulturalität’, ‘Hybridität’, ‘Kreolisierung’, (Neo-)Baroque und Third Space/’Dritter Raum’“ (Lüsebrink 2003, 322) –, die in produktiver und subversiver Weise mit den inhärenten Grenzziehungen fremder Identitätsmuster umgehen. Auf die Unterminierung selbstgewisser Abgrenzungen zwischen dem Eigenen und dem Fremden und die darauf fußenden „präsenzmetaphysischen“ Identitätskonzepte zielen schließlich auch Jacques Derridas Methode der Dekonstruktion17 und Julia Kristevas psychoanalytisch beeinflusster Begriff der Fremdheit, der bei der unaufhebbaren Selbstdifferenz des Individuums ansetzt (1991 [1988]). Die extremste Form der Abschaffung des Gegensatzes zwischen dem Eigenen und dem Fremden ist aber sicherlich die Vernichtung des Fremden – oder des Eigenen.18 Wie lässt sich nun, ausgehend von einem kommunikationsbezogenen, semiotische, hermeneutische und diskurshistorische Elemente
drei Formen der Verfügung über das Andere, die sich auch überlagern können: 1. „identité masquée“ – die eigenen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse werden in ein utopisches oder exotisches Milieu verlagert, wie z. T. in Montesquieus Lettres persanes (1721); 2. „altération“ – in der fremden Welt fehlen Elemente, die in der eigenen kritisiert werden, wie zum Beispiel Staat und Religion in Diderots Supplément au voyage de Bougainville (1796); 3. „renversement“ – in der fremden Welt herrschen umgekehrte Wertmaßstäbe, so in der Eldorado-Episode von Voltaires Candide (1759), in der dem Gold nur Gleichgültigkeit entgegengebracht wird. 17 In der Umkehr von Hierarchien (renversement) und der Auflösung binärer Oppositionsbeziehungen (dissémination) bestehen bekanntlich die methodische Grundoperation – und das Ethos – der Dekonstruktion Derridas (vgl. 1972a, 367-393 u. 1972b, 56-64). 18 So bemerkt Adorno im Hinblick auf den Holocaust in Negative Dialektik (1966): „Der Völkermord ist die absolute Integration, die überall sich vorbereitet, wo Menschen gleichgemacht werden, geschliffen, wie man beim Militär es nannte, bis man sie, Abweichungen vom Begriff ihrer vollkommenen Nichtigkeit, buchstäblich austilgt. Auschwitz bestätigt das Philosophem von der reinen Identität als dem Tod.“ (1992, 355)
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integrierenden Identitätsbegriff, das Verhältnis von Literatur und Identität genauer bestimmen? Literatur ist zunächst, nicht anders als Identität, ein kulturelles, weil zeichenabhängiges Phänomen. Abgesehen davon ist oder kann Literatur ein Bestandteil kollektiver – kultureller oder nationaler – Identität sein, genauso wie andere kulturelle Praktiken. Umgekehrt manifestiert sich die Problematik kultureller Identität aber auch in der Literatur und wird von ihr in literaturspezifischer Weise modelliert. Dieser Gesichtspunkt steht hier im Zentrum des Interesses: Wie bestimmt der Identitätsdiskurs das Profil der Literatur, ihre Formen, ihre Funktionen und ihre Entwicklung? Wie kann die Literatur zur Bewältigung der Identitätsproblematik beitragen? Um eine vorläufig noch sehr allgemeine Antwort auf diese Fragen zu geben, soll der komplexe Gegenstandsbereich „Literatur“ in vier Teilgebiete aufgegliedert werden: Thematik, Poetik, Pragmatik und sozialer Kontext (vgl. Abbildung 2). Damit ist ein umfassender Rahmen abgesteckt, in dem sich die Textanalysen des zweiten Teils der Arbeit bewegen, die jedoch immer nur verschiedene, sich von Kapitel zu Kapitel ergänzende Teilaspekte aufgreifen werden, ohne sich dem starren Korsett einer solchen systematischen Erschließung des Gegenstandsbereichs zu unterwerfen.
Thematik
Poetik
Literatur und Identität
Pragmatik
Abbildung 2: Literatur und Identität
Sozialer Kontext
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2. Identität, Literatur und literarische Evolution
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Der thematische Aspekt bezieht sich auf die Literatur in ihrer Eigenschaft als möglicher Träger von Identitätsdiskursen und auf die unterschiedlichen Objektivierungen der Identität im Text. Zu fragen ist hier: Welche Gegenstände werden jeweils als identitätsrelevant angesehen? Welche Identitätskonzepte werden entwickelt, welche Identitätsstrategien angewendet? Wird die Thematisierung von Identität durch die Literatur eventuell selbst zum Thema, das heißt zum Gegenstand literarischer Selbstreflexion? Der poetologische Aspekt betrifft die literarische Formung durch rhetorische, poetische, diskursive, narrative und dramatische Verfahren. Einen Fall für sich stellt der Zusammenhang zwischen Identitätsbildung und Fiktionalität dar, eröffnet die Fiktion doch – vor allem in Kombination mit dem Erzählen – spezifische Möglichkeiten der Identifikation, der Antizipation, des „Probehandelns“ und der imaginativen Erfahrung mit dem Eigenen und dem Fremden. In den Bereich der „Poetik“ gehören darüber hinaus auch Fragen der Gattung und der Intertextualität, das heißt des Umgangs mit anderen Texten und Modellen, wozu insbesondere die Imitation oder Emanzipation von ausländischen Konzepten und Vorbildern zählt. Mit dem Begriff der Gattung ist allerdings schon die Grenze zur Pragmatik berührt. Gerade aus kulturwissenschaftlicher Perspektive darf die Kategorie der Gattung daher bevorzugt Aufmerksamkeit beanspruchen. Als System von Vertextungsregeln oder, je nach theoretischem Standpunkt, als institutionalisierte Sprachhandlung, die bestimmten kommunikativen Bedürfnissen einer Gesellschaft entspricht, erfüllt sie eine wichtige Relaisfunktion zwischen dem einzelnen literarischen Text und dem in Diskursen organisierten kulturellen Wissen bzw. den unterschiedlichen Formen sozialen Handelns.19 Allgemeiner formuliert, erstreckt sich der pragmatische Aspekt auf die Funktion der Thematisierung und literarischen Formung von Identität in einer spezifischen Kommunikationssituation und für eine 19 Vgl. dazu die Überlegungen zur Interdependenz von kulturellem Wissen, Textproduktion und sozialem Handeln, die Horst Thomé am Beispiel des Zusammenhangs von Fremdwahrnehmung und Identität in der deutschen und französischen Literatur anstellt (2000, bes. 2-4), sowie die Bemerkungen zur handlungstheoretischen Fundierung des Verhältnisses von Gesellschafts- und Diskursstrukturen bei Gumbrecht/Sánchez (1984, 17-22).
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bestimmte Gruppe oder kulturelle Gemeinschaft. Geht es vorrangig darum, Identität zu konstruieren, zu kritisieren, zu reflektieren oder zu korrigieren? Lassen sich aus den an die Literatur delegierten und von ihr übernommenen Aufgaben Rückschlüsse auf einen Funktionswandel der Literatur ziehen? Das sind die entscheidenden Fragen, die in diesem Zusammenhang zu stellen sind. Auch die Überschrift des zweiten Teils der Arbeit – „Literarische Inszenierungsformen des Identitätsdiskurses“ – betont die pragmatische Dimension literarischer Texte. Enthalten ist sie im Begriff der Inszenierung, der die Hypothese impliziert, dass Texte generell als Handlungsmodelle und als Spiegel des Sozialverhaltens aufgefasst werden können – im konkreten Fall natürlich des Handelns und Verhaltens gegenüber dem Eigenen und dem Fremden –, unabhängig davon, ob es sich jeweils um diskursive, narrative oder dramatische, fiktionale oder nicht-fiktionale Texte handelt. Unter den Aspekt der Pragmatik fällt überdies die Annahme, dass literarische Texte (privilegierte?) Orte des kulturellen Aushandelns/ Verhandelns von Identität seien, indem sie konventionelle Zuschreibungen des Eigenen und des Fremden bestätigen, in Frage stellen oder neu bestimmen. Man kann dieses Konzept theoretisch unterschiedlich fassen. Vor dem Hintergrund eines soziologischen Handlungsmodells wird man davon ausgehen, dass Verhandeln eine Tätigkeit ist, die von personalen, intentional handelnden Subjekten ausgeübt wird. Auf den literarischen Text übertragen, sind es der Autor, der Erzähler und die Figuren sowie ihre jeweiligen Adressaten, die auf unterschiedlichen Ebenen als Subjekte entsprechender Verhandlungsprozesse in Frage kommen. Ein anderes Modell der Verhandlung ist das des New Historicism oder der Poetics of Culture, die sich von der Vorstellung intentional handelnder Subjekte verabschieden und den literarischen Text in seinen kulturellen Kontext zurückstellen, wodurch dieser zum eigentlichen Ort der Verhandlung bzw. des Kampfes von Bedeutungs- und Sinnzuschreibungen wird.20 Einzelne Werke erscheinen damit „als Kraftfelder, als Orte des Meinungsstreites und changierender Interessen, als 20 Vgl. Stephen Greenblatts programmatische Ausführungen im Eröffnungskapitel „The Circulation of Social Energy“ seines Buchs Shakespearean Negotiations (1988, 1-20).
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2. Identität, Literatur und literarische Evolution
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Anlässe für ein Aufeinandertreffen von orthodoxen und subversiven Impulsen“ (Greenblatt, zit. n. Baßler 2001, 33). Dass auch die in der vorliegenden Arbeit analysierten Texte innerhalb des kulturellen Kontextes ihrer Zeit als „Kraftfelder“ innerhalb eines Prozesses der Zirkulation sozialer Energie aufgefasst werden können, in denen unterschiedliche Grenzziehungen zwischen dem Eigenen und dem Fremden aufeinander treffen, soll hier allerdings nur als Hypothese formuliert werden, deren Überprüfung als Aufgabe für weitere Untersuchungen bestehen bleibt. Um nicht nur eine theoretische Behauptung (oder eine modische Attitüde) zu bleiben, wäre dazu tatsächlich eine umfangreiche Rekonstruktion der kulturellen Kontexte und damit eine andere Vorgehensweise nötig, als die im Folgenden praktizierte. Trotz allem spielt natürlich auch der soziale Kontext, der den vierten und letzten der hier unterschiedenen Aspekte des Verhältnisses von Literatur und Identität darstellt, eine wichtige Rolle. Wenn man Identitätskonstruktionen als komplexe gesellschaftliche und kulturelle Prozesse begreift, reicht es nicht, die Problematik nur aus diskurshistorischer, werkanalytischer oder textpragmatischer Perspektive zu betrachten. Auch das Selbstverständnis der Autoren, ihre persönlichen Ambitionen, ihre Nähe und Ferne zur Macht, die Rolle der Institutionen, der Einfluss politischer Interessen und andere Faktoren, die man im weitesten Sinne als sozialhistorische Gegebenheiten bezeichnen kann, sind dann mit zu berücksichtigen. Nachdem das Verhältnis zwischen Literatur und Identität bisher vorwiegend unter systematischen Gesichtspunkten betrachtet wurde, soll abschließend noch das historisch-dynamische Moment des literarischen Wandels vom Ende des 17. bis zu den Anfängen des 19. Jahrhunderts ins Auge gefasst werden, und zwar ausschließlich im Hinblick auf seine mögliche Interdependenz mit dem Identitätsdiskurs. Es ist daher auch nicht von entscheidender Bedeutung, welchem Konzept der Literatur- und Kulturentwicklung man insgesamt den Vorzug gibt, etwa Jurij Tynjanovs im Umfeld des Russischen Formalismus entwickelter Theorie der „literarischen Evolution“ mit ihrer „Korrelation zwischen Literatur und sozialer Reihe“ (1981 [1927], 449) oder der an Niklas Luhmanns Systemtheorie orientierten Vorstellung der Ausdifferenzierung der Literatur als einem autonomisierten gesellschaftlichen Teilsystem, wie sie Siegfried J. Schmidt skizziert hat (1989). Wichtig ist in unserem
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Zusammenhang vor allem die Tatsache, dass diese beiden Theorien, wie auch vergleichbare andere literatursoziologische Ansätze, von der Voraussetzung ausgehen, dass Literatur bestimmte Leistungen für eine Gesellschaft erbringt, die ihrerseits bestimmte kommunikative Bedürfnisse auf semantischer Ebene entwickelt, deren Befriedigung sie von der Literatur einfordert. Die Kritik, Konstruktion und Reflexion von Identität kann als eine solche Leistung bzw. als ein solches Bedürfnis angesehen werden.21 Abgesehen von dieser grundsätzlichen Feststellung kommt es hier jedoch vor allem darauf an, dass sich das Verhältnis zwischen Identitätsdiskurs und literarischer Evolution auf vier kultur- und literarhistorisch relevante Phänomene beziehen lässt, die alle ausschnitthaft oder zumindest in exemplarischer Form im Zuge der weiteren Ausführungen zur Sprache gebracht werden: 1. die Herausbildung literaturzentrierter Handlungsrollen wie Autor, Kritiker, Publikum usw. und die Entstehung literaturspezifischer Institutionen; 2. die Neuordnung des literarischen Gattungssystems durch die Abkehr von traditionellen Gattungen, deren Transformation oder die Emergenz neuer Gattungen; 3. die konzeptuelle Entwicklung von der Rhetorik zur Ästhetik, von der Dichtung zur Literatur und von einem weiten zu einem engen Literaturbegriff; und 4. der Funktionswandel der Literatur von der höfischfeudalen Repräsentation und Unterhaltung über die Selbstverpflichtung, der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zu nützen, bis hin zur Privilegierung rein ästhetischer Zwecke.
21
Siehe zur kritisch-konstruktiven Auseinandersetzung mit literatursoziologischen Ansätzen aus systemtheoretischer (Luhmann) und literaturanthropologischer (Iser) Perspektive eingehender Sill (2001) sowie zur Frage der literarischen Evolution im Anschluss an den Russischen Formalismus Sanders (1987, 213-216).
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3 TEXTAUSWAHL UND THEMATISCHER AUFRISS
Für die Einzelanalysen, die den zweiten Teil der Arbeit bilden, wurden fünf Texte ausgewählt. Den Anfang machen Benito Jerónimo Feijoos Essaysammlung Teatro crítico universal, die zwischen 1726 und 1740 erschienen ist, sowie der Diario de los literatos de España aus den Jahren 1737 bis 1742, das erste spanische Gelehrtenjournal und eine der ersten Zeitschriften überhaupt, die in Spanien herausgegeben wurden. Darauf folgen zwei Verteidigungsschriften, José Cadalsos kurzes Traktat Defensa de la nación española contra la „carta persiana LXXVIII“ de Montesquieu, das um 1768/1771 entstanden ist, aber unveröffentlicht blieb, und Juan Pablo Forners umfangreiche Apologie Oración apologética por la España y su mérito literario aus dem Jahr 1786. Am Ende steht ein weiteres Werk José Cadalsos, der Briefroman Cartas marruecas, der zwar gegen 1774 beendet wurde, aber erst nach dem Tod des Autors gedruckt wurde, zum ersten Mal im Jahr 1789 in der Zeitschrift Correo de Madrid o de los ciegos. Vom Entstehungszeitraum der Texte her lassen sich zwei Schwerpunkte ausmachen: die spanische Frühaufklärung unter der Herrschaft Philipps V. (1700-1746) und die Phase des sogenannten despotismo ilustrado unter Karl III. (1759-1788). Damit ist auch die Grundlage für einen Vergleich zwischen diesen beiden Phasen gegeben. Ausgewählt wurden in doppelter Hinsicht kanonische Texte: Die angeführten Werke bilden den bekannten und bereits vielfach doku-
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mentierten Kernbestand des spanischen Identitätsdiskurses im 18. Jahrhundert, mit Ausnahme des Diario de los literatos de España, das aufgrund seiner Gattungszugehörigkeit erst jetzt in diesem Zusammenhang rezipiert zu werden beginnt.1 Als kanonisiert sind sie gleichzeitig auch in Bezug auf ihre literaturgeschichtliche Bedeutung zu betrachten, auch wenn das nicht für alle Texte in dem Maße gilt wie für Feijoos Teatro crítico universal und Cadalsos Cartas marruecas, die zu den „Klassikern“ des spanischen 18. Jahrhunderts gehören.2 Allerdings ist der Prozess der Kanonisierung fraglos eine relative Angelegenheit, zumal die Werke Feijoos und Cadalsos häufig nur zitiert wurden, um die Epigonalität der spanischen Literatur in dieser Zeit zu belegen. In Harold Blooms Buch The Western Canon, einem auf ästhetische Kriterien gestützten Kanon der Weltliteratur, wird man Beiträge aus der spanischen Literatur des 18. Jahrhunderts vergeblich suchen (vgl. 1994, 535).3 Auch in den Gesamtdarstellungen der Geschichte der spanischen Literatur besitzt das 18. Jahrhundert weiterhin den vergleichsweise geringsten Anteil. Indessen hat sich die allgemeine Forschungssituation zum spanischen 18. Jahrhundert, wie bereits betont wurde, in den letzten zehn Jahren signifikant gewandelt. Hinsichtlich der hier eingehender behandelten Texte schlägt sich diese Entwicklung zum Beispiel in neuen Texteditionen wie der kommentierten Ausgabe von Forners Oración apologética por la España y su mérito literario (1997) oder der kritischen
1
Vgl. zum literarischen Identitätsdiskurs u. a. Franco (1960), García Camarero (1970), Schmidt (1975), Hinterhäuser (1979), Bueno (1999, 450), Diz (2000), Onaindía (2002) und Santos (2002) sowie speziell zum Diario de los literatos de España Jüttner (2008a/b). 2 Eine Stichprobe aus den jüngeren deutschsprachigen Darstellungen zur Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts in Spanien von Floeck (1980), Flasche (1989), Gumbrecht (1990), Lope (1991), Tietz (1991b), Franzbach (1993), Ertler (2003a) und Schütz (2006) zeigt: Feijoos Teatro crítico universal und Cadalsos Cartas marruecas werden überall erwähnt, die übrigen Texte fehlen jeweils zweimal bei acht möglichen Erwähnungen. 3 In dem kürzlich erschienenen romanistischen Kolloquiumsband Aufklärung (Galle/Pfeiffer 2007), der es sich zur Aufgabe macht, dem unabgegoltenen Potenzial der Aufklärung vor allem bei den „großen“ Autoren nachzugehen, ist von 17 Beiträgen ein einziger einem spanischen Werk, nämlich Cadalsos Cartas marruecas, gewidmet (vgl. Witthaus 2007).
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Ausgabe von Cadalsos Cartas marruecas (2000) nieder. Ein Indiz für die Dynamik der Forschung sind die Sammelbände zu Feijoo (Urzainqui Miqueleiz 2003), zum Diario de los literatos de España (Jüttner 2008a/b) und zu Forners Oración (Cañas Murillo/Ángel Lama 1998). Allerdings ist festzuhalten, dass beipielsweise bis heute keine Gesamtausgabe der Werke Feijoos oder eine Biographie zu ihm vorliegt (vgl. Álvarez Barrientos 2005, 7) und dass etwa zu Cadalsos Defensa nahezu keine Sekundärliteratur existiert. Insgesamt bleibt zu konstatieren, dass auch die Forschung zu den übrigen Werken immer noch zumeist rein philologisch, historisch oder geistesgeschichtlich orientiert ist. Am stärksten an neueren theoretischen Konzepten und innovativen methodischen Zugängen interessiert erweist sich dabei noch die wissenschaftliche Beschäftigung mit Cadalsos Cartas marruecas. Die Entscheidung, das Verhältnis von Aufklärung, Identität und Literatur hauptsächlich an jenen Werken zu untersuchen, die traditionellerweise als Hauptquellen des spanischen Identitätsdiskurses im 18. Jahrhundert angesehen werden, ist darauf zurückzuführen, dass im Umgang mit diesen Werken auch generell die Bereitschaft am größten ist, ihren literarischen Charakter, der ansonsten ja durchaus gewürdigt wird, gerade in dem Moment auszublenden, in dem man sich für ihren in der Tat substanziellen Anteil an der Identitätsproblematik interessiert. In Bezug auf den literarischen Charakter der ausgewählten Texte ist noch zu präzisieren, dass sie einen ganz bestimmten Ausschnitt aus der spanischen Literatur des 18. Jahrhunderts repräsentieren, einen Ausschnitt, der zugleich impliziert, dass andere Bereiche in den Hintergrund treten, auch wenn sie im Folgenden nicht völlig unberücksichtigt bleiben. Die Eingrenzung des Untersuchungsfeldes bedeutet ja nicht, dass diese Bereiche im Hinblick auf ihre Beziehung zur Identitätsproblematik irrelevant wären. Weitgehend ausgespart wird das, was im zeitgenössischen Verständnis als „Dichtung“ galt und was wir heute im engeren Sinne als „Literatur“ bezeichnen: poesía, poesías dramáticas und poema épico, um der Einteilung von Ignacio de Luzáns La poética (1737/1789) zu folgen. Ausgespart werden andererseits auch weit verbreitete volkstümliche Literaturformen wie Almanache, pronósticos, Flugblätter, Ratgeber und die sogenannte literatura de cordel sowie entsprechende Formen des Theaters wie das sai-
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nete.4 Obwohl die ausgewählten Werke weder zur kanonisierten Dichtung noch zur volkstümlichen Literatur zu rechnen sind, gehören sie doch auch nicht zu dem Bereich, den Francisco Aguilar Piñal in der von ihm herausgegebenen Historia literaria de España en el siglo XVIII (1996) als „literatura de erudición“ bezeichnet, die zusammen mit der „literatura de creacíon“ den weiten, etymologischen Begriff von literatura im 18. Jahrhundert als kulturellem Wissen in verschrifteter Form konstituiert.5 Vielmehr handelt es sich ausnahmslos um Texte, die von einer relativ kleinen aufgeklärten und reformorientierten Elite stammen und nicht-kanonisierten Gattungen wie Essay, Zeitschrift, Apologie und Roman angehören, die im 18. Jahrhundert neu sind oder zumindest eine entscheidende Neuausrichtung erfahren. Das macht sie für eine Arbeit, die an dem Zusammenhang von Identitätsdiskurs, Aufklärung und literarischer Evolution im 18. Jahrhundert interessiert ist, zu einem bevorzugten Erkenntnisgegenstand.6 Aus dem Erkenntnisinteresse der Arbeit leitet sich der folgende Aufbau ab: Der erste Teil entfaltet in drei Abschnitten die kultur- und literarhistorischen Rahmenbedingungen des Themas und bereitet damit die Textanalysen des zweiten Teils vor. Im ersten Abschnitt wird gezeigt, dass das vergleichsweise geringe historische Interesse, das dem spanischen 18. Jahrhundert lange Zeit entgegengebracht wurde, angesichts der zentralen Stellung, die es in zwei divergenten Erzählungen der spanischen Geschichte einnimmt, ungerechtfertigt erscheint. Seine Bedeutung im Gesamtverlauf der spanischen Geschichte gewinnt es zum einen als Kulminationspunkt einer teleologischen Geschichtserzählung, für die der Nationalstaat das Ideal der gesellschaftlichen Organisation und die höchste Form der kollektiven
4 Vgl. zu den volkstümlichen Literatur- und Kulturformen u. a. Marco (1977), Huerta Calvo/Palacios Fernández (1998) u. Palacios Fernández (1998). 5 Vgl. die berechtigte Kritik Siegfried Jüttners an dieser Unterscheidung: „Leider zerstört die dem 19. Jahrhundert entstammende Trennung in zwei Bereiche – literatura de creación und literatura de erudición – gerade das für das enzyklopädische Denken der Aufklärung so charakteristische Streben nach Grenzüberschreitung, dem wir den Gattungswandel im 18. Jahrhundert ebenso verdanken wie den Typ von Literatur, der auf die Verbindung von erudición und ficción setzt.“ (1999, 28) 6 Dabei bleibt zu betonen, dass sich der Identitätsdiskurs in Spanien gleichermaßen kodifizierter wie nicht-kodifizierter Gattungen bedient.
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Identität darstellt, und zum anderen als Quellgebiet eines sich bis ins 20. Jahrhundert fortsetzenden Identitätsdiskurses, der sich aus der Vorstellung eines tragischen, weil für unausgleichbar gehaltenen Gegensatzes zwischen der Realität Spaniens und seinem „Wesen“ bzw. zwischen Spanien und dem europäischen Ausland speist. Während aus der spanischen Binnenperspektive die Neigung besteht, in der konstanten Infragestellung der eigenen Identität ein spezifisches Merkmal der spanischen Identität selbst zu sehen, drängen sich aus der Außenperspektive neben partiellen Übereinstimmungen mit den „verspäteten“ Nationen Italien und Deutschland vor allem Parallelen zur russischen Geschichte auf, die geeignet sind, die Einmaligkeit des von und für Spanien reklamierten Sonderwegs zu relativieren. Anschließend werden im zweiten Abschnitt die wichtigsten Formatoren des spanischen Identitätsdiskurses im 18. Jahrhundert rekonstruiert. Damit soll eine Antwort auf die historisch bedeutsame Frage gegeben werden, warum gerade dieser Diskurs an diesem Ort und zu dieser Zeit auftritt. Als grundlegend für die Herausbildung eines spanischen Alteritätsbewusstseins im 18. Jahrhundert werden im Einzelnen untersucht: 1. die Diagnose vom Niedergang Spaniens sowie die Argumente der historischen Rück- und der geographischen Randständigkeit; 2. die starke Präsenz insbesondere der französischen Kultur, die Züge einer inneren Kolonisierung annimmt und sich in der Literatur in einer Reihe von Standardmotiven wie dem majo und dem petimetre sowie in der vor allem die zweite Hälfte des Jahrhunderts prägenden kontroversen Diskussion um die Begriffe afrancesamiento und civilización niederschlägt; 3. das Zerrbild, das namentlich die französischen Aufklärer (Montesquieu, Voltaire, Rousseau, Masson de Morvilliers, Rivarol u. a.) von Spanien als dem „Anderen“ Europas zeichnen; und 4. die in Spanien stärker als in anderen Ländern Europas tabuisierte und sanktionierte Kritik an Staat und Kirche, die Reichweite und Grenzen der Aufklärungsbewegung – in vielen Fällen mit Zustimmung der Betroffenen – einschränkt. Der dritte Abschnitt liefert einen Überblick über die Bereiche, in denen sich im 18. Jahrhundert der Identitätsdiskurs und die Evolution der Literatur als Symbol- und Sozialsystem berühren und aufeinander reagieren. Im Rahmen der für die Kultur staatlicherseits vorgezeich-
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neten Grenzen und Aufgaben entwickelt sich die Literatur zum zentralen Medium, in dem kulturelle und nationale Identitäten verhandelt werden. Auch die Literatur selbst wird dabei zum Objekt von Identitätsverhandlungen. Wie anhand des Theaters und der Lyrik, aber auch der „neuen“, besonders realitätsnahen Gattungen Essay, Zeitschrift und Roman und nicht zuletzt am Beispiel der für die kulturelle Situation Spaniens typischen Apologie illustriert werden soll, prägt der Identitätsdiskurs in Verbindung mit bestimmten kulturellen Institutionen und kulturpolitischen Interessen das Profil des spanischen Literatursystems im 18. Jahrhundert sowie Art und Richtung seiner Veränderung in markanter Weise. Der zweite Teil der Arbeit widmet sich in ausführlichen Einzelanalysen den unterschiedlichen Inszenierungsformen des Identitätsdiskurses in vier diskursiven, nicht-fiktionalen und einem – zumindest tendenziell – narrativ-fiktionalen Werk. Als exemplarische Zeugnisse der frühen Aufklärung werden zunächst Benito Jerónimo Feijoos Teatro crítico universal (1726-1740) und die Zeitschrift Diario de los literatos de España (1737-1742) behandelt. An Feijoos Teatro crítico universal wird gezeigt, wie sich die für die spanische Aufklärungsbewegung spezifische Kontextbindung noch vergleichsweise problemlos mit einer universalistischen Grundhaltung verbindet, in der die Leitdifferenz Eigenes/Fremdes den Kriterien alt/neu und falsch/richtig untergeordnet wird, wie sie für das Fortschrittsparadigma und ein Konzept der Aufklärung verbindlich sind, das sich im Wesentlichen durch die Korrektur und Verbreitung von Wissen definiert. Eine ähnliche Form des Wissenstransfers, die sich in den Dienst eines allgemeinen Identitätswandels stellt, praktiziert auch der Diario de los literatos de España mit Hilfe der Gattung der Rezension. Zwei Aspekte werden hier eingehender beleuchtet: die transdiskursive Funktion der Konzepte der nationalen und kulturellen Identität und die legitimations- und machtstrategische Instrumentalisierung des kritisch-aufklärerischen Rekurses auf die Nation. Die beiden anschließenden Textanalysen beschäftigen sich mit Verteidigungsschriften aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, und zwar mit José Cadalsos direkt auf den 78. Brief aus Montesquieus Lettres persanes (1721) antwortender Schrift Defensa de la nación española contra la „carta persiana LXXVIII“ de Montesquieu (1768/1771) sowie
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mit der prominentesten und umstrittensten aller Apologien, Juan Pablo Forners Oración apologética por la España y su mérito literario (1786). Beide Texte zeugen, wie die Konjunktur der nationalen Apologie insgesamt, von einem veränderten kulturellen Klima und einer signifikanten Verschiebung innerhalb der Diskursformation der spanischen Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Sowohl Cadalso als auch Forner bedienen sich unterschiedlicher Formen „unkommunikativen Handelns“. Während sich Cadalso jedoch letztlich auf einen Wertekanon beruft, den er mit seinem Kontrahenten teilt, propagiert Forner das Konzept einer spanischen Gegenidentität, dessen polemische Fassade allerdings auch dialogische und gerade im Hinblick auf den Konnex zwischen Identitätsdiskurs und literarischer Evolution zukunftsweisende Elemente verbirgt, die man leicht übersieht. Gegenstand der letzten Textanalyse ist José Cadalsos kombinierter Brief- und Reiseroman Cartas marruecas (1774/1789). Die Analyse der Cartas marruecas konzentriert sich auf die Imitation, Adaptation und Kritik eines fremden, unter anderem von Montesquieus Lettres persanes repräsentierten Gattungsmodells unter nationalen Vorzeichen und eigenkulturellen Prämissen, wobei der nicht allein geographischen Nähe Spaniens zu Afrika eine entscheidende Rolle beigemessen wird. Weitere Schwerpunkte bilden die Entwicklung eines reflexiven Identitätskonzepts, in dem sich ein spanienkritischer Eurozentrismus und ein europakritischer Ethnozentrismus überlagern, und schließlich die grundlegende Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem nationalspanischen Identitätsdiskurs und der Herausbildung fiktionaler Erzählformen in Spanien im 18. Jahrhundert.
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ERSTER TEIL KULTUR- UND LITERARHISTORISCHE RAHMENBEDINGUNGEN
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1 DIE SCHLÜSSELROLLE DES 18. JAHRHUNDERTS
A)
SPANIEN ALS STAAT UND NATION
Im Laufe ihrer Beschäftigung mit den Phänomenen der Nation, des Nationalismus und des Nationalstaats hat die Geschichtswissenschaft verschiedene Typologien entwickelt, um Ordnung in die irritierende Vielfalt der betreffenden Erscheinungsformen und Entstehungsprozesse zu bringen. Eine der geläufigsten Unterscheidungen, die in diesem Zusammenhang zur Anwendung kommen, ist das Verhältnis von Staat und Nation. Während der „Staat“ als „territoriale Einheit unter einer souveränen Herrschaftsgewalt“ definiert werden kann, versteht man heute unter „Nation“ in der Regel ein „geistiges Prinzip“ (Ernest Renan), eine „Idee“ (Max Weber), „Erfindung“ (Eric J. Hobsbawm), „Erzählung“ (Homi K. Bhabha), „vorgestellte Gemeinschaft“ (Benedict Anderson) oder „gedachte Ordnung“ (Emerich Francis). Diesem Verständnis nach ist die Nation keine Wesenheit oder gleichsam natürliche Einheit mehr, sondern, wie die neuere Nationalismusforschung insbesondere seit 1983 betont,1 ein kulturelles Konstrukt, dessen Verfechter sich den jeweiligen Umständen und Bedürfnissen entsprechend auf „protonationale“ Gemeinsamkeiten wie Sprache, Religion, Volk, Territorium, Geschichte,
1
In diesem Jahr erschienen gleichzeitig die in der Folge höchst einflussreichen Bücher von Ernest Gellner, Nations and Nationalism, Benedict Anderson, Imagined Communities, und Eric J. Hobsbawm/Terence Ranger (Hrsg.), The Invention of Tradition.
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I. Kultur- und literarhistorische Rahmenbedingungen
Herkunft, Tradition etc. berufen, wobei einige dieser Elemente ihrerseits wieder auf „Erfindungen“ beruhen können.2 Auf der Grundlage des Verhältnisses von Staat und Nation lassen sich zwei idealtypische Erscheinungsformen bzw. Entstehungsprozesse der Nation unterscheiden: Entweder folgt die Nation dem Staat oder der Staat der Nation. Der deutsche Historiker Friedrich Meinecke hat für diesen Gegensatz das zum Teil heute noch verwendete Begriffspaar „Staatsnation“ versus „Kulturnation“ geprägt (1908, 2f.).3 Klassische Staatsnationen sind zum Beispiel England und Frankreich. Beide Länder haben sich gegen Ende des 15. Jahrhunderts als einheitliche Staatsterritorien etabliert und in der Folge eine innere Nationalisierung erfahren, bei der erfolgreiche Revolutionen, die Englische Revolution von 1642 bis 1659 und die Französische Revolution von 1789, eine entscheidende, anderen Ländern als Vorbild dienende Rolle spielten. Bei den „verspäteten“ Kulturnationen Italien und Deutschland verlief dieser Prozess dagegen umgekehrt. Hier ging die Idee der Nation der staatlichen Einigung voraus, die erst im 19. Jahrhundert mit diplomatisch-militärischen Mitteln durchgesetzt wurde, in Italien durch Cavour (1861) und in Deutschland durch Bismarck (1871). Gegründet war die nationale Idee jeweils auf die emphatische Vorstellung einer gemeinsamen Sprache und Kultur, und getragen wurde sie von einer relativ kleinen Bildungselite aus Gelehrten und Intellektuellen bürgerlich-aufgeklärter Herkunft. Von außen betrachtet, scheint es gar keine Frage zu sein, welchem der beiden Modelle Spanien zuzuordnen ist. Die Vereinigung der Königreiche Kastilien und Aragón im Jahr 1479 und der Abschluss der Reconquista wenige Jahre danach schufen die Voraussetzungen dafür, dass sich Spanien als „Staatsnation“ entwickelte. Der Historiker Juan Pablo Fusi gibt daher nur den allgemeinen Konsens wieder, wenn er feststellt: „España fue, con Francia e Inglaterra, una de las primeras entidades nacionales de Europa.“ (2000, 9). Angesichts der bereits im
2
Siehe das Kapitel „Popular proto-nationalism“ in Hobsbawm (1990, 49-79). Meinecke betont aber auch, dass eine strenge Unterscheidung zwischen Staatsund Kulturnation nicht möglich ist. Vgl. außerdem Habermas (1996) sowie die Überblicksdarstellungen von Hagen Schulze (1994, bes. 126-150) und Hans-Ulrich Wehler (2001, bes. 51-45). 3
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1. Die Schlüsselrolle des 18. Jahrhunderts
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Mittelalter vorhandenen politischen Strukturen könne man Spanien sogar „casi como arquetipo de nación“ (47) bezeichnen.4 Unter der Herrschaft der Reyes Católicos und der Casa de Austria trugen eine ganze Reihe integrierender und unifizierender Faktoren dazu bei, dass sich die Einwohner Spaniens schon früh als nationale Gemeinschaft erfahren konnten. Von entscheidender Bedeutung waren dafür die Vertreibung der Juden und Muslime, die enge Verflechtung von Staat und Kirche, die sich unter anderem in der Einführung der Inquisition (1478) manifestierte, sowie die nicht zuletzt aus religiösem Sendungsbewusstsein unternommene Großanstrengung der Conquista. Hinzu kamen die mentalitätsgeschichtlich bedeutsamen Ideologeme der Ehre und der limpieza de sangre. Weitere Faktoren waren die Konzentration der politischen Macht auf den Königshof, die Zentralisierung der Verwaltung und der Aufbau einer komplexen Bürokratie. Darüber hinaus förderten die rasche Ausbreitung der kastilischen Sprache und die einzigartige Hochphase der Literatur und Kunst in den Siglos de Oro den innerstaatlichen Zusammenhalt. Was sich bis zum 18. Jahrhundert beobachten lässt, ist freilich im Sinne der neueren Nationalismusforschung nicht mehr als die Akkumulation nationsfördernder Bedingungen. Als oberstes Legitimationsprinzip, als Vorstellung einer Gemeinschaft, die über traditionellen Loyalitätsbindungen steht, als allgemeine Bezugsgröße divergierender gesellschaftlicher Gruppierungen gewinnt die Nation erst im 18. Jahrhundert, und insbesondere in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, während der Regentschaft des Bourbonen Karls III., zentrale Bedeutung. So resümiert Fusi: „ni Castilla ni las castas ni la mística: el reformismo ilustrado articuló la nación española.“ (125)5
4 Fusi zitiert in diesem Zusammenhang José Ortega y Gasset, der in seinem 1949 in Berlin gehaltenen Vortrag „De Europa meditatio quaedam“ behauptet hatte, dass Spanien, nicht Frankreich das erste Land auf dem Kontinent gewesen sei, das sich als „Estado nacional unitario“ konstituiert habe (Fusi 2000, 37; vgl. auch Ortega y Gasset 1965, 288). 5 In diesem Sinne äußern sich auch José Antonio Maravall: „el ilustrado ha creado la más fuerte, la más potente, la más caliente forma de comunidad política: la nación“ (1979, 311), Julián Marías: „España, cuya unificación efectiva como verdadera nación alcanza su máximo en el siglo XVIII, precisamente por haber llevado a término su proceso de nacionalización y no sentirlo todavía en ningún sentido amenazado“ (1988, 31) und Pierre
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Für die spanische Krone bietet die aufklärerische Reformpolitik, die sich in den Dienst nationaler Interessen und des allgemeinen Wohlergehens stellt („todo para el pueblo pero sin el pueblo“), nicht nur den Vorteil, den Dynastiewechsel von den Habsburgern zu den Bourbonen nachträglich zu legitimieren, sondern auch dem schleichenden Legitimationsverlust entgegenzuwirken, dem die Regierungsform der absoluten Monarchie in Europa im fraglichen Zeitraum insgesamt unterliegt.6 Dass auch das „Volk“ sich als Instanz zu verstehen beginnt, das von seinen Herrschern Rechenschaft verlangen kann, wird schlagartig in einer Episode des in vielerlei Hinsicht symptomatischen motín de Esquilache vom März 1766 deutlich, als die Aufständischen ausdrücklich auf dem persönlichen Erscheinen des Königs vor der auf der Plaza Mayor versammelten Volksmenge bestehen.7 Vor allem aber hält die Idee der Nation Einzug in den intellektuellen Diskurs der Zeit. Cadalso, Forner, Jovellanos, Aranda, Floridablanca und viele andere aufklärerisch gesinnte Schriftsteller und Politiker gründen ihr Selbstverständnis auf die neue Rolle eines Verteidigers, Kritikers, Dieners und Vordenkers der Nation. Eine zukunftsweisende und zum Teil in ihrer Reichweite noch verkannte Übergangsstellung nehmen hier in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Werk Benito Jerónimo Feijoos, aber auch Zeitschriften wie das Diario de los literatos de España ein, deren Rolle im zweiten Teil dieser Arbeit noch im Detail untersucht werden wird.8 Der entscheidende Schritt auf dem Weg zur modernen Nation vollzieht sich in Spanien jedoch erst in dem Moment, als die für den despotismo ilustrado und den von ihm praktizierten „Nationalismus von oben“ konstitutive Allianz von Königsmacht und aufgeklärter
Vilar: „fué en el siglo XVIII cuando España estuvo más cerca del modelo estado-naciónpotencia“ (1982, 41). 6 Vgl. Antonio Domínguez Ortiz: „la Monarquía absoluta quedaba en el aire, sin justificación doctrinal“ (1988, 96). Eine aktuelle Einschätzung des Dynastiewechsels aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft bietet Fernández Albaladejo (2001). 7 Siehe zu diesem signifikanten Detail Bernecker/Pietschmann (2000, 178) und zum motín de Esquilache als kulturellem, sozialem und politischem Konflikt darüber hinaus Marías (1988, 172-184); Domínguez Ortiz (1988, 63-93) u. Gelz (1999). 8 Eine kurze Zusammenfassung der spanischen Einheitsbestrebungen im 18. Jahrhundert in Theorie und Praxis liefert Anes (1997).
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Elite auseinanderbricht, eine Entwicklung, die sich bereits in den letzten Regierungsjahren Karls III. abzeichnet. Unter dem Eindruck des Prestigeverfalls, den die spanische Monarchie dann unter Karl IV. und seinem Minister Godoy (1792-1808) erleidet, und des für ganz Europa beispielhaften Befreiungskampfes gegen die napoleonische Fremdherrschaft setzt sich ein neues Verständnis der Nation durch, das sich auf den Gedanken der Freiheit, der Volkssouveränität und der Staatsbürgerschaft gründet und seinen Niederschlag in der Verfassung von Cádiz aus dem Jahr 1812 findet. Dieses moderne Nationenverständnis entwickelt sich bezeichnenderweise in einer Situation, in der Spanien als Staat die bisher schwerste Krise seiner Geschichte durchläuft. Das Ergebnis dieser Entwicklung ist dann auch, wie Fusi pointiert feststellt, paradox und wird der Bildung eines spanischen Nationalstaates auf Jahrzehnte hinaus im Wege stehen. Aus einer der ältesten Staatsnationen ist zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Nation ohne Staat geworden: „España, que era una nación, que había sido [...] incluso el arquetipo de nación moderna desde principios del XVI, se había quedado sin estado.“ (161) Wenn man die zuletzt erwähnten und für den weiteren Verlauf der spanischen Geschichte im 19. Jahrhundert folgenschweren Ereignisse der Jahre 1808 bis 1814 einmal ausklammert, überwiegt gleichwohl ein anderes, positiveres Bild – ein Bild, das schon Voltaire in seinem Essai sur les mœurs et l’esprit des nations (1756) mit Blick auf die HabsburgerÄra zu der Bemerkung veranlasste: „On disait alors que la fierté, la dévotion, l’amour, et l’oisiveté, composaient le caractère de la nation; mais aussi il n’y eut aucune de ces révolutions sanglantes, de ces conspirations, de ces châtiments cruels, qu’on voyait dans les autres cours de l’Europe.“ (1963, 633) So bleibt zu betonen, dass die Geschichte Spaniens als Staat und Nation trotz der selbstverständlich vorhandenen inneren Spannungen und regionalen Unterschiede im europäischen Vergleich, vor allem im Gegensatz zu Frankreich, zumindest bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts erstaunlich „normal“ und unproblematisch verläuft, eine Bewertung, die sich auch an den in der jüngeren Geschichtsschreibung immer wieder herangezogenen Attributen „früh“, „modern“, „fortschrittlich“, „kontinuierlich“, „vorbildlich“ etc. ablesen lässt. Sicher ist dies auch einer der Gründe dafür, warum
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diese Geschichte – gewissermaßen der Bildungsroman der spanischen Nation – bisher eher selten erzählt wurde.9
B)
SCHWIERIGE IDENTITÄT
Sehr viel häufiger erzählt, und zwar in Spanien selbst wie im übrigen Europa, wurde bekanntlich eine andere, emotional, aber auch intellektuell und für Intellektuelle interessantere Geschichte: die Geschichte Spaniens als Drama oder Tragödie. Das dramatische oder tragische Element dieser Form des emplotments (Hayden White) der spanischen Geschichte beruht auf der Annahme eines doppelten Gegensatzes, der in manchen Augen – allerdings nicht in denen der meisten spanischen Aufklärer – so tief geht, dass er schlechthin „unausgleichbar“ (so Goethes Definition des Tragischen) erscheint: der Gegensatz zwischen der Realität Spaniens und seinem „Wesen“ oder seiner „Bestimmung“, wie auch immer diese jeweils definiert bzw. imaginiert sein mögen, und – damit in engem Zusammenhang stehend – der Gegensatz zwischen Spanien und dem europäischen Ausland. Das Postulat dieser beiden Gegensätze bildet die Grundlage eines sich durch vier Jahrhunderte hindurch ziehenden Identitätsdiskurses, der sich wiederum aus Teildiskursen zusammensetzt, zu deren Bezeichnung sich, je nachdem, 9
Hobsbawm zufolge gilt das bis zum Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts nicht nur für Spanien: „The development of nations and nationalism within old established states such as Britain and France, has not been studied very intensively, though it is now attracting attention.“ (1990, 11). Manfred Tietz stellt 1991 fest, dass „für Spanien diesbezüglich kaum Arbeiten vorliegen“ (1991a, 321). Auch Friedrich Wolfzettel verweist auf „das Fehlen systematischer Forschung in diesem Bereich“ (1999, 10). In den 1990er Jahren erlebte die Erforschung nationaler und kultureller Identitäten dann allgemein einen enormen Aufschwung. So entwickelte sich „Identität“ etwa zum zentralen Paradigma der Lateinamerikanistik. In Bezug auf Spanien konzentrierte sich das Interesse jedoch überwiegend auf den Nationalismus der Regionen und den Diskurs der Generation von 98 sowie der Zeit danach. Vgl. dazu Herr/Polt (1989), Fox (1997) u. Varela (1999). Fusis Buch ist die erste jüngere Publikation, die sich ausdrücklich mit der „evolución de la identidad nacional“ aus einer gesamtspanischen Perspektive auseinandersetzt. Mario Onaindía bevorzugt dagegen für seine Darstellung der Nationenbildung im 18. Jahrhundert den Terminus „la construcción de la nación española“ (2002). Zur Geschichte Spaniens als Nation siehe auch Hernández Sánchez-Barba (1995).
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ob eher intra- oder interkulturelle Aspekte im Vordergrund stehen, verschiedene Formeln eingebürgert haben: „El problema de España“, „España y Europa“, „Las dos Españas“ usw. – Formeln, die ihrerseits häufig als problematisch empfunden wurden und zu Diskussionen Anlass gaben. Die sich aus unterschiedlichen Teildiskursen zusammensetzende Meta-Erzählung von der prekären Identität Spaniens entsteht zu Beginn des 17. Jahrhunderts, konfiguriert sich dauerhaft im 18. Jahrhundert, beherrscht die Diskussion der Liberalen im 19. Jahrhundert und bildet noch das integrative Moment der ansonsten so heterogenen Generation von 98.10 Dann setzt sie sich in den großen Historikerdebatten der 40er und 50er Jahre des 20. Jahrhunderts fort und erreicht einen letzten Höhepunkt im Zuge der gesellschaftlichen Transformation nach dem Ende des Franquismus. Noch 1997 erscheint, herausgegeben von der Real Academia de la Historia, ein voluminöser Band mit dem bezeichnenden und zugleich wegen seines unverhohlenen Essenzialismus eigentümlich anachronistisch anmutenden Titels España. Reflexiones sobre el ser de España. Ja, man kann sagen, dass die im Laufe der Jahrhunderte unter wechselnden Begriffen und aus ganz unterschiedlichen Interessen immer wieder neu entfachte Diskussion um die schwierige Identität Spaniens bis in die unmittelbare Gegenwart nicht zur Ruhe gekommen ist.11 10
Vgl. dazu Jochen Mecke (1998), der insbesondere auch die ästhetische Dimension der Literatur von der Identitätsproblematik berührt sieht: „El problema que se plantea a los discursos del 98 [...] es entonces un problema de identidad que se manifiesta tanto en el nivel estético como en el nivel intelectual, tanto en su dimensión individual como en la dimensión colectiva.“ (120) 11 Die wichtigsten Zeugnisse der historischen Debatte über die schwierige Identität Spaniens sind, wie bereits erwähnt, dokumentiert und kommentiert in: Franco (1960 [1944], Cervantes bis Ortega y Gasset); García Camarero (1970, Feijoo bis Baroja); Schmidt (1975, Quevedo bis Ortega y Gasset) u. Hinterhäuser (1979, Feijoo bis Del Castillo). Die Aktualität der Thematik belegen die umfangreichen Beiträge des Philosophen Gustavo Bueno zum historischen Status Spaniens als Imperium und Nation (1999 u. 2005) sowie die historisch ausgerichteten Arbeiten von Alejandro Diz zum Verhältnis von Spanien und Europa im 18. Jahrhundert (2000), Mario Onaindía zur Konstruktion der Nation im Spannungsfeld von Republikanismus und Nationalismus (2002) und Santos Juliá zur Frage der „zwei Spanien“ (2004). Zur komplementären Geschichte des Bildes der „España desde fuera“ siehe den gleichnamigen Überblicksartikel von Iglesias (1997) sowie García Cárcel (1992).
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An dem sich über einen so großen Zeitraum entwickelnden und entsprechend facettenreichen spanischen Diskurs über Spanien und sein Verhältnis zu Europa sind in unserem Problemhorizont vor allem zwei Aspekte von Interesse: die spezifische Form, die dieser Diskurs im 18. Jahrhundert erhält, und die ebenfalls im 18. Jahrhundert zum ersten Mal auftretende Bereitschaft, die spanische Suche nach Identität für ein besonderes Charakteristikum der spanischen Identität selbst zu halten. Für die Annahme, dass der spanische Identitätsdiskurs, der sich bis ins 20. Jahrhundert fortsetzt, sein eigentliches Ursprungsgebiet im 18. Jahrhundert besitzt, sprechen verschiedene Gründe. Mit Juan Pablo Fusi lassen sich beispielsweise das Aufkommen des Nationalgedankens, das Reflexivwerden der Identität und die Hinwendung zur Geschichte als Argumente anführen: „Pues bien, lo que iba a producirse a lo largo del siglo XVIII era precisamente esto: la aparición del sentimiento de nación, la elaboración de ideas y teorías sobre España y su historia.“ (2000, 123)12 María del Carmen Iglesias hebt als charakteristisches Merkmal dagegen stärker das Moment der spanischen Selbstkritik hervor, das sie als Interiorisierung des sich im 18. Jahrhundert vor allem in Frankreich verfestigenden kritischen Spanienbildes betrachtet: das Heterostereotyp wird zum Autostereotyp.13 Der wichtigste Grund ist aber vielleicht doch in der spezifischen Konfiguration zu sehen, die sich daraus ergibt, dass sich das interkulturelle Verhältnis zwischen Spanien und Europa im 18.
12
Vgl. dazu die ähnlichen Begründungen von Antonio Mestre: „la centuria en que empezó a cuestionarse la historia de España“ (1983, 73), François Lopez: „Il n’est peutêtre pas à cette époque une seule grande entreprise intellectuelle qui n’ait pas pour but avoué de réhabiliter la nation dénigrée par les étrangers et d’ouvrir les yeux des Espagnols eux-mêmes“ (1976, 339) und Julián Marías in Bezug auf den Stellenwert der „interpretación de sí misma“ für die spanische Gesellschaft: „Una cuestión decisiva fue en el siglo XVIII la constitución de esta idea o interpretación. Si se mira bien, se ve que fue el tema intelectual del siglo; durante él, la preocupación de España adquiere modulaciones características“ (1988, 30, Hervorhebung im Original). 13 Die gesteigerte Überzeugungskraft, die das im Ausland vorherrschende kritische Spanienbild im 18. Jahrhundert gewinnt, erklärt Iglesias folgendermaßen: „The writers of the Enlightenment [...] accepted the black legend and gave it a place within a coherent general history of Europe, thereby creating the definitive stereotype of the Spanish essence for the modern world, and bestowing upon it the weight of their authority, thus giving it the appearance of a foregone rational conclusion.“ (1989, 144)
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Jahrhundert durch eine analoge intrakulturelle Frontstellung verdoppelt, die dann zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf den Begriff der „zwei Spanien“ gebracht werden wird.14 Dass der spanische Identitätsdiskurs selbst eine identitätsstiftende Funktion innerhalb der spanischen Kultur zu übernehmen vermag, zeigt sich ganz deutlich im Zuge der historiographischen Rekonstruktion des „Spanienproblems“ im 20. Jahrhundert. So stellt Dolores Franco, eine Schülerin von Pedro Salinas, in der Einleitung zu ihrer Anthologie España como preocupación, die zum ersten Mal bereits 1944 unter dem Titel La preocupación de España en su literatura erschienen war, in Bezug auf die „vena de honda preocupación nacional“ fest, von der sie die spanische Literatur insgesamt durchzogen sieht: „Su persistencia, su volumen y su matiz hacen de ella algo específico de nuestras letras, casi desconocido en otros países.“ (1960, 19) Und noch die Historikerin María del Carmen Iglesias sieht ein halbes Jahrhundert später in der Intensität und Dauerhaftigkeit des Identitätsdiskurses ein spanienspezifisches Kulturmerkmal: „A lo largo de nuestra historia, sorprende – a diferencia de la historia nacional de otros países – la continuada visión autocrítica de la cultura española.“ (1997, 383f.) Doch gerade diese selbstkritische Sicht auf die eigene Kultur wird auch schon im 18. Jahrhundert als spanische Eigenheit reflektiert und als strategisches Mittel innerhalb des Identitätsdiskurses bewusst eingesetzt, wie ich im zweiten Teil dieser Arbeit am Beispiel von Juan Pablo Forners Oración apologética por la España y su mérito literario zeigen werde. Aus einer Perspektive des kulturtypologischen Vergleichs stellt sich die spanische Situation indessen nicht ganz so einzigartig dar, wie es der spanische Identitätsdiskurs glaubhaft machen will. Abgesehen von partiell vergleichbaren Umständen in Deutschland und Italien ist das Profil der spanischen Kultur und Gesellschaft in seiner Gesamtheit vor allem mit der Entwicklung Russlands vergleichbar. Das beginnt mit den Reformen „von oben“, die der „aufgeklärte Absolutismus“ im 18. Jahrhundert unter Peter dem Großen (1682/89-1725) und Katharina II. (1762-1796) einleitet und deren Wirksamkeit unter anderem aufgrund des großes Gefälles zwi-
14
Vgl. zum Thema der „dos Españas“ u. a. de Figueiredo (1932); Menéndez Pidal (1947), Niedermayer (1952), Juliá (2004) und zuletzt die umfangreiche Festschrift für Manfred Tietz (Arnscheidt/Joan Tous 2007).
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schen Zentrum und Peripherie und dem Widerstand der Religion begrenzt bleibt. Zwei Elemente beginnen in dieser Zeit hervorzutreten: Das bis in die Gegenwart anhaltende Rückständigkeitsgefühl gegenüber den fortschrittlicheren Bezugsgesellschaften in Europa und die Französisierung der Kultur bzw. die Gallophobie, das sie begleitende antifranzösische Ressentiment. Im 19. Jahrhundert setzen sich die Parallelen in dem Antagonismus zwischen „Westlern“ und „Slawophilen“, den Fürsprechern der Moderne und denen der Tradition, fort. Und im 20. Jahrhundert etabliert sich in Russland, ebenso wie in Spanien, eine langlebige Diktatur, an die sich ein nicht ohne Widerstände verlaufender Prozess der Demokratisierung anschließt. Eine weitere Gemeinsamkeit ergibt sich schließlich aus der Bedeutung der Identitätsthematik in der Literatur beider Länder – bis hin zu der Neigung, die eigene schwierige Identität zur Quelle der Identität selbst zu machen.15
C)
DIE SPEZIFISCHE DIFFERENZ DER SPANISCHEN AUFKLÄRUNG
Das 18. Jahrhundert spielt nicht nur innerhalb der Geschichte der spanischen Nationenbildung und des spanischen Identitätsdiskurses eine herausragende und entscheidende Rolle – in der Thematisierung, Infragestellung und Verteidigung der nationalen und kulturellen Identität Spaniens besteht – so die Hauptthese der vorliegenden Arbeit – auch die differentia specifica der spanischen Aufklärung, und zwar ebenso der gesamten Epoche wie auch der Aufklärungsbewegung im engeren Sinn. Deutlich wird das vor allem, wenn man die Kulturmodelle 15
Siehe zur Identitätsbildung in Russland die Ausführungen des russischen Philosophen und Kulturtheoretikers Boris Groys (1995, bes. 7-36) und der Historikerin Christiane Uhlig (1998), die explizit auf eine Parallele zu Spanien verweist: „Der Vorgang des nationalen und kulturellen Vergleichens und Hypostasierens des Eigenen [...] ist durchaus kein russisches Phänomen – vergleichbare Beispiele zu unterschiedlichen Zeiten lassen sich unter anderem in der deutschen und spanischen Geschichte finden.“ (379) Spanien und Russland stellen ein interessantes Betätigungsfeld für kulturtypologische Untersuchungen dar. Ansätze hierfür bieten etwa die historisch-vergleichende Soziologie (Bendix 1996) oder der interkulturelle Vergleich historischen Denkens (Rüsen 1998b). Was das spanische Russlandbild betrifft, so ist dieses im 18. Jahrhundert in Anlehnung an die französische Sichtweise überwiegend positiv. Siehe zu den historischen Beziehungen zwischen Spanien und Russland Voltes (1989).
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zum Vergleich heranzieht, die in Europa im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorherrschten. So lässt sich etwa unter Rückgriff auf Terry Eagleton typologisch zwischen „culture as civilization“ und „culture as identity“ unterscheiden – ein Begriffspaar, das sich unübersehbar an die bekannte Gegenüberstellung von „Zivilisation“ und „Kultur“ anlehnt, die Norbert Elias in seiner kultursoziologischen Studie Über den Prozeß der Zivilisation (1939) in Bezug auf Frankreich und Deutschland vorgenommen hatte.16 Die „Kultur als Zivilisation“, als deren Prototyp Frankreich gelten kann, ist grundsätzlich universalistisch ausgerichtet. Im Interesse der Gleichheit neigt sie zur Einebnung der Differenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden und damit auch der nationalen Unterschiede. Sie bekennt sich zur Vernunft als oberstem Prinzip und bewertet alle kulturellen Errungenschaften nach ihrer Fähigkeit, zum Fortschritt Europas und – das läuft aus eurozentrischer Sicht auf Dasselbe hinaus – der Menschheit beizutragen.17 Es ist letztlich dieses aufklärerische Ethos, das Nicolas Masson de Morvilliers in seinem Artikel „Espagne“ in der Encyclopédie méthodique (1782) zu seiner provozierenden Frage „Mais que doit-on à l’Espagne? Et depuis deux siècles, depuis quatre, depuis dix, qu’a-t-elle fait pour l’Europe?“ (1782, 565) verleitet. Das Universale und das Nationale schließen sich dabei keineswegs aus – im Gegenteil, bildet doch dem französischen Selbstverständnis nach die eigene Nation spätestens seit dem siècle classique die Avantgarde der Zivilisation. In Antoine de Rivarols Berliner Preisschrift De l’universalité de la langue française (1784) kommt diese Haltung beispielhaft zum Ausdruck.18 Aus der Überzeugung, dass die eigene Lebensform die überlegene sei, speisen sich Habitus und Selbstverständnis der französischen Aufklärer. Aber auch Napoleon rechtfertigt auf diese Weise seine weltgeschichtliche Mission.19 16
Siehe Eagleton (2000, 14, 43 passim) u. Elias (1997, Bd. 1), darin insbesondere Kapitel 1: „Zur Soziogenese der Begriffe ‘Zivilisation’ und ‘Kultur’“ (89-153). 17 Bernhard Waldenfels definiert den Eurozentrismus als „Mischung aus Ethnound Logozentrismus“ (1997, 154). 18 Rivarol spricht bekanntlich selbstbewusst von „le monde français“ (1929, 39). Den historischen Hintergrund erläutert u. a. Jochen Schlobach in seinem Aufsatz „Der Universalitätsanspruch der französischen Aufklärung“ (1992). 19 Daran erinnert Norbert Elias im Zusammenhang mit seinen Ausführungen zur Karriere des Begriffs „civilisation“: „Als die Revolution sich mäßigt, kurz vor der
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Die „Kultur als Identität“ ist dagegen partikularistisch orientiert – im Sinne einer „collective particularity“ (Eagleton 2000, 54), die sich gleichermaßen gegen den Universalismus der Aufklärung und sein Korrelat, den Individualismus, richtet. Sie betont die Differenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden und den Unterschied zwischen den Nationen. Ihr Stammvater ist Johann Gottfried Herder (17441803) mit seiner Theorie vom Eigenwert nationaler Besonderheiten und von der Gleichwertigkeit unterschiedlicher Lebensformen. Die prominentesten Verteidiger der „Kultur als Identität“ sind die Romantiker, zumal die deutschen, die von einer „sentimentalischen“ Einstellung zur Vergangenheit durchdrungen sind: Aus dem Bewusstsein eines unwiderruflichen Bruchs mit der Vergangenheit beschwören sie Tradition gegen Fortschritt, Geschichte gegen Zukunft, Glaube gegen Vernunft, Peripherie gegen Zentrum, Land gegen Stadt usw. Wenn man davon ausgeht, dass sich für die „Kultur als Zivilisation“ die Frage nach der eigenen Identität im Grunde nicht stellt,20 und allein schon die Reflexion über diese Frage ein wesentliches Merkmal der „Kultur als Identität“ ausmacht, muss man zu dem Schluss kommen, dass die spanische Kultur des 18. Jahrhunderts grundsätzlich eher diesem zweiten Kulturtyp entspricht: Denn im Bewusstsein der Besonderheit und Andersartigkeit der spanischen Situation konvergieren alle ideologisch sonst so verschiedenen Positionen – von den traditionalistischen Gegenaufklärern über die gemäßigten Reformer bis zu den wenigen radikalen afrancesados, die
Jahrhundertwende, beginnt er seinen Weg als Schlagwort durch die Welt zu nehmen. Schon um diese Zeit hat er seinen Sinn als Rechtfertigungsbegriff der nationalen Ausbreitungs- und Kolonisationsbestrebungen Frankreichs. Schon als Napoleon sich 1798 auf den Weg nach Ägypten macht, ruft er seiner Truppe zu: ‘Soldaten, Ihr unternehmt eine Eroberung, deren Folgen für die Zivilisation unberechenbar sind’.“ (1997, 152) 20 Vgl. dazu Eagleton (2000, 26f., 46, 66 u. 73) sowie speziell zum Unterschied Frankreich/England – Deutschland: Elias (1997, Bd. 1, 92). Auch Rivarols Discours macht hier nur bedingt eine Ausnahme, handelt es sich doch um eine von außerhalb, durch die Königliche Akademie der Wissenschaften und Schönen Literatur zu Berlin angeregte Schrift. Rivarol begrüßt denn auch ausdrücklich diesen Umstand, weil es gerade die „pudeur“, also ein wesentliches Merkmal des Zivilisiertseins sei, die es dem Franzosen verbiete, das Thema von sich aus anzuschneiden (1929, 38).
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sogar noch der Französischen Revolution aufgeschlossen gegenüberstehen.21 Das bedeutet aber, dass die „Staatsnation“ Spanien gleichzeitig wichtige Merkmale einer „Kulturnation“ wie Deutschland oder Italien aufweist. Andererseits kann jedoch kein Zweifel bestehen, dass sich die spanische Aufklärungsbewegung an denselben universalistischen Prinzipien orientiert, die der „Kultur als Zivilisation“ zugrunde liegen. Von einer romantischen (oder prä-romantischen) Sicht der Kultur unterscheidet sich freilich (auch) die spanische Aufklärung in zentralen Punkten, etwa in der vernunftgeleiteten Auseinandersetzung mit den Problemen der Gegenwart oder in der kritischen Haltung gegenüber dem Volk, seinem Glauben, seinem Wissen und seinen Bräuchen, wie sie in der Verachtung der „voz del pueblo“ (Feijoo), der Verurteilung des Stierkampfs oder der Ablehnung der traditionellen Kleidungsordnung zum Ausdruck kommt, deren von staatlicher Seite befohlene „Modernisierung“ bekanntlich einer der unmittelbaren Auslöser des motín de Esquilache war. Bemerkenswert bleibt aber im europäischen Vergleich auf jeden Fall, dass die Besonderheiten der eigenen Kultur von den spanischen Aufklärern überhaupt in so großem Umfang und in solcher Intensität thematisiert werden.22 Für ein (selektiv) positives Interesse an der Vergangenheit und an der eigenen kulturellen Tradition sorgt dann die Ausbreitung der nationalen Idee. Während Feijoo die „pasión nacional“ im Zuge seiner Vorurteilskritik noch als „afecto delincuente“ brandmarkt (1986, 235), wird gerade die Forderung nach einer affektiven Bindung an die Na-
21
Vgl. zu afrancesamiento und afrancesados als kulturellem Phänomen, politischer Strategie und biographischem Schicksal Defournaux (1959), Palacio Atard (1964, 147161), Abellán (1984, 120-148), Artola (1989) u. Tietz (2002, 258-261). 22 Eine Sonderstellung nimmt in diesem Zusammenhang Antonio de Capmany ein, der in seinem 1786, also in demselben Jahr wie Forners Oracíon apologética erschienenen Teatro histórico-crítico de la elocuencia española von einem positiven Begriff des Volksgeistes ausgeht, der deutliche Parallelen zu den Ideen Herders aufweist. Siehe dazu Lopez (1976, 422-433) u. Mestre (1983): „[...] recurrirá a los grandes autores del Siglo de Oro, pero no dejará de aludir a la elocuencia popular. En contraste con los ilustrados, que identificaban la gloria nacional con los hombres de letras y, más concretamente, con los libros. Capmany busca la defensa de la cultura nacional en el pueblo, sus formas de expresión, su elocuencia natural, suprema expresión de belleza y de ingenio.“ (71f.)
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tion in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einem vorherrschenden Motiv. Gleichzeitig gewinnt die Vorstellung, an einer gemeinsamen Kultur teilzuhaben bzw. diese im Rahmen der bestehenden politisch-staatlichen Einheit erst noch schaffen zu müssen, an Bedeutung. Schlüsselfiguren des Nationalitätsgedankens wie José Cadalso und Juan Pablo Forner verknüpfen das Konzept der Nation explizit mit kulturellen Sachverhalten. Das zeigt sich unmissverständlich im Begriff des „carácter nacional“, den Cadalso in den Cartas marruecas (1774) verwendet, und des „mérito literario“, der schon im Titel von Forners Oración apologética por la España y su mérito literario (1786) erscheint. Erst um die Jahrhundertwende, etwa im Werk von Gaspar Melchor de Jovellanos oder Manuel José Quintana, treten schließlich kulturelle und nationale Besonderheiten gegenüber den komplementären universalen Größen des Individuums und der Menschheit zurück, bevor eine Welle des politischen Patriotismus infolge der französischen Invasion im Jahr 1808 diese Bemühungen wieder in den Hintergrund drängt.23 Dass die Idee der Nation für die spanischen Aufklärer so attraktiv werden konnte, ist darauf zurückzuführen, dass sich in ihr universalistische und partikularistische Anliegen wirkungsvoll verbinden ließen. Mit der Berufung auf die Nation bot sich die Möglichkeit, nach innen die Auflösung partikularer Identitäten zu legitimieren bzw. zu kompensieren und nach außen, das heißt gegenüber dem Ausland, die kulturelle (Re-)kontextualisierung universalistischer Begriffe wie Vernunft, Emanzipation und Fortschritt einzufordern. Zwei Merkmale sind es demnach, die das Profil der spanischen Aufklärung vor allem anderen prägen: das spannungsvolle Neben- und Gegeneinander partikularistischer und universalistischer Elemente und die partikularistische Umformung des universalistischen Diskurses selbst, die sich als spezifische Kontextbindung der spanischen Aufklärung analysieren lässt.24
23
Vgl. zum Zusammenhang von politischer Enttäuschung, Individualitätsbewusstsein und dem Gedanken der ästhetischen Erziehung der Menschheit bei Jovellanos: Jüttner (1997) und zur Idee der Freiheit bei Quintana: de la Fuente (1991, 1997). 24 Die von José E. Santos erhobene Forderung „Cabe preguntarse si el concepto de lo nacional surge a partir de la Ilustración o en reacción a la misma“ (2002, 57) spitzt die
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Wie aber ist zu erklären, dass die Frage nach der eigenen Identität in Spanien im 18. Jahrhundert so große Bedeutung erlangt und zur Gretchenfrage der Aufklärer wird? Gerade kulturwissenschaftliche Untersuchungen haben wesentlich dazu beigetragen, die von Soziologie und Geschichtswissenschaft favorisierte Ansicht zu korrigieren, dass der Identitätsbegriff insgesamt als ein Produkt der Moderne zu betrachten sei.25 Gleichwohl dürfte unumstritten sein, dass der Modernisierungsschub in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – die Erschütterung metaphysischer Gewissheiten, die Emanzipation von der Natur, die Herauslösung aus ständischen Bindungen, die Abgrenzung gegen die Vergangenheit usw. – Individuen wie Kollektive vor ganz neue Orientierungsanforderungen stellt. In Spanien kommen zu dieser epochalen Erfahrung der Destabilisierung allerdings noch eine Reihe von Faktoren hinzu, die bewirken, dass das, was sich im übrigen Europa im Wesentlichen als Modernisierungskrise darstellt, die sich anhand der Leitdifferenz alt/neu beschreiben lässt, in Spanien die spezifische Form einer Krise der kulturellen und nationalen Identität annimmt, die dem Differenzschema Eigenes/Fremdes folgt. Aus diesem Grund sollen nun zunächst die vier wichtigsten Formatoren des spanischen Identitätsdiskurses im 18. Jahrhundert näher beleuchtet werden. Sie geben eine Antwort auf die entscheidende Frage, warum gerade dieser Diskurs zu dieser Zeit an diesem Ort vorherrscht.
Problematik dagegen in einer Weise zu, die der Komplexität der Verhältnisse nicht ganz gerecht wird. 25 Man denke zum Beispiel an Jan Assmanns Studie Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen (2002 [1992]).
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A)
DAS BEWUSSTSEIN DER RÜCK- UND RANDSTÄNDIGKEIT
Eine entscheidende, ja vielleicht überhaupt die wichtigste Rolle bei der Herausbildung des spanischen Alteritätsbewusstseins im 18. Jahrhundert spielt die Diagnose der decadencia de España, in der reformorientierte und antiaufklärerische Kräfte übereinstimmen, auch wenn sie hinsichtlich der Ursachen und der zu ergreifenden Gegenmaßnahmen vollkommen unterschiedlicher Auffassung sind.1 Das vielfach bemühte Bild vom Niedergang der einstigen Hegemonialmacht Spanien ist letztlich das Ergebnis eines doppelten, diachronen und synchronen Vergleichs: Der Blick richtet sich einerseits auf die eigene Geschichte, vor deren Hintergrund die Gegenwart als Tiefpunkt einer Verfallsentwicklung erscheint, und andererseits auf den fortgeschritteneren Entwicklungsstand in den übrigen Ländern Europas. Die beunruhigende Erfahrung der aus diesem Vergleich hervorgehenden zweifachen Differenz darf als Hauptstimulus der spanischen Identitätsreflexion im 18. Jahrhundert gel-
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Während Werner Krauss die autochthonen Wurzeln der Diskussion über den Niedergang Spaniens betont, die nicht allein als Reaktion auf die leyenda negra verstanden werden dürfe – „Los españoles del siglo de la ilustración no necesitaban ningún estimulante extranjero, para plantear el problema de la decadencia nacional“ (1996b, 308) –, will María del Carmen Iglesias in der innerspanischen Diskussion vor allem eine Übernahme der ausländischen Spanienkritik sehen (1997, 416f.), ein Standpunkt der angesichts der Komplexität der Verhältnisse und der unauflöslichen Interdependenz von Selbst- und Fremdbildern zweifellos zu einseitig ist.
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ten – und als eines der wichtigsten Elemente des spanischen Geschichtsverständnisses überhaupt.2 Die Geschichtsbilder der Reformer und der Traditionalisten konvergieren jedoch nicht nur in der Bereitschaft, die eigene Geschichte nach dem Schema des Verfalls zu deuten und den Rest Europas mit dem Paradigma des Fortschritts zu identifizieren.3 Soweit sich das nach dem heutigen Forschungsstand sagen lässt, teilen sie auch – der Begriff der decadencia setzt das im Grunde bereits voraus – die klassisch-humanistische Zyklentheorie, der zufolge die Geschichte aus einer Abfolge von Höhepunkten und Niedergängen besteht.4 In Bezug auf die Faktoren,
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So spricht María del Carmen Iglesias von einem „concepto clave que se convierte en una suerte de piedra filosofal explicativa de toda la historia de España“ (1997, 386). Auf den fundamentalen Zusammenhang zwischen dem Akt des Vergleichens und der Herausbildung kollektiver Identität vor dem Hintergrund einer „Ungleichzeitigkeit der Entwicklung“ verweist auch Bernhard Giesen am Beispiel des Nationenbildungsprozesses: „Die wechselseitige Wahrnehmung von Vorreitern und Nachzüglern auf dem Wege zum Nationalstaat regt besondere Bilder und Vorstellungen nationaler Eigenart an: Identität ergibt sich hier vor allem aus dem Zwang zur Abgrenzung und Distinktion“ (1996, 13). 3 Pedro Álvarez de Miranda bemerkt dazu in seiner wort- und begriffsgeschichtlichen Untersuchung Palabras e ideas: „Se habrá podido, en efecto, comprobar [...] que la alusión a los progresos, adelantamientos, aumentos o medras efectivamente producidos solía hacer referencia a países extranjeros.“ (1992, 671) 4 Vgl. zur Geschichtsphilosophie der spanischen Aufklärer Benjamin Kloss (2003, 79-90 u. 2005). Kloss zeigt sich überzeugt davon, dass „die bedeutendsten reformistas eindeutig die klassisch-humanistische Zyklentheorie favorisierten“ (2003, 83), und führt weiter aus: „Daß die spanischen Aufklärer, die die Werke Montesquieus und Humes nachweislich rezipiert hatten, Vertreter der Zyklentheorie waren, kann insofern nicht erstaunen, als sich mit diesem geschichtsphilosophischen Modell das Phänomen des von ihnen heftig diskutierten Niedergangs Spaniens konzeptuell fixieren ließ.“ (87). Kloss findet darüber hinaus keine „Äußerungen, die auf eine Übernahme des Wellenlinienmodells schließen lassen“ (88), das Zyklendenken und Fortschrittsglauben vereint und sich u. a. bei Perrault, Montesquieu und Voltaire findet. Auch Hans Ulrich Gumbrecht und Juan José Sánchez gehen davon aus, dass die spanische Kultur bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht vom Bewusstsein „historischer Zeit“ (1986, 195) im Sinne eines Auseinandertretens von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont geprägt war. Sie vertreten die „These, daß vom Mittelalter bis zum Ende des XIX. Jahrhunderts in der spanischen Gesellschaft über die verschiedenen Epochenschwellen hinweg ein Bewußtsein kultureller Kontinuität dominant blieb“ (199). Allerdings stellt sich die grundsätzliche Frage, ob eine Konzentration auf geschichtsphilosophische Überlegungen wie bei Kloss oder eine stark pauschalisierende Sichtweise wie bei
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denen eine prägende Wirkung auf den Geschichtsverlauf zugestanden wird, herrscht ebenfalls eine gewisse Übereinstimmung. Die Unterschiede zwischen Reformern und Traditionalisten ergeben sich in erster Linie bei der Frage, wo der Höhepunkt und wo der Niedergang der spanischen Geschichte jeweils anzusetzen ist – und bei der Bewertung der geschichtsprägenden Faktoren. Die folgenden Schemata verdeutlichen die beiden Positionen:
15. Jahrhundert
16. Jahrhundert
17. Jahrhundert
18. Jahrhundert
Abbildung 3: Das Geschichtsbild der reformistas José Cadalso, Gaspar Melchor de Jovellanos und selbst Juan Pablo Forner identifizieren – neben vielen anderen Reformern – den Beginn des politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Niedergangs Spaniens mit der Herrschaft der Habsburger, wobei die Epoche Karls V. (1516-1556) und Philipps II. (1556-1598) aufgrund ihrer militärischen Leistungen und kulturellen Hervorbringungen nicht ausschließlich negativ gesehen wird. Als Höhepunkt der spanischen Geschichte und scharfer Kontrast zum gegenwärtigen Spanien stellt sich von dieser Warte aus das Regime der Katholischen Könige dar. Die Worte Nuños im 74. Brief der Cartas marruecas dürfen hier als repräsentativ gelten: „la monarquía española nunca fue tan feliz por Gumbrecht/Sánchez, die etwa der ambivalenten Position eines Forner keineswegs gerecht wird (vgl. 1986, 194), überhaupt eine angemessene Antwort in Bezug auf das Geschichtsbewusstsein im 18. Jahrhundert liefern können oder ob nicht vielmehr von der Simultanität unterschiedlicher, situations- und sektorenabhängiger Geschichtskonzepte (etwa in der Geschichtsphilosophie und im Bereich der Naturwissenschaften) auszugehen ist, die zudem noch auf ihre Interessenabhängigkeit hin zu untersuchen wären.
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dentro, ni tan respetada por fuera, como en la época de morir Fernando el Católico“ (2000, 181). Ebenso einhellig wird jedoch auch der Dynastiewechsel am Anfang des Jahrhunderts als Beginn einer neuen Aufstiegsphase in der Geschichte begrüßt.5
15. Jahrhundert
16. Jahrhundert
17. Jahrhundert
18. Jahrhundert
Abbildung 4: Das Geschichtsbild der tradicionalistas Eine ganz andere Rangbildung nehmen naturgemäß die spanischen Traditionalisten vor. Für sie bildet die Regentschaft Philipps II. mit ihren gegenreformatorischen Anstrengungen den ruhmreichen Höhepunkt der spanischen Geschichte. Den reyes católicos kommt in diesem Geschichtsbild eine vorbereitende Funktion zu, wohingegen die Dekadenzphase mit dem Schwinden der spanischen Vormachtstellung im 17. Jahrhundert eingeleitet wird. Der eigentliche Niedergang Spaniens fällt für die Traditionalisten aber mit dem Beginn der Bourbonenherrschaft zusammen. So gegensätzlich wie die Urteile über den Geschichtsverlauf fallen auch die Gründe aus, die jeweils für den Niedergang Spaniens verantwortlich gemacht werden: Aus Sicht der Reformer sind es die kostspieligen Kriege der Habsburger, ihre auf Ausbeutung statt auf Wertschöpfung gerichtete Kolonialpolitik, die Vertreibung der Juden und Mauren, die 5
Siehe zur Dekadenzthematik Werner Krauss’ kurze diskurshistorische Studie avant la lettre „Sobre el concepto de decadencia en el siglo ilustrado“ aus den Jahren 1965/66 (1996b). Krauss zitiert darin u. a. Ignacio de Luzán, José Clavijo y Fajardo, Francisco Mariano Nipho, Antonio Valladares y Sotomayor, José Cadalso, Juan Sempere y Guarinos, Gaspar Melchor de Jovellanos und Luis Cañuelo. Vgl. außerdem Krauss (1996a, 321-329), Melón Jiménez (1998), Kloss (2003, 36-64) und Álvarez de Miranda (1992, 671-684).
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Vernachlässigung von Landwirtschaft, Handel und Gewerbe, der Müßiggang des Adels, die Dominanz des Klerus, die Herrschaft der Inquisition und die mangelnde Förderung der Wissenschaften.6 Die Traditionalisten sehen dagegen die Abkehr von der Tradition, die kulturelle Überfremdung und die Gefährdung der religiösen und politischen Einheit des spanischen Imperiums als Hauptursachen an. Nicht weniger konträr sind auch die Gegenmaßnahmen, die man jeweils für angemessen hält: Während die Reformer die nationale Identität Spaniens fortschrittsbewusst auf die Modernisierung der Gesellschaft und die fällige Orientierung an ausländischen Vorbildern gründen wollen, lokalisieren die Traditionalisten die spanische Identität in einer tendenziell europafeindlichen Fortschrittsresistenz (vgl. Gumbrecht/Sánchez 1986, 191). Soweit das bekannte Bild der beiden sich gegenüberstehenden Geschichtsauffassungen.7 Es wäre jedoch nicht vollständig, wenn nicht ergänzend drei weitere Facetten zur Sprache kämen. Da ist, erstens, die Tatsache zu erwähnen, dass die von zeitlichen Kategorien beherrschte Diskussion um die spanische Dekadenz auch eine räumliche Dimension besitzt, und zwar nicht nur in Gestalt des etwa von Benito Jerónimo Feijoo im Teatro crítico universal praktizierten traditionellen Völkervergleichs, dem „cotejo de naciones“. Die räumliche Dimension manifestiert sich vor allem in dem stets präsenten Bewusstsein der geographischen Randständigkeit, das mit dem Eindruck der historischen Rückständigkeit („atraso“) ein Verhältnis der wechselseitigen Projektion und Verstärkung eingeht. Seinen symbolischen Ausdruck findet dieses Bewusstsein zum Beispiel in der zum Topos gewordenen Stilisierung der Pyrenäen zur kulturellen Scheidelinie zwischen Spanien und „Europa“8 oder in der hyper6
Vgl. dazu exemplarisch die Briefe 3, 4, 6, 34, 44 u. 74 der Cartas marruecas sowie die vorangegangenen Überlegungen Cadalsos in seiner Defensa de la nación española contra la „carta persiana LXXVIII“ de Montesquieu (1970, bes. 6-11, 32) und zum Geschichtskonzept Cadalsos Schmidt (1975, bes. 72-74 u. 78f.) sowie Lope (1985). 7 Vgl. z. B. das stark schematisierende Kapitel „Selbstbilder“ in Gumbrecht (1990, 474-499) sowie in derselben Weise schon Gumbrecht/Sánchez (1986, 194). 8 So charakterisiert etwa Feijoo, stellvertretend für viele andere, die Haltung derjenigen, die für die geistige Abschottung Spaniens plädieren, in seinem Essay „Causas del atraso que se padece en España en órden á las ciencias naturales“ folgendermaßen: „Quisieran éstos que los Pirineos llegasen al cielo, y el mar que baña las costas de Francia estuviese sembrado de escollos, porque nada pudiese pasar de aquella nacion a la nuestra.“ (1952, 544). Umgekehrt soll Ludwig XIV. einer von Voltaire im 28. Kapitel
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bolischen Gleichsetzung Spaniens mit Afrika, eine Figur, die im europäischen Spaniendiskurs des 18. Jahrhunderts wie auch als Element spanischer Selbstbeschreibung eine wichtige Rolle spielt und auf die in der Folge noch ausführlicher zurückzukommen sein wird. Es fehlt heute, zweitens, nicht an Historikern, die das DekadenzSchema als Mythos ablehnen und es wie Henry Kamen zu den „useless concepts“ (1978, 49) zählen.9 Kamen weist darauf hin, dass das imperiale Spanien nie eine Wirtschaftsmacht gewesen sei und dass man schon allein deshalb nicht von einem Verfall sprechen könne: Any genuine concept of decline must postulate a rise: but Spain never rose. So-called decline was nothing less than the operation and persistence over an extended period of basic weaknesses in the Spanish economy. The impression of decline was transmitted by the clear and rapidly worsening contrast between imperial migth abroad and organic weakness within. (25)
Auch Juan Pablo Fusi wendet sich gegen eine homogenisierende Geschichtserzählung, in der das 16. und 17. Jahrhundert als kontinuierliche Verwirklichung eines imperialen Projektes durch die casa de Austria erscheinen, das angeblich auf die Vorherrschaft in Europa, die seines Siècle de Louis XIV (1751) mitgeteilten Anekdote nach die neue dynastische Einheit zwischen Spanien und Frankreich mit den Worten „Il n’y a plus de Pyrénées“(1878, 484) kommentiert haben. Ungeachtet ihrer symbolischen Bedeutung handelt es sich bei der Grenze zwischen Frankreich und Spanien um eine „ruhige“, seit dem Pyrenäenfrieden von 1659 unveränderte Grenze: „Twentieth-century theorists consider the French-Spanish boundary a ‘fossilized’, ‘cold’, or ‘dead’ boundary, since it has rarely presented cause for major international contention.“ (Sahlins 1991, 1) 9 Eine prägnante Zusammenfassung seiner Argumente liefert Kamen auf den Seiten 48-50 seines Aufsatzes „The Decline of Spain: A historical Myth?“ (1978). Vgl. auch Iglesias (1997, 151-154) und zum Forschungsstand Ladero Quesada (1996). Für Peter Burke spiegelt sich im Umgang der Historiker mit dem Topos vom Niedergang Spaniens auch die Entwicklung der Disziplin selbst: „1961 veröffentlichte John Elliott in der Zeitschrift Past and Present einen Aufsatz mit dem Titel ‘The Decline of Spain’ […]. Siebzehn Jahre später publizierte er in derselben Zeitschrift einen Aufsatz mit dem Titel ‘Self-Perception and Decline in Early Seventeenth-Century’ […]. Die Verschiebung des Interesses von objektiven Maßstäben für den Niedergang hin zum Gefühl des Niedergangs ist charakteristisch für eine ganze Generation von Historikern.“ (2005, 50) Mittlerweile dürfte der Aspekt der Wahrnehmung seinerseits gegenüber dem der Konstruktion in den Hintergrund gerückt sein.
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Verteidigung des katholischen Glaubens und die Christianisierung des Weltkreises angelegt war, und dem ein ebenso unaufhaltsamer Verfall in Form von Niederlagen und Gebietsverlusten gefolgt sei, der seinen adäquaten Ausdruck in der zerrütteten Persönlichkeit des letzten Habsburgers auf dem spanischen Thron, Karls II. (1665-1700), gefunden habe. Eine solche Sichtweise verzerre nicht nur den Blick auf die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts, die von einer relativen Stabilität und allgemeinen Erholung gekennzeichnet sei, sondern verkenne auch die politische Realität der Zeit davor, die Fusi folgendermaßen charakterisiert: „una sucesión de proyectos dinásticos y territoriales, una política a menudo improvisada (o no planeada), intervencionismo militar muchas veces de naturaleza meramente reactiva.“ (2000, 83) Auf das 18. Jahrhundert schließlich treffe die Dekadenz-Diagnose erst recht nicht zu: „el siglo XVIII fue [...] un excelente siglo para España: un siglo de crecimiento demográfico, auge económico y comercial, ilustración y reformas, y aun de recuperación de la influencia internacional y de parte del antiguo poder naval y militar“ (90). Dass die Dekadenzanalyse aus heutiger Sicht vor der historischen Realität keinen Bestand hat,10 schärft den Blick jedoch, drittens, für mögliche Diskrepanzen zwischen der geschichtlichen Erfahrung und der historischen Erkenntnis. Denn zweifellos besitzt das Insistieren auf der Rück- und Randständigkeit Spaniens auch einen instrumentellen und ideologischen Charakter und erfüllt für die entsprechenden gesellschaftlichen Gruppen, Traditionalisten wie Reformer, eine wichtige Legitimationsfunktion. So ist der schonungslose Blick auf die Vergangenheit nicht nur Teil des aufklärerischen desengañoProgramms und Ausdruck der Überzeugung, dass es notwendig sei, aus der Geschichte zu lernen, sondern wird „von den Aufklärern selbst bereits gezielt zur Propagierung der Reformabsichten der Bourbonen eingesetzt“ (Jüttner 1992b, 254). Und die Traditionalisten sind natürlich umgekehrt daran interessiert, mit dem Argument des Verfalls ihre Ablehnung des Neuen und Fremden zu untermauern. Damit erweisen sich beide Haltungen, die zunächst nur das Produkt einer Differenzerfahrung zu sein scheinen, auch als hochgradig interessengeleitete Konstrukte. 10 Allerdings hatte diese Ansicht auch schon Azorín in seiner Antrittsrede vor der Real Academia Española am 26.10.1924 vertreten (Fusi 2000, 86).
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DIE PRÄSENZ DER FRANZÖSISCHEN KULTUR
Ein weiterer Faktor ist die starke Präsenz insbesondere der französischen, aber auch der italienischen Kultur, die der Dynastiewechsel um 1700 mit sich bringt, eine Präsenz, die unter der Herrschaft Philipps V. (1700-1746) Züge einer inneren Kolonisierung annimmt. Der Einfluss der fremden Lebensformen, der sich in Kleidung, Sprache, Verhalten, in Architektur-, Kunst- und Musikgeschmack und vielem anderen mehr äußert, geht zwar vom Königshof aus, wo sich die Veränderung der Sitten und Bräuche zuerst bemerkbar macht, dringt aber bald schon in die Alltagskultur ein.11 Zwar gibt es das ganze Jahrhundert über Befürworter und Gegner ausländischer Kultureinflüsse, wobei Frankreich und Italien im Zentrum der Auseinandersetzung stehen, doch ist zweifellos auch richtig, dass fremdenfeindliche Haltungen im Laufe der Zeit an Bedeutung zunehmen. Das lässt sich nicht nur an politischen Ereignissen wie dem motín de Esquilache von 1766 ablesen oder an der xenophobe Affekte mobilisierenden Politik Floridablancas in den letzten Jahren der Regierungszeit Karls III., sondern auch an einer vergleichbaren Entwicklung insbesondere des Frankreichdiskurses in der spanischen Literatur.12 Gegenüber der Idealisierung des Fremden, wie sie noch bei Feijoo anzutreffen ist, überwiegen bald die Kritik an der bedenkenlosen Übernahme ausländischer Sitten und die Angst vor kultureller Überfremdung. Diese Angst wird von den meisten Aufklärern sehr schnell auch als Gefährdung ihrer eigenen Position wahrgenommen und veranlasst sie immer wieder zu vorbeugenden Bekundungen ihres Patriotismus. Die französische Revolution von 1789 und die Besetzung durch die napoleonischen Truppen im Jahr 1808 scheinen die konstant vorhandene Fremdenfeindlichkeit dann auch noch nachträglich historisch ins Recht zu setzen. 11
Einen knappen Überblick über das Spektrum der ausländischen Kultureinflüsse gibt Aguilar Piñal (1991, 197-202). Einen umfassenden Eindruck von den Entwicklungen in Malerei, Architektur und Kunsthandwerk vermittelt der Ausstellungskatalog El arte en la corte de Felipe V. Palacio Real de Madrid, Museo Nacional del Prado, Casa de las Alhajas. Del 29 de octubre de 2002 al 26 de enero de 2003 (2002). 12 Auf den dynamischen Aspekt der Gallophobie im 18. Jahrhundert ist in der letzten Zeit vor allem Siegfried Jüttner eingegangen (2005a, 196-210).
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Die diskursiven Gegenpole der Gallophilie und der Gallophobie lassen sich am besten durch entsprechende Äußerungen Feijoos und Antonio de Capmanys illustrieren. Feijoos frankreichfreundliche Haltung wird im letzten Abschnitt von „Antipatía de franceses y españoles“, dem 15. discurso im zweiten Band des Teatro crítico universal, deutlich, in dem er der Leit- und Vorbildfunktion der französischen Kultur auf allen Gebieten uneingeschränkte Anerkennung zollt: Si se atiende al valor intrínseco de la nación francesa, ninguna otra más gloriosa, por cualquiera parte que se mire. Las letras, las armas, las artes, todo florece en aquel opulentísimo reino. [...] El valor y vivacidad de los franceses los hace brillar en cuantos teatros se hallan. Su industria más debe excitar nuestra imitación, que nuestra envidia. [...] Y por otra parte se sabe que no tiene Europa nobleza de más garbo que la francesa. (1986, 174)
Antonio de Capmanys zum Widerstand gegen Napoleon aufrufende Kampfschrift Centinela contra franceses aus dem Jahr 1808 markiert die äußerste Gegenposition zu Feijoo.13 Capmany entlarvt den französischen Zivilisationsanspruch als Ideologie, die danach strebe, alle kulturellen Unterschiede zu tilgen: „civilizar a su manera las naciones, hasta que pierdan su antiguo carácter y la memoria de su libertad“ (1988, 123). Hinter Napoleons Zivilisationsanspruch verberge sich ein tödlicher Machtwille, der wenigstens die Landkarten umschreiben möchte, wenn er schon nicht die Natur selbst verändern könne. Für Napoleon sei die Weltkarte weiß wie nach der Sintflut, und die Graveure warteten nur darauf, mit dem Stichel in der Hand, die von Seiner Majestät bestimmten Grenzen einzeichnen zu dürfen (145). Sein Ziel sei es, ein uniformes Europa nach dem Vorbild Frankreichs zu schaffen mit Paris als dem großen Warenhaus für seine europäischen Raubzüge: „Antes fue París el emporio de las ciencias y las
13
Capmanys Text ist Teil jener Welle antinapoleonischer Propagandaschriften, die damals zu Hunderten im Umlauf waren und zur Begründung eines transnationalen Diskurses beitrugen, aus dem sich ab 1814 die „schwarze Legende“ Napoleons bildete, wie der Napoleon-Forscher Jean Tulard das Phänomen genannt hat (1965, vgl. darin zu Spanien 167-175). Capmanys Schrift wurde auch ins Deutsche übersetzt. Napoleon hat sie sich im Feldlager in französischer Übersetzung vorlesen lassen (vgl. Etienvre 1988, 66-69).
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letras; hoy es el almacén general de las rapiñas“ (148). Dagegen könne nur ein idiosynkratischer Kulturbegriff helfen: „Corrijamos nuestras costumbres volviendo a ser españoles de chapa y de calzas atacadas, para que no puedan venir los franceses a azotarnos como a niños de escuela.“ (134f.) Capmanys schonungslose Sicht der Gegenwart bestimmt auch seinen Blick auf die Vergangenheit. Angesichts des französischen Einmarschs geraten alle bisherigen Formen des Kulturkontaktes zwischen Spanien und Frankreich in den Generalverdacht, nichts anderes als Vorstufen der militärischen Eroberung gewesen zu sein. So erscheint der – ja durchaus beträchtliche – Einfluss der französischen Kultur auf das Denken, die Sprache, die Kunst, die Kleidung, die Umgangsformen und den Lebensstil der Spanier als vorbereitende innere Kolonisierung, deren eigentlicher Zweck sich mit der äußeren Kolonisierung des Landes erfüllt. Kollaborateur ist für Capmany demnach nicht nur, wer mit den Franzosen politisch gemeinsame Sache macht, sondern auch jeder, der sich gegenüber französischen Kultureinflüssen aufgeschlossen zeigt. Umgekehrt stellt sich das zu Beginn des 19. Jahrhunderts neu erwachte Interesse der Franzosen an Spanien, seiner Sprache, seiner Literatur und seinen Lebensformen in Capmanys Augen nicht etwa als wohlwollende Neugier auf das Fremde dar, sondern als eine Form der Spionage bzw. als eine Art kulturelles Invasionstraining: „más parecía esa diligencia inventario que curiosidad.“ (109) Der Streit um die richtige Einstellung zur Tradition wird symbolisch in den konträren Kleidungs- und Lebensstilen des majo und des petimetre ausgetragen und findet seinen Widerhall in den entsprechenden Topoi von Literatur und bildender Kunst, allem voran natürlich in Goyas Caprichos (1793-1799). Während sich die majos und majas an volkstümlichen Eigenarten orientieren und ausländische Einflüsse ablehnen, folgen die petimetres und petimetras unbefangen französischen und italienischen Vorbildern.14
14
Mit den Lebensformen des majo und des petimetre befassen sich aus kultur- und literarhistorischer Sicht u. a. die folgenden Arbeiten: Palacio Atard (1964, 222f., 234238), Kany (1970), Caro Baroja (1975, 281-349) u. Gumbrecht/Sánchez (1984).
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Bei der Auseinandersetzung mit dem Thema der costumbres empfiehlt es sich, zwischen den in Frage stehenden Lebensstilen als diskursiven Elementen und als Erscheinungen der zeitgenössischen sozialen Wirklichkeit zu trennen. Diese Trennung erscheint nicht nur methodologisch geboten, obgleich sie schwierig durchzuhalten ist, denn die Quellen sind nun einmal vorwiegend literarischer Natur (vgl. Kany 1970, XII), sondern auch, weil sich auf diese Weise die Funktion der Evokation dieser Verhaltensformen innerhalb des spanischen Identitätsdiskurses schärfer fassen lässt. Im Hinblick auf die sozialhistorische Einschätzung der Kleidungssitten wäre es sicher falsch, sich von dem mutmaßlichen Selbstverständnis der Protagonisten leiten zu lassen und die Verhaltensweise der majos als unmittelbaren Ausdruck lebendiger Traditionen zu deuten. Vielmehr setzt der Stil des majo ebenso sehr wie der des petimetre bereits einen Bruch mit der Tradition voraus. Beide Stile sind Inszenierungsformen, die auf den gesellschaftlichen Wandel reagieren, sich dabei jedoch unterschiedlicher Identitätszeichen bedienen und entgegengesetzte Grenzziehungen zwischen dem Eigenen und dem Fremden vornehmen. Zumindest was den majo und den petimetre als realhistorische Phänomene angeht, warnt Charles E. Kany auch davor, ihre äußere Gegensätzlichkeit als Ausdruck einer fest gefügten und tief sitzenden weltanschaulichen Opposition zu deuten, denn im Alltag werden die unterschiedlichen Stile häufig mit modisch-spielerischer Flexibilität adoptiert: „most Spaniards had two different styles of dress which they donned according to circumstances: the old Spanish [...] and the new French.“ (1970, 177)15 Auffällig im Gegensatz dazu – und deshalb lohnt es sich, auch dem ethnologischen und kulturhistorischen Aspekt Aufmerksamkeit zu schenken – ist nun die Tatsache, dass die literarischen Repräsentationen des majo und des petimetre einer vergleichsweise starren Kodifizierung und einseitigen Bewertung unterliegen. Dabei mangelt es nicht an Zeugnissen. Entsprechende Skizzen finden sich in allen literarischen
15
Diese Ansicht vertreten auch Hans Ulrich Gumbrecht und Juan José Sánchez in Bezug auf die kulturelle Situation in Madrid um 1800: „Französischer Stil in der Kleidung – beispielsweise – oder forciert kraftvolle Ausdrucksweise waren in jener Alltagswelt keine gewissen Indizien für weltanschauliche Positionen mehr.“ (1984, 26)
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Gattungen und bei zahlreichen Autoren: Diego Torres de Villarroel, Ramón de la Cruz, Juan de Iriarte, Cándidio María Trigueros, Nicolás Fernández de Moratín, Francisco Mariano Nipho, José Clavijo y Fajardo, Luis Cañuelo, José Cadalso, Juan Pablo Forner, José María Blanco White und vielen anderen mehr. Während die majos eine überwiegend positive Darstellung erfahren, wird der sehr viel häufiger porträtierte petimetre regelmäßig zum Gegenstand satirischer Abwertung. Als geeignete Projektionsfläche für kulturelle Überfremdungsängste und patriotische Loyalitätsbekundungen bleibt das stereotype Fremdbild des petimetre im Rahmen der nationalen Selbstbeschreibung das ganze Jahrhundert über konstant.16 Weitere Kristallisationspunkte des sich in den Figuren des majo und des petimetre konkretisierenden kulturellen Konflikts sind die fortdauernden Polemiken um das afrancesamiento in allen seinen Schattierungen – von der Aneignung kultureller Formen bis hin zur politischen Kollaboration – und um den aus Frankreich importierten und mit ihm assoziierten Begriff der Zivilisation, der je nach ideologischem Standpunkt zum Emblem der ersehnten Reformen oder des befürchteten Traditionsverlustes stilisiert wird. Werner Krauss hatte als frühesten Beleg für den Neologismus „civilización“ den Titel von Ramón de la Cruz’ Theaterstück La civilización aus dem Jahr 1763 genannt, eine Datierung, bei der es bis heute geblieben ist, auch wenn andere Formen wie das Verb „civilizar“ oder das Substantiv „civilidad“ schon früher nachgewiesen werden können.17 Nur als beschränkt gültig erwies sich hingegen Krauss’ Einschätzung der Verwendung des Wortes „civilización“: „Se recibió la palabra para repudiarla.“ (1996c, 293) Auf Ramón de la Cruz’ sainete trifft diese Einschätzung sicherlich zu. Am Ende des Stückes bekennt ein Marqués gegenüber den aufgebrachten Bauern, die sich seinen Reformbemühungen widersetzen, weil sie darin eine Gefährdung der guten spanischen Sitten durch ausländische Einflüsse sehen, reumütig seinen 16
Vgl. dazu etwa Gumbrecht (1990, 479-481). Die Begriffsgeschichte von „civilización“ ist umfassend untersucht worden, von Werner Krauss’ Pionierstudie – seiner ersten Arbeit über die spanische Aufklärung überhaupt – „Sobre el destino español de la palabra francesa ‘civilisation’ en el siglo XVIII“ (1996c [1966]), über Maravall (1977) und Escobar (1984) bis zu Álvarez de Miranda (1992, 383-410). Siehe auch die Zusammenfassung bei Aguilar Piñal (1991, 9f.). 17
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Fehler und nennt dabei die „civilidad“ und die „decadencia de los pueblos“ in einem Atemzug (1996, 27, v. 608/611f.). Frei von aller Ironie und Ambivalenz, die den Wortgebrauch noch bei Ramón de la Cruz auszeichnet, greift Antonio de Capmany 45 Jahre später unter dem Eindruck der französischen Invasion zu einer Formulierung, die man sicher als die stärkste Ablehnung des Begriffs überhaupt bezeichnen kann: „La civilización a veces mata a las naciones“ (1988, 127). Doch wird der Begriff im 18. Jahrhundert, anders als Werner Krauss noch 1966 meinte, eben nicht nur negativ gebraucht. So verwendet beispielsweise der Journalist Francisco Mariano Nipho die Worte civilizar, civilizado und civilidad in seinen ersten Zeitschriften Correo general de la Europa und Diario extranjero in einem ausschließlich positiven Sinn (1762/63). Es ist in der Forschung oft und natürlich zu Recht gefordert worden, über der Beziehung zwischen Spanien und Frankreich nicht die Beziehungen zu den anderen europäischen Ländern, etwa zu England oder gerade auch zu Deutschland, zu vernachlässigen.18 Dass im vorliegenden Zusammenhang nun ein weiteres Mal die Beziehung zwischen Spanien und Frankreich privilegiert wird, ist auf den Umstand zurückzuführen, dass es sich dabei um die für die nationale und kulturelle Identitätsbildung Spaniens bei weitem wichtigste Auslandsbeziehung handelt. Das gilt für den politischen, intellektuellen und künstlerischen Bereich ebenso wie für die Sprache und die konkreten Lebensformen. Selbst die Hinwendung zu anderen Nationen ist noch durch das Verhältnis zu Frankreich motiviert, und die Vermittlung des Wissens aus diesen Ländern erfolgt in vielen Fällen über Frankreich als Zwischenstation. Die besondere Relais- und Katalysatorfunktion Frankreichs wäre jedoch nur unzureichend charakterisiert, wenn nicht auch das französische Spanienbild einbezogen würde.
18
Siegfried Jüttner beispielsweise hat aus dieser Forderung die Konsequenz gezogen, die in Umfang und Qualität noch kaum näher erfassten Beziehungen Spaniens zu Deutschland näher zu erforschen (2000; 2005a/b; 2008d). Vgl. auch seinen Hinweis: „Frankreich war wichtig, aber Europa auch. Mehr noch: je nach Wissensgebiet haben die Spanier andere Gesprächspartner bevorzugt: so gaben die Italiener vielfach den Ton an in Sachen des guten Geschmacks, die Engländer galten als kompetent in Fragen der Ökonomie, in Fragen der Philosophie und der Naturwissenschaften standen auch deutsche Autoren in hohem Ansehen.“ (1999, 29f.)
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DAS ZERRBILD DER FRANZÖSISCHEN AUFKLÄRER
Der dritte diskursformierende Faktor ist das Zerrbild, das die französischen Aufklärer von Spanien zeichnen. Das Urteil der Franzosen über die Spanier, das französische Spanienbild oder die Beziehungen und Kontakte zwischen Frankreich und Spanien gehören – wie auch immer das Thema im Einzelnen lautet – zu den am häufigsten erforschten und am ausführlichsten dargelegten Seiten des Verhältnisses zwischen Spanien und Europa im 18. Jahrhundert.19 Die Quellen sind vielfältig: Der französische Spaniendiskurs durchzieht Reiseberichte, Enzyklopädien, Zeitschriften und die Werke berühmter, in ganz Europa gelesener Autoren wie Montesquieu, Voltaire, Diderot, Rousseau, Beaumarchais und anderer.20 Anstatt diesen Diskurs hier ein weiteres Mal in aller Breite zu dokumentieren, möchte ich im Folgenden einen Aspekt herausgreifen, auf den man immer wieder stößt, der aber bisher noch nie separat untersucht worden ist: die Denkfigur „Spanien als Afrika Europas“ und die darin enthaltene Gleichsetzung Spaniens mit Afrika.21 Das Reizvolle dieser Figur besteht darin, die üblichen binären Frontstellungen Spanien/ Europa bzw. Spanien/ Frankreich – zumindest vordergründig – in eine dreistellige Relation zu überführen. Vor allem erlaubt sie es jedoch zu zeigen, dass sich der Anspruch der französischen Aufklärer auf die Diskurshoheit in Europa auch in der Art und Weise manifestiert, wie sie als „Platzanweiser“22 im Rahmen der kognitiven Kartographie des 18. Jahrhunderts agieren.23
19
Vgl. die folgenden, überwiegend imagologisch orientierten Arbeiten: Sorrento (1928, 89-101), Juderías (1967, 163-174), Fernández Herr (1973), Komorowski (1976), Tietz (1980; 1984), Floeck (1981), Jurt (1987), Iglesias (1989; 1997), Pageaux (1991), García Cárcel (1992, 121-162), Diz (2000), Amalric (2002) und Desné (2002). 20 Eine Zusammenschau der Quellen bietet Boixareù/Lefere (2002, 301-444). 21 Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit dem Thema unter Berücksichtigung neuerer Arbeiten zum spatial bzw. topographical turn findet sich in meinem Aufsatz „Spanien als Afrika Europas. Zur Konjunktur einer Denkfigur im 18. Jahrhundert“ (2008b). 22 Der Ausdruck stammt von Michael Jeismann (zit. n. Conrad 2002, 341). 23 Natürlich beschränkt sich die Verwendung der Denkfigur „Spanien als Afrika Europas“ nicht auf das 18. Jahrhundert. Sie ist ähnlich stabil wie der gesamte SpanienEuropa-Diskurs in seiner Grundkonstellation und tritt daher auch in anderen
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Aus einer diskursanalytischen Perspektive stellt sich die Denkfigur „Spanien als Afrika Europas“ als sprachlich-textuelle Repräsentation räumlicher Vorstellungen dar, mit denen sich bestimmte Bedeutungen verbinden und von denen bestimmte Machteffekte ausgehen. Aber natürlich lässt sich diese „Denkfigur“ auch als rhetorische Figur beschreiben. Denn im Kern handelt es sich um einen Vergleich, der einen Unterschied zwischen Spanien und Europa behauptet und diesen Unterschied mit der Ähnlichkeit zwischen Spanien und Afrika begründet. Es ist ein hyperbolischer Vergleich, weil er die relative
Jahrhunderten auf, und zwar innerhalb wie außerhalb Spaniens. So vergleicht zum Beispiel der Venezianer Giovanni Cornaro Spanien zu Beginn des 17. Jahrhunderts mit der Wüste Libyens und den endlosen Steppen Afrikas und behauptet, dass die Herrschaft der maurischen Barbaren ihre Spuren in der Mentalität der Spanier hinterlassen habe (Juderías 1967, 42, 159, 211). Der Amerikaner Washington Irving berichtet 1832 in seinen Tales of the Alhambra aus einer Perspektive romantischer Verklärung von „rugged mountains and long sweeping plains destitute of trees and indescribably silent and lonesome“ (1976, 15), die ihn in ihrer Melancholie an die Steppen Afrikas erinnern: „partaking of the savage and solitary character of Africa“ (ebd.). Und der Franzose Maurice Barrès lässt sich 1894 in seinem Buch Du sang, de la volupté et de la mort aus einem antiintellektuellen Impuls heraus zu der emphatischen Bemerkung „C’est une Afrique“ (1921, 175) hinreißen. Auch in Spanien selbst gab es gerade im 19. und 20. Jahrhundert immer wieder Stimmen, die das afrikanische Element betonten. So gerät die afrikanische Vergangenheit Spaniens in Pedro Antonio de Alarcóns Diario de un testigo de la guerra de África (1859) zum Gegenstand nostalgischer Verklärung („la viva realidad de lo pasado“, 2005, 4), und Benito Pérez Galdós betont in seinem Roman Aita Tettauen (1905) die kulturelle Ähnlichkeit („el parentesco y aire de familia“, 2004, 105) von Mauren und Spaniern. Im Umfeld der Generation von 98 hebt dann zum Beispiel Miguel de Unamuno in seinem Essay „Sobre la europeización (Arbitrariedades)“ von 1906 die „alte afrikanische Weisheit“ Spaniens hervor („nuestra vieja sabiduría africana“, 1968, 929). Américo Castro erregt in den 1950er Jahren mit der These Aufsehen, dass die spanische Bevölkerung nicht ausschließlich europäischen, sondern eben auch afrikanischen Ursprungs sei (España en su historia. Cristianos, moros y judíos, 1948). Juan Goytisolo greift diese Afrikanisierungsthese dann wieder auf (Spanien und die Spanier, 1969; Reivindicación del conde don Julián, 1970; Cuaderno de Sarajevo, 1993 etc.). Man kann sich auch fragen, ob nicht Julián Juderías, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit seinem gleichnamigen Buch (1914) den Begriff der „leyenda negra“ in die Welt gesetzt hat, in gewisser Weise an der Denkfigur „Spanien als Afrika Europas“ partizipiert, weil „leyenda negra“ an Begriffe wie „continente negro“ oder „África Negra“ erinnert. Jedenfalls schafft das Attribut „negro“ eine Assoziationsbrücke zwischen zwei Vorstellungswelten – dem Mythos Spanien und dem Mythos Afrika –, die durchaus Gemeinsamkeiten aufweisen.
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Andersheit Spaniens durch die absolute Andersheit Afrikas unterstreicht und weil er Spanien noch über die europäische Peripherie hinaus auf den Nachbarkontinent Afrika verlegt. Es ist zudem ein wertender Vergleich, und zwar ein vorwiegend abwertender, herabsetzender, eine comparatio ad minorem. Und es ist ein paradoxer Vergleich, weil er einen Unterschied innerhalb Europas durch den Unterschied zwischen den Kontinenten Europa und Afrika verdeutlicht. Auffällig ist, dass viele der Stellen, an denen uns der Vergleich Spaniens mit Afrika begegnet, zu den bekanntesten und am meisten kommentierten Äußerungen über Spanien gehören, auch wenn das für den ersten Textbeleg noch nicht in vollem Umfang gilt. In einem poetologischen Kontext, nämlich im Zusammenhang mit der europäischen Geschmacksdiskussion im 17. Jahrhundert und der Herausbildung der doctrine classique, bringt der als Frühaufklärer geltende, unter anderem von Feijoo in seinem Teatro crítico universal häufig zitierte Schriftsteller und Literaturkritiker Charles de Saint-Évremond (1610-1703) seine Geringschätzung des spanischen Barocktheaters mit den folgenden Worten zum Ausdruck, die in dem Traktat „Sur les comédies“ (1666/67) zu finden sind, der sich dem Vergleich des französischen Theaters mit dem spanischen widmet: Pour la régularité et la vrai-semblance, il ne faut pas s’étonner qu’elles se trouvent moins chez les Espagnols que chez les François. Comme toute la galanterie des Espagnols est venue des Maures, il y reste je ne sçai quel goût d’Afrique, étranger des autres Nations, et trop extraordinaire pour pouvoir s’accommoder à la justesse des règles. (1966, 44)
Saint-Évremond, der sich ansonsten voller Sympathie über die Spanier äußert, führt den mangelnden Regelgehorsam und die Gleichgültigkeit gegenüber den Erfordernissen der vraisemblance, die ihm an den spanischen Sitten missfallen, letztlich auf die Vernunftresistenz der Spanier zurück, die er wiederum mit ihrer afrikanischen Mentalität („je ne sçai quel goût d’Afrique“) begründet. 24
24
Den Hinweis auf das Zitat von Saint-Évremond entnehme ich Lopez (1976, 322), der seinerseits in René Brays Standardwerk La formation de la doctrine classique fündig geworden ist (1966, 31).
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Am häufigsten tritt der Vergleich zweifellos bei Voltaire auf. Im 177. Kapitel des Essai sur les mœurs et l’esprit des nations von 1756 behauptet er, ohne selbst über einschlägige Erfahrungen zu verfügen, hinsichtlich der mangelnden Infrastruktur, auf die der Spanienreisende gefasst sein müsse: „on voyage en Espagne comme dans les déserts de l’Arabie“ (1963, 633). Sein knapper Bescheid über die Situation der spanischen Frauen lautet: „presque aussi renfermées qu’en Afrique, comparant cet esclavage avec la liberté de la France“ (ebd.). Und 1776 soll Voltaire gesprächsweise über Spanien geäußert haben: „C’est un pays dont nous ne savons pas plus que des parties les plus sauvages de l’Afrique, et qui ne mérite pas la peine d’être connu“.25 Insbesondere der nachgeschobene Relativsatz bringt mit unverschämter Offenheit den topischen, nicht-referenziellen Charakter dieses Vergleichs zum Ausdruck, der gegen den Einspruch der Wirklichkeit immun ist. Natürlich darf in diesem Zusammenhang auch Nicolas Masson de Morvilliers’ berühmter Spanien-Artikel aus der Encyclopédie méthodique von 1782 nicht fehlen, in der Masson die provozierende Frage gestellt hatte, was Spanien denn in den letzten zweihundert, vierhundert, tausend Jahren für Europa geleistet habe. Zwar fällt bei Masson das Wort „Afrika“ nicht ausdrücklich, aber er konstatiert immerhin metaphorisch, dass aufgrund des religiösen und klerikalen Einflusses aus der früheren „nation colossale“ mittlerweile ein „peuple de pygmées“ (565) geworden sei. Außerdem äußert Masson über Spanien, das er mit nachsichtiger Herablassung auch „ce peuple enfant“ (565) nennt und ihm damit immerhin noch eine gewisse Entwicklungsfähigkeit attestiert: „Elle ressemble aujourd’hui à ces colonies foibles & malheureuses, qui ont besoin sans cesse du bras protecteur de la métropole: il nous faut l’aider de nos arts, de nos découvertes“ (ebd.). Massons Worte machen unmissverständlich klar, dass er sich das Verhältnis zwischen Europa und Spanien nicht nur grundsätzlich hierarchisch vorstellt, als Gegensatz zwischen Fortschrittlichkeit und Unterentwicklung bzw. zwischen Zentrum und Peripherie, sondern auch ganz konkret als paternalistisches und koloniales Verhältnis, das der Beziehung zwischen Vormund und Mündel bzw. Metropole und Kolonie entspricht. 25 Das berichtet der britische Kaplan Martin Sherlock, der Voltaire am 26. April 1776 in Ferney besuchte (zit. n. Voltaire 1883, 390f.). Vgl. auch Fernández Herr (1973, 36).
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Ein Zitat Antoine de Rivarols soll die Revue der Meinungen beschließen. In seiner Schrift über die Universalität der französischen Sprache aus dem Jahr 1784 begründet er den Umstand, dass das Spanische im Gegensatz zum Französischen nicht zur Universalsprache werden konnte, unter anderem mit der geographischen Randlage Spaniens: „Grave, peu communicative, subjuguée par des prêtres, elle fut pour l’Europe ce qu’était autrefois la mystérieuse Egypte dédaignant des voisins qu’elle enrichissait, et s’enveloppant du manteau de cet orgueil politique qui a fait tous ses maux“ (1929, 49). Der Vergleich mit dem „geheimnisvollen Ägypten“ rückt Spanien in die Nähe des Orients. Mit dieser Verschiebung kündigt sich indessen schon die exotistische Perspektive an, die dann in der Romantik für die Ablösung der schwarzen Legende durch die „weiße Legende“ sorgen wird.26 Woher kommt die weit verbreitete Neigung der französischen Aufklärer, Afrika als comparatum zu wählen, wenn es ihnen darum geht, die Verhältnisse in Spanien zu charakterisieren? Gerade weil die Antwort auf diese Frage – im wahrsten Sinne des Wortes – nahe zu liegen scheint, lohnt es sich, die Gründe dafür noch einmal eingehender zu betrachten. Auch vorgestellte oder erfundene Räume stützen sich in der Regel auf Daten. So gewinnt die Denkfigur „Spanien als Afrika Europas“ einen wesentlichen Teil ihrer polemischen (bzw. faszinatorischen) Kraft aus der Möglichkeit, sie auf verschiedene reale Gegebenheiten beziehen zu können. Dazu gehört natürlich als erstes die Nähe der beiden Kontinente Europa und Afrika, die an der engsten Stelle nur 14 Kilometer auseinander liegen. Diese Nähe konstituiert einen eigenen Raum, in dem das Meer nicht mehr als trennendes, sondern als verbindendes Element wahrgenommen wird.27 So beklagt zum Beispiel schon Feijoo im ersten Teil seines
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Vgl. Fernández Herr: „L’Espagne a joui et souffert de deux légendes, celle que les Espagnols appellent ‘noire’, et qui a fait couler beaucoup d’encre, et une autre que nous appellerons ‘blanche’ ou même ‘dorée’, qui les a beaucoup flatté“ (1973, 21). 27 Das beeindruckendste Beispiel für die konzeptuellen Konsequenzen, die aus dieser Wahrnehmung gezogen werden können, ist sicherlich Fernand Braudels 1949 erschienenes Werk La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II, das entscheidend zur Aufwertung der Raumdimension in der Geschichtswissenschaft beigetragen hat und als wichtiger Vorläufer des spatial turn gilt (vgl. Bachmann-Medick 2006, 312).
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Essays „Glorias de España“ von 1730: „Regulan a España por la vecindad de la Africa. Apenas nos distinguen de aquellos bárbaros sino en idioma y religión.“ (1965, 104) Zu der räumlichen Nachbarschaft kommt, zumindest in einigen Teilen Spaniens, noch dasselbe heiße und trockene, aride Klima hinzu, das auch im Norden Afrikas herrscht. Der zweite Faktor ist die Präsenz Afrikas in Spanien, die sich auf 800 Jahre arabisch-islamischer Herrschaft gründet und zur „convivencia“ unterschiedlicher Ethnien auf dem Territorium der iberischen Halbinsel geführt hat. Und drittens ist die kolonisatorische Präsenz Spaniens in Afrika nicht zu vergessen, die auf die seit dem 16. Jahrhundert erhobene Forderung zurückgeht, Spanien um Teile Nordafrikas zu erweitern.28 Im Wesentlichen erklärt sich der Vergleich Spaniens mit Afrika aber auch durch eine bestimmte Vorstellung von Afrika, die – motiviert durch die geographische und kulturelle Nähe – auf Spanien übertragen wird. Wie dieses Afrikabild aussieht, das in seinen Grundzügen im 18. Jahrhundert von ganz Europa geteilt wird, ist durch den Vergleich selbst schon weitgehend deutlich geworden.29 Im Gegensatz zum Nahen und Fernen Osten, aber auch zu Süd- und Mittelamerika war Afrika im 18. Jahrhundert noch weitgehend das, was die Landkarten aus der Zeit der Aufklärung als terra incognita verzeichnen.30 Der noch wenig erforschte Kontinent galt als besonders unzugänglich und abweisend. Die Stilisierung Afrikas zum schlechthin Unvertrauten und absolut Anderen schlägt sich auch in der Darstellung der Afrikaner in
28 Siehe dazu den Artikel „Africanismo“ in Quesada Marco (1997, 31f.). So hatte Isabella die Katholische 1504 in ihrem Testament verfügt, dass Afrika erobert und christianisiert werden solle. Noch 1860 stellt der konservative Politiker und Historiker Antonio Cánovas del Castillo wie selbstverständlich fest, dass die physikalische Grenze Spaniens nicht in der Straße von Gibraltar, sondern im Atlasgebirge als dem natürlichen Pendant der Pyrenäen zu finden sei: „[la] frontera natural de España por la parte del mediodía no es el canal angostísimo que junta los dos mares, sino la cordillera del Atlas, contrapuesta al Pirineo“ (zit. n. ebd., 31; vgl. auch Scarlett 1999, 77). Die spanischen Exklaven Melilla und Ceuta existieren seit 1497 bzw. 1580. 29 Siehe zum (französischen) Afrikabild im 18. Jahrhundert u. a. Mercier (1962), Broc (1975), Cohen (1981, 98-146) und Fendler/Greilich (2006). 30 So bemerkt etwa im 112. Brief der Lettres persanes Rhédi in einem Brief an Usbek: „L’Afrique a toujours été si inconnue qu’on ne peut en parler si précisément que des autres parties du monde“ (1975, 235).
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den zeitgenössischen Charaktertypologien nieder. Sanktioniert durch Religion und Wissenschaft werden ihnen ausschließlich negative Eigenschaften zugeschrieben. Sie erscheinen als faul, undiszipliniert, dumm, eitel, feige, gefühllos, grausam, lüstern, eifersüchtig, fanatisch, hinterhältig, verlogen usw. (vgl. Graille 1997, 29). Innerhalb des vorliegenden Fragehorizonts ist dabei vor allem bemerkenswert, dass gleich mehrere dieser Eigenschaften – Faulheit, Eitelkeit, Grausamkeit, Eifersucht und Fanatismus – regelmäßig auch in den Beschreibungen des spanischen Nationalcharakters auftauchen.31 Dieses monolithische Afrikabild ist nun seinerseits als Funktion einer bestimmten Vorstellung von Europa aufzufassen. Es ist das Produkt einer eurozentrischen Weltsicht, in der sich Ethnozentrismus und Logozentrismus mischen. Mit den Worten von Bernhard Waldenfels bedeutet das: „Man verteidigt Europa, doch was man verteidigt, ist nicht eine Lebensart und eine Kultur unter anderen, sondern man sieht sich als Vorhut der Vernunft oder gar als Inkarnation der Menschheit.“ (1997, 154) Die französische Kultur und die französischen Aufklärer verschärfen diese Gleichung noch, indem sie Europa kurzerhand mit Frankreich identifizieren.32 In der Logik dieser Gleichsetzung liegt es dann auch, dass als Gegenbild nicht bloß ein anderes Land, sondern gleich ein anderer Kontinent bemüht wird. Der offensive, missionarische Charakter dieses Eurozentrismus spiegelt sich
31
Nach Manfred Tietz zeichnet sich das vom 18. Jahrhundert übernommene Bild des „Dauerspaniers“, das sich zum Teil über Humanismus und Mittelalter bis in die Antike zurück verfolgen lasse, durch die folgenden Merkmale aus: „die gravitas und sobrietas, das tyrannisch-eifersüchtige Verhalten der Frau gegenüber, Hang zum Prahlen, Adelssucht und damit verbundene Neigung zum Müßiggang, besondere Grausamkeit und Goldgier (illustriert an der Ausrottung der Indios), eine besondere Begabung für die Theologie sowie Tendenzen zu übertriebener, intoleranter Frömmigkeit, deren sichtbarster Ausdruck die Inquisition und der Jesuitenorden seien sowie Heuchelei, wie es sich u. a. in der von den Jesuiten propagierten Kasuistik ausdrücke.“ (1980c, 26) Zur Hartnäckigkeit des gängigen Spanienklischees äußert sich Bernhard Schmidt 1975 – mit einem rückblickend freilich peinlich wirkenden Vergleich – wie folgt: „Spanier sind für uns heute noch, etwa gleich den Negern, Hitzköpfe, Messerstecher, kinderreich, treu, folkloristisch, pittoresk, genügsam, ohne Organisation usw.“ (71) 32 Siehe zu dieser topischen Gleichsetzung und ihrer Geschichte das Kapitel „L’‚Europe française’ (Caraccioli, Rivarol)“ in: Steinkamp (2003, 163-178) sowie Schlobach (1992).
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auch in den soeben zitierten Äußerungen, denn sie enthalten alle einen Appell, eine implizite Aufforderung zum Handeln: der „afrikanische Geschmack“ verlangt nach Disziplinierung durch vernünftige Regeln; die „Wildnis“ und die „Wüste“ warten darauf, in Besitz genommen und kultiviert zu werden; die „eingesperrten Frauen“ wünschen sich Befreiung; das „Pygmäenvolk“ strebt nach Wachstum und Größe; das „Kindervolk“ bedarf der Betreuung und Erziehung; die „schwache Kolonie“ ist auf Unterstützung von außen angewiesen; und das „geheimnisvolle Ägypten“ harrt der Erforschung und Durchleuchtung mit dem Lichtstrahl der Aufklärung. Welche Zusatzbedeutungen Spanien durch den Vergleich mit Afrika erhält, liegt auf der Hand. Doch was sind die Gründe für die symbolische Ausgrenzung Spaniens aus Europa, oder besser gefragt, was leistet diese Ausgrenzung für den Diskurs der französischen Aufklärer? Die Bereitwilligkeit der philosophes, sich gegenüber Spanien und den Spaniern gröbster Stereotype zu bedienen, hat schon die Zeitgenossen irritiert und fordert bis heute zu Erklärungen heraus. Die Klage über die durchgehend mangelhafte Informiertheit der französischen Aufklärer, der Wunsch, die Herkunft der von ihnen propagierten Klischees aufzudecken, oder gar der Versuch, diese Klischees mit historischen Fakten zu widerlegen, all dies sind nachvollziehbare Reaktionen, die jedoch nicht dazu beitragen, das eigentlich Anstößige, nämlich den offensichtlichen Willen zur Unwissenheit verständlich zu machen.33 Zwei Erklärungsansätze, die einander ergänzen, dominieren bislang. Der erste Erklärungsansatz ist historisch-politischer Natur. Er läuft darauf hinaus, dass die leyenda negra im 18. Jahrhundert auch unter – im Ver-
33 Exemplarisch ist die Auseinandersetzung der Historikerin María del Carmen Iglesias mit dem Spanienbild Montesquieus, die immer noch Spuren der für die spanische Historiographie auch lange Zeit nach Menéndez Pelayo noch typischen „trotzigen Apologetik“ (Tietz 1980c, 25) aufzuweisen scheint. Iglesias konstatiert zunächst: „It is, however, worth pointing out that, when he deals with Spain, Montesquieu, whose otherwise brilliant discussions always show him as a pioneer in the study of deep social and government structures, falls back on a few rehashed platitudes.“ (1989, 149) Anschließend unternimmt sie es, Montesquieus klischeehafte Behauptungen zu Dekadenz und Arbeitsscheu der Spanier mit dem Verweis auf die historischen Fakten zu korrigieren (151-154).
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gleich zu ihrer Entstehung – veränderten historischen Bedingungen fortwirkt, aber nun eine andere Funktion erfüllt. Bis ins späte 17. Jahrhundert hinein diente die im frühen 16. Jahrhundert in Italien entstandene und in den folgenden Jahrhunderten aus wechselnden Quellen gespeiste leyenda negra den europäischen Ländern als vielseitig einsetzbare Propagandawaffe: im Kampf gegen die Eroberungs- und Kolonisierungsbestrebungen Spaniens in der Neuen Welt, in den Religionskonflikten und in dem immer wieder in neuen Konstellationen ausbrechenden Streit um die politische Vormachtstellung in Europa (vgl. García Cárcel 1992, 21-120). Mit dem vermeintlichen Niedergang der spanischen Macht im 17. Jahrhundert und dem Wechsel des Herrschergeschlechts entfallen im Grunde die politischen Voraussetzungen, die bis dahin für die Wirksamkeit der leyenda negra ausschlaggebend waren. Dass sie dennoch beibehalten und sogar verstärkt propagiert wird, hängt damit zusammen, dass sie sich ausnehmend gut zur ideologischen Profilierung der europäischen und zumal der französischen Aufklärungsbewegung eignet. An dieser Stelle setzt das zweite Erklärungsmuster an, das auf sozialpsychologischen und imagologischen Argumenten beruht. Wie Bernhard Schmidt 1975 als erster formuliert, gehorcht „der mindestens mit Montesquieu einsetzende antispanische Affekt der französischen Aufklärung primär dem Gesetz der Negativprojektion neuer Wertvorstellungen auf eine Außengruppe.“ (1975, 61)34 Am Beispiel der Haltungen Voltaires und Montesquieus lässt sich verdeutlichen, dass Spanien aus durchaus unterschiedlichen Motiven zur Projektionsfläche avanciert, auch wenn der Kampf gegen die Dominanz von Kirche und Klerus und gegen die, wie man behauptet, zum Despotismus tendierende absolute Monarchie den gemeinsamen Hintergrund aller Kritiker bildet: Voltaire benötigt Spanien in erster Linie „als negative Folie für eine propagandistisch geschickte Darstellung der Fortschrittsidee“ (Tietz 1980c, 32). Spanien repräsentiert für ihn gewissermaßen die Vergangenheit Europas, eine Zivilisationsstufe, die man endgültig für überwunden hält und an die man sich deshalb nicht mehr erinnern möchte oder an die man sich gerade deswegen erinnert, um sich zu 34 Vgl. ebenso Floeck (1981, 69), Tietz (1980c, 31-33), Jurt („l’hétéro-stéréotype négatif servant à rehausser l’auto-stéréotype positif“, 1987, 31) u. a.
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vergewissern, dass man sie überwunden hat. Spanien interessiert Voltaire also nur insoweit, als er es für seine eigenen Zwecke instrumentalisieren kann.35 Montesquieu betrachtet Spanien hingegen eher als abschreckendes Beispiel für die Zukunft Europas, als Menetekel eines möglichen Niedergangs. Vor dem Hintergrund seiner zyklischen Geschichtstheorie glaubt er, dass der Abstieg Europas als globale Großmacht gerade deswegen zu fürchten sei, weil Europa gegenwärtig den Zenit seiner Macht erreicht zu haben scheint: „L’Europe est parvenue à un si haut dégré de puissance, que l’histoire n’a rien à comparer là-dessus“ (De l’esprit des lois 1951, I, XXI, XXI, 644).36 Frankreich und mit ihm Europa stehen nach seiner Auffassung am Scheideweg. Ihr Schicksal wird sich zwischen zwei Polen entscheiden, die in Montesquieus politisch-historischem Raummodell durch Spanien und England verkörpert werden. So vermerkt er in seinem Notizbuch Mes pensées: „‘Il y a (disois-je) en Europe trop d’intolérance et trop de tolérance: Espagne, Angleterre.’“ (1949, 1477)37 Wenn man über die genannten Erklärungsversuche hinausgehen möchte, bietet sich dazu eine abstraktere diskursanalytische Perspektive an, aus der man zu der Einschätzung gelangen kann, dass sich in der Haltung der philosophes gegenüber Spanien – diesseits individueller 35 Vgl. das Fazit von Manfred Komorowski: „Um es noch einmal deutlich zu sagen: Spanien ist hier eigentlich von zweitrangiger Bedeutung, weil es Voltaire gewissermaßen nur als Mittel zum Zweck, nämlich zum Angriff auf die katholische Kirche, dient.“ (1976, 165) 36 Im 136. Brief der Lettres persanes, der von der Nationalgeschichtsschreibung handelt, fasst Montesquieu Aufstieg und Fall des spanischen Imperiums in Kurzform zusammen: „Là, vous voyez la nation espagnole sortir de quelques montagnes; les princes mahométans subjugués aussi insensiblement qu’ils avaient rapidement conquis; tant de royaumes réunis dans une vaste monarchie, qui devint presque la seule: jusqu’à ce qu’accablée de sa propre grandeur et de sa fausse opulence, elle perdit sa force et sa réputation même et ne conserva que l’orgueil de sa première puissance.“ (1975, 288) 37 Auf die komplementäre Rolle von England und Spanien im Denken Montesquieus geht u. a. Mark Hulliung (1976, 46-53, 85-87) näher ein. Wie das Beispiel Diderots zeigt, ist das entsprechende Denkschema unter den Aufklärern weit verbreitet: „Für den frühen Diderot repräsentiert Spanien recht undifferenziert den negativen Pol seiner ideologischen Geographie, deren positiven Pol England besetzt.“ (Tietz 1984, 129)
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Beweggründe – die Kehrseite, der blinde Fleck eines betont universalistischen Diskurses zu erkennen gibt, der sein Fortbestehen paradoxerweise der Konstruktion von Differenzen verdankt, deren Abschaffung er sich eigentlich zur Aufgabe gemacht hat. Warum gerade Spanien durch „Afrikanisierung“ zum Anderen Europas erkoren und im Zuge ein und desselben rhetorischen Vorgangs für eben diese Andersheit bestraft wird, hat indessen auch damit zu tun, dass es auf der mentalen Landkarte des 18. Jahrhunderts zu einer symbolischen Umbesetzung der Himmelsrichtungen kommt. Das seit der Antike vorherrschende Weltbild war von einer Unterteilung der Erde in einen „zivilisierten Süden“ und einen „barbarischen Norden“ ausgegangen. Im Zeitalter der Aufklärung wird dieses Raumkonzept – begleitet und befördert von der Klimatheorie – einer grundlegenden Neubewertung unterzogen, mit dem Ergebnis, dass jetzt der Norden – das sind vor allem die protestantischen Länder Holland und England – als Heimstatt des Fortschritts und der Zivilisation erscheint.38 In seiner „Epître CXI. A l’Impératrice de Russie, Cathérine II“ aus dem Jahr 1771 bringt Voltaire die Revolution in der geographischen Semantik seiner Zeit auf den Punkt: „C’est du Nord aujourd’hui que nous vient la Lumière“ (1877, 435). Und Antoine de Rivarol begründet seine Beobachtung, dass die Universalität der französischen Sprache nicht für Italien und Spanien gelte, damit, dass das Menschengeschlecht einem Fluss gleiche, der von Norden nach Süden fließe: „Le genre humain est comme une fleuve qui coule du nord au midi; rien ne peut le faire rebrousser vers sa source; et voilà pourquoi l’universalité de la langue française est moins vrai pour l’Espagne et pour l’Italie que pour le reste de l’Europe.“ (1929, 45f.) So ist – unter anderem – auch zu erklären, warum sich Russland, das ansonsten von allen europäischen Ländern in kulturtypologischer Hinsicht die größten Ähnlichkeiten mit Spanien aufweist, bei den französischen Aufklärern größter Wertschätzung erfreut, denn es wird im 18.
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Zu den zeitgenössischen Vorstellungen der Klimatheorie siehe vor allem die entsprechenden Passagen in Montesquieus De l’esprit des lois (1748), insbesondere das Kapitel „Combien les hommes sont différents dans les divers climats“ (1951, I, XIV, II, 474-477).
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Jahrhundert noch nicht im Osten lokalisiert, sondern dem Norden zugerechnet.39 Edward Said hat in seiner mittlerweile klassischen diskurshistorischen Studie Orientalism. Western Conceptions of the Orient aus dem Jahr 1978 den „Orient“ als eine europäische Erfindung beschrieben. Dabei bedient er sich in einer Weise, die vielfach anregend gewirkt hat, sowohl der Vorstellung einer diskursiven Konstruktion geographischer Räume als auch des metaphorischen Modells des Theaters.40 Saids Beschreibung lässt sich im Sinn eines Fazits auch auf das Verhältnis der französischen Aufklärer zu Spanien und insbesondere auf die Figur „Spanien als Afrika Europas“ übertragen, obwohl von der Existenz eines „Hispanismus“ oder „Meridionalismus“, der mit dem „Orientalismus“ als einem sich im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert herausbildenden Geflecht aus Institutionen, Disziplinen und kulturellen Artefakten vergleichbar wäre, sicher nicht die Rede sein kann.41 Die imaginative Besetzung geographischer Räume ist für Said ein Mittel zur Dramatisierung der Beziehung zwischen dem Eigenen und dem Fremden und damit zu einem gesteigerten Identitätsempfinden.42 Der Orient gerät unter diesen Umständen zu einer Bühne – „a theatrical stage affixed to Europe“ (63) –, auf der sich europäische Befürchtungen und Sehnsüchte in Form stereotyper Figuren, Gegenstände, Szenen und Schauplätze materialisieren. Vor diesem Hintergrund kann man wohl
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Vgl. dazu Daniel-Henri Pageaux: „el caso de Rusia muestra que los filósofos franceses se empeñaron en defender una imagen que pasó a ser casi un espejismo [...]. No conoció España aquella moda ni aquella manía. Las Luces se fundamentan en un mundo desdoblado donde el Norte supera al Mediodía.“ (1991, 210) Vgl. auch Schenk (2002, 499-501). 40 Vor allem in dem Kapitel „Imaginative Geography and Its Representations: Orientalizing the Oriental“ (1995, 49-73). 41 Siehe zu der Tatsache, dass zwar der Osten, Westen und Norden sowie (Mittel-) Europa zum Gegenstand geographischer Identitätskonstrukte geworden sind, nicht aber der Süden, Frithjof Benjamin Schenk: „Auch wenn den Süden seit jeher eine magische Aura umgibt, so diente diese Himmelsrichtung im europäischen Kontext jedoch offenbar noch nie als Namensgeberin einer bedeutsamen Großraumidee.“ (2002, 507) 42 „For there is no doubt that imaginative geography and history help the mind to intensify its own sense of itself by dramatizing the distance and difference between what is close and what is far away.“ (55)
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sagen, dass auch der hyperbolische, paradoxe und abwertende Vergleich Spaniens mit Afrika zugleich Symptom und Instrument der Dramatisierung ist, die das Verhältnis zwischen Spanien und Europa im 18. Jahrhundert erfährt. Unter der Regie der französischen Aufklärer wird Spanien zur Bühne Europas, auf der es wechselweise als es selbst – im Sinne einer Hispanisierung des Spanischen – oder als Afrika verkleidet zur Darstellung gebracht wird.43 In Saids Studie erscheint der Orientalismus auch als Ideologie zur Durchsetzung konkreter politischer Machtinteressen. Das gibt Anlass, abschließend nach einem möglichen inneren Zusammenhang von symbolischer und politischer Raumpraxis in der Beziehung zwischen Frankreich und Spanien zu fragen. Zumindest im Hinblick auf die Politik Napoleon Bonapartes wird man einen solchen Zusammenhang nicht 43
Dass es auch in Spanien selbst ein Bewusstsein für die theaterhaften und bühnenartigen Züge des im Anschluss an Said analysierten interkulturellen Repräsentationsprozesses gab, zeigt der folgende Ausschnitt aus einem 20-seitigen Leserbrief, der in der 19. Ausgabe vom 7. Juli 1756 der von Juan Enrique de Graef herausgegebenen Zeitschrift Discursos mercuriales. Memorias sobre la agricultura, marina, comercio, y artes liberales, y mecanicas (1752/1755-56) abgedruckt ist. Der Autor des Leserbriefs, es ist der Philosophieprofessor Antonio Jacobo del Barco aus Huelva, beklagt sich darin über das vergiftete Lob Spaniens, das, so meint er jedenfalls, Rousseau in seinem ersten preisgekrönten Discours von 1750 ausgesprochen habe. Indem Rousseau Spaniens Rückständigkeit als Tugend darstelle, führe er die Spanier in Wahrheit als lächerliche Figuren und als exotische und barbarische „Wilde“ dem „Theater der Weltöffentlichkeit“ vor: „Para sacar al pùblico theatro del mundo la creida ignorancia de los Españoles de un modo, que se dieran por satisfechos, propone nuestro exemplo, aun à las naciones mas cultas, como una leccion invariable de prudencia, de circunspeccion, de decencia, templanza, y frugalidad. El fin, à lo que parece, fuè, para que embobados con este elogio, no oyeramos la mofa, que hace de nuestra literatura, tratandonos por tan bozales como los Indios mas barbaros.“ (984f.) Ironischerweise (und zwar angesichts der gerade zitierten Zeilen) stammt der Text, der in der 6. Ausgabe der Discursos mercuriales vom 17. Dezember 1755 veröffentlicht wurde und auf den sich der Leserbriefschreiber in der Annahme, dass Rousseau der Verfasser sei, bezieht, gar nicht von Rousseau, denn in dessen erstem Discours ist von Spanien überhaupt nicht die Rede. Bei dem in den Discursos mercuriales abgedruckten Text handelt es sich vielmehr um den Wettbewerbsbeitrag eines gewissen M. de Chasselas de Troyes, der von der Akademie zu Dijon die Würdigung „premier accessit“ erhalten hatte, wie Jefferson Rea Spell herausgefunden hat (1969, 27). Francisco Sánchez-Blanco scheint dieser Umstand in seiner Anthologie der Discursos mercuriales entgangen zu sein (vgl. Graef 1996, 71f.). Auch behauptet er, offenbar ohne genaue Kenntnis des Textes von Rousseau: „Rousseau hizo un ambiguo elogio de los españoles.“ (171)
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leugnen können. Wie vor seinem Ägyptenfeldzug rechtfertigt Napoleon auch vor seinem Einmarsch in Spanien die Kolonisationsbestrebungen und imperialen Ansprüche Frankreichs als zivilisatorische Akte, die durch die Überlegenheit der französischen Kultur legitimiert sind. Man muss sich dazu nur die Proklamation ansehen, die Napoleon am 25. Mai 1808 von Bayonne aus an das spanische Volk richtet und die wenig später, am 3. Juni 1808, auf Spanisch in der Gaceta de Madrid erscheint. Darin manifestierten sich eine Haltung gegenüber Spanien und zugleich eine Form des Selbstverständnisses, die exakt der von den philosophes propagierten Denkfigur „Spanien als Afrika Europas“ entsprechen. Napoleon entwirft zunächst das Bild einer alten, erschöpften, vom Untergang bedrohten und schlecht regierten Nation, die es nicht mehr schafft, von selbst auf die Beine zu kommen. Er diagnostiziert „después de una larga agonía, vuestra nación iba a perecer“ und erklärt den Spaniern: „Vuestra Monarquía es vieja“.44 Für seine eigene Mission wirbt er dagegen mit einer aufklärerischen Rhetorik des Fortschritts und der Effizienz, die von den Vokabeln „remediar“, „renovar“ „regenerar“, „mejorar“, „reformar“ und „organizar“ geprägt ist.45 Bedeutet das, dass wir die französischen Aufklärer, die für die Konjunktur der Denkfigur „Spanien als Afrika Europas“ in hohem Maße verantwortlich sind, als Büchsenspanner Napoleons bzw. als Vordenker eines innereuropäischen Imperialismus zu betrachten haben?46 Sicherlich darf die Antwort auf diese Frage nicht auf die
44
Diese und die folgenden Zitate entstammen der Anmerkung 106 von Françoise Etienvre zu Capmanys Centinela contra franceses aus dem Jahr 1808 (1988, 120f.). 45 Der Historiker Henry Kamen unterstreicht, wie sehr das Bild des Verfalls und der Rückschrittlichkeit den Ansichten und Absichten der französischen Regierung entgegenkam: „The French, for example, were precisely those most interested in maximizing Spanish weaknesses. They helped to create what I shall subsequently be referring to as a ‘myth’. [...] When the French invaded Spain in the early nineteenth century, they too were concerned to present the same picture.“ (1978, 25) Siegfried Jüttner spricht in demselben Zusammenhang von einem „Instrument politischer Entmündigung“ (1992b, 254). 46 Auch Volker Steinkamp fragt sich, allerdings in Bezug auf den aufklärerischen Europa-Diskurs und sein Verhältnis zur außereuropäischen Welt: „Stellt [...] die Europakonzeption der Aufklärer den Ausgangspunkt dieser von Said kritisierten Tradition des Eurozentrismus dar und liefert sie damit zugleich – gewollt oder ungewollt – die theoretische Grundlage und sogar die Rechtfertigung der kolonialistischen und impe-
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Unterstellung einer moralischen Haftung der Aufklärer für die von ihnen selbst nicht mehr kontrollierbare Wirkungsgeschichte ihrer Gedanken hinauslaufen. Dennoch gibt es zweifellos eine strukturelle Verwandtschaft zwischen dem clash of civilizations, der von den Aufklärern konstruiert wird, und der semantischen Besetzung des geographischen Raums, die bei Napoleon der realen Besetzung vorausgeht. Das mapping ist – wie der vom topographical turn geschärfte Blick erweist – in beiden Fällen identisch. Die provozierenden Stellungnahmen bekannter und weniger bekannter französischer Aufklärer, die sich unbekümmert um die Empirie und die möglichen negativen Auswirkungen ihres Tuns und mit der Arroganz derjenigen, die immer schon Bescheid zu wissen meinen, über Spanien äußern, haben zweifellos in erheblichem Maße dazu beigetragen, die an sich schon begrenzten Entfaltungsmöglichkeiten der spanischen Aufklärungsbewegung weiter zu beschränken und die Position der Aufklärungsgegner zu stärken. Gegen diese allgemein akzeptierte Bewertung der Verhältnisse, die auf den negativen Folgen der französischen „Ignoranz“ und „Frivolität“ für die spanische Aufklärung insistiert, ist vorerst sicher nichts einzuwenden.47 Schließlich befanden sich die spanischen Aufklärer ohnehin in einer prekären Lage, denn als Kritiker der Zustände ihres Landes riskierten sie es, als Verräter an Glauben und Vaterland zu erscheinen, während sie als Verteidiger ihres Landes und
rialistischen Praxis der Europäer in späteren Zeiten?“ (2003, 202) Trotz des Überlegenheitsbewusstseins der philosophes und des unleugbaren Führungsanspruchs, den sie der französischen Kultur zuschreiben, sei jedoch ein „genereller Ideologieverdacht“ (ebd.) im Hinblick auf die (selbst-)kritische Grundhaltung der Aufklärer nicht berechtigt. 47 Als stellvertretend darf die These Wilfried Floecks gelten, „daß die französischen Aufklärer, allen voran Montesquieu und Voltaire, infolge ihres ebenso negativen wie klischeehaften Spanienbildes die Verbreitung ihrer aufklärerischen Ideen in Spanien erschwert, durch ihre überhebliche wie oberflächliche Kritik an den Verhältnissen auf der Iberischen Halbinsel selbst die reformfreudigen Kreise Spaniens vor den Kopf gestoßen, damit bereits im 18. Jahrhundert die Wurzeln für die künftige Spaltung der spanischen Intellektuellen in Befürworter und Gegner des französischen Gedankengutes gelegt und letztlich mit zum Sieg der casticistas über die afrancesados beigetragen zu haben.“ (1981, 67; vgl. auch 74) Julián Marías urteilt: „carecen de curiosidad y pontifican con tremenda irresponsabilidad sobre lo que desconocen“ (1985, 297).
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seiner Sitten ständig damit rechnen mussten, ihre aufklärerischen Ziele zu verraten. Leandro Fernández de Moratín bringt dieses Dilemma in einer vielzitierten Stelle aus einem Brief an Juan Pablo Forner aus Montpellier vom 23. März 1787 – nur die private Mitteilungsform erlaubte solche Offenheit – auf den folgenden Nenner: Créeme, Juan; la edad en que vivimos nos es muy poco favorable: si vamos con la corriente, y hablamos en lenguage de los crédulos, nos burlan los extrangeros, y aun dentro de casa hallaremos quien nos tenga por tontos; y si tratamos de disipar errores funestos, y enseñar al que no sabe, la santa y general Inquisición nos aplicará los remedios que acostumbra. (1973, 48)48
Die als ungerecht empfundene Zurückweisung durch die französischen Vorbilder musste diesen double-bind-Konflikt auf Seiten der afrancesados, zu denen auch Leandro Fernández de Moratín gehörte, zwangsläufig in traumatischer Weise verschärfen. Angesichts des identifikatorischen Verlangens nach Anerkennung durch die französischen Lehrer und „Väter“ und deren herablassender Weigerung, die aufklärerische Potenz ihrer spanischen Schüler und „Söhne“ anzuerkennen, kann man geradezu von einem ödipalen Drama sprechen. Das gilt in einem ganz konkreten Sinn besonders für jene Fälle, in denen an die Stelle des abwesenden spanischen Vaters eine französische Erziehung bzw. eine Erziehung in Frankreich getreten ist. Das trifft zum Beispiel auf José Cadalso zu, dessen Mutter zwei Jahre nach seiner Geburt starb und der seinem Vater zum ersten Mal mit 13 Jahren begegnete. Cadalso wurde nach eigenem Bekunden mit neun Jahren auf das renommierte Pariser Collège Louis-le-Grand geschickt (1979, 5) und kehrte erst wieder im Alter von 16 Jahren nach Spanien zurück.49 Der persönliche Konflikt, in dem sich Cadalso im Hinblick
48
Zitiert wird diese Stelle u. a. von Wilfried Floeck (1981, 67) und Siegfried Jüttner (2005a, 206). 49 In seinen autobiografischen Aufzeichnungen äußert er sich über seine Rückkehr nach Spanien wie folgt: „entré en un país que era totalmente extraño para mí, aunque era mi patria. Lengua, costumbres, traje, todo era nuevo para un muchacho que había salido niño de España, y volvía a ella con todo el desenfreno de un francés, y toda la aspereza de un inglés.“ (1979, 7)
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auf die von ihm bewunderte französische Kultur befindet, lässt sich prägnant an seinem Verhältnis zu Montesquieu ablesen, der als „Cadalsos Lieblingsautor“ (Schmidt 1975, 66) betrachtet werden kann. Auch wenn sich Cadalso in seinem literarischen Werk gegen Montesquieu wiederholt zur Wehr setzt, versagt er dem „hombre tan ilustre como docto“ (1970, 4), wie er ihn in seiner Defensa de la nación española contra la „carta persiana LXXVIII“ de Montesquieu nennt, zeitlebens nicht den Respekt. Ähnlich verhält es sich mit Bernardo de Iriarte, der zusammen mit seinem Bruder Tomás von seinem hochgebildeten Onkel Juan de Iriarte erzogen wird, der zwischen 1715 und 1724 in Paris studiert hatte und eventuell sogar Mitschüler Voltaires am Collège Louis-le-Grand gewesen war (Defourneaux 1960, 280). Iriarte drückt Voltaire, ungeachtet dessen herablassender Haltung gegenüber Spanien und den Spaniern, in der im Oktober 1764 abgesandten „Carta sobre el teatro español“ seine Bewunderung mit den Worten aus, die hier abschließend zitiert werden sollen: En España, como en el resto del orbe literario, se celebra y aplaude justamente el ingenio exquisito y delicadeza que V. M. manifiesta en todas sus obras. Yo, que me precio de ser uno de los mayores admiradores del superior talento de M. de Voltaire, las leo con no menor complacencia y atención que noble envidia; y no bien sale al publico alguna nueva, cuando procuro adquirirla y darla a conocer a los muchos apasionados de tan insigne escritor. (zit. n. Defourneaux 1960, 274, Hervorhebung im Original)
D)
DIE TABUISIERTE KRITIK AN STAAT UND KIRCHE
Die Zurückweisung der spanischen Aufklärer durch ihre französischen Vorbilder lenkt die Aufmerksamkeit unweigerlich auf die historische Tatsache, dass sich die spanische Aufklärungsbewegung nicht in derselben Weise profilieren konnte – und wollte – wie die französische. Damit rückt die vielbeschworene Frage nach der Reichweite und den Grenzen der spanischen Aufklärung erneut ins Zentrum des Interesses.50 Aufgrund ihrer existenziellen Abhängigkeit von der abso50 Vgl. etwa zusammenfassend die Kapitel „La resistencia a la Ilustración: bases sociales y medios de acción“ und „El pensamiento tradicionalista“ von François Lopez
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lutistischen Macht und der Notwendigkeit, sich gehorsam gegenüber der katholischen Kirche und ihren Dogmen zu zeigen, aber auch mangels einer aufgeklärten und hinreichend selbstständigen Öffentlichkeit, war es den spanischen Aufklärern nicht vergönnt, aus der prestigeträchtigen Rolle „verfolgter Tugend“ (Gumbrecht 1990, 553) zu sprechen, eine Rolle, in der sich die philosophes in Frankreich hingegen, unter Berufung auf die jedem Individuum eingeborene Vernunft und Moral, sozial und literarisch perfekt zu inszenieren wussten. Während sich die französische Aufklärung gerade gegen die Institutionen der absolutistischen Monarchie und der Kirche konstituierte, vermochte sich die spanische Aufklärung nur unter ihrem Schutz und mit ihrer Billigung zu entfalten.51 Wie Bernhard Giesen hervorhebt, konnten sich die Intellektuellen der Aufklärung in Frankreich – Rousseaus Aufrichtigkeitspathos ausgenommen – im öffentlichen Diskurs umso radikaler gerieren, als sie ihre universalistischen Prinzipien und ihren moralischen Rigorismus im privaten Bereich nicht unter Beweis stellen mussten: Voltaire ist das berühmteste Beispiel für diese Neigung zu kluger Heuchelei, die den französischen Aufklärern keine Schwierigkeiten bereitet zu haben scheint. In der Öffentlichkeit kritisierte er den König und griff die Zensur scharf an, in seinem privaten Leben war er ein bezahlter Spion
in der von José María Jover Zamora herausgegebenen Historia de España (1987, 767-851) sowie das Kapitel „Los límites de la Ilustración“ von Carlos Martínez Shaw in der von Antonio Domínguez Ortiz herausgegebenen Historia de España (1989, 522-539). Auf den Widerstand gegen die Aufklärung in Spanien geht am Beispiel des Prozesses gegen Pablo de Olavide im Vergleich mit Frankreich und Deutschland auch Tietz (2002) ein. 51 Vgl. Richard Herr: „Of persons in Spain who were attacking either the altar or the throne hardly a trace has been found. Catholicism and enligthened despotism were the ideals of even the most progressive Spaniards.“ (1958, 218f.) So erklärt sich für Julían Marías auch das negative Spanienbild der Franzosen: „Los promotores de la transformación radical, de la eliminación del cristianismo, se encuentran con una sociedad que sigue siendo, casi íntegramente, cristiana, incluso los ilustrados, con muy contadas excepciones. Los que tienen el proyecto de derribar las monarquías ven que en España tiene un grado de legitimidad social, fundada en el universal consenso, sin fisura: los avanzados de la transformación son precisamente regalistas, tenaces defensores de las prerrogativas de la Corona.“ (1985, 302) Umgekehrt mussten den Spaniern „der Antiklerikalismus und Republikanismus französischer Reformer als Tabufolie“ (Jüttner 2005a, 215) gelten.
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der französischen Regierung; er predigte einen Kreuzzug gegen die Kirche ‘pour écraser l’infame’, aber er legte auch Wert darauf, daß seine Frau und seine Diener an einen ‘dieu rémunérateur et vengeur’ glaubten; er, der unermüdliche öffentliche Prophet der Vernunft und des Kreuzzugs gegen den Aberglauben, pries sogar die Lüge als eine Tugend (1999, 153).
Voltaires auf den ersten Blick widersprüchliches Verhalten setzt eine bereits fortgeschrittene Ausdifferenzierung zwischen politischem und öffentlichem Raum einerseits und zwischen öffentlichem und privatem Raum andererseits voraus, in denen jeweils unterschiedliche Normen gelten. Als Heuchelei wird man seine Handlungsweise nur dann interpretieren, wenn man von einer einheitlichen Wertsphäre ausgeht und systemfunktionale Gesichtspunkte ausklammert. In der spanischen Gesellschaft kann von einer vergleichbaren Ausdifferenzierung der Handlungsräume und Wertsphären zu dieser Zeit noch nicht die Rede sein. Die Bekenntnisse der spanischen Aufklärer zu den meist in einem Atemzug genannten Institutionen Staat/Monarchie und Kirche/Religion entspringen daher – anders als man es vor dem Hintergrund des französischen Modells annehmen könnte, das deutlich zwischen privatem und öffentlichem Verhalten trennt – nicht nur taktischen Erwägungen, das natürlich auch, sondern decken sich durchaus mit lebensweltlichen Grundhaltungen, die sich wesentlich von denen ihrer französischen Vorbilder unterscheiden. Das gilt natürlich vor allem im Hinblick auf das Bekenntnis zum christlichen Glauben.52 Diese Rückbindung an einen spezifischen politischen und religiösen Kontext ist jedenfalls immer im Auge zu behalten, wenn man auf das stereotype Bekenntnis stößt, Staat und Kirche von Kritik ausnehmen zu wollen – ein Bekenntnis, das in dieser Form in allen hier analysierten Texten zu finden ist: So erklärt Benito Jerónimo Feijoo im
52
Über die Dogmentreue und religiöse Einstellung der spanischen Aufklärer generell informiert Teófanes Egidos Artikel „La religiosidad de los ilustrados“ (1987); vgl. auch Antonio Domínguez Ortiz: „En el siglo XVIII los comienzos de la descristianización eran ya visibles en varios países europeos; en España no sólo el ateísmo sino el puro deísmo eran prácticamente inexistentes; incluso los personajes, los ministros que han pasado a la historia como volterianos y descreídos eran en el fondo tan creyentes como los demás.“ (1988, 141)
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Vorwort zum ersten Band des Teatro crítico universal in Bezug auf seine kritisch-aufklärerischen Absichten: „esto se debe entender con la reserva de no introducirme jamás a juez en aquellas cuestiones, que se ventilan entre varias escuelas, especialmente teológicas“ (1986, 101). Nach der Kritik des Infanten, des späteren Karls III., an der im Anhang zu dem discurso „Mapa intelectual y cotejo de naciones“ abgedruckten Tabelle der Völkereigenschaften des Deutschen Johannes Zahn, beeilt sich Feijoo, dem vierten Band des Teatro crítico universal, der im Dezember 1730 erscheint, eine Widmung voranzustellen und in den ersten Teil der „Glorias de España“ eine „Apóstrofe al señor infante don Carlos“ (1965, 111f.) einzuschieben, in denen er dem Thronfolger seine Ergebenheit versichert. Die Herausgeber des Diario de los literatos de España klären in der Einleitung des ersten Bandes ihrer Zeitschrift die Leser darüber auf, dass die Objektivität des Urteils, die sie zum Maßstab ihres Handelns erheben, Grenzen besitze: „Pero debemos prevenir, que no podrèmos observar la dicha indiferencia en las materias que se opusieren à la Religion, à las buenas costumbres, ò al Estado“ (1, „Introducción“, [16]). José Cadalso beteuert in seiner Defensa de la nación española contra la „carta persiana LXXVIII“ de Montesquieu, dass er „religión y gobierno“ den „respeto debido“ (1970, 5) entgegenbringe, und in der Einleitung zu seinen Cartas marruecas bekräftigt er: „Me he animado a publicarlas por cuanto en ellas no se trata de religión ni de gobierno“ (2000, 4).53 Juan Pablo Forner indessen hat es gar nicht nötig, in seiner Oración apologética por la España y su mérito literario ausdrücklich auf seine Loyalität gegenüber Staat und Kirche hinzuweisen, denn seine ganze Schrift ist eine einzige Verteidigung der „límites de lo útil y verdadero“ (1786, 40), die den Bürger vor den Gefahren schützen sollen, die von der Staatsform der Republik und einem von der göttlichen Offenbarung abgelösten Gebrauch der Vernunft ausgehen: ¿Y querrán decir todavía nuestros acusadores que es bárbara la constitucion de nuestro Gobierno porque nos asegura de los tropiezos que trae 53
Auf die diesbezüglichen Unterschiede zwischen den Cartas marruecas und den Lettres persanes geht ausführlich Klaus-Jürgen Bremer in den Kapiteln „Staat und Regierung“ (106-133) und „Die Religion“ (156-166) in seiner komparatistischen Studie Montesquieus „Lettres persanes“ und Cadalsos „Cartas marruecas“ (1971) ein.
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consigo la licenciosa y desenfrenada libertad de pervertir los establecimientos mas autorizados, y las ideas que ha aprobado por verdaderas el general consentimiento de todas las gentes? (19)
Dass alle diese Texte, soweit sie zur Veröffentlichung bestimmt waren, in irgendeiner Weise staatliche Unterstützung bzw. Missbilligung erfahren haben, bedarf wohl kaum mehr der Erwähnung bzw. der Erinnerung: Feijoo wird im Jahr 1750 von Ferdinand VI. per königlichem Dekret vor polemischen Angriffen gegen sein Werk geschützt. Das Diario de los literatos de España erfreut sich der Protektion des Monarchen, der sich die Herausgeber aber auch erst mit dem Erscheinen des siebten und letzten Bandes uneingeschränkt sicher sein durften.54 Cadalso zieht im Juli 1778 resigniert das Manuskript der Cartas marruecas zurück, nachdem sich die Veröffentlichung trotz Genehmigung durch die Zensur aufgrund der politischen Umstände unerwartet verzögert hatte. Forner verdankt die Publikation seiner Oración apologética der tatkräftigen Fürsprache Floridablancas. Neben dem unabwendbaren Bewusstsein der Rück- und Randständigkeit, der unleugbaren Präsenz der französischen und italienischen Kultur und dem aufdringlichen Zerrbild, das die französischen Aufklärer von Spanien entwerfen, ist die tabuisierte Kritik an Staat und Kirche, die sich als Topos in zahlreichen Texten der Zeit wiederfindet, der vierte den spanischen Identitätsdiskurs im 18. Jahrhundert formierende Faktor – und dies in zweifacher Hinsicht: Zum einen fordert das Tabu selbst offensichtlich dazu auf, immer wieder – als Tabu – thematisiert zu werden, oder es gibt Anlass zu ausdrücklichen Loyalitätsbekundungen. In jedem Fall sorgt es dafür, dass die Haltung zu Monarchie und Kirche als kulturprägendes Merkmal wahrgenommen und gegebenenfalls reflektiert wird und trägt so zur Steigerung des spanischen Identitäts- und Alteritätsbewusstseins bei. Zum anderen zwingt das Tabu die spanischen Aufklärer dazu, sich anderen Gegenständen zuzuwenden und sich auf anderen Gebieten und in anderer Weise als etwa die französischen Aufklärer zu profilieren. 54
Siehe Ruiz Veintemilla (1976, 252-255). Im Vorwort des sechsten Bandes verweisen die Herausgeber darauf, dass die „Erfindung“ der Zeitschrift aufgrund ihrer allgemeinen Nützlichkeit auch im Ausland den Schutz der Monarchen genieße: „pero con la proteccion de sus soberanos ha subsistido con general estimación“ (6, „Prólogo“, XLII).
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Nachdem der Staat und die Kirche als Feindbilder ausscheiden, an denen die spanische Aufklärungsbewegung ihr Profil schärfen könnte – indem sie im Namen eigener, selbstgesetzter Werte zum Angriff auf diese Institutionen aufriefe oder sich öffentlichkeitswirksam als deren Opfer in Szene setzte –, sind indessen noch nicht alle Möglichkeiten der Selbstdarstellung als Ankläger oder Verfolgte ausgeschöpft. Gerade die scharfen Angriffe aus Frankreich versetzten die spanischen Aufklärer ja in eine Opferrolle sui generis, mussten sie sich doch durch deren spanienfeindliche Äußerungen in einer Weise zum Objekt negativer Fremdprojektionen gemacht sehen, die sie – oder jedenfalls die meisten von ihnen – auch mit ihrem kritischen Selbstbild unter keinen Umständen mehr in Übereinstimmung bringen konnten. Die Rolle des unschuldigen Opfers brachte zwar die Versuchung mit sich, in sterile Gegenattacken und blanken Chauvinismus zu verfallen, eröffnete aber auch ein ganzes Spektrum neuer Verhaltens- und Profilierungsmöglichkeiten, die keineswegs ungenutzt blieben, zumal auch die tabuisierte Kritik an Staat und Kirche die Wahrnehmung derselben Kompensationsangebote nahezulegen schien. Zu diesen Möglichkeiten und Angeboten gehörte es, als „Aufklärer der Aufklärer“ zum Beispiel den ethnozentrischen und imperialistischen Kern vorgeblich universalistischer Ansprüche zu enthüllen oder auch alternative Modelle kultureller Vermittlung zwischen Spanien und dem Ausland, Tradition und Moderne zu entwerfen bzw. sich auf die (Re-) Konstruktion eigener kultureller und nationaler Traditionen zu besinnen. Der zweite Teil dieser Arbeit wird eine ganze Reihe solcher anderer Wege der Aufklärung vorstellen.
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3 LITERATUR ALS OBJEKT UND MEDIUM DES IDENTITÄTSDISKURSES
Der für das spanische 18. Jahrhundert insgesamt charakteristische Identitätsdiskurs, dessen vier wichtigste Formatoren im vorangegangenen Kapitel ausführlich vorgestellt wurden, steht in einem komplexen und umfassenden Zusammenhang mit der Entwicklung der Literatur. Schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, verstärkt aber dann im letzten Drittel und im Kontext der das gesamte Jahrhundert über vorherrschenden „cultura tutelada, controlada y, en caso preciso, dirigida“ (Domínguez Ortiz 1988, 182) wird die Literatur nicht nur zum zentralen Medium, in dem kollektive Identitäten verhandelt werden, sie wird auch selbst zum Objekt von Identitätsverhandlungen. Diese Verhandlungen sind Teil eines kommunikativen Prozesses, in dem die Funktion der Literatur sowie die Rollen von Schriftsteller, Kritiker, Publikum und anderen Akteuren des Literatursystems unter dem Einfluss kultureller Institutionen und kulturpolitischer Interessen neu bestimmt bzw. überhaupt zum ersten Mal definiert werden. Die folgende Skizze liefert keine Rekonstruktion des Literatursystems im 18. Jahrhundert; sie dient lediglich der Vorbereitung der textzentrierten Analysen des zweiten Teils und soll anhand einer Zusammenschau der markantesten Phänomene die These untermauern, dass die spezifische Entwicklung der spanischen Literatur im 18. Jahrhundert als Symbol- und als Sozialsystem in steter Abhängigkeit von dem zeitgenössischen Identitätsdiskurs erfolgt, der ihr einerseits Richtung und Grenzen vorgibt, andererseits durch sie jedoch
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auch wieder in einem Rückkopplungsprozess selbst verändert wird.1 Dem Übersichtscharakter des Kapitels entsprechend, werde ich dabei zunächst auf die Transformation der traditionellen Gattungen Theater/ Drama (poesía dramática) und Lyrik (poesía) eingehen und mich dann den „neuen“, nicht-kanonisierten Gattungen zuwenden, die von Anfang an zu privilegierten Trägern des Identitätsdiskurses und wichtigen Medien der Identitätsbildung werden. Der Zusammenhang zwischen Identitätsdiskurs, literarischer Evolution und staatlicher Lenkung zeigt sich nirgends so deutlich wie im besonders öffentlichkeitswirksamen und daher auch für die reformorientierten Schriftsteller und Politiker vielversprechenden Bereich des Theaters.2 Wer immer sich in Fragen des Theaters engagiert, ob durch poetologische Äußerungen oder kulturpolitische Vorschläge und Maßnahmen, positioniert sich damit zugleich – und in vielen Fällen erfolgt diese Positionierung auch in explizit-polemischer Weise – innerhalb des spanischen Identitätsdiskurses. Das verdeutlicht die Geschichte der Reformvorschläge von Ignacio de Luzáns neoklassizistischer Programmschrift La poética, die in ihrer ersten Fassung von 1737 eine umfangreiche Polemik auslöste, bis hin zu Gaspar Melchor de Jovellanos’ Memoria para el arreglo de la política de los espectáculos y diversiones públi1
Eine ähnliche These vertreten Wlad Godzich und Nicholas Spadaccini (1987), die behaupten, dass sich die Institutionalisierung der spanischen Literatur im 18. Jahrhundert auf dem Wege einer nationalen Homogenisierung der Kultur vollziehe. In ihrem Entwurf einer Epochenbeschreibung setzen sie die Monologisierung und Institutionalisierung des literarischen Diskurses durch die Aufklärer und die funktionale Aufspaltung in eine hohe und eine niedere Kultur gegen den polyphonen, von Durchlässigkeit zwischen Volk- und Elitekultur gekennzeichneten Diskurs der Literatur in den vorangegangenen Jahrhunderten ab. Während der aufklärerische Disziplinierungsversuch im Medium der Literatur aufgrund ihrer spezifischen Rezeptionsform der individuellen Lektüre Erfolg habe, scheitere er aus demselben Grund im Theater, weil dessen Publikum zu heterogen sei und sich in seinen psychosozialen Bedürfnissen nicht hinreichend angesprochen fühle. Zu kritisieren ist an diesem Konzept, dass Godzich und Spadaccini einerseits den Aspekt der staatlichen Intervention und Kontrolle und das dahinterstehende Machtkalkül verabsolutieren, sich andererseits aber auf das Beispiel der Theaterreform (20-29) und den Umgang mit der literatura de cordel (29-32) beschränken. 2 Vgl. zur Funktion des Theaters als staatlichem Erziehungs- und Steuerungsinstrument Maravall (1991a/b). Pérez Magallón warnt in Bezug auf das neoklassizistische Theater jedoch zu Recht davor, pauschal von „ideología gubernamental o teatro de propaganda del ideario del gobierno“ (2001, 74) zu sprechen.
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3. Literatur als Objekt und Medium des Identitätsdiskurses
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cas, y sobre su origen en España, einer vom Consejo de Castilla und der Real Academia de la Historia im Jahr 1786 in Auftrag gegebenen Denkschrift, deren Ergebnisse Jovellanos im Jahr 1796 vorstellte und die 1812, ein Jahr nach seinem Tod, zum ersten Mal im Druck erschien.3 Auch die eigentlichen Reformmaßnahmen, die mit der staatlichen Interventionspolitik ab 1763 Konturen gewinnen und unter der Ägide des Grafen Aranda (1766-1773), bald ihre intensivste Phase erleben, folgen einem identitären Muster, in dem sich das Neue und das Fremde überlagern. Aranda, der nach dem motín de Esquilache von 1766 die Präsidentschaft des Consejo de Castilla übernommen hatte, förderte nicht nur die Übersetzung ausländischer, vor allem französischer Stücke, und regte zugleich, dem Beispiel Pablo de Olavides folgend, die Bearbeitung nationaler Stoffe an, sondern ließ Bernardo de Iriarte auch das Repertoire des spanischen Barocktheaters durchforsten, um zu sehen, welche Stücke geeignet wären, um sie den formalen Anforderungen der neoklassizistischen Poetik anzupassen.4 Einen letzten Versuch, das spanische Theater nach neoklassizistischen Prinzipien zu reformieren und über die Zensur hinaus staatlich zu kontrollieren, stellt schließlich die Theaterreform von 1799 dar, die von einem Ausschuss unter der Direktion Leandro Fernández de Moratíns durchgeführt werden sollte, dann aber zwei Jahre später doch an inneren und äußeren Widerständen scheiterte. Die Auseinandersetzung um das neoklassizistische Theater, das die meisten Aufklärer im nationalen Interesse favorisieren, seine Gegner aber als „unspanisch“ ablehnen, konzentriert sich im Wesentlichen auf drei Aspekte, die bezeichnenderweise alle zugleich identitätsrelevant sind, weil sie stets eine bestimmte Grenzziehung zwischen dem Eigenen und dem Fremden implizieren.5 3 Vgl. dazu Carnero (1998, 64-70) u. Santos (2002, 41-47). Einen konzentrierten Überblick über die unterschiedlichen Reformvorschläge und die sie begleitenden Polemiken bietet das Kapitel sechs in Carnero (1995a, Bd.1, 413-485). 4 Vgl. zu Arandas Tätigkeit als Theaterreformer Rubio Jiménez (1998) sowie die Antrittsrede Jesús Aguirres, Herzog von Alba, anlässlich der Aufnahme in die Real Academia Española am 11.12.1986 (1986; siehe auch die ausführliche Zusammenfassung in El País vom 12.12.1986). 5 Vgl. zu Poetologie und Praxis des neoklassizistischen Theaters u. a. Cook (1959); Andioc (1987); das Kapitel sieben in Carnero (1995a, Bd. 2, 487-591) u. Pérez Magallón (2001).
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Der erste Aspekt der Reformdiskussion betrifft das Verhältnis zur spanischen Theatertradition des Siglo de Oro und zum Volkstheater. Die Auseinandersetzung konzentriert sich vor allem auf die Bewertung der Barockästhetik und das Werk Calderóns sowie insbesondere auf die Frage, inwiefern die autos sacramentales, comedias de santos und comedias de magia, die aufgrund ihres Spektakelcharakters im Jahr 1765 bzw. 1788 verboten werden, aber auch die beliebten sainetes und tonadillas noch den Anforderungen einer volkserzieherisch wertvollen Unterhaltung genügen. Den zweiten Aspekt bildet die grundlegende Orientierung an ausländischen, in erster Linie italienischen und französischen Vorbildern. Das führt zur Konzeption einer comedia nueva, die sich in ihrem regelmäßigen Aufbau an die aristotelische Poetik anlehnt und auf diese Weise dem vernunftgeleiteten Geschmacksideal des buen gusto entspricht. Der dritte Aspekt ist die Verbindung der aus dem Ausland übernommenen formalen Neuerungen mit dem Rückgriff auf Figuren und Episoden aus der eigenen nationalen Geschichte, insbesondere der Reconquista des Mittelalters (Pelayo, Guzmán el Bueno), aber auch der römischen und gotischen Herrschaft (Numancia, Ataúlfo).6 Unter Karl III. und insbesondere während der Amtszeit des Grafen Aranda wendet sich „eine ganze Autorengeneration“ (Lope 1992, 276) der nationalen Geschichte zu, wie es Jovellanos im „prólogo“ zu seinem Stück La muerte de Manuza (Pelayo) von 1772 fordert: „¿Para qué buscamos argumentos en la historia de otras naciones, si la nuestra ofrece tantos, tan oportunos y tan sublimes?“ (1984, 360). Tragödien, die auf klassischmythologischen Stoffen beruhen, sind dagegen in der Minderzahl, so Russell P. Sebold: „Sobrepasan en número, con mucho, a estas tragedias otras de temas nacionales, puramente españoles, como Ataúlfo, Florinda, Guzmán el Bueno, Hormesinda, Manuza, Pelayo, Don Sancho García, Raquel, Numancia destruida, La condesa de Castilia, Zoraida, etc.“ (1995a, 152)7
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Siehe dazu u. a. Sánchez-Blanco (1991) u. Lope (1992). Der Kernbestand neoklassizistischer Tragödien mit nationalen Stoffen, auf den Russell P. Sebold hier anspielt, umfasst u. a. die folgenden Stücke: Nicolás Fernández de Moratín, Hormesinda (1770); Gaspar Melchor de Jovellanos, Pelayo/La muerte de 7
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Die identitätsstiftende Funktion, die man sich von diesen Stoffen verspricht, beruht auf ihrer doppelten Eigenschaft als inspirierende Vorbilder und nostalgische Gegenentwürfe. Sicherlich steht für die aufklärerisch gesinnten Autoren der Appellcharakter im Vordergrund, das tua res agitur. Das Theater soll Beispiele einer – nicht vorrangig christlichen – „virtud civil“ vor Augen führen, die sich im tatkräftigen und selbstlosen Einsatz für das „bien común“ – und nicht in erster Linie für die Monarchie – verwirklicht. Andererseits eröffnet die mythische Ferne, in der die evozierte heroisch-mittelalterliche Vergangenheit im Vergleich zur zeitgenössischen, protobürgerlichen Lebenswirklichkeit steht, aber auch zumindest die Möglichkeit einer nostalgisch-sentimentalischen Rezeption.8 Einen ähnlichen Wandel wie für das Theater möchten die Aufklärer auch in der zweiten von ihnen bevorzugten Gattung, der Lyrik, herbeiführen. Das bekannteste Dokument dieser Neuausrichtung ist Gaspar Melchor de Jovellanos’ Epistel „Carta de Jovino a sus amigos salmantinos“ aus dem Jahr 1776 mit der Aufforderung an „Batilo“ (Juan Meléndez Valdés) und andere befreundete Dichter, sich von der Manuza/Manuza (1769/1772/1792); Manuel José Quintana, Pelayo (1805); Nicolás Fernández de Moratín, Guzmán el Bueno (1777); Cándido María Trigueros, Los Guzmanes (1767/68); José Cadalso, Don Sancho García, Conde de Castilla (1771); Nicasio Álvarez de Cienfuegos, Condesa de Castilla (1803); Agustín Montiano y Luyando, Ataúlfo (1763); Ignacio López de Ayala, Numancia destruida (1775); Vicente García de la Huerta, Raquel (1766/1772). 8 Die Lebensferne, der große Abstand zur Alltagswirklichkeit, ist auch für Tietz ein Argument, mit dem er die Wirksamkeit der didaktischen Absichten bezweifelt, die José Manuel Quintana mit seinen Vidas de españoles célebres (1807/1830/1833) verfolgte, in der dem Leser in drei Serien insgesamt neun vorbildliche Persönlichkeiten aus der spanischen Geschichte vorgestellt werden (Cid, Guzmán el Bueno, Roger de Lauria, Príncipe de Viana, Gran Capitán, Vasco Núñez de Balboa, Francisco Pizarro, Alvaro de Luna, Fray Bartolomé de Las Casas). In einer verbürgerlichten Gesellschaft, deren Ideal der friedliche Handel sei, müssten die vorgeführten Lebensmodelle als überholt angesehen werden: „Nimmt man die Gestalt des P. Las Casas aus [...], so ist festzustellen, daß Quintana seinen Lesern letztlich nur berühmte Heerführer und Soldaten als Modell vorstellt. Dies aber ist im Grunde ein Anachronismus, zeichnet sich die Entwicklung des 18. Jahrhunderts insgesamt doch gerade dadurch aus, daß es den Wandel von einer am Ideal des Krieges orientierten Gesellschaft zu einem Gemeinwesen vollzieht, dessen Inbegriff der friedliche Handel darstellt.“ (Tietz 1991a, 343) Auf die Möglichkeit einer nostalgisch-sentimentalischen Rezeption geht Tietz nicht ein.
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I. Kultur- und literarhistorische Rahmenbedingungen
Anakreontik zu verabschieden, um sich stattdessen heroischen Gegenständen („ilustres hechos“) zuzuwenden: „Sean tu objeto los héroes españoles,/las guerras, las victorias y el sangriento/furor de Marte. Dinos el glorioso/incendio de Sagunto, por la furia/de Aníbal atizado, o de Numancia,/terror del Capitolio, las cenizas.“ (1993, 67) Hinter dieser Aufforderung verbirgt sich eine veränderte Auffassung von den Aufgaben des Dichters, der Cándido María Trigueros bereits zwei Jahre zuvor in seinem Gedicht „El poeta filósofo“ (1774) programmatisch Ausdruck verliehen hatte: „En él no es nombre vano el del patriotismo“ (zit. n. Schütz 2006, 223).9 Der Anspruch der aufklärerischen Dichter, nationalen Themen zum Durchbruch zu verhelfen, beschränkt sich jedoch nicht auf die poesía filosófica, die einem elitären Publikum vorbehalten bleibt. Das zeigt ein Vorschlag von Meléndez Valdés, der das Wirkungspotenzial der populären, im Jahr 1767 von der Regierung zum Schutz der öffentlichen Moral verbotenen romances ciegos nicht ungenutzt lassen möchte und sich daher im Jahr 1798 für die staatliche Förderung von Neuschöpfungen durch „premios y programas de la Academia Española“ (1986, 108) einsetzt: „nos harían luego ricos en romances, canciones, y aun cartillas y libros verdaderamente nacionales, que enseñasen entreteniendo mil verdades útiles, y lograsen divertir el pueblo en el descanso, no menos que aliviarle en sus trabajos y faenas“ (ebd.). Das Ziel dieser Dichtungen solle es sein, jedem einzelnen, ob Bauer, Handwerker, Fabrikant oder Seemann, die Bedeutung und Nützlichkeit seines Berufs vor Augen zu führen.10
9
Die Schlüsselrolle von Trigueros unterstreicht auch Joaquín Arce: „En la historia de la Ilustración poética española pudo haber sido una fecha importante la de 1774, en que Cándido María Trigueros publicó El poeta filósofo o Poesías filosóficas en verso pentámetro. Intencionalmente, al menos, marcaba un hito en la evolución de los temas objeto de poesía, antes del año 1776, en que mandó Jovellanos en su épistola a sus amigos los poetas salmantinos. Esta, por tanto, habrá que interpretarla como un peldaño más en esta ascensión de la temática lírica, y no como una fecha inicial.“ (1981, 273) 10 Meléndez Valdés macht diesen Vorschlag in seinem am 10. Juni 1798 vorgetragenen, 1821 zum ersten Mal veröffentlichten „Discurso sobre la necesidad de prohibir la impresión y venta de las jácaras y romances vulgares por dañosos á las costumbres públicas, y de sostituirles con otras canciones verdaderamente nacionales, que unan la enseñanza y el recreo: pronunciado en la sala primera de Alcaldes de Corte, con moti-
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Auch die Diskussion um nicht-kanonisierte Gattungen wie den Roman, dessen Existenz in den spanischen Poetiken des 18. Jahrhunderts allenfalls kurz erwähnt wird,11 vollzieht sich im Horizont des Identitätsdiskurses. Im Fall des Romans ergibt sich ein widersprüchliches Bild: Im 18. Jahrhundert avanciert in Spanien Cervantes’ in ganz Europa geschätzter Don Quijote zum nationalen Klassiker, der zahlreiche Neuauflagen, Nachahmungen und Weiterführungen erfährt und dessen Autor zum ersten Mal in Biographien wie Gregorio Mayans y Siscars Vida de Miguel de Cervantes aus dem Jahr 1737 gewürdigt wird. Mit Don Quijote besitzt die spanische Kultur ein Objekt der Identifikation, über dessen Wert sich Ausländer wie Montesquieu, der den Quijote in den Lettres persanes das einzige spanische Buch von Wert überhaupt nennt, und Spanier wie Cadalso, der an Cervantes bereits im ersten Satz der Einleitung seiner Cartas marruecas anküpft, ausnahmsweise einmal einig sind. Dieses allseits geschätzte Erbe ändert jedoch nichts daran, dass sich der zeitgenössische Roman gleich in zweifacher Hinsicht dem Verdikt des „Unspanischen“ ausgesetzt sieht: Aufgrund der vielen Übersetzungen aus dem Ausland wird der moderne Roman nicht als eine spanische Erfindung, sondern als ein überwiegend aus England und Frankreich importiertes Modell wahrgenommen. Gleichzeitig werden seine bevorzugten Sujets weitgehend als „unmoralisch“ und die spanischen Sitten gefährdend eingestuft. Diese zweifache Ablehnung des Romans als eines fremden und „als eines säkularisierten Genus“ (Tietz 1986, 62) kulminiert schließlich im Jahr 1799 in einem vom Consejo de Castilla verhängten Druckverbot.12 Staatliche Institutionen treten jedoch nicht nur sanktionierend in Erscheinung, sondern übernehmen auch kulturpflegerische Aufgaben. Unter den Einrichtungen, die von den Bourbonen zur Förderung
vo de verse un espediente sobre ciertas coplas mandadas recoger de orden superior, y remitidas á dicho tribunal para averiguaciones y providencias convenientes.“ (1986) Ausführlicher kommentiert wird dieser Text in Godzich/Spadaccini (1987, 30-32). 11 Vgl. Álvarez Barrientos (1991, 361-388) u. Checa Beltrán (1998, 260-265): „las poéticas dieciochescas no se ocupan de definir este género“ (260). 12 Vgl. dazu Joaquín Álvarez Barrientos: „Además de la traba que suponía la censura, en el caso de la novela hay que añadir otros dos escollos que dificultaron su desarrollo en nuestro país. Uno es la idea que muchos tenían de que la novela no era un género
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der Kultur ins Leben gerufen wurden – Bildungsanstalten, Bibliotheken, Archive usw. – kam den Akademien, identitätspolitisch gesehen, die wichtigste Steuerungsfunktion zu. Schon die Gründung der Real Academia de la Lengua Española (1713), der ersten der zahlreichen Akademien, die im 18. Jahrhundert geschaffen wurden, geschah in der ausdrücklichen Absicht, dem am Hofe um sich greifenden sprachlichen afrancesamiento Einhalt zu gebieten (vgl. Aguilar Piñal 1991, 100). Diese Absicht kommt in den großen philologischen Projekten der Akademie wie dem Diccionario de autoridades (1726-1739), der Ortografía (1741), der Gramática (1771) und der Edition klassischer Texte ebenso zum Ausdruck wie in den literarischen Wettbewerben, die zwischen 1777 und 1798 in den Sparten elocuencia und poesía ausgeschrieben wurden.13 Einige Themen dieser Wettbewerbe, wie der Entschluss des Hernán Cortés, seine Schiffe zu zerstören (1777), die Einnahme Granadas durch die reyes católicos (1779) oder das Lob Alfons des Weisen (1782), lassen bereits deutliche Züge einer um die nationale Identität bemühten „Gedächtnispolitik“ erkennen.14 Das folgenreichste Wettbewerbsthema stellt die Akademie jedoch zweifellos im November 1784 im Rahmen der offiziellen Reaktionen auf Nicolas Masson de Morvilliers’ im Jahr 1782 in der Encyclopédie méthdodique erschienenen Spanienartikel: „Apología o defensa de la nación, ciñéndose solamente a sus progresos en las ciencias y las artes“. Als unmittelbare Antwort darauf entsteht Juan Pablo Forners Oración apologética por la España y su mérito literario (1786), die ihrerseits eine folgenreiche, zu diver-
español, y de que, por tanto, debía ser rechazada por cuanto era una influencia extranjerizante, maligna por naturaleza, y de ello se encuentran ejemplos en los periódicos, además de en numerosas censuras. El otro, consecuencia de esta actitud mental y del hecho de que, en efecto, por las novelas se filtraban novedades en materia de relaciones sociales, nuevas ideas y actitudes vitales, políticas, literarias y religiosas que contribuían a la secularización de la sociedad, fue su prohibición en 1799“ (1996, 237). 13 Siehe zu den verschiedenen Wettbewerben der Real Academia Española: Nerlich (1964, 154-160), Dowling/Fabbri (1983), Aguilar Piñal (1987, 152-156), Rodríguez Sánchez de León (1987) und Jacobs (1996, 43f.). 14 Jan-Henrik Witthaus bemerkt zum Wettbewerbsthema „Hernán Cortés“ unter Bezug auf Pierre Noras Theorie der „lieux de mémoire“: „En este sentido, tanto el certamen de la Real Academia como su preferencia del género literario del poema heroico es en cierto modo restaurativo. Con ello se saca la figura de Hernán Cortés de los contextos historiográficos y se levanta un monumento a su favor.“ (2005, 253)
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genten intrakulturellen Positionierungen führende Kontroverse auslöst.15 Dass die poetologischen Diskussionen und kulturpolitischen Bemühungen vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts so deutlich im Zeichen der Identitätsfrage stehen, ist ein sicheres Indiz dafür, dass inzwischen der Literatur selbst im Hinblick auf die Konstruktion und Repräsentation, die Reflexion und Kritik, aber auch die Gefährdung und Zerstörung kollektiver Identitäten eine bedeutende Rolle zugemessen wird16. Dass die spanische Literatur tatsächlich – und das auch schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts – im Begriff ist, einen solchen spezifischen Funktionswandel zu vollziehen, ist auch daran abzulesen, dass sich gerade die „neuen“, nicht-kanonisierten, das heißt im traditionellen Gattungssystem nicht vorgesehenen und gegenüber dem Neuen der zeitgenössischen Wirklichkeit am meisten aufgeschlossenen Gattungen wie die Zeitschrift und der Roman, aber auch der Essay, wenn man an Feijoo denkt, intensiv mit der kulturellen und nationalen Thematik beschäftigen – eine Tendenz, die im europäischen Vergleich durchaus eine Besonderheit darstellt.17 Einzigartig und symptomatisch für die kulturelle Situation Spaniens und die daraus hervorgehenden speziellen Kommunika15
Damit dürfte unter den von außen auf Spanien einwirkenden Faktoren Masson de Morvilliers’ Lexikonartikel einer derjenigen sein, die direkt und indirekt am meisten zur Binnendifferenzierung des literarischen Systems beigetragen haben. 16 Auf die Rolle der Übersetzung bei der Ausdifferenzierung und Autonomisierung des Teilsystems Literatur geht unter Berücksichtigung der Herausbildung nationaler Identität Andreas Gelz (2006, 265-297) näher ein. 17 So stellt etwa Klaus-Dieter Ertler in Bezug auf das Interesse, das innerhalb der Gattung der Moralischen Wochenschriften den spanischen Sitten und Bräuchen entgegengebracht wird, fest: „In diesem Bereich erhält El Pensador auch seine differentia specifica gegenüber den europäischen Spectator-Nachahmungen, weil er in bestimmten Sitten des Landes noch einen Indikator für die überkommene Welt zu erkennen meint und deshalb umso vehementer auf deren Auslöschung drängt.“ (2003b, 149) Und Friedrich Wolfzettel erhebt die nationale Problematik in seiner literaturgeschichtlichen Darstellung Der spanische Roman von der Aufklärung bis zur frühen Moderne gar in den Rang eines „gattungsbestimmenden Paradigmas“ (1999, 10), wie auch schon der Untertitel Nation und Identität ankündigt. Konkret versteht er darunter „die Reflexion der jeweiligen historischen Situation Spaniens und die Suche nach der Wirklichkeit Spaniens“ (ebd.). Joaquín Álvarez Barrientos betont darüber hinaus die Gemeinsamkeit von Roman und Zeitschrift in Bezug auf das Misstrauen, das ihnen als literarischen Inkarnationen des Neuen in Spanien entgegenschlägt: „Esta actitud frente a la novela moderna se encuadra también en el rechazo de todo lo que fuera nuevo y es lo
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tionsbedürfnisse ist aber auf jeden Fall die Konjunktur einer ganz bestimmten Gattung, der Apologie, die sich das ganze Jahrhundert eines anhaltenden Zuspruchs erfreut und mit José Cadalsos Defensa de la nación española contra la „carta persiana LXXVIII“ de Montesquieu (1768/1771) zum ersten Mal auch explizit eine nationale Ausrichtung erfährt. Mit Essay, Zeitschrift, Apologie und Roman sind bereits die Gattungen benannt, denen die Texte zugeordnet werden können, die im zweiten Teil dieser Arbeit im Hinblick auf die Fragen analysiert werden sollen, mit welchen literarischen Mitteln, von den Gattungskonventionen bis hin zu einzelnen rhetorischen, poetischen, diskursiven und narrativen Verfahren, der Identitätsdiskurs jeweils modelliert wird und welche Auswirkungen unterschiedliche Identitätskonzepte wiederum auf die Art der literarischen Gestaltung haben. Man kann sich die vielfältigen Bemühungen um die Aufklärung der spanischen Identität, die in allen diesen Texten zu beobachten sind und von denen in dieser Arbeit behauptet wird, dass sie die Identität der spanischen Aufklärung im Ganzen entscheidend bestimmen, auf einer Skala angeordnet vorstellen, die sich nach zwei Seiten hin öffnet – entsprechend den in den Texten jeweils dominanten Verhaltensstrategien. An den Nullpunkt dieser Skala könnte man ein Werk wie Juan Sempere y Guarinos (1754-1830) sechs Bände umfassenden, zwischen 1785 und 1789 im weiteren Umfeld der Reaktionen auf Masson de Morvilliers Artikel entstandenen Ensayo de una biblioteca española de los mejores escritores del reynado de Carlos III setzen, der bestrebt ist, möglichst sachlich über die Errungenschaften der spanischen Kultur zu informieren. Die entgegengesetzten Endpunkte der Skala, gegen die sich Sempere y Guarinos mit seinem eigenen Werk auch ausdrücklich abgrenzt, wären dann von der „Kritik“ und der „Verteidigung“ besetzt, also genau jenen Steigerungsformen des Selbstverhältnisses, die von den hier behandelten Texten praktiziert werden.18 Jede dieser Verhaltensstrategien zeichnet sich, wie die nachstehende que explica, por ejemplo, el retraso en la aparición de los periódicos y de los nuevos géneros literarios a que dieron pie. Periodistas y novelistas caminan sendas paralelas en la historia literaria europea.“ (1996, 237) 18 Dass die spanische Geistesgeschichte von den novatores bis zu den Reaktionen auf die Französische Revolution von der Dualität zwischen Apologie und Kritik beherrscht werde, ist auch die titelgebende Leitthese des Buchs von Antonio Mestre
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Tabelle in äußerster Vereinfachung verdeutlichen soll, durch ein spezifisches Verhältnis – positiv (+) oder negativ (-) – zwischen dem Eigenen und dem Fremden aus: Kritik
Information
Verteidigung
Spanien
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+
+
Ausland
+
+
-
Abbildung 5: Identitätsrelevante Verhaltensstrategien Juan Sempere y Guarinos vermeidet in seinem Ensayo, der auch heute noch eine wichtige Informationsquelle darstellt, bewusst einseitige Stellungnahmen für oder gegen Spanien oder andere Länder.19 Ihm geht es vor allem darum, den eigenen Landsleuten, aber auch dem Ausland umfassende und zuverlässige Kenntnisse über die spanische Literatur von Beginn des 18. Jahrhunderts an zu vermitteln. Er selbst definiert sein Ziel im ersten Band noch bescheiden als „dar alguna idea de nuestra literatura actual“ (1969 [1785], Bd. 1, „Discurso preliminar“, 3). Es dürfte unstrittig sein, dass Feijoos Teatro crítico universal, der Diario de los literatos de España und Cadalsos Cartas marruecas stattdessen eher dem Pol der Kritik zuneigen, wohingegen Cadalsos Defensa de la nación española contra la „carta persiana LXXVIII“ de Montesquieu und Forners Oración apologética por la España y su mérito literario ebenso unzweideutig die Haltung der Verteidigung privilegieren. Während die spanienkritische Perspektive tendenziell mit der im 18. Jahrhundert gegenüber Spanien vorherrschenden negativen Fremdsicht konvergiert, betonen die nationalen Apologeten zwangsläufig die Zurückweisung der Außenperspektive, auch wenn sie sich mit dieser Haltung in erster Linie binnenkulturell zu Sanchís Apología y crítica de España en el siglo XVIII (2003). Was dabei die Aufgabe des Historikers sei, bestimmt er folgendermaßen: „La gran dificultad consiste en matizar en cada autor el alcance de su apología o de su crítica, el ambiente en que surge la polémica o las circunstancias en que redactó la obra.“ (2003, 11) 19 Vgl. dazu die programmatischen Aussagen in Band 1: „Yo estoy muy léjos de querer entrar en el número de aquellos, que tienen por un rasgo de ingenio el criticar á su Nacion, y á sus Paisanos.“ (1969 [1785], 3) und: „Una apología no es suficiente para esto.“ (41) sowie Band 2 (1785, X), Band 4 (1787, „Prólogo“, 1) und Band 5 (1789, „Prólogo“, 2-4).
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I. Kultur- und literarhistorische Rahmenbedingungen
positionieren versuchen. Obwohl die Verhaltensstrategien der Information, Kritik und Verteidigung auf den ersten Blick kaum unterschiedlicher sein könnten, stimmen ihre Verfechter doch zumeist in dem einen Punkt überein, dass bereits der Akt der Information, Kritik oder Verteidigung selbst als eine unverzichtbare Manifestation spanischen Selbstbewusstseins zu betrachten sei und man diese Aufgaben deshalb auch nicht allein dem Ausland überlassen dürfe. Natürlich darf dabei nicht übersehen werden, dass diese Verhaltensstrategien, die ja nur Ausdruck wechselnder Aggregatzustände sind, die sich das aufklärerische Bewusstsein selbst zuschreibt, auch situationsbedingt miteinander kombiniert werden können oder sich überlagern. Außerdem gehört es, wie der zweite Teil der Arbeit zeigen wird, zur Legitimationsrhetorik aller hier behandelter Texte, ihre eigene Position zunächst einmal dadurch zu konstruieren, dass sie sich gegen einseitige Kritik und blinde Apologetik gleichermaßen verwahren, unabhängig davon, welcher Strategie sie dann selbst in der Praxis den Vorzug geben.
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ZWEITER TEIL LITERARISCHE INSZENIERUNGSFORMEN DES IDENTITÄTSDISKURSES
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1 BENITO JERÓNIMO FEIJOO: TEATRO CRÍTICO UNIVERSAL (1726-1740)
„Todo país es África, para engendrar monstruos. Toda provincia es Iberia, para producir venenos.“ („La voz del pueblo“, 1986, 120) A)
DAS VERHÄLTNIS VON AUFKLÄRUNG UND IDENTITÄT
Die These der spezifischen Kontextgebundenheit der spanischen Aufklärung lässt sich wohl an kaum einem Autor besser illustrieren als an Benito Jerónimo Feijoo y Montenegro (1676-1764) und seinem Theatro crítico universal, ò Discursos varios, en todo género de materias, para desengaño de errores comunes, wie der vollständige Originaltitel des Werks lautet, dessen acht Bände zwischen 1726 und 1739 in Madrid erschienen und denen im Jahr 1740 noch ein neunter Band als Supplement folgte.1 Die herausragende kulturelle Bedeutung und der außerordentliche Erfolg von Feijoos insgesamt 118 Artikel umfassendem aufkläre1 Wenn man etwa Gaspar Melchor de Jovellanos (1744-1811) als exemplarische Figur der Hauptphase der spanischen Aufklärung betrachten will, weil er sich hervorragend dazu eignet, um „an seinem Beispiel emblematisch die Grundzüge der spanischen Kulturgeschichte des XVIII. und frühen XIX. Jahrhunderts zu vergegenwärtigen“ (Gumbrecht 1990, 554), darf Feijoo dieselbe Rolle für die Zeit der spanischen Frühaufklärung beanspruchen. Insgesamt kann mit Pedraza Jiménez/Rodríguez Cáceres festgestellt werden: „La figura de Feijoo se considera como una de las más atrayentes del siglo XVIII.“ (1981, 109) Seine Attraktivität liegt sicherlich auch darin begründet, dass die Grundmerkmale seines Werks offenbar gerade noch mit den gängigen Vorstellungen einer gesamteuropäischen Aufklärungsbewegung vereinbar waren. Entsprechend umfangreich
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II. Literarische Inszenierungsformen des Identitätsdiskurses
rischen Großunternehmen Teatro crítico universal lässt sich, wie ich im Folgenden aus verschiedenen Blickwinkeln darlegen möchte, aus der Spannung erklären, die sich zwischen einer mehrfachen Kontextgebundenheit und dem Versuch ergeben, bestimmte interessen-, orts-, zeit-, leidenschafts- und traditionsbezogene Kontextbindungen in Frage zu stellen und aufzulösen. Vier Aspekte möchte ich dabei insgesamt in den Vordergrund rücken: Feijoos Konzept der Aufklärung als Programm zur Umkodierung kollektiver Identitäten, die Umsetzung dieses Programms mit Hilfe der dominant interdiskursiven Gattung des Essays (discurso) und den axiologischen Rahmen dieses Programms, der einerseits durch einen bestimmten Kulturbegriff und andererseits durch das neue Paradigma der Nation bestimmt wird. Wie stark kontextgebunden schon im 18. Jahrhundert die Bewertung der historischen Leistung Feijoos selbst ausfällt, mögen einleitend zwei konträre Stellungnahmen aus Spanien und Frankreich verdeutlichen: José Cadalso preist Feijoo in seiner Defensa de la nación española contra la „carta persiana LXXVIII“ de Montesquieu als „El hombre más sabio que hemos tenido en este siglo“ (1970, 29). Dagegen kommentiert der von Cadalso angegriffene Montesquieu in seiner privaten Notizensammlung Spicilège, nachdem er aus dem Bericht eines „colonel espagnol“ von den Schriften Feijoos erfahren hatte, deren in seinen Augen allenfalls lokale Bedeutung mit den Worten: „je crois que les livres dont il parle sont très bons pour l’Espagne et seroient misérables dans des pays plus éclairés“ (1951, 1435).2
ist die Forschungsliteratur, die sich allerdings vor allem, die letzten Jahre nicht ausgenommen, auf bestimmte thematische Schwerpunkte (Aberglaube, Medizin, Geschichte, Skepsis, Frauen, Ästhetik, Presse, Amerika usw.), Einflussbeziehungen (Sarmiento, Fontenelle, Bayle, Montaigne usw.) und die Geschichte seiner Wirkung (vgl. Urzainqui Miqueleiz 2003) erstreckt. Dabei sind zwei übergreifende Tendenzen auszumachen: erstens der Wunsch, das Klischee Feijoos als einer solitären Erscheinung zu revidieren und ihn in das Netzwerk seiner europaweiten, aber auch seiner vielfältigen innerspanischen Beziehungen einzubetten, und zweitens das Bestreben, seine beiden großen Werke, deren Entstehung und Veröffentlichung sich über mehrere Jahrzehnte hinzog, nicht mehr als Block zu betrachten, sondern die Divergenz und die Entwicklungsabhängigkeit seiner Standpunkte stärker zu berücksichtigen. 2 Vgl. auch das bekannte Urteil von Juan Sempere y Guarinos im 3. Band seines Ensayo de una biblioteca española de los mejores escritores del reynado de Carlos III: „Las obras de este sabio produxeron una fermentacion útil; hicieron empezar á dudar; die-
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1. Benito Jerónimo Feijoo: Teatro crítico universal
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Ungeachtet solcher Wertungen lässt sich in Bezug auf Person und Werk Feijoos tatsächlich von einer vierfachen – geographischen, soziologischen, ideologischen und literarischen – Kontextbindung sprechen: In geographischer Hinsicht scheint sich etwa die vermeintliche Randständigkeit und Isoliertheit der spanischen Kultur im Verhältnis zu den übrigen europäischen Nationen in der Ortsgebundenheit Feijoos, der Provinzialität seiner Herkunft und der räumlichen Entfernung vom königlichen Hof sowie dem politischen und kulturellen Zentrum der Hauptstadt abzubilden. Feijoo wurde bekanntlich in Nordwestspanien, in der galizischen Provinz Orense geboren und verbrachte, abgesehen von einigen kurzen Reisen nach Madrid, nahezu sein gesamtes Leben im Benediktinerkloster San Vicente im asturischen Oviedo, zu dessen Abt er mit 45 Jahren gewählt wurde und in dem er auch im Alter von knapp 88 Jahren starb. Allen Aufforderungen, seine Heimatgegend zu verlassen, um an den Madrider Hof zu kommen oder als Bischof nach Amerika zu gehen, widersetzte er sich zeitlebens. In soziologischer Hinsicht fällt die starke institutionelle Einbindung Feijoos auf, der sein ganzes Leben lang unter dem doppelten Schutz der Kirche und der absolutistischen Monarchie steht, jener Institutionen mithin, die in Frankreich zur Hauptzielscheibe der Aufklärung wurden. Feijoo erfährt diesen Schutz weniger als Abhängigkeit oder Behinderung, sondern geradezu als Ermöglichungsbedingung seiner aufklärerischen Tätigkeit. Die Ernennung zum Consejero real im Jahr 1748 durch Ferdinand VI. und das per königlichem Dekret vom 23. Juni 1750 angeordnete Verbot jeglicher Polemik gegen ihn und seine Schriften3 sind nur die markantesten äußeren Merkmale der privilegierten Beziehung, die Feijoo zu den ersten drei Bourbonen auf dem spanischen Thron, Philipp V., Ferdinand VI. und Karl III., unterhielt. Das Ungewöhnliche daran ist indessen noch nicht diese Beziehung selbst, sondern ihre Stabilität, auf die angesichts wechselnder tagespolitischer Imperative und sich wandelnder persönlicher Konstellationen die meisten anderen Intellektuellen
ron á conocer otros libros muy distintos de los que habia en el pais; excitaron la curiosidad; y en fin abrieron la puerta á la razon, que antes habian cerrado la indolencia, y la falsa sabiduría.“ (1969 [1786], 24) 3 Der Text des „real orden“ („no debe haber quien se atreva a impugnarle“) ist abgedruckt in Feijoo (1981, 156).
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II. Literarische Inszenierungsformen des Identitätsdiskurses
zu dieser Zeit nicht vertrauen konnten. Antonio Mestre Sanchís hebt daher auch hervor: No fue ése el caso de Feijoo, cuyas buenas relaciones con los distintos gobiernos, a lo largo de los años que duró su actividad cultural, constituyen un hecho sorprendente. Porque además de la monarquía, el benedictino gozó de la protección de los políticos y de los grupos sociales cercanos al poder. (1995, 76)
Dieser erstaunliche Umstand verdankt sich einer Reihe von Gründen. Nicht zu unterschätzen ist sicherlich die Zugehörigkeit Feijoos zum mächtigen Benediktinerorden. Darüber hinaus fiel aber auch das Zusammenspiel der Regierungsinteressen mit Feijoos eigenen Überzeugungen ins Gewicht: Feijoo unterstützte nicht nur die zentralistische Politik der Bourbonen, seine Vorliebe für „nützliche“ Gegenstände wie Physik, Mathematik, Astronomie, Geographie, Wirtschaft, Recht, Medizin und Biologie kam auch den praxisorientierten Reformvorstellungen der Regierung entgegen. Und schließlich konnte Feijoo zweifellos auch von einem kollektiven Bedürfnis nach Veränderung profitieren, einer „necesidad social ampliamente sentida de reforma“ (Mestre Sanchís 1995, 76). Wie Giovanni Stiffoni zu bedenken gibt, habe Feijoos Bereitschaft zur Rücksichtnahme und Selbstbeschränkung in Verbindung mit seinem außerordentlichen Erfolg allerdings auch dazu beigetragen, dass seine eigenen Grenzen zumindest zeitweise zu denen der spanischen Aufklärungsbewegung insgesamt geworden seien.4
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„Sin embargo, no se puede no registrar también el hecho de que el querer encajar siempre el planteamiento reformista en los límites de la política cultural del despotismo ilustrado, empiece, en estos últimos tomos del Teatro Crítico [V-VII], a transformar ciertos límites de Feijoo en los límites mismos de la Ilustración española. En el sentido de que Feijoo, no queriendo arriesgarse sobre temas filosóficos demasiado avanzados por el nivel medio de la cultura del momento, para no provocar una parada brusca en el lento y difícil camino de la difusión de la nueva mentalidad ilustrada, con su preocupación determina contemporáneamente, en sentido moderado, la estructura interna de la misma Ilustración.“ (1986, 61f.) Eine kritische Auseinandersetzung mit Feijoos Werk leistet unter diesem Gesichtspunkt aus philosophischer Sicht Eduardo Subirats in seiner Schrift La ilustración insuficiente (1981).
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Auf ideologischem Gebiet kommt Feijoos Kontextbindung – abgesehen von den religiösen Tabuzonen, die er respektiert – vor allem in der Bevorzugung eines konkreten, auf Beobachtung und Erfahrung beruhenden Wissens und in der ständigen Auseinandersetzung mit fremden, historischen und zeitgenössischen Meinungen zum Ausdruck.5 Am deutlichsten manifestiert sich diese Haltung in der entschiedenen Parteinahme für die Experimentalwissenschaften, die mit der Ablehnung der cartesianischen Lehre einhergeht, und in dem Verzicht, physikalische Probleme von einem metaphysischen Standpunkt aus zu betrachten. Sein größtes Vorbild in dieser Hinsicht ist erklärtermaßen Francis Bacon (1561-1626), von dem er unter anderem die Forderung nach praktischer Überprüfung von Erkenntnissen, die induktive Vorgehensweise, die Infragestellung zeitlos gültiger Autoritäten und die Ablehnung der scholastischen Methode aristotelischer Prägung übernimmt. Einen wichtigen Anhaltspunkt aus der spanischen Tradition repräsentiert für Feijoo der Renaissance-Humanist Juan Luis Vives (1492-1540). Das gilt besonders in Bezug auf die Verbindung von Kritik und Christentum, die Überzeugung, dass Vernunft vor Autorität zu gehen habe, die Vorliebe für „unsystematisches“ Denken und die ethisch-pädagogische Grundhaltung. Bacon und Vives – diese beiden Vertreter eines kontextgebundenen Renaissance-Denkens werden auch in Juan Pablo Forners Oración apologética por la España y su mérito literario (1786) noch eine wichtige Orientierungsquelle darstellen, nur die Einschätzung von Descartes und Newton wird bei Forner wesentlich kritischer ausfallen als bei Feijoo, der ihnen trotz aller Einwände eine zentrale Bedeutung beimisst.6
5
Vgl. dazu die Urteile von Francisco Sánchez-Blanco: „Feijoo ofrece un ejemplo magnífico de pensamiento comprometido y contextual“ (1999, 68) und Antonio Domínguez Ortiz: „sobresalía en la crítica de hechos concretos, se movía con mucho menos desembarazo en el terreno de las ideas generales“ (1973, 158). Zum konkreten politischen und kulturellen Umfeld von Feijoos schriftstellerischer Tätigkeit siehe auch Mestre Sanchís (2003, 167-183). 6 Zur Frage der geistes- und ideengeschichtlichen Einflüsse auf Feijoos Werk siehe u. a. McClelland (1969, 31-40); Elizalde Armendariz (1981); Palacios Rico (1981); Alborg (1993, 137-205) und Sánchez-Blanco (1999, 61-122). In „Mapa intelectual y cotejo de naciones“, dem 15. discurso des zweiten Bandes des Teatro crítico universal, geht Feijoo selbst darauf ein, welchen Stellenwert Francis Bacon, Robert Boyle, Pierre Gassendi,
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Die literarische Kontextbindung Feijoos und seines Teatro crítico universal ist besonders eng. Diese Feststellung bezieht sich zunächst einmal auf die Tatsache, dass Feijoo im 18. Jahrhundert in Spanien der bei weitem am meisten gelesene Autor ist (Mestre Sanchís 1995, 69). Von seinem Gesamtwerk erscheinen zwischen 1726 und 1787 mehr als 200 Ausgaben, mehr als 300000 Exemplare werden gedruckt und finden ein Publikum von mehr als einer Million Lesern.7 Dieser Erfolg verdankt sich – unter anderem – einer publikumsschaffenden Strategie, die man auch als gezielte Kontextanbindung bzw. Rekontextualisierung des literarischen Textes beschreiben kann.8 Das erreicht Feijoo durch die Mischung aus alltagsnahen Themen und populär aufbereitetem Fachwissen und natürlich durch die bereits im „Prólogo al lector“ des ersten Bandes mitgeteilte Entscheidung, seine Texte in der Volkssprache, „en el idioma castellano“ (1986, 101), und nicht in Latein zu verfassen. Darüber hinaus verstärkt Feijoo den kommunikativen Charakter seiner discursos noch dadurch, dass er ihnen Merkmale konzeptioneller Mündlichkeit verleiht und eine interne Sprechsituation etabliert, die es ihm erlaubt, sich direkt an die Leser zu wenden („Lector mío“, 99) und gleichzeitig immer wieder seine eigene Person ins Spiel zu bringen. Ein besonders markantes Beispiel dafür findet sich im zweiten Teil des discurso „Glorias de España“, und zwar im vorletzten Abschnitt (§ 24), in dem Feijoo auf seinen eigenen Vater zu sprechen kommt und der mit den folgenden Worten beginnt: „La ternura del filial afecto no me permite dejar de hacer aquí alguna memoria de mi padre y señor don Antonio Feijóo y Montenegro“ (1965, 233f.).9 René Descartes, Isaac Newton und John Locke für ihn haben (1986, 195f.). So heißt es dort etwa über die Pionierrolle Bacons: „Sin temeridad se puede decir que cuanto de un siglo a esta parte se adelantó en la física, todo se debe al canciller Bacon.“ (195) 7 Diese Angaben macht José Miguel Caso González (1981, XXIIf.): „pensar en el millión de lectores de Feijoo [...] no es una hipérbole sino una realidad. La obra de Feijoo fue, pues, el auténtico best-seller del siglo XVIII.“ (XXIII) 8 Auf die Tatsache, dass sich Feijoo sein Publikum selbst schafft, weist auch José Antonio Maravall hin: „empezó a producirse – aunque fuera en más modestas medidas – el fenómeno de la ampliación de la masa de lectores, el público aquí es obra de Feijoo“ (1981, 175). 9 Wesentlich stärker noch als im Teatro crítico universal ist der Leserbezug natürlich in den Cartas eruditas y curiosas en que, por la mayor parte, se continúa el designio del Teatro
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Im Rahmen und unter Ausnutzung dieser vierfachen Kontextbindung verfolgt Feijoo ein genuin aufklärerisches Programm, das sich, wie das historische Projekt der Aufklärung insgesamt, auch mit Hilfe des Identitätsparadigmas beschreiben lässt. Aus dieser Perspektive erscheint die Aufklärung dann als ein groß angelegter Versuch, die Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden und damit die Grundlagen kollektiver Identität neu zu vermessen und auf diesem Weg einen tiefgreifenden Identitätswandel herbeizuführen. Im Prozess der Aufklärung wird das Eigene, und das sind in diesem Fall die angestammten Traditionen, Werte, Überzeugungen und das hergebrachte Wissen, zum Fremden, Falschen, Schädlichen, Vernunftwidrigen und Überholten erklärt. Das zunächst als Fremdes begegnende Neue, das Vernunft und Fortschritt in Aussicht stellen, soll dagegen möglichst bald zum Eigenen werden. Dieses Neue ist bei Feijoo durchaus auf weiten Strecken mit dem kulturell Fremden identisch, insofern für ihn die Bekämpfung der „opiniones comunes“ (1986, 99) seiner Landsleute – im Einklang mit der ihrerseits fremden Monarchie und ihren ausländischen Beratern – die Öffnung Spaniens gegenüber Europa und eine vorurteilslose Orientierung am Wissensstand Frankreichs, Englands, Hollands, Deutschlands und der übrigen europäischen Länder einschließt. Die mit der Desintegration des Eigenen verbundene Verunsicherung wird aufgefangen durch die Teilhabe an der universalen Gemeinschaft der Vernünftigen – „Si eres discreto, no tendré contigo querella alguna“ (100), verspricht Feijoo dem Leser im Vorwort zum ersten Band des Teatro crítico universal – und durch die Sicherheit vermittelnde Rationalität, die den angewendeten experimentellen, kritischen und argumentativen Verfahren innewohnt: „El objeto formal será siempre uno. Los materiales precisamente han de ser muy diversos“ (101), heißt es an derselben Stelle.10 Neuen Halt garantieren darüber hinaus das Vertrauen auf die richtigen Lehrer und Autoritäten, die Aussicht auf Fortschritt und die crítico universal (1742-1760) ausgeprägt, die zumindest anfangs noch aus echten Briefen bestehen, die Feijoo tatsächlich erhalten und beantwortet hat und die sich durch entsprechende Kommunikationsmerkmale auszeichnen (Kürze, Konversationston usw.). In den Cartas eruditas offenbart sich die öffentliche Rolle Feijoos als Ratgeber und „Orakel“ besonders deutlich (vgl. Álvarez de Miranda 1996, 314f.). 10 Dieses positive Rezeptionsangebot kommt in José E. Santos’ Analyse des Vorworts zum ersten Band des Teatro crítico universal zu kurz. Santos hebt allein die
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Hoffnung auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen sowie das Angebot attraktiver neuer Formen kollektiver Identität, zu denen auch schon bei Feijoo die Idee der Nation gehört. Eine programmatische Ankündigung und im Grunde sogar eine kurzgefasste Vorwegnahme der angestrebten axiologischen Neuorientierung findet sich bereits im Titel von Feijoos Werk, der die barocke (mittelalterliche, antike) Metapher vom Welttheater aufnimmt und in einer säkularisierten Form wiedergibt: Theatro crítico universal, ò Discursos varios, en todo género de materias, para desengaño de errores comunes. Das theozentrische Weltbild Graciáns („El gran teatro del universo“) und Calderóns (El gran teatro del mundo), dem zufolge die Natur und das menschliche Leben ein Theater darstellten, das der Vorstellung des Schöpfers entsprungen sei (vgl. Curtius 1993, 148-154), weicht bei Feijoo einer logo- und anthropozentrischen Sichtweise. Die transzendentale Position Gottes wird jetzt – zumindest innerhalb dieses universal-enzyklopädischen Modells – von der Vernunft eingenommen, auf die sich das kritische Subjekt beruft. Das zieht eine ganze Reihe von Umdeutungen nach sich: Die göttliche Perspektive geht in die eines menschlichen Beobachters über; der Wahrheit im Jenseits stellt sich die Wahrheit im Diesseits entgegen; an die Stelle einer wohlgeordneten Bühne mit festgelegten allegorischen Bedeutungen tritt die undurchdringliche Vielgestaltigkeit der empirischen Welt; die auf das Jenseits bezogene Enthüllungstechnik des desengaño wird durch die profane desengaño-Philosophie der Aufklärung abgelöst, die nicht mehr die Scheinhaftigkeit des irdischen Daseins entlarvt, sondern dieses von Irrtümern und Vorurteilen befreien möchte;11 und die Vorbereitung auf das Jenseits wird nicht zuletzt von der Hoffnung auf innerweltlichen Fortschritt überlagert. Die Grundlagen dieses sich in barocker Verkleidung präsentierenden Säkularisierungsprogramms werden von Feijoo in „Voz del pueblo“, dem ersten discurso des ersten, am dritten September 1726 veröffentlichten Bandes des Teatro crítico universal, entwickelt. Das Thema
Distanz zum Leser hervor („abandono de la fe en el lector, reto, ruptura“, 1996, 141), durch die sich der „Prólogo“ Feijoos von vergleichbaren Vorworten bei Montaigne, Bacon und Malebranche unterscheide. 11 Zur Vorurteilskritik als einem Grundverfahren in der französischen Aufklärung siehe Brockmeier (1981).
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dieses ersten Diskurses, den man auch als „verdadero prólogo de la obra“ (Stiffoni 1986, 30) betrachten kann, wird von Montesquieu, der Feijoos Werke ja, wie erwähnt, nur aus den Berichten Dritter kannte, in seinem Spicilège gleichwohl treffend wiedergegeben: „Il [...] fait voir que vox populi n’est pas toujours Vox dei, mais très souvent la mère de l’erreur“ (1951, 1434). Das Sprichwort vox populi vox dei und die formale Kritik an der logischen Unzulässigkeit des argumentum ex majoritate („la conclusión de que la multitud sea regla de la verdad“, 1986, 105) sind für Feijoo aber nur der geeignete Vorwand, um zwei zentralen Anliegen die gewünschte Aufmerksamkeit zu verschaffen. Zum einen ist es sein Ziel, eine grundlegende Trennung zwischen Glauben und Wissen, zwischen der Erkenntnis Gottes und der Erkenntnis der Natur, zu fordern und damit eine Wahrheit zu postulieren, die nicht (direkt) von Gott abhängt.12 Zum anderen geht es ihm darum, zwischen dem „vulgo“ und dem „sabio“ zu unterscheiden und sich mit der Konstruktion des Gegenstandes seiner Bemühungen, der Aufzuklärenden, zugleich auch selbst als Aufklärer und Intellektueller zu erfinden.13 Die Trennung der Wertsphären Religion („hemisferio de la Gracia“) und Natur („hemisferio de la Naturaleza“), in denen die Wahrheit auf jeweils unterschiedliche Weise zu erreichen ist, durch die Offenbarung („revelación“) und durch den Beweis („demostración“), wird von Feijoo mit unmissverständlicher Deutlichkeit vollzogen:
12 Vgl. zur Naturerkenntnis als einem bereits seit der Renaissance in seiner Eigengesetzlichkeit erkannten und gesicherten Kernbereich der Aufklärungsphilosophie Ernst Cassirer: „Wie Kant, so konnte daher die gesamte Philosophie der Aufklärung die mathematische Physik als ein ‘Faktum’ behandeln, nach dessen Möglichkeit zwar gefragt werden konnte, dessen Wirklichkeit aber unbestritten und unerschütterlich feststand.“ (2007, 208f.) 13 Ein „Intellektueller“ ist Feijoo freilich noch nicht im modernen, soziologischen Sinn, wohl aber im Hinblick auf das eigenständige, unabhängige, nur der Wahrheit und der Vernunft verpflichtete kritisch-skeptische Denken, das er für sich in seiner berühmten Selbstcharakterisierung im 13. discurso des siebten Bandes, der den Titel „Lo que sobra y falta en la física“ trägt, in Anspruch nimmt: „Así yo, ciudadano libre de la República Literaria, ni esclavo de Aristóteles, ni aliado de sus enemigos, escucharé siempre con preferencia a toda autoridad privada, lo que me dictaren la experiencia y la razón.“ (1986, 427)
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Otros dos puntos fijos hay en la esfera del entendimiento: la revelación y la demostración. [...] Quien no observare diligente aquellos dos puntos, o uno de ellos, según el hemisferio por donde navega, esto es: el primero en el hemisferio de la Gracia, el segundo, en el hemisferio de la Naturaleza, jamás llegará al puerto de la verdad. (108)
Nicht weniger deutlich fällt die Opposition zwischen Volk und Elite aus, wobei das Volk nicht allein als soziologische Kategorie zu verstehen ist, wie Feijoo selbst hervorhebt und nach ihm viele seiner Interpreten unterstreichen, sondern die Menge all derer umfasst, die von „errores“ beherrscht sind, und dazu gehören durchaus auch zahlreiche Gebildete: „la voz del pueblo está enteramente desnuda de autoridad, pues tan frecuentemente la vemos puesta de parte del error“ (121).14 Nur die Elite, deren historische Idealfigur Sokrates darstellt (122), verfügt über das Privileg, die Wahrheit zu erkennen und daher auch über die Autorität, das unverständige und unmündige Volk anzuleiten: „Es el pueblo un instrumento de varias voces, que sino por un rarísimo acaso, jamás se pondrán por sí mismas en el debido tono, hasta que alguna mano sabia las temple.“ (107)15 Die entscheidende Frage, wie „die vindizierte Überlegenheit der Aufklärer über die noch Aufzuklärenden“ (Habermas 1978, 45) zu rechtfertigen sei, mit der sich die in der Tradition der Aufklärung stehende Gesellschaftstheorie des 20. Jahrhunderts, vor allem diejenige marxistischer Prägung, konfrontiert sah, ist für Feijoo schon von vornherein geklärt, denn für ihn versteht es sich vollkommen von selbst, dass die „hombres sabios“ (107) Werkzeuge einer „suprema Inteligencia“ (107) sind, wie er im Anschluss an die für ihn in vielen Punkten vorbildliche Philosophie Pierre Gassendis (1592-1655) erläutert.16 14
Vgl. zum Begriff des Volks bei Feijoo u. a. Stiffoni (1986, 57, 65). Eine konkrete Vorstellung, etwa von der Bevölkerung Madrids, hatte Feijoo kaum. 15 Der elitäre Kulturbegriff Feijoos („No niego que hay verdades, que deben ocultarse al vulgo“, 1986, 102) ist, wie Giovanni Stiffoni in einer Fußnote anmerkt, nicht nur für die spanischen Aufklärer allgemein, sondern insbesondere auch für die Benediktiner typisch (ebd.). 16 Vgl. zur Behandlung dieser Problematik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts exemplarisch die Arbeiten von Jürgen Habermas aus den 60er und frühen 70er Jahren, die in dem Band Theorie und Praxis (1978) versammelt sind.
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Aus heutiger Sicht ist damit implizit auch die Gretchenfrage aller Aufklärungsbestrebungen aufgeworfen, die Frage nämlich, inwieweit die Aufklärung ihr Werk auch gegen den Willen der Aufzuklärenden durchsetzen darf. Allgemeiner gefragt: Was geschieht, wenn sich die Aufzuklärenden der Anziehungskraft der Vorbilder und dem „zwanglosen Zwang“ der besseren Argumente verweigern und es vorziehen, in dem Zustand zu verharren, aus dem sie der Aufklärer herausführen möchte? Auch Feijoo erkennt dieses Problem, ohne es sich jedoch in aller Schärfe zu stellen. Es beschäftigt ihn vor allem in Bezug auf seine eigene Leserschaft. Der unbelehrbare Lesertyp, den er im Vorwort zum ersten Band des Teatro crítico universal als „firme en tus antiguos dictámenes“ (1986, 99) anspricht, wird von ihm tolerant behandelt: „Si nada te hiciere fuerza, y te obstinares a ser constante sectario de la voz del pueblo, sigue norabuena su rumbo.“ (100) Ansonsten zieht er es vor, sich an die Wohlmeinenden zu halten. Ein Aufklärungsfuror, der die Durchsetzung universaler Werte um jeden Preis betreibt, ist bei Feijoo undenkbar. Lieber registriert er mit der skeptischen Gelassenheit eines Montaigne, dass der Wille zur Veränderung an der Vielgestaltigkeit der Welt und der Macht der Gewohnheit seine Grenzen findet. So wandelt sich der Aufklärer unter der Hand zum Moralisten, der sich darauf beschränkt, die Phänomene, die sich seinem Einfluss entziehen, mit einem überlegenen Staunen, in das sich gelegentlich auch Faszination mischt, zu beschreiben: „Con más razón diré yo que no hay desatino alguno tan monstruoso que no esté patrocinado del consentimiento uniforme de algún pueblo.“ (115) Meistens reiht Feijoo seine zahlreichen Beispiele für die Unterschiedlichkeit der Sitten und Gebräuche auf der Welt einfach kommentarlos aneinander, so dass schon die Art der Aufzählung den Gedanken ihrer Gleichwertigkeit nahelegt. Gelegentlich lässt er jedoch auch Wertungen wie „ridículo“ oder „extravagante“ einfließen, so zum Beispiel in „Voz del pueblo“ in Bezug auf die Vielzahl der von den Römern verehrten Götter: „fueron extremadamente ridículos en la religión“ (117). Zwei besondere Fälle von Aufklärungsresistenz, an denen sich, ins Exotische verlagert, die erstaunliche Macht der Gewohnheit über die Vernunft, „la fuerza de la costumbre“ (241), mit Schaudern studieren lässt, beschäftigen Feijoo im discurso „Amor de la patria y pasión nacional“. Im ersten Fall geht es um die Erfahrungen eines polnischen
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Königs, der den geknechteten Einwohnern Livlands vorschlägt, sie von der Unterdrückung durch den Adel zu befreien: ¡Cosa admirable! Bien lejos ellos de estimar el beneficio, echándose a los pies del rey, le suplicaron no alterarse sus costumbres, con las cuales estaban bien hallados. ¿Qué no vencerá la fuerza del hábito, cuando llega a hacer agradable la tiranía? Júntese esto con lo de las mujeres moscovitas, que no viven contentas si sus maridos no las están apaleando cada día, aun sin darles motivo alguno para ello, teniendo por prueba de que las aman mucho aquel maltratamiento voluntario. (241f.)
Die Wanderanekdote über die befremdlichen Vorlieben der russischen Frauen („las mujeres moscovitas”), die Feijoo in diesem Zitat als zweites Beispiel anführt, hatte bereits Montesquieu im 51. Brief seiner Lettres persanes von 1721 verwertet. Diese Koinzidenz führt abschließend zu der Beobachtung, dass sich Feijoo hier gegenüber den „barbarischen“ Verhältnissen in Livland und Russland in ganz ähnlicher Weise als Aufklärer profiliert, wie das wenige Jahre zuvor Montesquieu mit einer Mischung aus Faszination und Verachtung gegenüber dem ebenso vernunftwidrigen wie anscheinend unverbesserlichen Verhalten der Spanier im 78. Brief der Lettres persanes getan hatte.17 An dieser Stelle wird noch einmal deutlich, wie sehr Feijoos Werk trotz aller spezifischen Kontextbindungen an den universalen Konstruktionsmechanismen aufklärerischer Identität teilhat.
B)
LITERATUR ALS INTERDISKURS: FEIJOOS DISCURSOS
Das im Vorwort und im ersten discurso des Teatro crítico universal skizzierte Programm sieht vor, dass der angestrebte Umbau kollektiver Identitäten durch die Kritik an Formen falschen Wissens und die Verbreitung neuen, richtigen Wissens erfolgen soll. Die praktische Umsetzung dieses Programms und die kulturelle Funktion, die der Literatur in diesem Zusammenhang zuwächst, lassen sich mit Hilfe der von Jürgen Link aufgestellten Theorie des „Interdiskurses“ genauer
17
Siehe dazu ausführlich das Kapitel 3. c).
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beschreiben.18 Links Theorie setzt bei der beschleunigten Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft seit dem 17. Jahrhundert und den daraus entstehenden neuen Kommunikationsbedürfnissen an: Die zunehmende Arbeitsteilung und das rapide anwachsende Wissen fördern die Herausbildung hochspezialisierter Diskurse. Solche Spezialdiskurse sind zum Beispiel der medizinische, der juristische, der religiöse, der ökonomische oder der naturwissenschaftliche Diskurs. Aufgrund ihrer Spezialisierung können diese Diskurse jedoch immer weniger miteinander kommunizieren. Gleichzeitig steigt aber das gesellschaftliche Bedürfnis nach einem Austausch über das Wissen dieser Spezialgebiete. Dieses Bedürfnis wird von Diskursen befriedigt, die Link „Interdiskurse“ nennt.19 Sie ermöglichen das Gespräch über die Grenzen der Spezialdiskurse hinweg, indem sie das in ihnen organisierte Fachwissen in eine anschauliche und allgemeinverständliche Form bringen. Solche reintegrierenden Interdiskurse, die bevorzugt – aber nicht nur – auf „elementar-literarische Anschauungsformen“ (Link 1988, 286) wie Analogien, Metaphern, Symbole und Mythen zurückgreifen, sind zum Beispiel die Alltagssprache, politische, journalistische und populärwissenschaftliche Diskurse, aber auch die Literatur im engeren Sinn.20 Es ist offensichtlich, dass das Gesamtprojekt des Teatro crítico universal, das den Lesern eine enzyklopädische Schnittmenge aus den unterschiedlichsten Wissensgebieten offeriert und dieses Angebot mit dem Versprechen verbindet, das gesammelte Fachwissen der Theologen, Philosophen, Mediziner, Physiker, Historiographen, Ökonomen, Dichtungstheoretiker und vieler anderer Spezialisten pro18
Vgl. u. a. Link (1984a/b, 1988). Link entwickelt seine Theorie des Interdiskurses in Auseinandersetzung mit der Diskurstheorie Foucaults, indem er an zwei Punkte anknüpft, die bei Foucault letztlich ungeklärt geblieben sind: das Verhältnis zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken, also zwischen Diskursen auf der einen und sozialen Praktiken und Institutionen auf der anderen Seite (1984a, 63f.), und die besondere Rolle literarischer Texte bzw. die Spezifik des literarischen Diskurses. 19 Vgl. Link (1984b, 149): „Ich möchte als Interdiskurs also im engeren Sinne die Gesamtheit diskursiver Elemente definieren, die nicht diskursspezifisch, sondern mehreren Diskursen gemeinsam sind.“ 20 Vgl. Link (1988, 293): „Es gibt nun eine Reihe von Textsorten bzw. Genres, in denen die interdiskursive Funktion dominiert: das sind alle Textsorten der Popularisierung, vor allem journalistische und literarische im weitesten Sinne.“
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blembezogen und in verständlicher Form aufzubereiten, als reintegrierender Interdiskurs par excellence fungiert.21 Dasselbe lässt sich aber auch für jeden einzelnen der 118 discursos behaupten, in deren miszellenartigem Aufbau sich die Struktur des Gesamtwerks jeweils noch einmal spiegelt.22 Die Gattung des discurso, die Feijoo für sein Vorhaben wählt, entspricht in idealer Weise den spezifischen Anforderungen eines Interdiskurses, der durch die Reintegration von Spezialwissen und die Vernetzung unterschiedlicher Diskurse dazu beiträgt, die Zirkulation des Wissens innerhalb einer Kultur zu verbessern. Von der Sache her deckt sich das, was Feijoo „discurso“ nennt, weitgehend mit dem, was wir heute unter „Essay“ verstehen.23 Seine discursos zeichnen sich aus durch relative Kürze, große Vielfalt und Spannweite der Themen, die unsystematisch präsentiert werden, Offenheit für Neues, Erfahrungsnähe, Skepsis, Subjektivität, kritisch-distanziertes, zum Mitvollzug einladendes Denken, das auch Abschweifungen und Assoziationen erlaubt, sowie eine antirhetorische, natürlich-spontane Ausdrucksweise. Feijoo gilt daher in Spanien auch als „nuestro pri-
21
Daran ändert auch der Einwand von José Miguel Caso González nichts, der auf Feijoos ausdrückliche Absicht, in erster Linie „errores comunes“ bekämpfen zu wollen, hinweist: „Feijoo no pretende generalmente vulgarizar conocimientos minoritarios o de procedencia extranjera, sino combatir errores admitidos por la mayoría. Presentarlo como un vulgarizador de saberes es errar el tiro, porque su intención no es tanto la de enseñar ideas correctas sobre cada uno de los temas que trata, como la de desterrar los errores que circulan sobre cada uno de esos temas. [...] Naturalmente, el destierro de un error conduce a tener sobre el asunto ideas correctas.“ (1983a, 70) Dabei ist für Feijoo und die Rolle seines Werks im spanischen Identitätsdiskurs gerade der Umstand kennzeichnend, dass die von ihm praktizierte Vorurteilskritik nicht nur bestimmte Vermittlungsstrategien wissenschaftlicher Errungenschaften nach sich zieht, sondern umgekehrt auch selbst als eine Variante dieser Strategien erscheint. 22 Eine Studie wie die Andreas Gippers (2002) zu den literarischen Strategien naturwissenschaftlicher Vulgarisierung zwischen Rhetorik, lebensweltlicher Praxis und sich ausdifferenzierendem Wissenschaftssystem in französischen Texten des 17. und 18. Jahrhunderts steht für Spanien noch aus. 23 Vgl. dazu Pedro Álvarez de Miranda: „Insistimos de nuevo en que, si se concibe como un discurso escrito y no como manifestación de la oratoria, estamos ante una forma que prácticamente puede identificarse sin más con el ensayo, al que en cierto modo se adelanta a dar nombre.“ (1996, 295) und Francisco Sánchez-Blanco: „Feijoo es quien acuña en España el modelo moderno de discurso.“ (1997b, 27)
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mer ensayista“ (Bueno Martínez 1966, 99) oder zumindest als „precursor del moderno ensayismo“ (Alborg 1993, 153).24 Bemerkenswert ist, dass Feijoo, der ja abgesehen von einigen Jugendgedichten ausschließlich Essays geschrieben hat – „Feijoo es solo ensayista“, wie Álvarez de Miranda betont (1996, 305) –, die von ihm benutzte Gattung kaum reflektiert, obwohl er mit Montaignes Essais (1580) vertraut ist (vgl. López Fanego 1981) und Francis Bacon, den Verfasser der Essays (1597), sein Vorbild nennt. Umso bedeutsamer erscheint eine Stelle im zehnten Brief des am 14. August 1753 publizierten vierten Bandes der Cartas eruditas. Unter dem Titel „Sobre un proyecto de una historia general de ciencias y artes“ berichtet Feijoo, dass er sich von dem Vorhaben, eine Historia de la Teología zu schreiben, mit dem Argument habe abbringen lassen, dass die Fortsetzung seiner bisherigen kritischen Tätigkeit für die Gesellschaft von weitaus größerem Nutzen sei als die Abfassung eines umfangreichen wissenschaftlichen Traktats: „en España había mucho mayor necesidad de Literatura mixta, cuyo rumbo había yo tomado, destinada a desengañar de varias opiniones erradas que reinan en nuestra región, y aun en otras“ (zit. n. Álvarez de Miranda 1996, 309). Das Zitat zeigt, dass sich Feijoo der Übereinstimmung zwischen einer bestimmten kontextoffenen Form der Literatur, die er als „Literatura mixta“ bezeichnet, und der aktuellen kulturellen Bedürfnislage seines Landes durchaus bewusst war. Der interdiskursive Charakter von Feijoos discursos erweist sich nicht zuletzt auch an der formalen und funktionalen Ähnlichkeit mit dem Medium der Zeitschrift und der Gattung des enzyklopädischen Wörterbuchs, zu denen die discursos des Teatro crítico universal überdies eine genetische Beziehung unterhalten, denn sie speisten sich nicht nur in hohem Maße aus diesen beiden verwandten Publikationsformen,
24
Siehe zur Gattung des Essays im 18. Jahrhundert aus gattungstheoretischer (allerdings essenzialistischer) Perspektive Bueno Martínez (1966), mit dem Schwerpunkt auf der Wort- und Begriffsgeschichte Álvarez de Miranda (1996) und im Hinblick auf die historische Entwicklung, die grundlegende Affinität zur Aufklärung und den europäischen Kontext Sánchez-Blanco (1997b). Unter dem Oberbegriff „Essay“/„ensayo“ werden heute in der Regel verschiedene historische Formen der Gedankenprosa zusammengefasst: bosquejo, esbozo, discurso, disertación, oración, memoria, memorial, informe, carta, diálogo usw.
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sondern wurden zum Teil nachträglich auch wieder in sie überführt. Mit dem Medium der Zeitschrift haben Feijoos Essays eine Reihe von Merkmalen gemeinsam: die relativ weite Verbreitung, das gemischte Publikum, die periodische Erscheinungsform, den Aktualitätsbezug, den mittleren Stil, die konstante Leseransprache und die Variation der Themen. Bekannt ist zudem, dass sich Feijoo vor allem an französischen Gelehrtenzeitschriften wie den Mémoires de Trévoux und englischen Wochenschriften wie The Spectator orientierte, die er in französischer Übersetzung las.25 Wie erwähnt, diente das Teatro crítico universal aber auch selbst wieder als Steinbruch für Zeitschriften, so etwa für den von Pedro Ángel Tarazona 1773 in Barcelona herausgegebenen Diario evangélico-histórico-político. Nicht weniger offenkundig als die journalistischen sind die enzyklopädischen Merkmale des Teatro crítico universal – zumindest in formaler und thematischer Hinsicht. In Bezug auf die kulturelle Funktion des Teatro crítico universal bemerkt Pedro Álvarez de Miranda, dass es in vielen spanischen Haushalten, zu deren Grundausstattung es neben der Bibel und Don Quijote gehörte, die Aufgabe eines unverzichtbaren Nachschlagewerks erfüllte (1996, 312). Erleichtert wurde diese Aufgabe durch alphabetische Register, die bereits ab 1752 zusammen mit den Bänden verkauft wurden und deren thematische Erschließung vereinfachen sollten. Per Antonomasie verwandelte sich der Eigenname Feijoo schließlich sogar noch in einen Gattungsnamen, wie der 1764/65 erschienene Feijoo crítico-moral y reflexivo de su Teatro sobre errores comunes, con un breve resumen de cada uno de sus discursos von Leonardo Antonio de la Cuesta belegt (313). Doch wurde das Teatro crítico universal nicht nur im Nachhinein in Nachschlagewerke transformiert, es beruht auch selbst zu einem großen Teil auf Material, das Feijoo den Wörterbüchern Louis Moreris (1674) und der Jesuiten von Trévoux (1704) sowie Pierre Bayles Dictionnaire historique et critique (1697) entnommen hatte (vgl. Sánchez-Blanco 1997, 34). Um zu verdeutlichen, auf welche Weise Feijoos discursos ihre interdiskursive Funktion erfüllen, empfiehlt es sich, ein Beispiel aus dem Bereich zu wählen, in dem Feijoo den größten Nachholbedarf der 25 Vgl. McClelland (1969, 35-40). Zum Einfluss der Mémoires de Trévoux siehe Ceñal (1966) u. Saenz de Santa María (1983).
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Spanier sieht und auf den er selbst, nicht zuletzt aus diesem Grund, seinen Interessenschwerpunkt legt: die modernen Naturwissenschaften („ciencias naturales“), insbesondere die experimentelle Physik, die für ihn, zusammen mit der Mathematik, Maßstab und Inbegriff des neuen Denkens ist.26 In dieses Gebiet fällt auch der weniger bekannte, gleichwohl in vieler Hinsicht repräsentative Essay „Peso del aire“, der als elfter discurso im zweiten, am 6. April 1728 erschienenen Band des Teatro crítico universal abgedruckt ist. Im Mittelpunkt des Essays über die „Schwere der Luft“ steht die seit der Antike immer wieder von der Theologie, der Philosophie und der Physik diskutierte Frage nach dem Vakuum, nach der Existenz leerer, körperloser Räume. Während die scholastische Naturphilosophie das physikalische Phänomen, dass leere Räume nach Auffüllung streben, mit der Vorstellung des horror vacui, der Abscheu der Natur vor der Leere, erklärte, stand mit der Entdeckung des Luftdrucks durch den italienischen Physiker und Mathematiker Evangelista Torricelli (1643/44), der 1642 Galileo Galilei als Hofmathematiker in Florenz nachgefolgt war, eine experimentell erhärtete Begründung zur Verfügung, die völlig ohne theologische und philosophische Spekulationen auskam.27 Mit seinem Essay „Peso del aire“ verfolgt Feijoo das Ziel, den Erkenntnissen der modernen experimentellen Naturforschung, die in den europäischen Nachbarländern erbracht wurden, auch in Spanien zum Durchbruch zu verhelfen. Der Interdiskurs steht bei Feijoo also immer auch im Zeichen eines interkulturellen Wissenstransfers. Neben den Italienern Galileo und Torricelli kommen in „Peso del aire“ die bekannten englischen und französischen Naturwissenschaftler Robert Boyle und Denis Papin sowie der weniger bekannte „padre Dechales“ (1961, 196) und ein gewisser „señor Homberg, de la Acade-
26
Vgl. Antonio Lafuente u. a.: „El abanderado más popular de la renovación y divulgación científica en España en esta época fue Benito Feijoo [...]. En el campo de la física, los temas que más interesaban a Feijoo eran el estudio del aire, la luz, los astros y sus movimientos, los cometas, la caída de graves y los experimentos con la máquina pneumática.“ (1996, 971f.) 27 Eine wissenschaftsgeschichtliche Rekonstruktion der Diskussion über das Problem des leeren Raums bzw. des Vakuums von Aristoteles über das Mittelalter bis ins 16. und 17. Jahrhundert findet sich bei Edward Grant (1981). Speziell zur Beschäftigung mit der Frage nach der Schwere der Luft siehe Klever (1997).
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mia Real de las Ciencias“ (ebd.) mit ihren Experimenten und Forschungsergebnissen zur Sprache. Dass sich Feijoo sogar noch mit der Vermittlung physikalischen Spezialwissens der Herbeiführung eines grundlegenden Einstellungswandels und einem breit angelegten nationalen Modernisierungsprojekt verpflichtet fühlt, zeigt die folgende Bemerkung, mit der die kurze Einleitung seines Essays abschließt: [...] ya hoy en las naciones pasa ésta por materia demostrada entre los filósofos de todas las escuelas, habiéndose rendido a la fuerza de la evidencia aun los aristotélicos más tenaces. Pero porque esta doctrina aun es peregrina en España, donde la pasión de los naturales por las antiguas máximas hace más impenetrable este país a los nuevos descubrimientos en las ciencias que toda la aspereza de los Pirineos a las escuadras enemigas, la explicaré ahora con la mayor claridad que pueda. (195)
Wie geht Feijoo im Einzelnen vor? Sein discurso ist in sieben Paragraphen, 25 Abschnitte und drei ergänzende Fußnoten aufgeteilt. Im ersten Paragraphen erläutert er sein Vorhaben, die traditionelle Vorstellung des horror vacui („el horror que tiene la naturaleza al vacío“, 195) zu entkräften und sie durch die Erkenntnis der körperlichen Eigenschaften der Luft, ihres Gewichts und ihrer Elastizität („la pesantez y fuerza elástica del aire“, ebd.), zu ersetzen. Zur Veranschaulichung des zugrunde liegenden physikalischen Problems schildert er zwei Experimente. Erstens: Ein Röhrchen, das auf einer Seite verschlossen ist, wird mit Wasser gefüllt; als das Röhrchen umgedreht wird, fließt das Wasser nicht heraus. Zweitens: Zwei Platten mit sehr glatter Oberfläche werden aufeinander gelegt und lassen sich dann kaum mehr voneinander trennen. Im zweiten Paragraphen weist Feijoo verschiedene Erklärungsmöglichkeiten metaphysischer Art, zu denen auch der Einfluss der „cielos y astros“ (196) zählt, zurück, so dass nur noch eine einzige Lösung übrig bleibt: „recurrir con los modernos al peso del aire“ (ebd.). Diese Erklärung wird nun im dritten Paragraphen anhand des experimentell erbrachten Nachweises des Gewichts und der Elastizität der Luft erläutert und im vierten Paragraphen auf die eingangs vorgestellten Beispiele angewendet. Im fünften und sechsten Paragraphen untermauert Feijoo seine Erklärungen mit weiteren Experimenten und differenziert seine theoretischen Ausführungen, indem er als zusätzliche
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Faktoren das spezifische Gewicht der Stoffe und den Umgebungsdruck berücksichtigt. Im siebten Paragraphen werden dann noch zwei Experimente Robert Boyles mit der Vakuumpumpe erwähnt, die ein letztes Mal unter technisch fortgeschrittenen Bedingungen die als Fazit wiederholte Kernaussage bestätigen: „nada hace el miedo del vacío, sí sólo el peso y elasticidad del aire“ (199). Feijoos Bestreben nach einer allgemein verständlichen und doch der Komplexität des Sachverhalts angemessenen Darstellung, die dazu geeignet ist, zwischen naturwissenschaftlichem Diskurs und Laienpublikum zu vermitteln, zeigt sich schon im klaren argumentativen Aufbau seines Essays. Darüber hinaus bedient sich Feijoo jedoch im Zuge der literarischen Umsetzung seiner Popularisierungsstrategie noch verschiedener anderer Verfahren. Schon der Titel „Peso del aire“ ist aufgrund seiner oxymorischen Qualität geeignet, Interesse für die Sache und damit auch für die Lektüre des Artikels zu wecken. Ein weiteres Element der Popularisierung ist die Anschaulichkeit, die Feijoo durch die ausführlichen verbalen Skizzen der Luftdruckexperimente zu erreichen versucht, denn es erfolgt keine Visualisierung durch Abbildungen. Auch der Vergleich des Verhältnisses von Druck und Gegendruck bei der Komprimierung von Luft mit den bei einer Springfeder zu beobachtenden Druckverhältnissen dient diesem Zweck (197). Mit Hilfe eines anderen Stilmittels, der Hyperbel, unterstreicht Feijoo wiederum die Evidenz seines Standpunktes: „Consta de innumerables experimentos“ (197), „Se ha observado infinitas veces“ (199). Der Kontakt zum Leser wird dadurch verstärkt, dass Feijoo sich des jeweils erreichten Argumentationsstandes versichert – „Entendiendo bien esto, se comprenderá fácilmente cómo [...]“ (197) –, dass er auf mögliche Fragen eingeht und seine Hauptthese immer wieder in Erinnerung bringt und dass er durch die Verwendung der ersten Person Plural eine Brücke zur Lebenswelt schlägt: „este aire inferior que respiramos y en que vivimos“ (197). Dass bei der Vulgarisierung wissenschaftlicher Fachdiskurse auch terminologische Probleme zu lösen sind, zeigt schließlich eine Zwischenbemerkung, in der Feijoo die Verwendung des spanischen Wortes „émbolo“ (Kolben, Pfropfen) für die lateinischen und französischen Ausdrücke „embolus“ und „pistón“ kommentiert: „Yo uso la voz émbolo, porque no sé que la tenga propia en nuestro idioma.“ (196)
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Feijoos discurso „Peso del aire“ ist jedoch nicht allein deswegen von Interesse, weil sich an ihm exemplarisch einige der Verfahren studieren lassen, die aufgrund ihrer reintegrierenden Funktion als konstitutive Elemente des Interdiskurses aufzufassen sind, sondern weil der titelgebende Signifikant „Schwere der Luft“ im Verlauf des Gesamtwerks noch in ganz anderen Zusammenhängen auftaucht und dabei den Charakter eines Sinnbildes gewinnt, der ihn seinerseits zu einer Komponente des Interdiskurses werden lässt. Während Feijoo in „Peso del aire“ noch alles daran setzt, um dem Ausdruck jegliche metaphorische Bedeutung zu entziehen und die bezeichnete Sache so wissenschaftlich und konkret wie nur möglich darzustellen, nutzt er an späteren Stellen auch dessen poetisch-rhetorisches Potenzial, von dem er in seinem frühen Essay allenfalls hinsichtlich des Interesses profitiert, den er als Titel zu wecken vermag. So kommt Feijoo zum Beispiel 17 Jahre später, im zweiten Band der Cartas eruditas, der am 20. Juli 1745 erschien, noch einmal auf die entsprechenden Luftdruckexperimente zurück, nur dass er jetzt die bereits erwähnte oxymorische Anmutung der Bezeichnung „peso del aire“ voll ausschöpft und zur Grundlage eines komischen Missverständnisses macht, das als Sinnbild für die Rückständigkeit Spaniens dient. Am Ende des bekannten 16. Briefs, der den Titel „Causas del atraso que se padece en España en órden á las ciencias naturales“ trägt, teilt Feijoo seinem Briefpartner eine Anekdote mit, in der die Ignoranz der Spanier in naturwissenschaftlichen Dingen der Lächerlichkeit preisgegeben wird: Zwei Abgeordnete einer von der englischen Akademie der Wissenschaften ausgerichteten Forschungsexpedition suchen den spanischen Botschafter in London auf, erzählen ihm von ihrem Vorhaben – „pesar el aire sobre la altura del pico de Tenerife“ (1952, 546) – und bitten ihn um ein Empfehlungsschreiben für den Gouverneur der Kanarischen Inseln. Der Botschafter, der meint, es mit zwei Verrückten zu tun zu haben, berichtet dem englischen König, der die Forschungsreise jedoch höchstselbst in Auftrag gegeben hat, von seiner Begegnung und kann dabei vor Lachen kaum an sich halten, bis er blamiert feststellen muss, dass der Irrtum auf seiner Seite liegt. Es ist typisch für Feijoo, dass er es beim Spott über seine bornierten Landsleute nicht bewenden lässt und dem Vorfall noch eine fortschrittsfreundliche Pointe abgewinnt, die auch sein eigenes Werk in ein positives Licht rückt. So nimmt er den Botschafter mit dem Hinweis
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in Schutz, dass Spanien zu dieser Zeit vom „comercio literario“ (564) unter den übrigen europäischen Ländern noch zu sehr abgeschnitten war, um die relativ junge Entdeckung des Luftdrucks rechtzeitig mitzubekommen. Der Bibel, genauer gesagt dem Buch Hiob (28:25) entnommen, also fern aller naturwissenschaftlichen Zusammenhänge und in rein metaphorischer Verwendung, begegnet uns eine ähnliche Formulierung – „dar peso al viento“ (1986, 255) – indessen schon an früherer Stelle, und zwar in „Amor de la patria y pasión nacional“, dem zehnten discurso im dritten Band des Teatro crítico universal, der schon am 31. Mai 1729 herauskam. In Paragraph sieben behandelt Feijoo die in seinen Augen weit verbreitete, aber schädliche Erscheinung, dass häufig parteiisch gehandelt werde, wenn es darum gehe, die Verdienste von Personen zu beurteilen, die aus derselben Gegend stammten wie der Urteilende. Feijoo begnügt sich aber nicht mit der moralisierenden Feststellung, dass fehlende Verdienste oft durch eine gemeinsame Herkunft aufgewogen würden, sondern bringt diesen Sachverhalt in prägnanter Weise durch die katachretische Verschränkung zweier Metaphern – „balanza de la pasíon“ und „dar peso al aire“ – zum Ausdruck: „veo también que los poderosos del mundo en la balanza de su pasión frecuentemente dan peso y mucho peso al aire“ (ebd.). Kurz danach schließt Feijoo dann den Gedanken – und das komplizierte Bild – ab, indem er noch eine weitere Metapher – „la tierra“ – hinzufügt: „Puso en la balanza, juntamente con aquel aire, la tierra (quiero decir la tierra donde nació) y esta tierra pesa mucho en aquella balanza.“ (ebd.) So dient die gleiche Wortfügung – wahrscheinlich nicht zuletzt aufgrund des ihr immanenten poetischen Potenzials – zur Bezeichnung dreier ganz unterschiedlicher Sachverhalte: einer physikalischen Erkenntnis, eines beschämenden Bildungsmangels und eines moralischen Fehlverhaltens.28
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Ein anderes interdiskursives Verfahren stellt die Analogiebildung dar. Ein Beispiel dafür ist die Parallele, die Feijoo zwischen dem Verhalten der Atome und dem der Menschen zieht, also zwischen einem physikalischen und einem sozialen Phänomen. So stellt er etwa in „La voz del pueblo“ fest: „Poco se distingue el vulgo de los hombres del vulgo de los átomos.“ (1986, 107) Den Hintergrund für diese
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Feijoos Grundintention, mit Hilfe des entsprechenden richtigen Wissens landläufige Irrtümer zu bekämpfen und zu korrigieren, um auf diese Weise einen Identitätswandel herbeizuführen, bringt ihn zwangsläufig dazu – und das gilt wiederum für die Aufklärungsbewegung im Ganzen – eine Vorstellung von dem zu entwickeln, was wir heute als „Kultur“ bezeichnen und was zum Teil auch schon im 18. Jahrhundert und von Feijoo selbst als einem der ersten in Spanien so genannt wurde. Gleichwohl muss der Kulturbegriff Feijoos erst aus dem Teatro crítico universal rekonstruiert werden, denn er wird von Feijoo nicht eigens reflektiert oder gar zum Gegenstand einer Theorie gemacht. Feijoo ist noch kein Kulturtheoretiker wie seine Zeitgenossen Giambattista Vico (1668-1744), Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) oder Johann Gottfried Herder (1744-1803). Deshalb ist hier auch von Feijoos „Kulturbegriff“ und nicht von einer „Kulturtheorie“ die Rede, zumal ein solcher Anspruch auch der Gattung des Essays, der sich Feijoo bedient, und dessen offener, mosaikartiger Struktur widerspräche. Feijoos Vorstellung von Kultur erstreckt sich, im Einklang mit dem Aufklärungsdenken seiner Zeit, auf drei Bereiche. Den ersten Bereich bildet in einem ganz elementaren Sinn all das, was den Menschen über den Naturzustand hinaushebt. Die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur ist deswegen von fundamentaler Bedeutung, weil sie Aufklärung als einen bewussten und gerichteten Prozess der Veränderung überhaupt erst möglich und sinnvoll macht. Die als Gegensatz zur Natur verstandene Kultur spaltet sich dann noch einmal in zwei Geltungsbereiche, je nachdem, ob sie als Subjekt oder Objekt der Aufklärung aufgefasst wird. Als Objekt der Aufklärung umfasst Kultur die Traditionen, Sitten, Lebensweisen, Überzeugungen und Vorurteile, die als Hindernis für den Fortschritt der Menschheit angesehen werden und deshalb überwunden werden sollen. Kultur stellt sich in diesem Verständnis als das jeweils immer schon Gegebene dar, als zweite Natur, deren histo-
Bemerkung bildet die Auseinandersetzung, die Feijoo an zahlreichen Stellen seines Werks (zustimmend) mit dem Atomismus Gassendis und Boyles und (eher kritisch) mit der Korpuskeltheorie Descartes’ führt.
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rischen und sozialen Charakter nachzuweisen der Aufklärer bemüht ist, um überhaupt einen begründeten Anspruch auf Veränderung des status quo erheben zu können. In diesem Zusammenhang kommt es aber auch zum ersten Mal zur umfassenden Reflexion eigen- und fremdkultureller Phänomene, selbst wenn diese grundsätzlich aus einer universalistischen Perspektive gedeutet werden oder sich als Alteritätskonstruktionen nach Maßgabe eines „underground self“ (Said 1995, 3) darstellen, wie sie am Beispiel des Verhältnisses der französischen Aufklärer zu Spanien beschrieben wurden. Als Subjekt der Aufklärung schließlich ist die Kultur das Medium, das der Verwirklichung der Überzeugung dient, „daß der Mensch befähigt und ermächtigt ist, sich als Gattungswesen geschichtlich weiter und höher zu entwickeln, daß seine geistig-moralische Fortbildung allein im Fortschritt seines Vernunftvermögens begründet ist“ (Jung 1999, 16). In dieser, mit dem Wort „civilización“ identischen Bedeutung, das heißt als Bezeichnung für die Gesamtheit der Eigenschaften und Fertigkeiten, die als Ausweis menschlicher Wandlungsfähigkeit und Höherentwicklung anzusehen sind, wird das Wort „cultura“ schon von Feijoo selbst verwendet.29 Von der Richtigkeit dieser Feststellung kann man sich am besten anhand des Essays „Mapa intelectual y cotejo de naciones“ überzeugen. Darin heißt es in Bezug auf die Unzivilisiertheit der Skythen, der Vorfahren der Russen („moscovitas“): „pero esto no dependía de incapacidad nativa, sino de falta de cultura“ (1986, 180). In ganz ähnlicher Weise urteilt Feijoo auch über das Fortschrittspotenzial der Afrikaner: „Si les falta la cultura, no es vicio del clima sino de su inaplicación.“ (186)30
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Damit übernimmt er eine Vorreiterrolle innerhalb der spanischen Kultur; vgl. Álvarez de Miranda: „En la configuración del moderno sentido de la palabra cultura le corresponde al P. Feijoo un papel muy destacado.“ (1992, 391) 30 Dasselbe aufklärerische Argumentationsmuster, in dem Umweltprägung und mangelnde Chancengleichheit an die Stelle von Essenz und Determination treten, findet bei Feijoo auch in Bezug auf die gesellschaftliche Stellung der Frau Anwendung, die das innerkulturell Andere repräsentiert. So liest man in der „Defensa de las mujeres“, dem 16. discurso des ersten Bandes, in dem Feijoo die intellektuelle Ebenbürtigkeit von Mann und Frau postuliert: „Generalmente cualquiera, por grande capacidad que tenga, parece rudo, o de corto alcance en aquellas materias a que no se aplica, ni tiene uso.“ (1778, § X, Abschnitt 65, o. S.)
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Auch wenn Feijoo das Wort „cultura“ nur auf einen Teilbereich dessen anwendet, was später unter „Kultur“ verstanden werden wird, kann man doch zweifellos von einem dreifachen Kulturbegriff Feijoos sprechen. Vergeblich suchen wird man hingegen einen dialektischen Begriff der Kultur: Wenn bei Feijoo, wie in dem soeben zitierten Essay, von „la razón [...] dormida“ (192) die Rede ist, dann ist damit noch nicht der Schlaf gemeint, der, wie später bei Goya, Monster gebiert, sondern der Schlummer der auf ihre Erweckung wartenden Einsichtsfähigkeit des Menschen, die im vorliegenden Fall auch die Fähigkeit zur Einsicht in den göttlichen Ursprung der Schöpfung umfasst: „Clama toda la naturaleza la existencia del Criador con tan sonorosos gritos que parece imposible que la razón más dormida no despierte a sus voces.“ (192) Feijoos Einstellung ist noch ungetrübt positiv; ihr fehlt jede Spur eines zivilisationskritischen Untertons, der Vernunft und Fortschritt mit Skepsis betrachten und den Geschichtsverlauf mit dem Verfall der natürlichen Tugend gleichsetzen würde. Feijoos dreifacher Kulturbegriff ist im Wesentlichen das Produkt eines empirisch-vergleichenden Blicks auf die Unterschiedlichkeit der Völker – ein Phänomen, das sowohl die Frage nach den Gründen wie nach den Erkenntnissen, die sich daraus ziehen lassen, aufwirft. Im Kern geht es Feijoo darum, an immer wieder neuen Beispielen zu zeigen, dass es zwar ganz verschiedene Eigenarten, Gebräuche und Lebensformen gebe und der Entwicklungsstand und Rationalitätsgrad der Völker in Raum und Zeit variabel sei, man aus dieser Tatsache aber nicht den Schluss ziehen dürfe, dass diese Unterschiede naturbedingt, das heißt ethnisch determiniert und deshalb unveränderlich seien. Vielmehr habe man, so Feijoo in dem zentralen Essay „Mapa intelectual y cotejo de naciones“, von der grundsätzlichen Vernunftbegabung und Bildungsfähigkeit aller Völker auszugehen, unabhängig von ihrem jeweiligen zivilisatorischen Niveau: „aquellas naciones, que comúnmente están reputadas por rudas o bárbaras, no ceden en ingenio, y algunas acaso exceden a las que se juzgan más cultas“ (177). Das gilt, wie Feijoo ausdrücklich betont, auch für die außereuropäischen Völker der Türken, Perser, Inder, Chinesen, Afrikaner, Indianer und andere. So heißt es etwa über die Indianer Nordamerikas: „su capacidad en nada es inferior a la nuestra“ (187).
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Damit wird letztlich aber auch die Vorstellung hinfällig, dass sich auf der Grundlage eines „cotejo de naciones“ eine „mapa intelectual“ anfertigen ließe, aus der eine Hierarchie der Völker gemäß ihrer Höher- oder Minderwertigkeit abzulesen wäre. Dafür, dass es dennoch zu solchen Wertungen kommt, macht Feijoo zwei Gründe verantwortlich: zum einen eine verzerrte Wahrnehmung, die auf Oberflächlichkeit, Wissensmangel und einem zu großen Abstand zu den beurteilten Kulturen beruhe, und zum anderen ein mangelndes historisches Verständnis, das zyklische Entwicklungen außer Acht lasse und sich der Überlegung verschließe, dass die zivilisatorische Hochphase, die Länder wie China, „la primera patria de las artes y las ciencias“ (186), bereits hinter sich hätten, anderen, von denen man es nicht erwarten würde, möglicherweise noch bevorstünde: „poseerán las ciencias en grado eminente los iroqueses, los lapones, los trogloditas, los garamantes, y otras gentes, a quienes hoy con desdén y repugnancia admitimos por miembros de nuestra especie“ (192). Hinter dem universalhistorischen Ansatz Feijoos, der seine Beispiele aus der ganzen Welt bezieht, und hinter einer universalistischen Argumentation, die kulturelle Unterschiede gegenüber der Teilhabe an einem gemeinsamen Logos in den Hintergrund treten lässt, zeichnen sich bei Feijoo jedoch auch eine ethnozentrische Perspektive und ein partikularistisches Interesse ab. Wenn Feijoo naturalistische und substanzialistische Irrtümer aufdeckt und auf der Gleichwertigkeit, der Vernunftbegabung und dem Entwicklungspotenzial aller Völker beharrt, agiert er gleichzeitig als geschickter Anwalt der causa Hispaniae. Das unterstreicht auch Manfred Tietz: „In Anbetracht des damaligen europäischen Vorurteils gegenüber Spanien muß er vielmehr auf die prinzipielle Gleichheit und Entwicklungsfähigkeit Spaniens hinweisen, um zu belegen, daß auch dieses Land in der Lage ist, die neuesten Tendenzen der Zeit aufzunehmen.“ (1980d, 71) Dass Feijoo, wenn er universalistisch argumentiert, immer auch in versteckter Weise pro domo spricht, lässt sich an einer Reihe von Beispielen aus verschiedenen discursos des Teatro crítico universal zeigen. In „Paralelo de las lenguas castellana y francesa“, dem 15. discurso des ersten Bandes, in dem Feijoo das Spanische mit dem Französischen vergleicht, legt er in Bezug auf die Unterschiede in der Artikulation beider Sprachen Wert auf die Feststellung: „Pero, lo primero, esta diferencia no está en la sustancia del idioma, sino en el accidente de la pronunciación“
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(1958, 221). Vordergründig kritisiert Feijoo an dieser Stelle die Unzulässigkeit substanzialistischer Sprachkonzepte, gleichzeitig jedoch wirkt er dem möglichen Vorwurf der Minderwertigkeit des Spanischen entgegen, der sich aus dem höheren Artikulationsdruck im Vergleich zum Französischen ableiten ließe. In „Antipatía de franceses y españoles“, dem neunten Essay des zweiten Bandes, entkräftet Feijoo die Meinung, dass als Grund für die traditionelle „oposición nacional“ (1986, 171) zwischen Frankreich und Spanien der „influjo de las estrellas“ (168) oder „la naturaleza de uno y otro país“ (171) verantwortlich zu machen sei. Die Gründe seien vielmehr historisch-politischer Natur und gingen auf den französischspanischen Streit um die Krone von Neapel an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert zurück: „Esta ojeriza nace de los daños que mutuamente se han hecho en varias guerras, y las guerras de las opuestas pretensiones de los príncipes.“ (1986, 167) Mit dieser Erklärung liefert Feijoo zugleich einen versteckten Kommentar zur leyenda negra. Im ersten Teil der „Glorias de España“, die als 13. discurso im vierten Band erschienen, tritt Feijoo der Ansicht entgegen, dass sich der Aufstieg des römischen Reiches einer immanenten Überlegenheit der Römer verdanke: „Yo estoy tan lejos de asentir a las ventajas del valor romano sobre las demás naciones del mundo, que vivo persuadido a que cualquiera de éstas hubiera hecho todo lo que hicieron los romanos puesta en las mismas circunstancias.“ (1965, 121) In diesem Fall dient die Argumentation auch der apologetischen Absicht, die „gloria“ Spaniens umso strahlender hervortreten zu lassen. Das letzte Beispiel führt wieder zu dem Essay „Mapa intelectual y cotejo de naciones“ zurück. Um seine Grundthese zu belegen, dass die als unzivilisiert verrufenen Nationen den vermeintlich zivilisierteren an Geist („ingenio“) nicht nachstünden, kommt Feijoo, bevor er sich den außereuropäischen Völkern zuwendet, auf die Deutschen, Holländer und Russen zu sprechen. Dabei fällt auf, dass er sie genau gegen die Vorwürfe verteidigt, die auch immer wieder gegen Spanien erhoben wurden. So führt er zur Verteidigung der Deutschen ihre Leistungen in Humanismus und Renaissance an; die lange Zeit sprichwörtliche Zurückgebliebenheit der Holländer sei lediglich einer vorübergehenden „falta de aplicación“ (1986, 179) zuzuschreiben; und wenn die Russen tatsächlich „una gente insensata“ (180) seien, wie
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man es ihnen nachsage, dann sei kaum verständlich, wie sie es geschafft hätten, ein so großes Reich zu erobern und zu beherrschen. Es ist nun aufschlussreich zu sehen, wie Feijoo vor diesem Hintergrund zu den im 18. Jahrhundert weit verbreiteten Ideologemen der Klimatheorie und des Nationalcharakters steht, deren deterministischer Ansatz seinen eigenen Überzeugungen im Grunde widerspricht. In beiden Fällen nimmt Feijoo eine vermittelnde Position ein, indem er auf ein Schichtenmodell des Menschen rekurriert (vgl. Tietz 1980d, 75). So beginnt der Essay „Mapa intelectual y cotejo de naciones“ zwar mit dem kategorischen Satz „No es dudable que la diferente temperie de los países induce sensible diversidad en hombres, brutos y plantas“ (1986, 175), doch einer deterministischen Anwendung der Klimatheorie, wie er sie etwa bei Aristoteles findet, widersetzt sich Feijoo strikt (193). Er räumt dem Klima Einfluss auf die Physis, das Temperament und die Lebensweise der Menschen ein, will den Verstand davon aber ausgenommen wissen: „apenas podemos notar desigualdad de ingenio en las naciones, debe entenderse en cuanto a las cualidades esenciales de penetración, solidez y claridad“ (193). Mit der Frage des Nationalcharakters – Feijoo verwendet das Wort noch nicht, sondern spricht von der „diversidad de genios“ (1986, 171) – steht es ähnlich. Wie der Essay „Antipatía de franceses y españoles“ zeigt, folgt Feijoo bis zu einem gewissen Grad den einschlägigen Völkertypologien und ihren starren Oppositionen, bestreitet ihnen dann jedoch wieder einen Begründungsanspruch (vgl. Tietz 1980d, 73f.): No negaré que hay alguna diversidad de genios en las dos naciones. Los españoles son graves, los franceses festivos. Los españoles misteriosos, los franceses abiertos. Los españoles constantes, los franceses ligeros; pero negaré que ésta sea causa bastante para que las dos naciones estén discordes. (171)
Die gleiche Ambivalenz kennzeichnet auch den Kommentar, der das Schema der Völkereigenschaften von Johannes Zahn begleitet, mit dem Feijoo seinen Essay „Mapa intelectual y cotejo de naciones“ beschließt (1986, 198). Feijoo gesteht der Tabelle einerseits zu, die Unterschiede zwischen den europäischen Nationen zu illustrieren und schließt als Kriterium sogar den „ingenio“ mit ein – „se pone
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delante de los ojos la diversidad que tienen en ingenios, vicios y dotes de alma y cuerpo las cinco principales naciones de Europa“ (197) –, zweifelt andererseits aber doch an ihrer Richtigkeit, vor allem hinsichtlich der Eigenschaften, die den Spaniern darin zugeschrieben werden (vgl. Tietz 1980d, 78f.). Eine grundsätzlich affirmative Haltung zum Begriff des Nationalcharakters, wie sie etwa Cadalso und Forner auszeichnen wird, ist bei Feijoo jedenfalls noch nicht vorhanden.31 Anders verhält es sich dagegen mit der im 18. Jahrhundert auch in Spanien aufkommenden Idee der Nation, die als soziale und politische Konstruktion eine axiologische Neuausrichtung der Gesellschaft im Sinne der Aufklärungsprogrammatik verspricht und sich daher umstandslos mit Feijoos dreifachem Kulturbegriff vereinbaren lässt.
D)
DAS NEUE PARADIGMA DER NATION
Pedro Álvarez de Miranda hat in seiner Wort- und Begriffsgeschichte der frühen Aufklärung in Spanien Palabras e ideas: el léxico de la ilustración temprana en España (1680-1760) der „Nation“ und angrenzenden Begriffen ein umfangreiches Kapitel gewidmet.32 Den von ihm untersuchten Zeitraum der Frühaufklärung bezeichnet er in Bezug auf die semantische Entwicklung von „nación“ als eine Phase des Übergangs: „la época que aquí consideramos se nos va a presentar muy claramente como de transición“ (216). Kennzeichnend für diese Phase sei, dass die Bedeutung des Wortes im konkreten Gebrauch noch stark schwanke, auch wenn der semantische Kern schon feststehe: „su contenido semántico básico ya está fijado, pero es en los diferentes empleos concretos de la palabra donde percibimos que puede ir puesto el acento en uno o en varios de los factores configurativos de la nación: étnicos, geográficos, culturales, históricos, políticos, de costumbres, de lengua, de carácter.“ 31 Siehe zur Frage des Nationalcharakters den grundlegenden Aufsatz Julio Caro Barojas „El mito del ‘carácter nacional’ y su formación con respecto a España“ (1970) sowie unter wortgeschichtlichem Aspekt Álvarez de Miranda (1992, 263-269). 32 „Capítulo II. Nación y patria. Sentimientos y actitudes que suscitan“ (1992, 211269). Über den Begriff der Nation in der Epoche der Aufklärung allgemein informiert in kompakter Form Dann (1997).
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(219) Dadurch, dass die Wortbedeutung noch relativ offen sei, komme es auch zur Überlagerung bis hin zur Austauschbarkeit mit den Worten patria, estado, país, reino, monarquía, república, región, provincia (217f.). Feijoo ist nicht nur, wie auch Álvarez de Miranda unterstreicht (220), die repräsentative Figur dieses Übergangs, er gehört auch zu denen, die den semantischen Umbau der Gesellschaft im Einklang mit der politischen Neuausrichtung der Monarchie durch die Bourbonen am entschiedensten vorantreiben. Dabei erweist sich Feijoos „Modernität“ gerade in der Diskrepanz zwischen Wort und Sache, denn in der Sache gehen Feijoos Vorstellungen wesentlich weiter, als es die traditionellen Begriffe, die er zu ihrer Beschreibung heranzieht – einschließlich dem der „nación“ – auf den ersten Blick vermuten lassen.33 Eine Begriffsgeschichte, die sich wie die Álvarez de Mirandas in erster Linie als Wortgeschichte versteht, kann die spezifische Leistung Feijoos daher auch nur unzureichend erfassen. Die Ausgangssituation für den Bedeutungswandel von „nación“, der sich in der Zeit der Frühaufklärung beobachten lässt, liegt im 17. Jahrhundert. Die neue Bedeutung stabilisiert sich dagegen erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts bei Cadalso, Forner und Capmany und kann im frühen 19. Jahrhundert als endgültig etabliert gelten. Der traditionelle Begriff der Nation, wie er noch im 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts vorliegt, bezieht sich auf eine Gruppe von Menschen, deren Gemeinsamkeit durch die familiäre Abstammung und die geographische Herkunft gestiftet wird und die in der Regel auch über eine gemeinsame Sprache und gemeinsame Sitten verfügen. In politischer Hinsicht ist „nación“ noch nicht mit dem Staatswesen identisch, sondern verweist auf die territorialen Bestandteile einer Monarchie. Einen Sonderfall bilden in diesem Zusammenhang die Studentengruppen an den Universitäten, die sich auch noch im 18. Jahrhundert nach ihrer regionalen Herkunft in „naciones“ organisieren. Darüber hinaus existiert aber auch eine von diesen Faktoren vollkommen abgelöste Bedeutung, die darin besteht, ganz allgemein eine Gruppe zu
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Deshalb ist auch Manfred Tietz zu widersprechen, der im Zusammenhang mit dem Essay „Mapa intelectual y cotejo de naciones“ feststellt: „Auch hier zeigt sich wiederum, daß Feijoos Nationenbegriff noch ein rein genetischer ist, der sich erheblich vom modernen Nationalgedanken unterscheidet.“ (1980d, 75)
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bezeichnen, die sich durch ein charakteristisches Merkmal von anderen Gruppen unterscheidet. Feijoo verwendet das Wort zum Beispiel in dieser Bedeutung, wenn er in den Cartas eruditas (V/2) von der „nación de los Phylósofos“ spricht (zit. n. Álvarez de Miranda 1992, 216). Zur Illustration des anderen Pols, dem des modernen Nationenbegriffs, kann die Verwendung des Wortes „nación“ bei Capmany herangezogen werden, die auch Álvarez de Miranda als Beispiel anführt (211). In einem Brief an Godoy aus dem Jahr 1806, den Antonio de Capmany in seinem antinapoleonischen Traktat Centinela contra franceses (1808) abdruckt, legt er besonderen Wert auf den Gedanken, dass sich eine Nation nicht in äußerlichen Merkmalen erschöpfe: „¿Que le importaría a un Rey tener vasallos, si no tuviese nación? A ésta la forma, no el número de individuos, sino la unidad de las voluntades, de las leyes, de las costumbres, y del idioma, que las encierra y mantiene de generación en generación.“ (1988, 116) Capmany betont, dass Gemeinsamkeiten der Sprache und Herkunft nicht ausreichen, um eine Nation zu begründen. Vielmehr beruhe die Nation im Wesentlichen auf zwei Voraussetzungen: auf der in jedem Individuum verankerten Vorstellung, zusammen mit anderen Individuen eine Einheit („un todo“, 117) zu bilden, und auf der emotionalen Bindung an diese Einheit. Noch deutlicher freilich werden der Unterschied und der historische Abstand zu frühaufklärerischen Positionen, wie sie Feijoo vertritt, durch die unmissverständliche Identifikation des als überständische Gemeinschaft aufgefassten Volks mit der Nation, wie sie Capmany unter dem Eindruck der französischen Invasion vollzieht: „el pueblo es la nación, pues de su masa sale todo: el sacerdote, el magistrado, el guerrero y hasta la sabiduría“ (133). Feijoos Haltung zur Nation ist in besonders kompakter und klarer Form in seinem bekannten discurso „Amor de la patria y pasión nacional“ im dritten Band des Teatro crítico universal von 1729 dargestellt. Zwar verwendet Feijoo den Terminus „nación“ selbst noch im herkömmlichen Sinn von „Abstammungsgemeinschaft“ und „territorialer Herkunft“, in der Sache jedoch bringt er das neue, für die spanischen Aufklärer maßgebliche Nationsverständnis bereits deutlich zum Ausdruck. Das geschieht auf zwei Wegen, die jeweils an einem der beiden im Titel seines Essays vorkommenden Begriffe anknüpfen: Zum einen unterlegt er dem Begriff der Vaterlandsliebe („amor de la
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patria“) ausdrücklich eine neue Bedeutung, und zum anderen definiert er diese neue Bedeutung auch noch per negationem, indem er in einer für seine Art der Argumentation generell typischen Weise gezielt verschiedene unerwünschte Bedeutungen, zu denen auch die Nationalleidenschaft („pasión nacional“) zählt, ausgrenzt. Gleich zu Beginn seines Essays stellt Feijoo klar, dass die Form der Identität, die er unter „amor de la patria“ (1986, 235) versteht, nämlich einen „amor justo, debido, noble, virtuoso“ (ebd.), nicht in der Übernahme und Fortführung vorgegebener Verhaltensweisen bestehen kann, sondern eine Aufgabe ist, etwas, das erst noch geschaffen werden muss. Feijoo bestimmt dieses Ideal als „amar y servir la república civil“ (257). Gemeint sind damit der tatkräftige Einsatz für das Gemeinwohl („utilidad común“, 237) und die Verpflichtung des Einzelnen gegenüber der politischen Gemeinschaft, der er angehört. Diese Gemeinschaft, die Feijoo auch „patria común“ nennt, ist identisch mit „república“ und „estado“ (251). Sie definiert sich folgendermaßen: „aquel cuerpo de estado donde debajo de un gobierno civil estamos unidos con la coyunda de unas mismas leyes. Así Españá es el objeto propio del amor del español, Francia del francés, Polonia del polaco.“ (ebd.) Entscheidend ist nun, dass für Feijoo die Bindung an das Gemeinwesen und die daraus erwachsenden Pflichten nicht durch die Geburt bestimmt werden, sondern von der unvermeidlichen Teilhabe an einer Gesellschaft abhängen: „esta obligación no se la vincula la república, porque nacimos en su distrito sino porque componemos su sociedad“ (257). Zwar stehe es dem Einzelnen frei, das Gemeinwesen, in dem er leben wolle, zu wählen, doch entbinde ihn dies grundsätzlich nicht bestimmter Verpflichtungen. Im Einklang mit seinem Kulturbegriff betont Feijoo aber auch, dass es zwar keine „natürliche“ Bindung an ein bestimmtes Gemeinwesen gebe, wohl aber sehr wirkungsmächtige kulturelle Faktoren wie die Gewohnheit und das individuelle Wohlergehen, die eine solche Bindung gewissermaßen natürlich erscheinen ließen, auch wenn sie jederzeit aufkündbar seien: „pero yo siento que aquí hay una grande equivocación, y se juzga ser amor de la patria lo que sólo es amor de la propia convenencia. No hay hombre que no deje con gusto su tierra, si en otra se le representa mejor fortuna“ (238). Indem Feijoo das Verhältnis von Individuum und Staat auf eine Vertragsbasis stellt und es damit im Wesentlichen politisch definiert, bewegt er sich zwei-
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fellos auf moderne staatsbürgerliche Vorstellungen zu. Natürlich ist es auch richtig, dass es sich dabei, wie Álvarez de Miranda mehrfach hervorhebt, um eine „consideración fría y racional de la patria“ (1992, 232) handelt, die von der emotionalen Aufladung, die sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Kontext des Befreiungskrieges erfahren wird, noch weit entfernt ist.34 Dieser Standpunkt erhält dadurch Profil, dass Feijoo ihn nach verschiedenen Richtungen hin systematisch abgrenzt: gegen Chauvinismus, Regionalismus/Heimatliebe, Weltbürgertum und Jenseitsfixierung. Wie das im Einzelnen geschieht, soll im Anschluss an die nachstehende Abbildung verdeutlicht werden, die zwei Kategorien kombiniert, die allerdings nur annäherungsweise der horizontalen und der vertikalen Achse entsprechen. Die eine Kategorie ist axiologischer Art: Während der Chauvinismus die eigene Nation stark auf- und die übrigen Nationen dementsprechend abwertet, postuliert der Kosmopolitismus die potenzielle Gleichwertigkeit aller Nationen. Die andere Kategorie ist räumlicher Art: Während Regionalismus und Heimatliebe Loyalitätsbindungen unterhalb der Grenze der Nation darstellen, übersteigen Weltbürgertum und Jenseitsfixierung diese Grenze in jeweils eigener Weise, indem sie die gesamte Welt bzw. deren Ablehnung zum obersten Bezugspunkt nehmen:
34 Vgl. dazu Giovanni Stiffoni, der den Wandel des Nationenbegriffs unter der Herrschaft der Bourbonen folgendermaßen beschreibt: „De tal manera la idea austriacista de la monarquía como un conjunto de naciones, que desempeña una misión histórica universal, viene sustituida por la idea de nación como Estado organizado políticamente en unidad.“ (1986, 44) Stiffoni bewertet Feijoos Überlegungen als Transfer der politischen Theorien Diego de Saavedra Fajardos in den Kontext der bourbonischen Reformpolitik: „Feijoo se reanuda a un concepto de nación que es típico de la cultura política de la segunda mitad del XVII“ (43) und betont zugleich: „Y no se comprendería nada del significado del análisis feijoniano si no tuviera bien presente como lejos de Feijoo está cualquier idea de identificar ipso facto nación con comunidad política.“ (43) Was diese Bemerkung – und die Fixierung auf die Wortgeschichte generell – nicht erkennen lässt, ist der Umstand, dass das von Feijoo beschriebene Gemeinwesen und die ihm gemäße Haltung des Einzelnen bereits genau dem Sachverhalt entsprechen, der dann als „Nation“ bezeichnet werden wird.
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Jenseitsfixierung
Chauvinismus
Nation
Weltbürgertum
Regionalismus
Abbildung 6: Nationale Identität bei Feijoo Mit grundsätzlicher Ablehnung begegnet Feijoo der in der Abbildung als „Chauvinismus“ bezeichneten übersteigerten „pasión nacional“, die konsequenterweise aus der Sicht der von ihm praktizierten Vorurteilskritik als „afecto delincuente“ (235) erscheint. Die „pasión nacional“ ist geradezu der Inbegriff eines „ídolo“ (ebd.), wie Feijoo in Anspielung auf die für ihn vorbildliche ideologie- und vorurteilskritische Idolenlehre Francis Bacons formuliert, sie ist ein Götzenbild, dem blinde, weder vom Licht des Glaubens noch dem der Vernunft erhellte Verehrung entgegengebracht wird, und zwar ungeachtet der sozialen Stellung oder des Bildungsgrades der betreffenden Person, denn sie findet sich innerhalb des „vulgo“ (243) ebenso wie unter der „gente de razón“ (ebd.). In der exemplarischen Haltung des Aufklärers macht es sich Feijoo zur Aufgabe, die verdeckten Motive und Ziele hinter dem hehren, vermeintlich interesselosen Ideal des Patriotismus zu entlarven. Die Motive, die er zu entdecken meint, sind ausnahmslos egoistisch, sie machen aus der „pasión nacional“ eine „hija legítima de la vanidad y la emulación“ (244): Lohn, Beute, Ehre, Gehorsam, Furcht, Macht, Ruhmsucht, Eitelkeit usw. Auch in Bezug auf die Ziele gibt sich Feijoo keinen Illusionen hin, denn die Anstachelung der Emotionen dient in seinen Augen vornehmlich als Vorwand für Kriege und zur Rechtfertigung der von ihm geforderten Opfer. Eine ge-
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wisse Entschuldigung erfährt die „pasión nacional“ allerdings dadurch, dass sie auf ein anthropologisches Fundament zurückgeführt werden kann: „Así, que en todas tierras hay este pedazo de mal camino de sentir altamente de la propia y bajamente de las extrañas.“ (244) Insgesamt ist jedoch festzuhalten: Als „desengañador de las Españas“, als den ihn Juan Marichal charakterisiert hat (zit. n. Rico 1983, 102), durchschaut Feijoo mit auch heute noch beeindruckender Hellsicht den ideologisch-manipulativen („especioso pretexto“, 235) und letztlich weitgehend imaginären („convenencias [...] imaginadas“, 242), auf Erfindungen beruhenden („fingidas excelencias“, 244) bzw. pseudoreligiösen Charakter („Deidad imaginaria“, 235) der „amor de la patria“, gegenüber deren affektiven Komponenten er tatsächlich ein besonderes Misstrauen hegt. Natürlich kann man dieses Misstrauen, wie das in der Regel auch geschieht, auf die aufgeklärt-rationalistische Grundhaltung Feijoos zurückführen.35 Doch vielleicht ist es auch nicht ganz falsch, einmal die umgekehrte Perspektive einzunehmen und Feijoos harsche Reaktion damit zu erklären, dass er, der Ordensgeistliche und Abt, bereits sehr genau spürt, was für eine attraktive Konkurrenz in einer sich säkularisierenden Gesellschaft der religiösen Tradition in ihrem bis dahin unangefochtenen Anspruch als kulturelles Deutungssystem in Gestalt des Nationalismus heranwächst. Das aber würde bedeuten, dass Feijoo im Wesentlichen als Verteidiger des bedrohten Zuständigkeitsbereichs der Religion argumentiert.36 Im Weiteren setzt sich Feijoo vor allem gegen konkurrierende traditionelle Loyalitäten ab. Als besonders schädlich für die „patria común“ wird von ihm „el amor de la patria particular“ eingeschätzt, weil diese Form der Identifikation den Geburtsort und die eigene Herkunft, ob Provinz, Diözese, Stadt oder Bezirk, über alles stelle: „en vez de ser útil a la república, le es por muchos capítulos nocivo“ (251). Fei-
35
Vgl. Álvarez de Miranda: „ya veremos que pasión, apasionado y desapasionado forman parte del vocabulario relativo a la lucha contra los prejuicios“ (1992, 237f.). 36 Die besondere Affinität von Nationalismus und Religion betont auch die moderne Nationalismusforschung, deren Vertreter, wie z. B. Benedict Anderson (1991, 5; 1012) oder Hans-Ulrich Wehler (2001, 32f.), den Nationalismus im Hinblick auf seine Kapazitäten der Kontingenzbewältigung, der Sinnstiftung, der Vergemeinschaftung, der Kompensationsleistung und des Mobilisierungspotenzials weniger als Ideologie, denn als Zivil- oder Säkularreligion betrachten.
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joo warnt vor dem Partikularismus. Er sieht darin die potenzielle Ursache eines Bürgerkriegs oder einer Rebellion gegen den Herrscher und eine Quelle der Ungerechtigkeit, weil er zur Bevorzugung der eigenen Landsleute verleite, eine Unsitte, für die Feijoo den Ausdruck „paisanismo“ (252) bereithält. An dieser Stelle verrät Feijoos Text am deutlichsten, wie stark er den historischen Umständen und der zentralistischen Reformpolitik der Bourbonen verpflichtet ist, denn seine Äußerungen verweisen unmissverständlich auf die Abtrünnigkeit der östlichen Reichsteile während des Erbfolgekriegs und die anschließende Vereinheitlichung des Verwaltungsrechts sowie die politische Gleichstellung der Landesteile.37 Weniger hart als mit eventuellen regionalen Autonomiebestrebungen und anderen Quellen innenpolitischer Spannungen geht Feijoo mit dem politisch unverdächtigen und rein sentimentalen „afecto inocente y moderado al suelo natalico“ (253) ins Gericht, der ihm allenfalls als „muy pueril“ (253) und bei „richtigen“ Männern deplatziert erscheint. Bei dieser Gelegenheit gibt sich Feijoos Vorurteilskritik auch als Mythenkritik zu erkennen, die sich beispielsweise im Unverständnis für die Ursache der Tränen manifestiert, die der herumirrende Odysseus aus Heimweh nach Ithaka vergießt (253).38 Zu den weniger schädlichen, aber gleichwohl abzulehnenden Haltungen zählt darüber hinaus ein unverbindlicher Kosmopolitismus: „Es apotegma de muchos sabios gentiles que para el varón fuerte todo el 37
Vgl. dazu Antonio Mestre Sanchís: „Más aún, en los momentos de confusionismo político después de la Guerra de Sucesión, represiones del foralismo, bandazos en la política interior y exterior, el discurso Amor de la patria y pasión nacional debió de constituir un apoyo innegable a la política centralista del Gobierno.“ (1995, 75) Wie Mario Onaindía hervorhebt (2002, 38), hat der Terminus „patria común“ auch in die spanische Verfassung von 1978 Eingang gefunden (vgl. Artikel 2: „La Constitución se fundamenta en la indisoluble unidad de la Nación española, patria común e indivisible de todos los españoles, y reconoce y garantiza el derecho a la autonomía de las nacionalidades y regiones que la integran y la solidaridad entre todas ellas“). 38 Ein anderes Beispiel, ebenfalls aus der Odyssee, betrifft die „Unwahrscheinlichkeit“ der Entscheidung des Odysseus, die Annehmlichkeiten des Lebens bei der Nymphe Kalypso zugunsten der vagen Hoffnung auf Rückkehr nach Ithaka aufzugeben: „Ninguna fábula, entre cuantas fabricaron los poetas, me parece más fuera de toda verisimilitud que el que Ulises prefiriese los desapacibles riscos de su patria Ítaca a la inmortalidad llena de placeres, que le ofrecía la ninfa Calipso, debajo de la condición de vivir con ella en la isla Ogigia.“ (238)
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mundo es patria“ (257). Dem hat Feijoo die bereits erwähnte Verpflichtung für das Gemeinwesen entgegenzuhalten, in dem man sich vorwiegend aufhält: „Así, el que legítimamente es transferido a otro dominio distinto de aquel en que ha nacido, y se avecinda en él, contrae, respecto de aquella república, la misma obligación que antes tenía a la que le dio cuna, y la debe mirar como patria suya.“ (257) Ähnlich kritisch steht Feijoo schließlich auch einer einseitig katholisch-barocken Jenseitsfixierung gegenüber: „es sentencia común de doctores católicos, que para el religioso todo el mundo es destierro“ (257). Eine Glaubenshaltung, die das irdische Dasein als vorübergehendes Exil und vorwiegend als scheinhaft wahrnimmt, ist nicht dazu geeignet, die Art weltzugewandten Engagements zu fördern, für die Feijoo mit seinem eigenen Werk unermüdlich eintritt. Eine Gegenposition zu dem in „Amor de la patria y pasión nacional“ entwickelten Konzept der Nation scheint Feijoo in den beiden umfangreichen discursos mit dem Titel „Glorias de España“ zu vertreten, die am Ende des vierten Bandes des Teatro crítico universal abgedruckt sind, der Ende 1730 herauskam. Beide discursos verdanken sich, wie schon hervorgehoben wurde, einer persönlichen Intervention des Infanten, dessen Gunst Feijoo auf diese Weise wiederzugewinnen versucht – eine Absicht, die er in seiner Widmung deutlich beim Namen nennt: „el empeño de desenojar a V. A. y desagraviar la nación“ (1986, 266). An die Stelle des selbstgewählten Themas seines früheren Essays tritt also eine Art Auftragsarbeit. Die vormals logozentrische, kritische Perspektive weicht einer ethnozentrischen, apologetischen Intention. Die verabscheuungswürdige „pasión nacional“ wandelt sich zu einem „debido afecto a la patria“ (1965, 104). Statt auf die Zukunft, zielt der Blick nun weit in die Vergangenheit, auf die ruhmreichen Taten und glänzenden intellektuellen Leistungen der Spanier in der Geschichte. Spanien ist im Kreis der europäischen Nationen nicht mehr ein Land unter vielen, sondern exklusiver Gegenstand des Interesses. Wo zuvor der relativierende Vergleich herrschte, erfolgt jetzt der identitätsfördernde Hinweis auf die Überlegenheit der eigenen Nation: „Sólo España da hombres grandes para todo“ (111). Genau besehen liefert Feijoo mit seinen „Glorias de España“ aber weniger einen traditionalistischen Gegenentwurf zu seiner Darstellung in „Amor de la patria y pasión nacional“, als vielmehr einen komplementären Beitrag, der dem Konzept der Nation weitere Elemente hinzufügt. Dazu gehören neben der Aufwertung des emotio-
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nalen Aspekts die mobilisierende Kraft der Hinwendung zur Vergangenheit („mostrar a la España moderna la España antigua; a los españoles que viven hoy, las glorias de sus progenitores“, 103) und die Betonung bestimmter Einflusskontinuitäten: „En el mismo clima vivimos, de las mismas influencias gozamos que nuestros pasados“ (103f.). Dabei ist es bezeichnend, dass das gesteigerte Bewusstsein für die Besonderheiten der eigenen Kultur erst durch einen Stimulus von außen, wie hier die Kritik des Infanten, zustande kommt. Im Grunde liegen damit bereits bei Feijoo – mit Ausnahme des ständeübergreifenden Volksgedankens – alle Komponenten vor, aus denen sich der komplexe Nationenbegriff zusammensetzt, der sich in der zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts etabliert. Als Figur des Übergangs kann Feijoo daher nur insofern bezeichnet werden, als die verschiedenen semantischen Komponenten des Nationenbegriffs im Teatro crítico universal noch nebeneinander existieren und nicht zu einer einheitlichen Bedeutung verschmolzen sind. Hinzu kommt, dass sich die Beschäftigung mit dem nationalen Thema innerhalb des enzyklopädisch weiten Themenspektrums des Teatro crítico universal auf einzelne discursos beschränkt und die Nation noch nicht den allgegenwärtigen Horizont bzw. das transdiskursive Konzept bildet, zu dem es dann beispielsweise bei den Herausgebern des Diario de los literatos de España wird, deren Zeitschrift teils noch gleichzeitig mit Feijoos Werk und teils nur wenige Jahre danach erscheint.
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„algunos idiomas, y algunas Artes, y Ciencias estrañas à nuestro estado, aunque no à nuestra alma racional“ (6, „Prólogo“, XLI) A)
KRITIK AN DER KULTURELLEN TRADITION UND NATIONALES BEWUSSTSEIN
Das Jahr 1737 markiert einen zweifachen Einschnitt in der Geschichte der spanischen Literatur des 18. Jahrhunderts. Es ist das Jahr, in dem Ignacio de Luzáns poetologische Schrift La poética, o reglas de la poesía en general y de sus principales especies veröffentlicht wird, die in Spanien das für die folgenden hundert Jahre maßgebliche dichtungstheoretische System des Neoklassizismus etabliert. Und es ist das Jahr, in dem mit dem Gelehrtenjournal Diario de los literatos de España das moderne Pressewesen in Spanien Einzug hält.1 Zwar gab es schon vorher periodisch erscheinende Presseerzeugnisse, wie die 1661 gegründete Gaceta de Madrid oder den 1738 von Salvador José Mañer ins Leben gerufenen Mercurio histórico y político, doch handelt es sich in beiden Fällen mehr oder weniger um offizielle Verlautbarungsorgane, denen die kritische und sich unabhängig gebende Haltung fehlt, die gerade den Diario de los literatos, „das erste private Presseunternehmen von Gewicht in der spanischen Aufklärung“ (Jüttner 2008c, VII), aus-
1 Außerdem erscheinen in diesem annus mirabilis noch Gregorio Mayans’ Orígenes de la lengua española und Vida de Miguel de Cervantes.
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zeichnet.2 Wie der vollständige Titel verrät – Diario de los literatos de España en que se reducen a compendio los escritos de los autores españoles y se hace juicio de sus obras desde el año 1737 –, enthält die in Madrid herausgegebene Zeitschrift Rezensionen spanischer Neuerscheinungen aus allen möglichen Wissensgebieten. Ohne dass der ursprünglich geplante vierteljährliche Rhythmus eingehalten werden kann, kommen zwischen April 1737 und Februar 1742 sieben Bände mit insgesamt 116 Artikeln und einem Umfang von jeweils ca. 400 Seiten heraus, deren Berichtzeitraum sich auf die literarische Produktion von Januar 1737 bis September 1738 erstreckt.3 Das Herausgeberkomitee setzt sich aus drei Klerikern zusammen, die den beherrschenden kulturellen Zentren der Real Biblioteca, der Real Academia de la Historia und der Real Academia de la Lengua nahe stehen: Juan Martínez de Salafranca (16971772), Leopoldo Jerónimo Puig (1703-1763) und Francisco Javier Manuel de la Huerta y Vega (1697-1752), der nach dem dritten Band als Herausgeber ausscheidet. Noch im 18. Jahrhundert wird die Pionierleistung des Diario vielfach gewürdigt. So bemerkt etwa Juan Sempere y Guarinos 1785 im Vorwort zum ersten Band seines Ensayo de una biblioteca española de los mejores escritores del reynado de Carlos III: „Hasta entónces no se habia visto en España emplearse la crítica tan abiertamente en poner á la vista los defectos de los libros que salian á luz [...]. Y así causó mucha novedad este proyecto del Diario“ (1969, 20). Auch Marcelino Menéndez Pelayo spart im dritten Band seiner Historia de las ideas estéticas en España (1883-1891) nicht mit Lob und unterstreicht die zeitliche Koinzidenz mit der Veröf2
Vgl. auch das Urteil von Paul-Jacques Guinard: „le premier périodique littéraire de l’Espagne, le meilleur, à bien des égards, que ce pays ait eu au XVIIIe siècle, celui qu’un demi-siècle plus tard les critiques espagnols regrettaient encore, le tenant pour modèle de science et de probité, est le véritable fondateur de la presse espagnole“ (1973, 21). Einen Abriss der insgesamt durchaus kontroversen Einschätzung des Diario gibt Jüttner (2008d, 37f.). Über das Pressewesen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Spanien informiert überblicksartig Luis Miguel Enciso Recio in seinem Artikel „La prensa“ in der von José María Jover Zamora herausgegebenen Historia de España (1985). 3 Band 1 (1737) umfasst die Monate Januar, Februar, März 1737; Band 2 (1737) April, Mai, Juni 1737; Band 3 (1737) Juli, August, September 1737; Band 4 (1738) Oktober, November, Dezember 1737; Band 5 (1739) Januar, Februar, März 1738; Band 6 (1740) April, Mai, Juni 1738; Band 7 (1742) Juli, August, September 1738.
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fentlichung von Luzáns Poética. In Bezug auf das Erscheinen der ersten Zeitschriften in Spanien heißt es bei ihm: „Hay uno, sobre todo, tan importante y de tan gloriosa historia, que por sí sólo marca una fecha en nuestra historia literaria, como marca otra la aparición de la Poética, de Luzán. Tal fué el famoso Diario de los Literatos de España“ (1962, 201). Im Weiteren nennt er das Diario „esta publicación verdaderamente monumental, que concitó las iras de todos los malos escritores de España, y fué uno de los más grandes y positivos servicios a la cultura nacional“ (202f.). In diesem von Menéndez Pelayo angesprochenen Sinn präsentieren sich die Herausgeber des Diario de los literatos de España in ihrer Widmung an den König selbstbewusst als patriotisch denkende und handelnde Vermittler zwischen Spanien und Europa. Das Besondere des Kulturtransfers, den sie sich zur Aufgabe gemacht haben, besteht darin, dass es ihnen nicht allein auf den Import fremden und die Zurschaustellung eigenen Wissens ankommt, sondern zuallererst auf die Bereitstellung eines geeigneten Mediums zur Sammlung und Verbreitung dieses Wissens. Der angestrebte Kulturtransfer ist eigentlich ein Medientransfer: Es gilt, die im Ausland überall erfolgreiche neue Gattung der Zeitschrift – „la admirable invencion de los Diarios“ (1, „Al Rey“, [5])4 – auch in Spanien heimisch zu machen und damit sowohl zur Her4 Zitiert wird der Diario de los literatos de España nach der von Jesús M. Ruiz Veintemilla 1987 edierten Reprint-Ausgabe in sieben Bänden, zu der es auch einen von Siegfried Jüttner verantworteten Registerband gibt (2008d). Der Zitatnachweis erfolgt im Text nach Bandnummer, Artikel und Seitenzahl. Um das Auffinden der Zitate in den unpaginierten Abschnitten zu erleichtern, habe ich diese mit Seitenzahlen versehen, die in eckigen Klammern angegeben werden. Orthographie und Zeichensetzung folgen dem Original. Angesichts der im Folgenden an gegebener Stelle angeführten Forschungsbeiträge, insbesondere von Jesús Castañón Díaz (1966, 1973), Paul-Jacques Guinard (1973, 1994) und Jesús M. Ruiz Veintemilla (1976, 1977, 1979, 1980, 1987), kann das Urteil von Nicolás Marín aus dem Jahr 1962 „poco estudiado pero siempre citado“ (zit. n. Quirk 1980, 205) zwar keine Geltung mehr beanspruchen, es fällt jedoch auf, dass sich die bisherige Forschung im Wesentlichen auf drei Felder beschränkt: 1. den literatursoziologisch-historischen Kontext, 2. Fragen der Literaturkritik und Ästhetiktheorie und 3. Kontroversen mit bekannten Autoren (Luzán, Mayans). Neue kulturwissenschaftliche Forschungsperspektiven eröffnet der von Siegfried Jüttner herausgegebene Sammelband Anfänge des Wissenschaftsjournalismus in Spanien. Der „Diario de los literatos de España“ – Horizonte des Kulturtransfers (2008b), in dem auch eine verkürzte Version des vorliegenden Kapitels enthalten ist (Tschilschke 2008a).
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ausbildung eines nationalen, innerspanischen Kommunikationsraums beizutragen als auch Anschluss an den fortgeschrittenen Stand des sich in ganz Europa vollziehenden Medienwandels zu finden. Wenn man die Einleitung zum ersten Band des Diario mit den programmatischen Einleitungen des seit Januar 1665 in Paris erscheinenden Journal des Sçavans und der 1701 ins Leben gerufenen Mémoires de Trévoux vergleicht, also jenen Zeitschriften, die für das Pressewesen in ganz Europa Modellcharakter hatten und die sich auch der Diario de los literatos de España erklärtermaßen zum Vorbild genommen hat, dann fällt tatsächlich eine weitgehende Übereinstimmung in den Absichten der jeweiligen Herausgeber auf – von dem Versprechen ausführlich und kritisch zu informieren bis hin zur Aufforderung an die Leserschaft, sich an der neuen Zeitschrift zu beteiligen.5 Umso mehr tritt indessen bei allen diesen Gemeinsamkeiten auch ein differenzieller Aspekt hervor, der den Kennern der Literatur der spanischen Aufklärung aber nur allzu vertraut vorkommen dürfte. Dieser differenzielle Aspekt lässt sich als spezifischer Konnex aus vier verschiedenen Motiven beschreiben: Das erste Motiv ist die scharfe Kritik an der geistigen Lage des eigenen Landes, dessen Elite „insuficiencia“ (7, „Prólogo“, [6]), „ignorancia, y poca aplicacion“ (2, XII, 208) und „defecto de actividad intelectual“ (5, „Prólogo“, [4]) vorgeworfen werden. Sanktioniert wird diese Kritik zweitens durch den ständigen, schon in der Widmung anzutreffenden Bezug auf die Idee der Nation („promover el credito de nuestra Nacion“, 1, „Al Rey“, [3]). Hinzu kommt drittens der Hinweis auf vergangene Größe („Reflexionese sobre el estado presente;
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Jesús M. Ruiz Veintemilla hat einen solchen Vergleich durchgeführt und nennt folgende Gemeinsamkeiten mit dem Journal des Sçavans: „1) El extracto de libros útiles; 2) La noticia de la muerte de personas célebres; 3) Informar de las decisiones de academias, colegios y universidades; 4) La invitación al público para que les manden manuscritos originales; 5) La utilidad de esta nueva modalidad periódica para aquellos que compran libros y para los que no pueden comprarlos, y 6) La invitación al lector para que les ayude a mejorar la publicación.“ (1987, 67f.) In anderen Punkten sind die Jesuiten von Trévoux Vorbild: „1) Declaran su intransigencia frente a todo lo que pueda atentar contra le religión, las buenas costumbres y el estado; 2) Ofrecen a los autores que ellos mismos hagan los extractos de sus obras; 3) Ponen el Diario a la disposición de los literatos que quieran consultar sus proyectos con el público; 4) Invitan a nacionales y extranjeros que les manden memorias y disertaciones sin que importe la lengua en que vengan escritos, y 5) Se constituyen en críticos de las obras que extractan.“ (72)
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comparese con la gloria, que nuestros Españoles en los siglos passados dieron à España“, 6, „Prólogo“, XIV) und viertens der konstante Vergleich mit dem Ausland („midase lo que los Estrangeros han subido, y nosotros hemos baxado“, 6, „Prólogo“, XIV). Aus dem doppelten, diachronen und synchronen Vergleich der gegenwärtigen, in hohem Maße kritik- und verbesserungswürdigen Situation mit der eigenen glorreichen Vergangenheit und dem überlegenen Entwicklungsstand in den übrigen Ländern Europas resultiert die Erkenntnis einer zweifachen Differenz, die als die wichtigste Quelle der Identitätsreflexion gelten darf, durch die sich die spanische Aufklärungsbewegung unserer Hauptthese zufolge insgesamt auszeichnet. Der Diario de los literatos de España spielt in diesem Prozess, in dem Aufklärung immer zugleich auch als Verständigung über die spanische Identität aufgefasst wird, eine für die erste Phase der spanischen Aufklärung, also etwa die Zeit zwischen 1726 und 1760, repräsentative Rolle – und zwar in zweifacher Hinsicht. Repräsentativ für die politische Interessenlage, aber auch für die Mentalität der frühen Aufklärung ist zunächst einmal die Tatsache, dass die Europäisierung der spanischen Kultur, das heißt die Öffnung gegenüber zentraleuropäischen Einflüssen, und ihre Nationalisierung, das heißt ihre Überformung durch die Idee der Nation, von den Herausgebern des Diario nicht als gegensätzliche, sondern als komplementäre Vorgänge betrachtet werden. Ermöglicht wird das durch die Vorherrschaft einer traditionskritischen, logozentrischen Grundhaltung, die Prinzipien wie Vernunft, Nützlichkeit und Fortschritt universale Gültigkeit beimisst und den gemeinsamen Wettstreit und das gegenseitige Lernen und Vergleichen zur Grundlage des Verhältnisses zwischen den Nationen macht – ganz im Sinne der Jahrzehnte später, nämlich im Jahr 1773, von Antonio de Capmany in seinem Comentario sobre el doctor festivo y maestro de los „Eruditos a la violeta“ geäußerten Überzeugung „toda la Europa es una escuela general de civilización“ (1988a, 143). Als welterschließender und innovationsstimulierender Faktor erfüllt das Fremde in diesem Zusammenhang eine grundsätzlich positiv gewertete Funktion.6 Repräsentativ ist der Diario jedoch auch für das 6
Vgl. dazu Frank Baasner: „En esta primera fase de la Ilustración todavía era posible abrirse a los progresos de Europa sin ser tachado automáticamente de traidor y mal patriota en España. Más tarde el conflicto se agudiza.“ (1991, 22)
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Medium Zeitschrift selbst, insofern ihm die soeben skizzierte aufklärerische Grundhaltung und die damit verbundene volkspädagogische Aufgabe staatlicherseits vorgegeben sind – als Bedingung für die unerlässliche politische Duldung bzw. Protektion, ohne die kein journalistisches Projekt dieses Zuschnitts Aussicht auf Erfolg hätte. Im Folgenden soll in drei Schritten jeweils anhand einer These dargelegt werden, wie sich unter den Voraussetzungen des jungen Mediums Zeitschrift die kritische Einstellung zur kulturellen Tradition mit dem neuen Konzept der Nation verbindet. Im ersten Abschnitt wird die These aufgestellt, dass die Zeitschrift, genauer der im Diario de los literatos vorliegende Typus des Gelehrtenjournals,7 und die Gattung Rezension, die kritische Besprechung, als Foren aufklärerischer Identitätsverhandlungen dienen. „Identität“, verstanden als eine bedeutsame Form der Zuschreibung, die sich an der Leitdifferenz Eigenes/Fremdes orientiert, wird darin zum Gegenstand einer prozesshaften Abwägung zwischen traditionellem und neuem Wissen gemacht.8 Anschließend werde ich zeigen, dass nationale und kulturelle Identität transdiskursive Konzepte sind, die sich quer durch die Rezensionen aus unterschiedlichen Wissensgebieten ziehen. Im Mittelpunkt des letzten Abschnitts steht schließlich die These, dass der kritisch-aufklärerische Rekurs auf die Nation von den Herausgebern des Diario auch als Legitimations- und Machtstrategie zur Verteidigung und Durchsetzung ihrer Positionen eingesetzt wird.
B)
MEDIUM UND GATTUNG ALS FOREN AUFKLÄRERISCHER IDENTITÄTSVERHANDLUNGEN
Harald Weinrich hat in seiner Kulturgeschichte des Zeiterlebens Knappe Zeit. Kunst und Ökonomie des befristeten Lebens, inspiriert von Hans Blumenbergs bekannten Überlegungen zum Verhältnis von Le-
7
Vgl. zur Typologisierung der zeitgenössischen Presseerzeugnisse Urzainqui (1995, 144-171). 8 Auf mögliche Berührungspunkte mit dem Begriff der „Verhandlung“ („negotiation“), wie er im Rahmen des New Historicism bzw. der Poetics of Culture gebräuchlich ist, wird noch an späterer Stelle zurückzukommen sein.
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benszeit und Weltzeit, den Begriff „hippokratische Zeitschere“ (2004, 16) geprägt.9 Gemeint ist die spätestens seit der Antike als Provokation für das Bewusstsein empfundene Diskrepanz zwischen der Kürze des menschlichen Lebens und der Fülle des möglichen Wissens, wie sie in dem meist auf Lateinisch zitierten Aphorismus des Hippokrates, einem Zeitgenossen des Sokrates, zum Ausdruck kommt: „Vita brevis, ars longa“. Dabei ist „ars“ (téchné im griechischen Text), wie Weinrich in Erinnerung ruft, im vormodernen Verständnis mit Wissen und Wissenschaft im Allgemeinen gleichzusetzen und daher auch weitgehend synonym mit der in Spanien noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts vorherrschenden Bedeutung von „literatura“ als „totalidad del saber, el conjunto de todas las letras y ciencias“ (Álvarez de Miranda 1992, 439). Für die Träger dieses Wissens wird die – zumindest in Teilaspekten „moderne“ – Sammelbezeichnung „literatos“ verwendet, die uns auch im Titel der Zeitschrift Diario de los literatos begegnet.10 Der Begriff der „hippokratischen Zeitschere“ verdient hier vor allem deswegen Erwähnung, weil die Herausgeber des Diario ihr Zeitschriftenprojekt mit einer beeindruckenden mediengeschichtlichen Reflexion einleiten, in der sie die kulturelle Funktion des zu dieser Zeit in Spanien noch neuen Mediums Zeitschrift mit eben der Erfahrung in Verbindung bringen, auf die sich Weinrich bezieht. Nur wird in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch in Spanien die anthropologische Primärerfahrung der Zeitknappheit nicht mehr vor dem Hintergrund der antiken stoischen und epikuräischen Philosophie oder des christlich-barocken desengaño gedeutet, sondern im Rahmen eines frühaufklärerischen Fortschrittsdenkens, das von der Skepsis 9
Siehe auch das gesamte zweite Kapitel „Kurz ist das Leben, lang ist die Kunst“ (2004, 15-20). Mit dem Begriff der „Weltzeit“ wählt Blumenberg jedoch einen Gegenbegriff, der einen weitaus größeren Abstand zur Lebenszeit voraussetzt als die „lange Zeit“ der Kunst und Wissenschaft, die Weinrich im Auge hat (vgl. Blumenberg 1986 und darin insbesondere den zweiten Teil „Öffnung der Zeitschere“). 10 Vgl. Álvarez de Miranda: „En correspondencia con la amplitud y el prestigio que se concede a la literatura, va a surgir en el siglo XVIII la nueva figura del literato, de no menor alcance que aquella voz en cuanto a la variedad de saberes que comprende. No hay duda de que a su difusión debió de contribuir en gran medida la publicación, entre 1737 y 1742, del Diario de los literatos de España“ (1992, 441) sowie zum Neuigkeitswert des Wortes das gesamte Kapitel „La figura del ‘literato’. Otros parientes léxicos. La ‘República Literaria’“ (441-448).
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gegenüber tradiertem Buchwissen, von der Öffnung für experimentelle Daten und der Erfahrung des damit einhergehenden Wissenszuwachses sowie von speziellen Nützlichkeitserwägungen geprägt ist. Die Zeitschrift erscheint in diesem Kontext als das ideale zeitgemäße Medium, um die Kluft zwischen der unvermeidlichen Begrenztheit der menschlichen Kapazitäten („lo limitado de las fuerzas intelectuales“) und des Lebens („la brevedad de la vida humana“) einerseits und der potenziellen Unbegrenztheit des Wissens andererseits („la extension de las Artes, y Ciencias“) zu überwinden. So gelingt es wenigstens, „die allzu lange Kunst zu kürzen“ (Weinrich 2004, 19), wenn sich schon das Leben selbst nicht verlängern lässt: Entre las virtudes del Siglo passado, se veneran por mas utiles à la Republica de las Letras la humildad de reconocer lo limitado de las fuerzas intelectuales, para la instruccion universal, à que naturalmente aspira el entendimiento humano, y la solicitud de los medios que la facilitan, felicissimamente logrados en la institucion de los Diarios, ò Jornales. La brevedad de la vida humana, y la extension de las Artes, y Ciencias, demuestran la necessidad de esta invencion, intimimandonos, como precisa ley, que si vivimos por compendio, tambien por compendio debemos ser instruidos. (1, „Introducción“ [1])
Wie man sieht, argumentieren die Herausgeber ganz im Sinne des anthropologischen Medienbegriffs Herbert Marshall McLuhans, der Medien als Prothesen des Körpers, als „extensions of man“ begreift, wie der Untertitel seines Klassikers Understanding Media von 1964 programmatisch lautet. Aus einer solchen medienanthropologischen Perspektive dient das Medium Zeitschrift dazu, die Defizite des Mängelwesens Mensch zu kompensieren, und zwar – so ist diese allgemeine Funktionsbestimmung zu präzisieren – in einer konkreten historischen Situation, die durch ein rapides Anwachsen, eine fortschreitende Spezialisierung und ein beschleunigtes Altern des Wissens gekennzeichnet ist. Unter diesen Bedingungen ermöglicht die Zeitschrift als Selektionsmedium, dem Gebot der historischen Stunde und einer Grundintention der Aufklärung folgend, ein ökonomisch vernünftiges Abwägen zwischen nützlichem und nutzlosem Wissen. Wie die Herausgeber des Diario hervorheben, löst das Medium Zeitschrift aber nicht nur Zeit-, sondern auch Distanzprobleme, indem
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es Interaktionen koordiniert, die auf Grund des gesellschaftlichen Wandels immer unwahrscheinlicher werden: Zum einen sollen die auseinanderstrebenden, zunehmend spezialisierten und ihrer eigenen Logik folgenden Wissensgebiete der Theologie, Philosophie, Religion, Medizin, Wirtschaft, Geschichte, Geographie, der schönen Künste usw. noch einmal in einen übersichtlichen Zusammenhang gebracht werden.11 Zum anderen sollen die im In- und Ausland verstreuten Wissensquellen – Einzelpersonen und Institutionen – in einer Weise vernetzt werden, die von mehr oder weniger kontingenten persönlichen Kontakten, seien es Studienaufenthalte, wissenschaftliche Briefwechsel oder gelegentliche Besuche, unabhängig macht. Über die Gründe für die Einstellung des Diario nach dem Erscheinen des siebten, das dritte Quartal des Jahres 1738 erfassenden Bandes im Februar 1742 ist viel spekuliert worden. Argumentiert wurde unter anderem mit dem zu hohen Preis, der unsicheren Finanzierung, dem zu kleinen Leserkreis, der mangelnden Unterstützung durch die Krone, dem Einfluss der Zensur, der wachsenden Zahl der Gegner unter den kritisierten Autoren, denen das neue Paradigma des kritischen Zeitschriftenjournalismus fremd blieb, und nicht zuletzt mit persönlichen Feindschaften.12 Es ist aber sicher nicht ganz verfehlt anzunehmen, dass das Projekt auch ein Opfer der „hippokratischen Zeitschere“ geworden ist. Der Aktualitätsdruck und der Spezialisierungsgrad des Wissens übersteigen die physischen und intellektuellen Kräfte der Herausgeber, wie sie im Vorwort des siebten und letzten Bandes offen gestehen: „una fatiga tan grande como la nuestra no puede condecir para una delicadeza, qual la desean los que no tienen atormentada la cabeza, como nosotros, con un estudio tan continuo, y tan vario; y lo que es peor, con el disgusto casi intolerable de leer malos Libros“ (7, „Prólogo“, [10f.]). Während die Jesuitenpatres in Trévoux eine sorgfältige Auswahl treffen und sich bei der Arbeit Zeit lassen könnten, seien sie selbst einer knappen 11
Diese Funktion war nach Jürgen Wilke schon dem gattungsprägenden Journal des Sçavans zugedacht: „Auszüge und Zusammenfassungen von Büchern machten die Zeitschrift zu einem Selektionsmedium, das angesichts einer zunehmenden Spezialisierung noch einen Überblick über die Vielfalt wissenschaftlicher Erkenntnisse zu vermitteln suchte.“ (2000, 73) 12 Vgl. u. a. Castañón Díaz (1973, 67-107), Ruiz Veintemilla (1980, 655-659; 1987, 7380, 93-97) und Guinard (1973, 73-76; 1994, 134).
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Dreimonatsfrist unterworfen und sähen sich gezwungen, auch Bücher, die es im Grunde nicht wert seien, zu rezensieren. Der polyhistorischenzyklopädische Anspruch hat sich zumindest in dieser Form der auf wenige Schultern verteilten und dennoch universal angelegten Rezensionstätigkeit überlebt. Von ihren eigentlichen Adressaten, den „literatos“, „sabios“ und „eruditos“ werden die Redakteure als fachlich kompetente Kritiker nicht mehr ernst genommen. Und ein anderes, nichtgelehrtes Publikum, wie es etwa der von den Herausgebern hoch geschätzte Pierre Bayle, „el famoso Bayle“ (Bd. 1, „Introducción“, [3]), mit seinen zwischen 1684 und 1687 monatlich erscheinenden Nouvelles de la république des lettres anvisierte, ist in Spanien mit einer Publikation wie dem Diario de los literatos (noch) nicht zu erreichen.13 Die Selektion und Koordination des Wissens ist jedoch nicht die einzige Funktion des Mediums Zeitschrift. Eine zweite, nicht weniger bedeutende Funktion besteht darin, an der Verbreitung und Durchsetzung des neuen Konzepts der Nation mitzuwirken. Das geschieht in diesem Fall gleich in mehrfacher Weise, denn der Diario de los literatos de España ist sowohl Teil eines umfassenden Nationalisierungsprozesses als auch Produzent einer bestimmten Vorstellung der Nation und Träger eines nationalen Diskurses, innerhalb dessen er nicht zuletzt selbst zum Thema wird. Anders ausgedrückt: Der Diario ist Element eines „Dispositivs“ der Nation, in dem sich, wie man im Anschluss an Michel Foucault sagen könnte, diskursive und nicht-diskursive Prak-
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So berichtet Bayle in einem Brief nach Amsterdam vom 18. Juni 1864 in Bezug auf das von ihm ins Auge gefasste Publikum: „Mais, Monsieur, il faut savoir que plusieurs personnes, & sur tout de Paris, m’ont puissamment exhorté à ne point faire mon Journal uniquement pour les Savans. Ils m’ont dit qu’il faut tenir un milieu entre les Nouvelles de Gazettes, & les Nouvelles de pure Science; afin que les Cavaliers & les Dames, & en général mille personnes qui lisent & qui ont de l’esprit sans être savans, se divertissent à la lecture de nos Nouvelles.“ (1968, 610f.) Den Hinweis auf das Zitat entnehme ich Treskow (2002, 6). Siehe zum beschränkten Leserkreis des Diario neben Urzainqui (1995, 204f.) vor allem die Auskünfte bei Guinard: „des lettrés (ecclésiastiques et laïques), le petit monde de la Bibliothèque royale, des Conseillers royaux, des couvents; [...] et si [...] on estime à 1000 ou 1500 exemplaires le tirage du Diario de los literatos, on peut conclure que, selon toute vraisemblance, le nombre de ses acheteurs, sinon de ses lecteurs, restait très en-dessous de ces chiffres, et n’arrivait peut-être pas à 500. Ajoutons qu’en l’absence de tout système d’abonnement, leur clientèle devait être essentiellement madrilène.“ (1973, 73)
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tiken (Institutionen, politische Strukturen, private Interessen usw.) verschränken (vgl. Fink-Eitel 1989, 80). Die Herausgeber des Diario verstehen ihre Zeitschrift zunächst als spezifischen Beitrag zu einem breit angelegten nationalen Projekt. Nach außen geht es ihnen darum, Spanien auf das kulturelle Niveau derjenigen zu erheben, die am wechselseitigen Austausch zwischen den gebildeten Nationen teilhaben („el reciproco comercio literario con las Naciones cultas“, 1, „Al Rey“, [6]). Spanische Bücher sollen kein marginales Dasein mehr im Anhang ausländischer Publikationen führen, sondern über ein eigenes Forum verfügen, das es sich selbstbewusst erlauben kann, seinerseits die Ankündigung ausländischer Erzeugnisse in einen oder mehrere resümierende Artikel am Schluss zu verbannen. Die identitätsstärkende Umkehrung der bislang gültigen Hierarchie wird mit dem apologetischen Motiv begründet, dass die spanische Kultur durchaus konkurrenzfähig sei: „en España se han escrito Libros muy dignos de ser conocidos, y celebrados“ (7, „Prólogo“, [5]). Nach innen stellen die Herausgeber ihr Vorhaben, wie sie in der Widmung an den König ausdrücklich betonen, in eine Reihe mit anderen kulturellen Institutionen, die unter der Herrschaft Philipps V. im Zuge der bourbonischen Reformpolitik gegründet wurden: die Real Biblioteca (1713) und die Real Academia Española (1713), die Sociedad Médica de Sevilla (1701), das Seminario de Nobles (1716) und die Universidad de Cervera (1717) (1, „Al Rey“, [10]). Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich in den einzelnen Rezensionen dann auch nur positive Einschätzungen der Akademien und ihrer Tätigkeit finden. So wird etwa, um nur ein einziges Beispiel zu nennen, die Real Sociedad de Sevilla als „tan famosa entre las mas ilustres Academias de la Europa“ (1, XIV, 191f.) bezeichnet.14
14
Vgl. auch Bd. 2, II, 101ff.; VI, 158; XI (über den fünften Band des von der Real Academia herausgegebenen Diccionario de la lengua castellana); XVIII, 284 usw. Die kulturelle Leistung Philipps V. wird von der Geschichtswissenschaft unterschiedlich bewertet. Siehe dazu den informativen und ausgewogenen Überblick von García Cárcel (2002a) sowie Kamen (2001, 232) und Mestre (2003, 95-118).
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Daneben bringt aber auch die Zeitschrift als Medium an sich schon eine bestimmte Vorstellung der Nation hervor. Diese Feststellung verlangt allerdings nach einer Präzisierung. Als Gelehrtenjournal reagiert der Diario de los literatos nämlich nicht nur auf die funktionale Differenzierung der Gesellschaft, er ist selbst das Produkt einer Ausdifferenzierung der sich in Spanien in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts institutionalisierenden neuen Kommunikationsform Zeitschrift, die allerdings noch weit davon entfernt ist, ein Mittel der Massenkommunikation zu sein (vgl. Sánchez Aranda/Barrera del Barrio 1992, 49f.). Anders als bei den Publikationen politisch-offizieller Prägung wie der Gaceta de Madrid, deren Vorläufer, wie eingangs erwähnt, bereits seit 1661 erscheinen, oder des seit 1738 herausgegebenen Mercurio histórico y político, ist die „imaginäre Gemeinschaft“, die der Diario stiftet, in erster Linie nicht die Nation, sondern ein spezifischerer Handlungs- und Wissensraum: „la Republica Literaria Española“ (1, XIV, 231).15 Die nationale Gelehrtenrepublik zeichnet sich durch einen gewissen Abstand zur politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit des Landes aus. So betonen die diaristas zum Beispiel, dass sie von der Sitte des chichisbeo aufgrund ihres „retrahimiento literario“ (4, XV, 285) erst spät erfahren hätten.16 Trotz dieser betonten Gesellschaftsferne wird die Gemeinschaft in der Gemeinschaft, an die sich der Diario richtet, auf einen Kanon abstrakter kultureller Werte eingeschworen – Nützlichkeit, Fortschritt, Tugend, Vernunft, Richtigkeit, Klarheit usw. –, deren oberste Legitimationsinstanz und eigentlicher Nutznießer wiederum die Nation als Ganzes ist.17 Mit dieser Entwicklung ist zu-
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Vgl. zur (mutmaßlichen) Wirkung der offiziellen Nachrichtenorgane Francisco Sánchez-Blanco: „El efecto inmediato de las gacetas sobre la conciencia individual consiste en dotar a ésta de un horizonte cosmopolita o al menos nacional, que rompe el círculo familiar y el marco de la problemática local.“ (1999, 281) 16 Das hindert den Autor dieses Artikels – es ist wahrscheinlich Salafranca – nicht daran, seine Kritik an der unter dem Namen „Abad de Cenicero“ erschienenen Impugnacion Catholica, y fundada, à la escandalosa moda del Chichisveo (1737) doch noch mit einer interessanten und kenntnisreichen Sittenschilderung zu verknüpfen (4, XV, 283-340). Jesús Castañón urteilt über diesen Artikel: „Para mi juicio, es el artículo de lectura más agradable de todo el Diario, y demuestra las altas dotes literarias de su autor.“ (1973, 217) 17 Vgl. zu diesem für die zeitgenössische Presse insgesamt charakteristischen Zug Urzainqui: „Otro elemento aun más acusado que preside la mentalidad del periodista
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gleich auch die humanistische Vorstellung einer Gelehrtenrepublik transnationalen Zuschnitts an ihr Ende gelangt.18 Was die Zeitschrift als Medium leistet, leistet die Gattung der Rezension in engerem Rahmen.19 Die Rezension ist der konkrete Ort, an dem durch die Auswahl, Bewertung und Verbreitung von Wissen die Grundlinien aufklärerischer Identität, aber auch die Form der Rezension selbst verhandelt werden. Das wird durch die Tatsache unterstrichen, dass man in der frühen Aufklärung auf das Modell der Rechtsprechung zurückgreift, um die neue Gattung und die noch ungewohnte Handlungsrolle des Kritikers zu beschreiben, bevor später andere Modelle, „vom sachkundigen Kritiker, Freund, Diener und Bewunderer des Autors zum kongenialen Experten und Mitglied einer elitären literarischen Assoziation“ (Schmidt 1989, 373), an dessen Stelle treten. So fallen zum Beispiel in einem Leserbrief des Akademiemitglieds und königlichen Leibarztes Francisco Fernández Navarrete, der sich bei den Herausgebern des Diario über die Härte der im sechsten Band geübten Kritik beklagt, die Ausdrücke „tribunal“, „ley“ und „sentencia“ (7, VIII, 179).20 Darüber hinaus kommt die publizistische Gattung der nicht bloß referierenden und informierenden, sondern kritisch wertenden Rezension – von den Mémoires de Trévoux wurde diese Neuerung im Jahr
de la época, es la convicción de estar contribuyendo decisivamente al progreso de la nación. Todos se presentan animados de un insobornable celo patriótico y deseosos de prestar un importante servicio a la sociedad y a la cultura.“ (1995, 178) 18 Vgl. dazu Siegfried Jüttner: „Unter der Dynamik des kapitalisierten Buchmarktes bricht die Idee der humanistischen Gelehrtenrepublik auseinander, um sich unter dem öffentlichen Druck einer patriotischen Wissenschaftspresse, die sich im Horizont des aufgeklärten Absolutismus explizit als Institution staatlicher Kulturförderung begreift, zu nationalen Wissensräumen politisch neu zu organisieren.“ (2008d, 55) 19 Es gibt zwar Gesamtdarstellungen der Geschichte der spanischen Presse und Literaturkritik, eine gattungsbezogene Geschichte der Rezension existiert meines Wissens aber nicht. Auch für Deutschland gilt, dass „die Geschichte der Rezension noch nicht einmal in Ansätzen geschrieben“ ist, wie Astrid Urban in ihrer Studie Die Gattungsgeschichte der Rezension von der Spätaufklärung bis zur Romantik anmerkt (2004, 7). Aus der Perspektive der Textsortengeschichte untersucht Claudia Polzin-Haumann ausgewählte Rezensionen des Diario (2008). 20 Neben der Rechtsprechung sind es die Bereiche Krieg und Ehrenhandel (vgl. Witthaus 2008), deren sich die diaristas zur Beschreibung ihrer Rolle als Literaturkritiker bedienen.
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1712 eingeführt (Ruiz Veintemilla 1987, 71f.) – auch einer Beschreibung mit Hilfe des vom New Historicism geprägten Begriffs der „Verhandlung“ als einem elementaren kulturellen Prozess in besonderer Weise entgegen. Aus dieser Sicht stellt sich eine Rezension dann als Text dar, in den Wissen aus fremden Diskursen einfließt, nach bestimmten, nicht zuletzt gattungsspezifischen Vorgaben verarbeitet und reguliert wird und von dort aus in veränderter Form wieder in andere kulturelle Zusammenhänge zurückgelangt (vgl. Greenblatt 1988, v. a. 1-20). In einem davon zu unterscheidenden, auf die historische Beschränkung des Sagbaren bezogenen Sinn bescheinigt der französische Aufklärungsforscher Jean Sgard der Presse im 18. Jahrhundert insgesamt Verhandlungscharakter. Verhandeln bedeutet bei Sgard im Wesentlichen die Bereitschaft bzw. Notwendigkeit, sich auf Kompromisse einzulassen und auf Extrempositionen zu verzichten. Da Staat und Religion den Spielraum der Presse eng begrenzen, sei sie auf ein vermittelndes Vorgehen angewiesen: „elle tend plutôt à négocier le progrès, à concilier l’innovation et la tradition“ (1997, 631). Schon die Herausgeber des Diario weisen ausdrücklich auf diese auch und gerade für sie maßgeblichen Diskursgrenzen hin: „Pero debemos prevenir, que no podrèmos observar la dicha indiferencia en las materias que se opusieren à la Religion, à las buenas costumbres, ò al Estado“ (1, „Introducción“, [16]). Im Einzelnen setzen sich die Rezensionen des Diario aus zwei Elementen zusammen, dem „extracto“ und dem „juicio“, der Wiedergabe eines Werks in Auszügen und seiner kritischen Beurteilung. Damit erfüllt sich, so Werner Krauss, „der Doppelzweck einer jeden Aufklärungsrezension“ (1996, 449). Ein drittes Element bilden die „circunstancias“, die Begleitumstände einer Veröffentlichung, die allerdings nur bei besonderen Anlässen zur Sprache kommen und noch dazu meistens den Werken selbst entnommen sind. Mal ist die Rede von der schweren Krankheit und wundersamen Heilung eines Übersetzers, mal von einer unfreiwilligen Titeländerung (1, XVI, 238f. und 2, XII, 203f.). Es ist schade, dass diese Passagen so selten sind, denn gerade sie vermitteln dem heutigen Leser ein eigentümliches Gefühl der Präsenz der Vergangenheit. Was die Gattung Rezension zu einem privilegierten Ort der Identitätsverhandlung macht, sind einige grundlegende Eigenschaften, die
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sich nicht zuletzt aus der Anbindung an das periodisch erscheinende Medium Zeitschrift ergeben: „die Offenheit der Form, der Gesprächscharakter und die Vielfalt der intertextuellen Bezugsmöglichkeiten“ (Urban 2004, 234). In den Rezensionen des Diario kommt dieses dialogische Prinzip in ganz besonderer Weise zum Tragen, denn die Herausgeber lassen die rezensierten Texte selbst zum Teil ausführlich zu Wort kommen.21 Außerdem räumen sie den Autoren der rezensierten Werke nach dem Vorbild der Mémoires de Trévoux das Recht ein, die abgedruckten Textpassagen selbst auszuwählen. Und schließlich erklären sie sich sogar dazu bereit, eventuelle Antworten zu berücksichtigen, die dann ihrerseits wieder zu einer Reaktion seitens der diaristas herausfordern. Den Lesern wird dadurch ein zweifaches, ein aktives und ein passives, Rollenangebot gemacht: Einmal wird ihnen die Rolle eines Mitarbeiters und Verhandlungspartners nahe gelegt und dann werden sie potenziell in eine für das didaktisch-aufklärerische Schrifttum insgesamt typische Position gebracht, nämlich die eines Richters, der sich über den Verlauf und den Ausgang der Verhandlungen ein eigenes Urteil bilden kann.
C)
NATIONALE UND KULTURELLE IDENTITÄT ALS TRANSDISKURSIVE KONZEPTE
Das Medium Zeitschrift und die Vorstellung der Nation zeichnen sich, abgesehen von dem Umstand, dass es sich um historisch neue Erscheinungen handelt, noch durch eine weitere Gemeinsamkeit aus, weshalb sie sich auch gegenseitig in ihrer Wirkung verstärken: Sie dienen der Kompensation und zugleich der Legitimation der sich im fraglichen Zeitraum vollziehenden gesellschaftlichen Veränderungen. Um zu verstehen, wie die Konzepte der nationalen und kulturellen Identität dieser Aufgabe gerecht werden, erscheint es sinnvoller, sie in ihrer Eigenschaft als diskursübergreifende bzw. transdiskursive Kon21
Der Begriff des „Dialogischen“ bzw. der „Dialoghaftigkeit“ wird hier im Anschluss an Manfred Pfister, der sich seinerseits auf die Studie „Dialog und Monolog“ von Jan Mukařovský (1967) bezieht, nicht nur als Vorhandensein zweier Redesubjekte, sondern auch als semantische Polarität oder Spannung zwischen unterschiedlichen Standpunkten (Kontexten) definiert (1988, 180-185), wie sie im Aufeinandertreffen von kritisiertem Text und Rezensentenkommentar in den Artikeln des Diario in vorbildlicher Weise gegeben ist.
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zepte zu sehen, anstatt sie als separate Diskurse zu behandeln, die aus der Menge der vorhandenen Texte zu abstrahieren wären, obwohl sie sich in dieser Form auch ohne Weiteres darstellen ließen. Sie als transdiskursive Konzepte zu betrachten, bedeutet hingegen, die Tatsache in den Vordergrund zu rücken, dass sie sich wie ein Filter quer durch die Rezensionen aus den unterschiedlichsten Wissensgebieten ziehen.22 In der Folge kommt es nun ganz darauf an, wie dieser Filter justiert ist bzw. wie die Identität kodiert wird. Im Diario de los literatos ist der Filter prinzipiell logozentrisch und nicht ethnozentrisch eingestellt. Er scheidet vorrangig das Vernunft- und Fortschrittswidrige aus und nicht das kulturell Fremde. Im Vordergrund steht die Stärkung des Eigenen, nicht die Abwertung des Anderen.23 Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass die Imitation ausländischer Modelle und Errungenschaften, zu denen ja auch der Typus des Gelehrtenjournals selbst zählt, grundsätzlich positiv gewertet wird.24 Den eindrucksvollsten und differenziertesten Beleg für eine solche Haltung bietet aber das „Exempel“, das sich im Vorwort des sechsten Bandes findet. Die Herausgeber präsentieren hier ihren eigenen aufklärerischen Bildungsgang im Stil einer säkularisierten Heiligenvita, die sie selbst als vorbildliche Produkte eines gelungenen Erfahrungsund Erkenntnisprozesses erscheinen lässt. In der Vertrauen erweckenden, zur Identifikation einladenden „Wir“-Form erzählen sie, wie der
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Ein ebensolches transdiskursives Konzept, wenngleich spezifischerer Art, ist auch der „buen gusto“, weil die diaristas den Geschmacksbegriff im Rahmen ihrer selbst gewählten nationalen Erziehungsaufgabe auf artes und ciencias gleichermaßen anwenden. Vgl. zur Bedeutung dieses Begriffs in der Anwendung auf die Naturwissenschaften Tomsich: „El buen gusto es el detectar en los propios y ajenos tratados eruditos, los fallos y las desviaciones de la razón.“ (1978, 53) und Jacobs: „Der buen gusto bezeichnet die Erkenntnis der Natur und ihrer Gesetze durch eigene Beobachtung und naturwissenschaftliche Experimente. Er ist die Aktivität des kritischen Geistes, der das durch das induktive Erkenntnisverfahren Richtige, das sich durch Experimente und eigene Beobachtung als exaktes Wissen nachweisen läßt, erkennt und von den Irrtümern zu unterscheiden weiß, die durch das scholastische Wissenschaftssystem der Textgläubigkeit tradiert und perpetuiert worden sind.“ (1996, 293f.) 23 Die Terminologie folgt den in der Einleitung zitierten Definitionen von Bernhard Waldenfels (1997, 150f.) und Karl-Heinz Kohl (2000, 30). 24 Vgl. zum Einfluss ausländischer Modelle auf die spanische Presse des 18. Jahrhunderts insgesamt Urzainqui (1991).
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mit allen Landsleuten geteilte Schulbesuch ihren Sinn für die spanische Tradition weckte und sie als erstes die eigenen Schriftsteller schätzen lehrte. Später machte die Lektüre der „Autores modernos“ neugierig auf das bis dahin verachtete Fremde. Die vom Richtmaß der Vernunft gebilligte Erfahrung des Fremden, die Aneignung anderer Sprachen, unbekannter Fertigkeiten und neuen Wissens öffnete ihnen dann auch die Augen für das Fremde im Eigenen und half ihnen, die Unzulänglichkeiten der eigenen Erziehung und Ausbildung zu erkennen. Daraus folgte am Ende der Entschluss, ihre ganze Kraft der Aufklärung ihrer Landsleute zu widmen, und zwar mit Hilfe des neuen Mediums Zeitschrift, auf das auch der im folgenden Zitat gebrauchte Ausdruck „esta Invencion“ gemünzt ist: En las mismas Escuelas nos educamos que todos nuestros Patricios, y de ellas salimos casi con las mismas aprehensiones, ò preocupaciones; de fuerte, que nos interessabamos como todos en la estimacion de nuestras costumbres Españolas literarias, nos dexabamos ocupar de la admiracion de nuestros Escritores, ò leìamos qualquier Libro como necessario para nuestra enseñanza, y pensabamos baxamente de los Estrangeros, pero deseosos de informarnos de todo comenzamos à leer los Autores modernos; y esta curiosidad nos excitò el ansia de saber algunos idiomas, y algunas Artes, y Ciencias estrañas à nuestro estado, aunque no à nuestra alma racional; y à esto se siguiò el conocer la infelicidad de nuestra crianza, y la perdicion de quantos nos imitan en ella. Con este conocimiento lastimados del daño propio, y ageno, propusimos aplicar nuestras fuerzas à desengañar nuestros Patricios por medio de esta Invencion, que governada con mayor fortuna entre los Estrangeros, no ha dexado de ser perseguida con satyras, y otras hostilidades, como saben los Eruditos; pero con la proteccion de sus soberanos ha subsistido con general estimacion. (6, „Prólogo“, XLIf.)
Die in dieser Passage dominierende Ethos-Strategie zeugt nicht nur von der rhetorischen Versiertheit und der didaktisch gefärbten Überzeugungsabsicht der Herausgeber, sie führt auch noch einmal in aller Deutlichkeit eine epistemologische Grundhaltung vor Augen, die gleichsam selbstverständlich von der Nachrangigkeit kultureller Alteritätserfahrungen („estrañas à nuestro estado“) gegenüber einer universal gesetzten Vernunft („aunque no à nuestra alma racional“)
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ausgeht. Das Fremde wird primär unter dem Aspekt des Neuen wahrgenommen, das dem ersehnten Fortschritt die Richtung vorgeben soll. Dabei kommt in den Worten der Herausgeber exemplarisch die doppelte Funktion zum Ausdruck, die dem Kontakt mit dem Fremden im aufklärerischen Diskurs üblicherweise zugewiesen wird: Soweit dieser Kontakt dazu beiträgt, die Missstände im eigenen Land zu erkennen, erfüllt er eine epistemische Funktion; indem er zu Initiativen anregt, um diese Missstände zu beseitigen, etwa mit Hilfe der Gründung einer Zeitschrift, avanciert er darüber hinaus zur gesellschaftsverändernden Kraft.25 Mit dem Hinweis auf die uneingeschränkt positiv bewertete Neugierde („curiosidad“), die mit dem Wissensdrang schlechthin („el ansia de saber“) gleichgesetzt wird, fällt ein weiterer Schlüsselbegriff aufklärerischen Denkens. Beachtenswert ist daran jedoch nicht allein die für die Aufklärungskultur allgemein charakteristische Um- und Aufwertung der Neugier von der religiösen Sünde zur intellektuellen Tugend, sondern insbesondere die Tatsache, dass sich die Neugier hier gezielt auf das kulturell Fremde richtet.26 Nicht zu übersehen ist allerdings, dass die Herausgeber des Diario mit der Zeit eine stärker ethnozentrische Haltung einnehmen, und zwar ganz offensichtlich in dem Maße, wie die Anfeindungen gegen ihre Arbeit zunehmen (vgl. Alborg 1993, 53-56). Diese Beobachtung ist deswegen von Bedeutung, weil sie als Indiz dafür zu werten ist, dass die nationalistischen Töne nicht einem tiefergehenden Sinneswandel entspringen, sondern taktisch motiviert sind. Die Herausgeber wollen
25
Nicht um das Fremde an sich geht es demnach, sondern um seine Instrumentalisierung. Siegfried Jüttner betont diesen Aspekt, indem er vom „nützlichen Fremden“ spricht: „Das Fremde ist hier von allem Anfang an Instrument der Modernisierung, der vermeintliche (technokratische) Nutzen für das Eigene, Filter der Selektion und Maßstab der Toleranz. Wer das nützliche Fremde zum Vorbild der Regeneration erhebt, kann Vernunft sagen und Macht meinen.“ (2008d, 50) 26 In Forners Oración apologética por la España y su mérito literario (1786) wird diese positive Einschätzung der „curiosidad“ wieder zurückgenommen werden (siehe dazu im nächsten Kapitel den Punkt 2. b). Vgl. zum semantischen Wandel von „curiosidad“ im 18. Jahrhundert Álvarez de Miranda (1992, 482-487) und zur Legitimierung der theoretischen Neugierde als geschichtlichem Grundzug der Neuzeit generell Blumenberg (1979) sowie den entsprechenden Eintrag im Historischen Wörterbuch der Philosophie (1984).
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damit den Vorwurf entkräften, unspanisch zu handeln und schlechte Patrioten zu sein. Hier kündigt sich bereits die Zementierung jenes sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verschärfenden doublebind-Konfliktes an, der für die Situation der spanischen Reformbewegung insgesamt kennzeichnend ist. Bekanntermaßen besteht dieser für ihre Gegner äußerst vorteilhafte, für die spanischen Aufklärer selbst jedoch prekäre Konflikt im Kern darin, dass sie es als Kritiker der Zustände ihres Landes jederzeit riskieren, als Vaterlandsverräter zu gelten, während sie als Verteidiger ihres Landes ständig Gefahr laufen, ihre aufklärerischen Ziele zu verraten.27 Die Verteidigungsstrategie der Zeitschriftenmacher besteht aus zwei Komponenten. Einerseits betonen sie ihren Patriotismus, indem sie die Notwendigkeit ihrer Kritik mit dem gefährdeten Wohl der Nation begründen und umgekehrt die ihnen selbst in ihrer Eigenschaft als Kritiker entgegengebrachte Kritik als Bestätigung für ihren Aufopferungswillen interpretieren. Andererseits verstärken sie die Perspektive auf die Vergangenheit der eigenen Kultur. Dazu zwei Beispiele: Um ihre Vorgehensweise zu rechtfertigen, greifen die Herausgeber im Vorwort des siebten Bandes auf die traditionellen spanischen Ehrbegriffe „honor“ und „honra“ zurück, die sich seit dem 15. Jahrhundert zum maßgeblichen System der Wertorientierung entwickelt hatten (vgl. Weinrich 1971): „Solicitamos, en fin, restablecer el honor antiguo tan celebrado de los Libros Españoles, y debemos preferir la honra de la Nacion, y la instruccion de la juventud à toda opinion loable, pero contraria à estos fines.“ (7, „Prólogo“, [11]) Die an dieser Stelle zu beobachtende Übertragung ursprünglich personaler Attribute wie der Ehre auf die abstrakte Einheit der Nation ist zugleich ein typisches Element der Nationenbildung generell.28 Das zweite Beispiel bezieht sich auf
27
Auch wenn man diese Umstände heute bedauern mag, sollte man darüber doch nicht vergessen, dass ohne den Begründungs- und Erklärungszwang, dem sich – um bei dem vorliegenden Fall zu bleiben – die Herausgeber des Diario ausgesetzt sahen, einige der Paratexte und Artikel, die zu den interessantesten und am meisten zitierten Teilen der Zeitschrift gehören, vermutlich gar nicht zustande gekommen wären. 28 Die Rede vom „honneur littéraire des peuples“, die sich in Carlo Giovanni Maria Deninas apologetischer Schrift Réponse à la question „Que doit-on à l’Espagne?“ aus dem Jahr 1786 findet (1992, 3), ist also nicht so neu, wie Julián Marías meint: „En este pasaje hay un concepto que creo nuevo y que me parece admirable: el del honor literario de
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den bereits erwähnten Leserbrief Francisco Fernández Navarretes. In ihrer Antwort an Navarrete sind sich die Herausgeber nicht zu schade, einen obskuren frühen spanischen Vorläufer für ihr Zeitschriftenunternehmen ausfindig zu machen. Schon im Jahr 1558 soll ein gewisser Luis Lemos, Professor aus Salamanca, die Idee dazu gehabt haben: „Luis Lemos, Cathedratico que fuè de Salamanca por los años de 1558, creyò necessario un Tribunal como el de los Jornales, ò Diarios, para limpiar de Libros malos las Republicas“ (7, IX, 184f.). Was hier vorliegt, ist ein Paradebeispiel für die etwas bemühte Konstruktion bzw. „Erfindung“ einer nationalen Tradition, an der aus der Sicht der Herausgeber in der Einleitung zum ersten Band offensichtlich noch kein Bedarf bestand – ebenso wenig wie an der jetzt als notwendig erachteten, vergleichsweise aggressiven Abgrenzung gegen das Ausland: „No quisieran los Estrangeros que huvieramos hallado esta invencion en España“ (7, IX, 185). Alles in allem vertreten die diaristas jedoch ein gemäßigtes Konzept der Nation, das eine große Nähe zur Gedankenwelt Benito Jerónimo Feijoos aufweist. In allgemeiner Form ist das schon von den Zeitgenossen immer wieder konstatiert worden. Den Herausgebern hat es bekanntlich den Vorwurf eingetragen, „Feyjonistas“ zu sein, wogegen sie sich detailliert zur Wehr setzten (siehe 5, VII, 326f.). Später ist die Geistesverwandtschaft zwischen Feijoo und den diaristas zu einem literaturgeschichtlichen Topos geworden, der sich jedoch in der Regel auf die kurze Erwähnung einiger offensichtlicher Parallelen beschränkt: das Insistieren auf der Volkssprache, die Instrumentalisierung der Rückstands- und Dekadenz-Diagnose, die Hochschätzung der modernen experimentellen Naturwissenschaften etc.29 Über diese bekannten Berührungspunkte hinaus manifestiert sich die Nähe zu Feijoo aber
los pueblos“ (Marías 1988, 49). Auch der Begriff „carácter nacional“, den Cadalso in seinen Cartas marruecas (1774) verwendet, und der Ausdruck „mérito literario“, der schon im Titel von Forners Oración apologética por la España y su mérito literario (1786) vorkommt, verdanken sich einer solchen Übertragung – ebenso wie die im Diario de los literatos sonst noch anzutreffende Rede vom „genio de nuestra Nacion“ (4, IX, 189) und vom „gusto de la Nacion“ (6, II, 63). 29 Eine reine Zitatensammlung, wie sie Jesús Castañón Díaz in seinem Aufsatz „Presencia y defensa del P. Feijoo en el Diario de los Literatos de España“ (1966) präsentiert, ist für den qualitativen Vergleich, der hier nötig wäre, nur von geringem Nutzen.
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auch in Bezug auf die Einstellung zur Nation. Ein kurzer Seitenblick auf Feijoos bereits im vorangegangenen Kapitel ausführlich behandelten Essay „Amor de la patria y pasión nacional“ aus dem dritten Band des Teatro crítico universal von 1729 vermag das zu verdeutlichen. Auch wenn er das Wort „nación“, anders als die Herausgeber des Diario, noch weitgehend in seinen traditionellen Bedeutungen verwendet, propagiert Feijoo doch von der Sache her bereits ein modernes Nationenverständnis, in dem der Gedanke der Verpflichtung des Einzelnen gegenüber dem Gemeinwesen im Mittelpunkt steht, getreu der Devise „amar y servir la república civil“ (1986, 257). Diese aufgeklärt-rationale Haltung wird von Feijoo, wie zu sehen war, gegen einen unverbindlichen Kosmopolitismus, der keine soziale und politische Bindung mehr kennt, aber auch gegen einen barocken Katholizismus verteidigt, der einer grundsätzlichen Verachtung des Diesseits das Wort redet. Am meisten warnt Feijoo jedoch, unter Berufung auf das von der Vernunft und der christlichen Ethik Gebotene, vor einer übertrieben patriotischen und nationalistischen Einstellung, der „pasión nacional“. Ganz im Sinne dieser von Francis Bacons Idolenlehre inspirierten Kritik Feijoos an den Vorurteilen und emotionalen Hemmschwellen, die einer richtigen Erkenntnis der Dinge im Wege stehen, sprechen auch die diaristas von der „dificultad que se encuentra en conocer quando nos dexamos engañar del amor à la Patria“ (2, I, 33). Das Feijoos Ansichten nahestehende Konzept der nationalen Identität, das in den Artikeln des Diario zum Tragen kommt, bestimmt auch die Art, mit der in den einzelnen Rezensionen das Verhältnis zwischen neuem und tradiertem Wissen geregelt wird. Je nach Wissensgebiet verlaufen diese Verhandlungen unterschiedlich. Am eingehendsten ist das bisher in den wenigen, auf die Literatur im engeren Sinne bezogenen Rezensionen untersucht worden, etwa Juan de Iriartes ausführlicher und abwägender Kritik an der Poética Luzáns zu Beginn des vierten Bandes (I, 1-113), nach Ansicht von Ruiz Veintemilla „el mejor artículo publicado por el Diario de los literatos“ (1987, 87), oder der unter dem Pseudonym Jorge Pitillas im siebten Band erschienenen „Satyra contra los malos escritores de este siglo“ (X, 192-214).30 30 Vgl. zu Iriarte Ruiz Veintemilla (1977) und zu Pitillas Ruiz Veintemilla (1978) sowie Castañón Díaz (1973, 175-180) und Krömer: „Vielfach sieht man als bestes
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Beide Beiträge zeichnen sich durch einen gewissen Kompromissoder, wenn man so will, Verhandlungscharakter aus, indem sie zwar für die neoklassizistische Poetik Partei ergreifen, dies aber – wie Iriarte – mit einer zumindest punktuellen Wertschätzung der barocken Tradition bzw. – wie Pitillas – mit einer Kritik am Einfluss der französischen Sprache verbinden.31 Nicht weniger aufschlussreich ist es, die überaus zahlreichen Artikel zu religiösen und theologischen Themen unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten. Die Hauptangriffsziele der Rezensenten auf diesem heiklen Gebiet sind erwartungsgemäß die barocke Kanzelrhetorik, die scholastische Bildungstradition und die Vorliebe für Wundererzählungen und Heiligenviten. Dabei ist festzustellen, dass die Verteidigung des modernen Wissenschaftsdiskurses den Respekt gegenüber traditionellen Äußerungsformen des Religiösen keineswegs ausschließt. So heißt es zum Beispiel über das Phänomen der Marienverehrung: „Es caracter de los Españoles“ (3, VI, 181). Statt diesen thematischen Komplex weiter zu verfolgen, mag es hier jedoch genügen, etwas näher auf die mit zwölf Seiten vergleichsweise kurze und auf den ersten Blick eher unauffällige Rezension eines Lehrbuchs der praktischen Medizin einzugehen, die sich im zweiten Band befindet.32 Was diese Rezension bemerkenswert macht, ist die hohe Konzentration von Motiven, die für das Diario insgesamt maßgeblich sind. Typisch ist diese Rezension aber auch durch die Art, wie noch das beiläufigste Detail als Zeichen für den Zustand der Nation interpretiert und als Exempel für die grundsätzliche Ausrichtung der spanischen Kultur behandelt wird.
Gedicht der 1. Jahrhunderthälfte die Satire von Pitillas an, die Gedanken der Poetik Boileaus enthält.“ (1968, 46) 31 Diese Kritik deckt sich mit den sprachpflegerischen Bemühungen der Herausgeber. Wie Alborg anmerkt, bleibt die Gattungsbezeichnung „Jornales“ davon jedoch ausgespart: „sic; los diaristas usan siempre este enorme galicismo para referirse a tales publicaciones“ (1993, 53). Vgl. zur Geschichte der Bedeutung von „gaceta“, „diario“, „jornal“ und „periódico“ Monjour (2008). 32 Vgl. zu den medizinischen Artikeln im Diario insgesamt Tomsich (1980) und zur medizinischen Literatur im 18. Jahrhundert allgemein das Kapitel „Hipocratismo y renovación de la clínica“ in Aguilar Piñal (1996, 975-979).
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Zunächst erhält der 402 Seiten lange Tirocinio Practico Medico-ChimicoGalenico aus der Feder des valencianischen Arztes Pasqual Francisco Virrey ein großes Lob, in dem sich der volkspädagogische Auftrag und der nicht-elitäre, durch Feijoo geprägte Bildungsbegriff der diaristas ebenso spiegeln wie die sich andeutende Dienstleistungsfunktion der neuen Literaturkritik, die den Leser nicht zuletzt bei seiner Kaufentscheidung beraten will: „El metodo con que està escrita esta obra, le tenemos por acomodado, y comprehensible para los principantes, y que no tienen muchos libros para estudiar“ (2, VI, 154). Dass das Werk nichts grundsätzlich Neues enthalte, wird zwar vermerkt, aber dem Autor nicht zum Vorwurf gemacht. Der Dank der Nation gebühre ihm schon allein deswegen, weil er sein Buch zum allgemeinen Nutzen „en Castellano“ (159) und nicht in dem für seinen Berufsstand prestigeträchtigeren Latein geschrieben habe, auch wenn die Klarheit mancher Formulierungen zu wünschen übrig lasse: „Estan sembradas por toda la obra muchas voces, cuya inteligencia la tenemos por mas dificil, que si fueran meramente Latinas.“ (160) Scharfe Kritik erntet der Verfasser dagegen für die Empfehlung einer magischen Heilpraktik – es geht um die Berührung einer kranken Stelle mit einem Stück Leichentuch –, die mit der Rationalitätsverpflichtung und der pädagogischen Verantwortung eines Universitätslehrers, aber auch mit dem christlichen Glauben unvereinbar sei (154-156). Als fortschrittsfeindlich verurteilt wird auch, wiederum im Einklang mit Feijoo, seine Ablehnung der Mathematik, ein Umstand, der den Rezensenten zu einer Reihe grundsätzlicher Bemerkungen veranlasst. Zwar sei die Mathematik in erster Linie für die Forschung („la especulativa“, 157) von Nutzen, aber ohne entsprechende Forschung gebe es auch keine Verbesserung der Praxis („la practica“, 157): „como sin esta no se puede adquirir perfectamente aquella, es forzoso decir, contribuye mucho para formar un Medico bien instruido, y con mayores luces que los vulgares.“ (157) Nur eine Neuorientierung der spanischen Kultur, die diesem Sachverhalt Rechnung trägt, könne die drohende internationale Isolierung auf Dauer in nationale Unabhängigkeit verwandeln: „Si nuestros Españoles aplicassen la perspicacia, y viveza de su ingenio al estudio de esta ciencia [las matemáticas], y a la Philosophia experimental, no tuvieramos necessidad de recurrir à los Maestros Estrangeros“ (158). Angesichts der vorbildlichen Arbeit der Akademien von Sevilla und Madrid bestehe allerdings Anlass zur Hoffnung: „Las
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Academias de Sevilla, y Madrid, estàn entregadas a este genero de estudios, con tanta felicidad, que nos prometen la total restauracion del buen gusto, y los adelantamientos mas importantes en la Medicina, y en la Physica“ (158) – ein Ziel, dem sich auch die diaristas selbst verpflichtet fühlen.33 Es bleibt nun noch, nach der Kehrseite dieser Zielsetzung zu fragen, das heißt nach den Aspekten, die von der vorgeblichen Sachorientierung der Rezensionen verdeckt werden.
D)
DER REKURS AUF DIE NATION ALS LEGITIMATIONS- UND MACHTSTRATEGIE
Inwiefern ist der Rekurs auf die Nation im Rahmen der Rezensionen als Legitimations- und Machtstrategie zu werten? Um eine Antwort auf diese Frage geben zu können, ist es zunächst nötig, sich noch einmal zu vergegenwärtigen, wie die Selbststilisierung der diaristas aussieht. Das Bild, das die Herausgeber des Diario de los literatos de España von sich und ihrer Aufgabe zeichnen, ruht im Wesentlichen auf zwei Säulen: Zum einen betonen sie ihre strikte Unparteilichkeit, Objektivität und Neutralität, deren stilistisches Korrelat die aus der rhetorischen Tradition stammende „urbanidad delicadissima“ (5, „Prólogo“, [7]) ist, die sie im Verhalten der Patres von Trévoux in vorbildlicher Weise verkörpert sehen. Zum anderen unterstreichen sie die Selbstlosigkeit und Uneigennützigkeit ihres Handelns, die bis zur demonstrativen Selbstverleugnung geht: „este methodo es muy perjudicial à nuestra salud, quietud, y otros bienes espirituales, y temporales; pero padecerèmos con gusto“ (6, „Prólogo“, XXXIX). Ihr oberstes Ziel lautet „servir à la patria“ (5, „Prólogo“, [5], passim) und „servir al publico“ (2, „Introducción“, [1]), und zwar: „sin interes ninguno“ (7, „Prólogo“, [8]). Die zahlreichen Gegner des Diario haben diese Form der Selbststilisierung als Ausdruck von Anmaßung, Überheblichkeit und Täuschung bzw. Selbsttäuschung interpretiert und einhellig verurteilt. Eine solche in-
33
Gleichzeitig bietet dieses Zitat noch einmal Gelegenheit, mit Pedro Álvarez de Miranda auf die weite Auslegung des Geschmacksbegriffs durch die diaristas hinzuweisen: „ningún texto muestra mejor que este del Diario de los Literatos el extremo a que había llegado la ampliación del concepto de buen gusto“ (1992, 503).
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dividuell-moralisierende Sicht musste jedoch für die eigentliche Funktion dieser Selbstdarstellung blind bleiben. In Wahrheit ist sie nämlich Teil des objektiven Begründungszwangs, den die neue Rolle des Literaturkritikers mit sich bringt. Der diarista, der das Handwerk der Kritik („el Arte Critica“, 6, „Prólogo“, X) ausübt, versteht sich nicht mehr als Sprachrohr bestehender Institutionen und auch nicht als Privatperson, die ihre Animositäten in den üblichen Schriftstellerfehden und Gelehrtenstreits austrägt. Der Kritiker ist deswegen jedoch noch lange nicht obdachlos. Die Instanzen, denen er sich jetzt unterstellt und in deren Namen er zu sprechen vorgibt, sind die Nation und das Publikum. Das ist mehr als bloße Rhetorik. Denn wer sich zu dieser Zeit auf die Nation beruft, nimmt de facto den mächtigen Schutz der absolutistischen Monarchie und ihrer Institutionen in Anspruch. Und wer sich durch das Publikum beglaubigt sieht, trägt zur Konstitution oder zumindest zur Konsolidierung einer Gemeinschaft bei, als deren Repräsentant er zu handeln behauptet und die zugleich sein Hauptadressat ist.34 Die Entscheidung der Herausgeber, auf eine namentliche Kennzeichnung ihrer Rezensionen zu verzichten – eine in der frühen Aufklärung in ganz Europa, allerdings vorwiegend aus Gründen der Zensur und des nötigen Selbstschutzes, durchaus gängige Praxis –, erhält in diesem Zusammenhang zentrale Bedeutung: Indem sie auf dem Prinzip der Anonymität beharren, unterstreichen die Herausgeber des Diario de los literatos die auf Vernunft und Regeln ge-
34
Wenn die diaristas von „público“ sprechen, betrifft das noch nicht die „öffentliche Meinung“ bzw. den Typ bürgerlicher Öffentlichkeit, dessen Entstehung etwa Jürgen Habermas in Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) beschrieben hat, sondern eine nicht näher bestimmte Leserschaft, die sich aber offensichtlich nicht auf den Kreis der Gelehrten beschränkt, aus dem das Publikum der Zeitschrift realiter besteht. Francisco Sánchez-Blanco erläutert die Bedeutung von „el público“ im Diario de los literatos folgendermaßen: „un conjunto indeterminado de individuos y de ningún modo como una élite o círculo reducido“ (1999, 285). Vielleicht ist es angebracht, an dieser Stelle noch einmal auf die im Grunde selbstverständliche Notwendigkeit hinzuweisen, zwischen den realen Lesern des Diario und dem von den Herausgebern im Rahmen ihrer Legitimationsrhetorik postulierten und imaginierten Publikum zu unterscheiden, dem man gewiss auch einen antizipatorischen Charakter unterstellen darf, insofern dieses Publikum erst noch entstehen bzw. geschaffen werden muss. Vgl. zur historischen Semantik von „público“ bzw. „opinión pública“ außerdem Hafter (1975) und Álvarez de Miranda (1992, 578-584, vor allem 583).
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gründete Verbindlichkeit ihres Urteils und die Überparteilichkeit ihrer Aufgabe; sie grenzen sich gegen den üblichen ad personam geführten Literatenstreit ab, auf den sie ihre Kritik nur allzu oft reduziert sehen; und sie verschaffen sich auf diese Weise den wertvollen strategischen Vorteil, persönliche Feinde oder auch nur Gegner in der Sache als Feinde und Gegner der Nation hinstellen zu können – so wie es ihnen umgekehrt seitens ihrer Gegenspieler auch immer wieder geschieht.35 Historisch aufschlussreich an der Auseinandersetzung zwischen den diaristas und ihren Gegnern ist die Tatsache, dass ihre Positionen, allen inhaltlichen Divergenzen zum Trotz, in einem entscheidenden Punkt konvergieren: Indem die Gegner des Diario das Engagement der Journalisten auf rein private Interessen zurückführen und diese wiederum derartige Unterstellungen als Angriff auf ihre Rolle als Diener der Öffentlichkeit und der Nation emphatisch zurückweisen, leugnen sie beide gerade jene Verschmelzung privater und öffentlicher Interessen, die Hannah Arendt zufolge charakteristisch ist für die moderne, sich als Nation verstehende Gesellschaft („that curiously hybrid realm where private interests assume public significance that we call ‘society’“, 1958, 35).36 Zwar spricht alles dafür, dass die komplementären Reaktionen der gegnerischen Parteien bereits als Symptom und implizite Anerkennung der Entstehung einer Gesellschaft im Sinne Arendts zu interpretieren sind, doch zeigt sich im Verhalten der Beteiligten auch, dass sie selbst noch nicht in der Lage sind, diese Situation zu beobachten und angemessen zu beschreiben. 35 Wie Paul-Jacques Guinard verdeutlicht, speisen sich die ablehnenden Reaktionen aus einem grundsätzlichen Unverständnis des neuen Mediums Zeitschrift, das letztlich auf eine noch weitgehend durch die universitäre Scholastik geprägte Mentalität zurückzuführen sei: „Le publiciste étant par définition moins savant, moins instruit d’une question que l’auteur qui en traite, il ne saurait critiquer l’ouvrage de ce dernier; il est ‘a fortiori’ inapte à rendre compte, dans une perspective critique, d’ouvrages relevant de spécialités diverses. Tout au plus pourrait-on tolérer qu’il les résumât. Mais on le récuse d’avance en tant que juge, et l’on ravale toute critique au rang de l’agression personnelle, de la ‘sátira’.“ (1973, 74) Darüber hinaus charakterisiert Guinard die zahlreichen Kritiker des Diario de los literatos folgendermaßen: „Chez tous, on retrouve un certain nombre d’arguments – si l’on peut dire – ‘ad hominem’, qui placent la polémique à un niveau très médiocre“ (1973, 119). 36 Auf diese Stelle verweist Homi K. Bhabha in der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Sammelband Nation and Narration (1990b, 2).
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Der strategische Einsatz des nationalen Arguments durch die Herausgeber des Diario zeichnet sich an verschiedenen Stellen ab. So wird etwa in der Antwort auf die Apología contra los Diarios de los literatos de España (1738) des Dominikanermönchs Jacinto Segura jeder Gegner Feijoos mit Hilfe eines verkappten Syllogismus, der den Eindruck einer rationalen Begründung erwecken soll, zu einem „enemigo de la Nacion, ò de las letras“ erklärt: Finalmente el hablar con elogio del ingenio y literatura de quel Padre, es acaso indicio de particular intimidad, ò conexion con èl, quando toda España concurre à celebrar sus aciertos? Y si por esta parte merecemos la nota de Feyjonistas, trate el P. Segura à todos los Españoles (excepto tal qual enemigo de la Nacion, ò de las letras) de Feyjonistas. (5, VII, 327)
An keinem anderen Beispiel lässt sich diese Diffamierungs- und Exklusionsstrategie jedoch so gut illustrieren, wie an der bekannten Auseinandersetzung mit Gregorio Mayans y Siscar (1699-1781), der von Oktober 1733 bis zu seinem Rücktritt im Mai 1739 als Bibliothekar an der Real Biblioteca in Madrid tätig ist, bevor er sich aus der Hauptstadt in seinen Heimatort Oliva in der Provinz Valencia zurückzieht.37 Auch Mayans sieht sich von den diaristas als „enemigo de la nación“ verunglimpft, wie er sich noch rückblickend in einem Brief an den befreundeten Jesuitenpater Andrés Marcos Burriel vom 9. Januar 1745 beklagt (zit. n. Mestre 1999, 116). Ausgangspunkt ist die Rezension von Mayans gerade erschienenem Werk Orígenes de la lengua española (1737) im zweiten Band des Diario de los literatos. Der Verfasser der Rezension ist einer der drei Herausgeber, Juan Martínez Salafranca. Das erfährt man jedoch erst im dritten Band aus der umfangreichen Kontrareplik, mit der Martínez Salafranca wiederum auf Mayans’ im Jahr 1737 in Valencia erschienene Antwortschrift Conversación sobre el „Diario de los literatos de España“ reagiert (VIII, 189-386). Schon das Thema von Mayans’ Werk, der Ursprung der Sprachen und die Herkunft des Spanischen, ist wie kaum ein anderes dazu geeignet, für nationale Zwecke vereinnahmt
37 Vgl. zu diesem Streit Cruzado (1945), Castañón Díaz (1973, 69-77), Ruiz Veintemilla (1979) und Mestre (1990, 91-97; 1999, 114-116).
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zu werden. Der Rezensent stellt dann auch gleich im ersten Satz klar, dass der Autor die anspruchsvollste Aufgabe gewählt habe, die man sich für einen Historiker denken könne: „Buscar el origen de una lengua en el cuerpo civil de una Nacion, es la anatomìa de mayor juicio, observacion, y estudio, que se puede celebrar en el Theatro de la Historia.“ (2, II, 34) Was nun folgt, ist tatsächlich der systematische Versuch, Mayans durch eine betont ethnozentrische Argumentation als schlechten Patrioten dastehen zu lassen.38 Martínez Salafranca beginnt mit einer subtilen Bemerkung zu Mayans’ Stil, den er mit der Redeweise eines Menschen in Verbindung bringt, der es gewohnt ist, sich in einer Fremdsprache auszudrücken („como el que frequenta mucho hablar un Idioma Es[t]rangero, que siempre conserva de èl algun dialecto, ò expresion“, 35). Dann gehen die Vorwürfe weiter: Mayans lege antike Zeugnisse zu Ungunsten Spaniens aus („lo que ignoran los literatos, no lo ignoran los Comerciantes: pues quantas navegaciones se harìan à España sin que lo supiessen los Literatos de Grecia, y de Asia?“, 50); bei der Bestimmung des Ursprungs der spanischen Sprache begebe er sich in Widerspruch zur Heiligen Schrift („Pero olvidò nuestro Autor, que muchos Españoles no siguen al presente esta opinion, persuadidos de que es contraria à algunos textos de la Sagrada Escritura“, 59); er vernachlässige die Entwicklung des Kastilischen in der Zeit von Philipp III. bis Karl II. („Con que los Rey-
38
Explizit wird diese Anschuldigung allerdings erst in Martínez Salafrancas Replik erhoben (vgl. 3, VIII, insbesondere 234-267). Stein des Anstoßes ist vor allem ein Satz aus dem lateinisch geschriebenen Brief XV aus Mayans’ Epistolarum libri sex (Valencia, 1732), den Salafranca in einer französischen Schrift zitiert findet. Der Satz, der Spanien „barbarische“ Verhältnisse attestiert und der später noch von Juan Pablo Forner in seinen Exequias de la lengua castellana (1788/1793) zitiert werden wird (2000, 124), lautet in der Wiedergabe und Übersetzung Martínez Salafrancas: „Paucissimi sunt, qui colunt literas: cæteri barbariem“ (234) – „Son muy pocos los que cultivan las letras: los demás la barbarie“ (235). Eine weitere Provokation, die er in seiner Replik ausführlich dokumentiert, sieht Salafranca in dem 1731 in lateinischer Sprache in den von der Leipziger Akademie herausgegebenen Acta eruditorum (1681-1782) erschienenen Artikel „Nova literaria ex Hispania“ (Bd. XXXI, 432-440), in dem Mayans mit dem Zustand des spanischen Geisteslebens ebenfalls hart ins Gericht geht. Die Autorschaft des ursprünglich anonym veröffentlichten Artikels hat vermutlich der königliche Hauptbibliothekar Blas Antonio Nasarre y Férriz an die Herausgeber des Diario de los literatos „verraten“ (vgl. Ruiz Veintemilla 1979, 91f. u. 112f.).
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nados de Phelipe III. de Phelipe IV. y de Carlos II. se passaron sin merecer nada, ni sus Historiadores, ni sus Poetas, ni sus Philosophos Morales!“, 71); er spare an Beispielen für die frühe Verbreitung des Spanischen und konzentriere sich statt dessen zu sehr auf allgemeine Regeln („pudiera ser mas loable, si apartandose un poco de la generalidad de algunas reglas huviera descendido à proponer, para demonstracion de los Origenes de las lenguas de España, algunos principios, ò Datos, que se hallan en las Historias, y otros instrumentos que hablan de España“, 88f.); er kritisiere das Wörterbuch der Real Academia Española in einer Weise, wie man es allenfalls von einem Ausländer erwarten würde („Si esto dixera algun Estrangero, no era de estrañar; pero que lo diga el señor Mayans, que escribe en esta Corte“, 102) usw. Über die Parteiinteressen, die sich hinter der im Namen der Nation ausgeübten Unparteilichkeit verbergen, kann man letztlich nur spekulieren. Die Machtverhältnisse im Innern des zeitgenössischen Dispositivs der Nation sind komplex. Die Situation ist grundsätzlich dadurch geprägt, dass alle privaten Ambitionen und Rivalitäten ebenso wie die maßgeblichen kulturellen Einrichtungen, die Real Biblioteca, die Real Academia de la Lengua und die Academia de la Historia, unvermeidlich auf die Gravitationszentren der politischen Macht, auf Regierung und Hof, ausgerichtet sind. Unter diesen Bedingungen gewinnt jede symbolische Ausgrenzung potenziell eine performative Dimension.39 Für das Verhalten der diaristas gegenüber Mayans bieten sich verschiedene Erklärungsmöglichkeiten an: Revanche für dessen herablassende Kritik am ersten Band des Diario, ideologische Gruppendifferenzen, wie sie in der unterschiedlichen Einstellung zu Feijoo und seiner publizistischen Tätigkeit zum Ausdruck kommen, aber auch der Gegensatz zwischen der neuen sozialen Rolle des Literaturkritikers und Wissenschaftsjournalisten und dem traditionellen Habitus des humanistischen Universalgelehrten, der dem neuen Medium
39
Eine detaillierte Rekonstruktion der persönlichen und institutionellen Verflechtungen im Zusammenhang mit der Publikation des Diario de los literatos unternimmt Ruiz Veintemilla (1976). Die genaueren Umstände der Tätigkeit von Mayans an der Real Biblioteca hat Mestre (1987) erforscht.
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Zeitschrift skeptisch gegenübersteht, weil es in seinen Augen den Verfall der Gelehrsamkeit und die geistige Verflachung fördert.40 Literarhistoriker wie Paul-Jacques Guinard, François Lopez und Antonio Mestre haben schließlich noch eine politisch-soziologische Erklärung von größerer Tragweite ins Spiel gebracht. Ihrer Ansicht nach spiegeln sich in dem Konflikt die alten Frontlinien, Kräfteverteilungen und geographischen Verhältnisse des Erbfolgekriegs, die bis in die Gegenwart hinein, das heißt bis um das Jahr 1740 herum, das politische und kulturelle Feld bestimmen und daher einen idealen Nährboden für Ressentiments abgeben. Eine entscheidende Rolle fällt dabei dem Umstand zu, dass die Herausgeber des Diario, Martínez Salafranca, Puig und de la Huerta y Vega, auf der Seite der historischen Sieger stehen: Sie kommen aus einem bourbonenfreundlichen Milieu und bilden eine kleine Elite, die sich im Zentrum Madrid um die absolutistischen Kulturinstitutionen schart. Mayans dagegen wird das Stigma nicht los, aus dem peripheren Valencia und aus einer Familie zu stammen, die den habsburgischen Erzherzog Karl und damit die späteren Verlierer unterstützt hatte. So scheint es denn auch in der Logik der Verhältnisse zu liegen, dass Mayans auf eine Karriere am Hof verzichtet und sich entschließt, den Rest seines Lebens als Gelehrter in der valencianischen Provinz zu verbringen.41 Es lohnt sich, zum Abschluss dieses Kapitels über den Diario de los literatos de España und zur Vorbereitung auf das nächste, den Verteidigungsschriften gewidmete Kapitel den Blick kurz auf eine zumindest in einigen Punkten analoge Konfliktsituation in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu richten: die sich Mitte der 80er Jahre an der Frage von Sinn und Zweck der Apologien entzündenen Auseinander-
40 Siegfried Jüttner spricht von einem „Streit zwischen zwei Formen medialer Praxis […] – die des historischen Buchgelehrten auf der einen und die des Wissenschaftsjournalisten auf der anderen Seite“ (2008d, 54). 41 Vgl. z. B. Guinard (1994, 133), Lopez (1976, 90) und Mestre (1999, 9f., 221f). Für falsch bzw. übertrieben hält diese Sicht hingegen der Historiker Ricardo García Cárcel: „No hay que pensar que la memoria del austracismo condicionara en los años treinta la carrera profesional de Mayans“ (2002a, 414) und: „Las batallas de poder entre los ilustrados son patentes pero no estoy tan seguro que sean motivos ideológicos los que ocasionan los currícula de esos intelectuales“ (415). Zur Herkunft der diaristas siehe Castañón Díaz (1973, 109-169) und Guinard (1973, 94-96).
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2. Diario de los literatos de España (1737-1742)
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setzungen zwischen Juan Pablo Forner und Luis Cañuelo, zwischen dem in der Traditionslinie eines Gregorio Mayans und Andrés Piquer stehenden, ebenso gelehrten wie streitbaren Verfasser der Oración apologética por la España y su mérito literario (1786) und dem spanienkritischen, entschieden der französischen Aufklärung zugewandten Journalisten und Mitherausgeber der Zeitschrift El Censor (1781-1788).42 Verstärkt wird die historische Analogie zwischen der Konstellation Diario/Mayans und El Censor/Forner noch dadurch, dass Forner selbst in seinen zu Lebzeiten unveröffentlichten Exequias de la lengua castellana (1788/1793, erschienen 1871) auf den damaligen Konflikt zwischen Mayans und den diaristas zurückkommt (2000, 116-125). Der Zweck des in den Exequias evozierten Totengesprächs auf dem Parnass ist es, dem „grave anciano“ (116) Mayans noch im Nachhinein Genugtuung für die ungerechte Behandlung durch die „diaristas españoles“ (ebd.) widerfahren zu lassen, denen er immerhin zugute hält, ein im Prinzip höchst nützliches Projekt initiiert zu haben, das lediglich dadurch verdorben worden sei, dass sie sich von privaten Rachegefühlen hätten hinreißen lassen: „vendieron a veces el juicio en obsequio de la parcialidad y cargaron sus críticas de resentimientos personales, que aceleraron sin duda la ruina de una obra que hubiera sido utilísima manejada con más comedimiento y moderación“ (124).43 Forners späte Abrechnung mit den diaristas in seiner „sátira menipea“, wie er die Exequias nennt, und der vorangegangene umfangreiche Streit mit El Censor machen deutlich, dass sich die grundlegenden Koordinaten der Diskussion um die angemessene Relation von Tradition und Fortschritt, europäischem Ausland und spanischer Nation, aber auch der Rollengegensatz zwischen Gelehrtem und journalistischem Kritiker seit der frühen Aufklärung nicht wesentlich verändert haben. Gleichzeitig wirft die Konfrontation zwischen Forner und El Censor aber auch ein Schlaglicht auf die Radikalisierung der Diskurs42 Vgl. zu den verschiedenen Stadien dieser Auseinandersetzung GarcíaPandavenes (1972, 47-54), Guinard (1973, 318f., 346-348), Lopez (1976, 388-397) und Deacon (1998). 43 Vgl. dazu Ruiz Veintemilla: „En las páginas que escribió Forner en defensa de Mayáns se encuentran en síntesis las principales acusaciones que el sabio de Oliva lanzó contra los diaristas.“ (1979, 71)
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verhältnisse in den letzten Regierungsjahren Karls III., die von einer zunehmenden Unzufriedenheit der reformorientierten Kräfte mit der Politik, der wachsenden Nervosität der Regierenden und einer aus beiden Entwicklungen resultierenden Verschärfung der öffentlichen Debatte geprägt sind.44 Während die Herausgeber des Diario ethnozentrische Argumente lediglich zu dem Zweck einsetzten, ihre universalistisch begründeten Reformziele und den zu ihrer Verwirklichung eingeführten neuen Zeitschriftentyp zu verteidigen, wählt Forner den umgekehrten Weg, indem er, wie später noch im Detail zu untersuchen sein wird, dem allgemein verbreiteten Leistungsvergleich mit Europa die Prämisse entzieht und für Spanien ein anderes Wertesystem, eigene Traditionen und einen spezifischen Wissenskanon reklamiert. Auf diese apologetische Attitüde, die Forner den zweifelhaften Ruf eines Begründers und führenden Propagandisten der ciencia española eingetragen hat, antwortet wiederum El Censor nur mit beißendem Spott, wie in der im „Discurso CLXV“ vom 9.8.1787 abgedruckten Parodie „Oración apologética por el Africa y su mérito literario“, – und mit einem Bekenntnis zur Kritik, zu dem in dieser Kompromisslosigkeit und Schärfe für die Herausgeber des Diario de los literatos de España zu ihrer Zeit weder Anlass noch Möglichkeit bestand.
44 Siehe dazu den Abschnitt „Fin del absolutismo ilustrado y nuevo contexto internacional (1776-1788)“ von Lluís Roura i Aulinas in der von Ricardo García Cárcel herausgegebenen Historia de España siglo XVIII (2002b, 210-220). Statt von „despotismo ilustrado“ spricht Roura i Aulinas in Bezug auf diese Periode von einem „absolutismo, sin Ilustración“ (216); ebenso Francisco Sánchez-Blanco: „absolutismo, divorciado de las luces“ (2002, 350).
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3 JOSÉ CADALSO: DEFENSA DE LA NACIÓN ESPAÑOLA CONTRA LA „CARTA PERSIANA LXXVIII“ DE MONTESQUIEU (1768/1771)
„Yo soy católico y español, pretendo combatir con fuerza las calumnias del Señor de Montesquieu, sin incurrir en la desobediencia de estos dos objetos.“ (Defensa 1970, 5) A)
APOLOGIE UND REPLIK ALS KULTURELLE SYMPTOME
Auf der Skala der Identitätsverhältnisse, die im Anschluss an Juan Sempere y Guarinos Ensayo de una biblioteca española entwickelt wurde, sind Feijoos Teatro crítico universal und der Diario de los literatos de España zweifellos dem Pol „Kritik“ zuzuordnen. José Cadalsos Defensa de la nación española contra la „carta persiana LXXVIII“ de Montesquieu ist dagegen neben Juan Pablo Forners Oración apologética por la España y su mérito literario (1786) der wohl bekannteste Text, der den entgegengesetzten Pol „Apologie“ repräsentiert. Das anonyme, aber mit größter Wahrscheinlichkeit von Cadalso (1741-1782) stammende Manuskript wurde Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts von dem französischen Hispanisten Guy Mercadier in einer Madrider Buchhandlung entdeckt und von ihm 1970 erstmals herausgegeben.1 Entstanden ist der Text vermutlich um 1766 oder
1 Mercadiers Zuweisung der Autorschaft an Cadalso ist unumstritten (1970, II-VII; vgl. Lope 1973, 57). Er stützt sich auf briefliche Äußerungen Cadalsos, einen Vergleich
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sogar noch früher, beendet wurde er spätestens zwischen 1768 und 1771. Wie bereits der Titel erkennen lässt, handelt es sich um eine Antwort auf den 78. Brief von Montesquieus (1689-1755) Lettres persanes (1721), der sich detailliert mit dem „Charakter“ der Spanier und den Verhältnissen in Spanien beschäftigt. Das kurze, aus 37 Blättern bestehende Manuskript der Defensa umfasst zwei Teile. Der erste Teil enthält drei Vorbemerkungen, in denen Cadalso auf den Anlass und die Umstände seines Vorhabens eingeht, sowie einen kurzen Abriss der spanischen Geschichte, der von den Phöniziern bis zur Gegenwart reicht. Im zweiten Teil folgt eine vollständige Übersetzung der „lettre LXXVIII“ ins Spanische, die von Cadalso in 31 Abschnitte zerlegt und mit unterschiedlich langen Kommentaren versehen wird. Beide Texte dürfen eine Schlüsselrolle in ihrem jeweiligen Kulturzusammenhang beanspruchen. Während Montesquieu durch das Gewicht seines Namens, die große Suggestivkraft seiner Darstellung und den außergewöhnlichen Erfolg der Lettres persanes im In- und Ausland das Spanienbild der Aufklärung in ganz Europa nachhaltig prägte,2 leitete Cadalso mit seiner Defensa die nationale Wende in der Apologetik ein und kann daher als Begründer des national-apologetischen Diskurses in Spanien gelten.3
des Manuskriptes der Defensa mit den Cartas marruecas und Los eruditos a la violeta und die beiden Selbstauskünfte im Text, den Hinweis des Autors auf die Vermessenheit seines Handelns angesichts der eigenen Jugend: „En mi edad y carrera, parece absurda o a lo menos extraña esta empresa [...]“ (1970, 4) und die dankbare Erwähnung der Ausbildung in Frankreich: „Me he criado en su hermoso país, les debo lo poco que sé [...].“ (5f.) – Cadalso hatte von 1750/51 bis 1757/58 das Pariser Collège Louis-le-Grand besucht. – Erneut herausgegeben wurde der Text im Jahr 1985 von Francisco Alonso (Cadalso 1985). 2 Vgl. dazu exemplarisch die Feststellung von Elena Fernández Herr: „L’Europe connut l’Espagne d’après ce portrait“ (1973, 319). 3 Bernhard Schmidt, der sich als Erster eingehender mit Cadalsos Defensa beschäftigt hat (1975, 60-82) – er geht auf die Vorgehensweise Cadalsos ein, referiert und kommentiert dessen inhaltliche Positionen und vergleicht sie mit ähnlichen Stellen in den Cartas marruecas –, begründet die Wahl dieses Textes unter anderem damit, dass er „unseres Wissens noch keine ausführliche Interpretation erfahren hat“ (61). Daran hat sich meines Wissens bis heute nichts geändert, wenn man von einigen unspezifischen Kurzdarstellungen absieht; vgl. z. B. Lopez (1976, 233f., 239f., 343f.), Glendinning (1995, 627f.) und noch vor Schmidt Lope (1973, 57-60). Ausführlicher äußert sich erst wieder Santos (2002, 62-70).
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Aus der Sicht der interkulturellen Hermeneutik stellt sich der Konflikt zwischen Montesquieu und Cadalso als Lehrbeispiel für eine misslungene, von Missverständnissen begleitete und durch sie verhinderte Kommunikation dar, bei der es den Beteiligten nicht gelingt, aus dem Horizont ihrer eigenen kulturellen Systeme herauszutreten und Verständnis für den Standpunkt des Anderen aufzubringen, geschweige denn zu einem Konsens mit ihm zu gelangen. Anstatt nun weiter das hermeneutische Ideal- oder Wunschbild eines vertrauten grenzüberschreitenden Gesprächs zwischen kosmopolitisch gesinnten Aufklärern unterschiedlicher Nationalität vorauszusetzen, die sich auch in ihrem eigenen Verhalten nach den von ihnen aufgestellten universalen Normen der Toleranz und der Vernunft richten,4 möchte ich im Folgenden aus einer stärker diskursanalytischen Perspektive die produktive Leistung des kulturellen Missverständnisses zwischen Cadalso und Montesquieu hervorheben. Dieses Missverständnis erfüllt nämlich nicht nur eine für beide Seiten identitätsstiftende, sondern auch eine – wie zumindest im Hinblick auf die spanischen Apologien zu konstatieren ist – gattungsprägende Funktion. Nur wenn man sich von dem zum Teil von den Autoren selbst hochgehaltenen harmonisierenden Ideal löst und eine Lektüre „gegen den Strich“ unternimmt, kann auch deutlich werden, welche Vorteile den Kontrahenten aus einem „unkommunikativen Handeln“ erwachsen, das nicht vorrangig auf gegenseitige Verständigung angelegt ist.5 Mit der Apologie verhält es sich in gattungstheoretischer Hinsicht ganz ähnlich wie mit der Satire, denn der Begriff bezeichnet mindestens Zweierlei: eine eigenständige literarische Gattung, verstanden als offenes und historisch wandelbares System, das sich durch die Verbindung bestimmter formaler, struktureller, thematischer und funktionaler Merkmale auszeichnet,6 und ein gattungsübergreifendes Prinzip, das
4
Cadalso wird ein solches ideales Gespräch „entre un moro africano y un cristiano español“ (2000, 211) im 87. Brief der Cartas marruecas evozieren. 5 Vgl. dazu den Aufsatz „Kultur und Konflikt. Aspekte einer Theorie des unkommunikativen Handelns“ von Aleida und Jan Assmann (1990), die unter „unkommunikativem Handeln“ jedoch in erster Linie gewalttätige, kulturzerstörende Konflikte verstehen. 6 Vgl. zu diesem, auf Wittgensteins Konzept der „Familienähnlichkeit“ beruhenden und sich gegen traditionelle, essenzialistische Modelle abgrenzenden polytheti-
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heißt ein fakultativ zu anderen Gattungen hinzutretendes Merkmal von sekundärer Bedeutung, wie das zum Beispiel bei der Gelehrtenzeitschrift Diario de los literatos de España der Fall ist, auf deren apologetische Tendenzen bereits im vorangegangenen Kapitel hingewiesen wurde. Oft ist der Unterschied zwischen literarischer Gattung und transgenerischem Prinzip (Intention, Zweck, Haltung, Schreibweise, Stil, Ton), jedenfalls soweit er der Absicht des Autors entspringt, schon daran zu erkennen, dass sich im Titel des Werks entweder eine entsprechende Gattungsbezeichnung („defensa“, „apología“, „oración apologética“) befindet oder nur, wenn überhaupt, ein adjektivischer Zusatz („apologético“) zu einer anderen Gattungsbezeichnung („historia“, „biblioteca“, „ensayo“ o.ä.).7 Der Begriff „Apologie“ selbst entstammt dem antiken Rechtswesen und der frühchristlichen Theologie. Vor Gericht bezog er sich konkret auf „die Verteidigung oder Rechenschaft gegen Beschuldigung und Infragestellung“ (Kienzler/Hilgendorf 1991, Spalte 809), und in der Theologie konnte er Fuß fassen, weil die frühen Christen, aber auch die aus Palästina vertriebenen, in der Diaspora lebenden Juden „einerseits ihre Religion gegen Kritik verteidigen und sie andererseits überzeugend darlegen mußten“ (ebd.). Wie die Herkunft des Begriffes zeigt, machen die Widerlegung (refutatio) der fremden und die Darlegung der eigenen Meinung (confirmatio) den Kern der Gattung aus, die durch ihre rhetorisch-argumentative Ausrichtung vorrangig auf die emotionale und intellektuelle Überzeugung des Lesers zielt. Die Apologie definiert sich also weniger durch eine feste Form, als vielmehr durch ihre polemische Funktion und ihren agonalen Charakter. Ihr wichtigstes Bewertungskriterium ist die Effizienz: Leistet sie tatsächlich das, wozu sie verfasst wurde (Albertan-Coppola 2001, 54-58)? Indem sie eine
schen, „auf die Berücksichtigung vieler verschiedener Kriterien“ abzielenden Gattungsbegriff Wenzel (2004, 213). 7 Die Zuordnungsschwierigkeiten schlagen sich auch in den Literaturgeschichten nieder. So finden sich die entsprechenden Texte verstreut unter den Rubriken „La prosa satírico-didáctica“, „Erudición, historia y crítica“ (Alborg 1993); „La nueva mentalidad científica. El ensayo y la ciencia literaria“, „La prosa del siglo XVIII“ (Carnero 1995a); „Ensayo“, „Historia literaria“, „Historiografía“ (Aguilar Piñal 1996); „Die Wurzeln des sogenannten Spanienproblems“ (Floeck 1980); „Prosa und Essayistik“, „Cadalso, das Spanienproblem und die Folgen“ (Tietz 1991b).
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scharfe Grenzziehung zwischen dem Fremden, der als Angreifer und Ankläger vorgestellt wird, und dem Eigenen, das es gegen die Angriffe und Anklagen zu verteidigen gilt, voraussetzt (Goodrich 2005, 25), erweist sie sich zudem als ein verhältnismäßig aggressives Instrument der literarischen Identitätsbildung. Nicht alle, aber doch sehr viele Verteidigungsschriften, zumal im 18. Jahrhundert, entstehen als Antwort auf Angriffe, die ihrerseits in Form von Texten erfolgt sind, oder sie antworten auf andere Verteidigungsschriften. Sie sind somit Teil einer literarischen Kommunikation, die ein bisweilen sehr enges Netz zwischen verschiedenen Texten stiftet. Insofern sich die Partizipation der Apologien an einer solchen intertextuellen Dimension in einem mehr oder weniger deutlich markierten Bezug auf einen individuellen Prätext niederschlägt, soll sie im Folgenden als „Replik“ (Entgegnung, Erwiderung, Gegenrede) bezeichnet werden. So bekannte Texte wie Feijoos „Glorias de España“ (1730) oder auch Quevedos España defendida (1609) gehören zwar unbestreitbar zur Gattung der Apologien, sind aber dieser Definition zufolge keine Repliken, denn sie antworten nicht auf einen vorgängigen Einzeltext. Eine noch engere Definition der Replik lässt sich schließlich dadurch gewinnen, dass man die Art der intertextuellen Beziehung auf den Fall einer Erwiderung beschränkt, „bei der sich der Angegriffene des gegnerischen Materials bedient und es zu seiner Rechtfertigung und der Abfertigung des Gegners umdreht“ (Wilpert 2001, 681).8 Sowohl Cadalsos Defensa als auch Forners Oración apologética – ihr voller Titel lautet Oración apologética por la España y su mérito literario: para que sirva de exôrnacion al discurso leido por el abate Denina en la Academia de ciencias de Berlín, respondiendo á la question „Qué se debe á Espa-
8
Nach der Typologie intertextueller Relationen, die Gérard Genette in Palimpsestes (1982) aufgestellt hat, gehört die Replik zur Untergruppe der „Metatextualität“, die bei ihm folgendermaßen definiert ist: „Le troisième type de transcendance textuelle, que je nomme métatextualité, est la relation, on dit plus couramment de ‘commentaire’, qui unit un texte à un autre texte dont il parle, sans nécessairement le citer (le convoquer), voire, à la limite, sans le nommer [...]. C’est, par excellence, la relation critique.“ (1982, 10) Jürgen von Stackelberg verwendet den Begriff der Replik eingeschränkt auf den Fall einer innerliterarischen Relation des Widerspruchs, die er auch als „Gegendichtung“ bezeichnet (2000).
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ña?“ – entsprechen exemplarisch dem doppelten Kriterium der Apologie und der Replik, indem sie sich nicht nur schon im Titel als der Gattung der Apologie zugehörig ausweisen, sondern auch gleichzeitig signalisieren, auf welchen konkreten Prätext sie sich beziehen, auch wenn der Bezug bei Forner nur indirekt, über den Text Deninas, und metonymisch, durch das übersetzte Zitat des zentralen Satzes aus Masson de Morvilliers’ Spanien-Artikel („Mais que doit-on à l’Espagne?“, 1782, 565), erfolgt. Darüber hinaus bedienen sich beide Texte auch – wie es die enge Definition der Replik verlangt – des gegnerischen Materials und drehen es um. Besonders deutlich zu greifen ist dieser Aspekt natürlich in Cadalsos Defensa, die Montesquieus Text vollständig zitiert und mit entsprechenden Kommentaren versieht. In ihrer Eigenschaft als „Repliken“ etablieren die Texte Cadalsos und Forners intertextuelle Bezüge, die sich, wie man in der Terminologie der Intertextualitätstheorie sagen kann, durch drei Merkmale auszeichnen: durch hohe „Kommunikativität“, das heißt eine unmissverständliche Markierung der Verweise, ausgeprägte „Selektivität“, die aus dem wörtlichen Zitieren eines eindeutig identifizierbaren Prätextes resultiert, und starke „Dialogizität“ im Sinne einer großen ideologischen Spannung zwischen Ausgangs- und Zieltext (vgl. Pfister 1985, 25-30). Zwar gibt es Apologien schon seit der Antike, doch zu einer Massenerscheinung wird die Gattung der Verteidigungsschriften erst im 18. Jahrhundert. Das ist sicherlich auch nicht weiter erstaunlich angesichts der epochalen gesellschaftlichen Umbrüche und des allgemeinen Funktionswandels, den die Literatur in dieser Zeit in ganz Europa durchläuft. Im Rahmen der sich herausbildenden Öffentlichkeit und der sie beherrschenden ideologischen Auseinandersetzungen entwickelt sich die Literatur zu einem Kampf- und Propagandainstrument. Als literarische Gebrauchsform, die sich per definitionem in den Dienst einer Sache stellt, ist die Apologie geradezu der Musterfall jenes heteronomen Zwecken gehorchenden Typs von Literatur, der für das 18. Jahrhundert insgesamt charakteristisch ist. Was die Apologie nun zu einer für die spanische Kultur des 18. Jahrhunderts symptomatischen Erscheinung macht, ist neben der besonderen Häufigkeit ihres Vorkommens und ihrer vergleichsweise herausgehobenen Rolle im Gattungssystem der Epoche vor allem die
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Tatsache, dass sie in den Dienst der Formung und Festigung der eigenen kulturellen und nationalen Identität gestellt wird. Genau das ist es ja, was Cadalsos Defensa zu leisten verspricht, indem sie nicht mehr bloß Spanien, sondern ausdrücklich die spanische Nation zu verteidigen beansprucht. Dass die Apologie in Spanien gerade diese Funktion übernimmt, aber auch dass diese Funktion in Spanien gerade durch die Apologie übernommen wird, hat natürlich mit der auffälligen Dominanz des Identitätsdiskurses und der ihn formierenden Faktoren zu tun. Ohne die Angriffe seitens derjenigen europäischen Nationen, die im Bewusstsein ihrer kulturellen Hegemonie Spanien die Fähigkeit absprechen, im europäischen Kommunikationsraum eine aktive Rolle zu spielen und einen eigenständigen Beitrag zum europäischen Wissen zu liefern, hätte sich in Spanien auch nicht das kollektive Bedürfnis der Verteidigung und Rechtfertigung ausbreiten können, dem als vertextete Handlung die literarische Gattung der Apologie entspricht. Um den performativen Charakter und die kulturelle Funktion literarischer Gattungen im Allgemeinen zu illustrieren, ist daher auch kaum ein besseres Beispiel denkbar als das der nationalen Apologien in Spanien. Der Umstand, dass die Apologie in so deutlicher Weise die Exzentrizität und Marginalität der Situation, die sie hervorgebracht hat, indiziert, schließt aber auch den paradoxen Effekt mit ein, dass sie dadurch zur Perpetuierung eines Wahrnehmungsmusters beiträgt, zu dessen Entkräftung sie eigentlich angetreten war. Das genau ist auch der Vorwurf, den viele Zeitgenossen den „apologistas“ machen. Auf jeden Fall kommen die Apologien, und insbesondere dann, wenn sie auch noch als Repliken, das heißt als Antworten auf vorgängige fremde Texte auftreten, einem Vorurteil entgegen, das in der spanischen Literatur des 18. Jahrhunderts die epigonalen, rezeptiven, reaktiven und reaktionären Elemente vorherrschen sieht, weil es stillschweigend den Werten Kreativität, Originalität, Autonomie und Fortschrittlichkeit den Vorzug gibt. Diese Kriterien und Werte entsprechen allerdings einem Literaturbegriff, dessen Konturen sich zumindest in Spanien erst im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts abzeichnen (vgl. u. a. Urzainqui Miqueleiz 2005). Wie diese Bemerkungen schon andeuten, hat das Phänomen der Apologien in der Literaturwissenschaft eine nachträgliche Einschätzung
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und Bewertung erfahren, die für den Blick auf das spanische 18. Jahrhundert insgesamt aufschlussreich ist. Auffällig ist dabei, dass die Reaktionen unterschiedlich ausfallen, je nachdem, ob sie sich auf die Apologie als literarische Gattung oder als gattungsübergreifendes Prinzip beziehen. Die Gattung wird überwiegend kritisch beurteilt als unschöpferisches Werkzeug einer Radikalisierung der ideologischen Debatte. So spricht Julián Marías in seinem Buch España inteligible von „indagnadas y cerriles apologías“ (1985, 303) und stellt in La España posible en tiempo de Carlos III fest: „Estas polémicas solían terminar muy pronto en la chabacanería, la agresividad y, en suma, la esterilidad.“ (1988, 154) Einen ähnlichen Vorwurf erhebt auch Francisco Sánchez-Blanco in seiner Studie El absolutismo y las luces en el reinado de Carlos III; er verweist auf „la dinámica de exacerbación nacionalista y la xenofobia que ha puesto en marcha el movimiento apologista“ (2002, 371). In diesen Urteilen klingt eine gewisse Enttäuschung über den Verlauf der Aufklärung in Spanien an, die das fortwährende Interesse der Gegenwart an einem bestimmten Bild der spanischen Aufklärung deutlich werden lässt. Daneben finden sich aber auch Äußerungen, die aus einer stärker historisch-soziologischen Perspektive heraus die Rolle der Apologien im Prozess der gesellschaftlichen Selbstverständigung hervorheben. So kommt derselbe Julián Marías angesichts der lebhaften öffentlichen Auseinandersetzung in den letzten Regierungsjahren Karls III. zu dem Schluss: „las apologías, lejos de ser inocente menester de eruditos más o menos celosos, se convierten en un tema apasionante: se ventila en torno de ellas la orientación de la vida nacional española en el momento en que se inicia la gran crisis europea“ (1988, 74). Und François Lopez verspricht sich von dem „sociodrame“ (1976, 432), als das er den Streit um die Apologien auch bezeichnet, insbesondere Aufschluss über die Frage, „comment le fait ‘nation’ était ressenti et pensé par les différentes élites du pays“ (361). Weitgehend positiv fällt dagegen die Bewertung der Apologie als transgenerisches Prinzip aus, wie es vorwiegend in einer Reihe historischer Darstellungen, Textanthologien und literaturkritischer Schriften zum Tragen kommt. Das liegt daran, dass der apologetische Charakter dieser Werke, die primär anderen Gattungen angehören, als Hinweis auf eine Intention verstanden wird, die in ihrer Funktion als Katalysator überhaupt erst das Zustandekommen intellektueller Leistungen ermöglichte,
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deren besonderer Wert in der vergleichsweise frühen Hinwendung zur nationalen Vergangenheit und deren systematischer Erforschung gesehen wird – Leistungen, die eine entscheidende ideelle Grundlage für die Entwicklung des Nationalbewussteins der Spanier lieferten. So hebt etwa Antonio Mestre hervor: Una de las venas más importantes, aunque no la única, de la historiografía española del XVIII radica en el sentido apologético de lo hispánico. De múltiples formas expresado, pero siempre vivo, constituye uno de los motores esenciales de la actividad de nuestros historiadores. (1983, 49)
Und in Bezug auf ein Projekt wie Juan Bautista Muñoz’ spanische Kolonialgeschichte Historia del Nuevo Mundo (1793) unterstreicht François Lopez die stimulierende und emanzipatorische Wirkung der leyenda negra auf die spanische Kulturgeschichtsschreibung: „Notons surtout que, là-encore, la leyenda negra aura finalement des répercussions fécondes, puisqu’elle conduira les Espagnols à écrire eux-mêmes l’histoire de leurs entreprises coloniales.“ (1976, 342) Im Folgenden wird Cadalsos Apologie zunächst in den Kontext der Geschichte der spanischen Verteidigungsschriften im 18. Jahrhundert eingebettet. Auf diesen Überblick folgt dann eine eingehende Analyse des 78. Briefs der Lettres persanes, denn nur unter dieser methodischen Voraussetzung kann anschließend auch Cadalsos Defensa de la nación española sinnvoll unter dem Gesichtspunkt der „Anatomie eines kulturellen Missverständnisses“ interpretiert werden.
B)
DIE GESCHICHTE DER VERTEIDIGUNGSSCHRIFTEN – EINE SKIZZE
Aus der Geschichte der Verteidigungsschriften Spaniens lässt sich eine Reihe verallgemeinernder Beobachtungen ableiten, die der folgenden Skizze zur besseren Orientierung vorausgeschickt werden sollen. Zunächst ist zwischen zwei Ebenen der Diskussion, der Objekt- und der Metaebene, zu unterscheiden, die sich gleichwohl überlagern können, wie das bei einer umfangreicheren Polemik ja auch geradezu zwangsläufig geschieht. Die (vertextete) apologetische Handlung ist auf der Objektebene angesiedelt – als Ergebnis einer
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Entscheidung, die immer auch eine mehr oder weniger deutliche Absage an die entgegengesetzte Verhaltensform der Kritik einschließt. Auf der Metaebene werden die Apologien ihrerseits zum Gegenstand einer entweder apologetischen oder kritischen Behandlung. Im Laufe der intensiven Auseinandersetzungen um Inhalt, Form und Effizienz der Apologien kommt es nun häufig insofern zu einer Überlagerung der Ebenen, als jede neue Apologie bestrebt ist, sich stets – und zumeist explizit – auch in Bezug auf ihre Vorgängerinnen zu situieren. Damit ist bereits ein zweites Merkmal der Geschichte der Verteidigungsschriften angesprochen: die zunehmende Differenzierung der Positionen. Apologien werden durch nachfolgende Texte überboten und entschärft, korrigiert und parodiert oder zugunsten kritischer oder rein informierender Konzepte ganz abgelehnt. Ein weiteres Merkmal und zugleich eine Begleiterscheinung dieses Differenzierungsprozesses ist die Verlagerung eines ursprünglich vorwiegend interkulturell aufgefassten Konfliktes in eine intrakulturelle Frontstellung. Der interkulturelle Aspekt verschwindet dadurch jedoch nicht, sondern tritt als schlagkräftiges Argument im binnenkulturellen Kulturkampf eher noch stärker hervor. Mit Tzvetan Todorov lässt sich dieser Vorgang auch als Verschiebung vom „autre extérieur“ zum „autre intérieur“ beschreiben (1982, 159f.): Die Merkmale des kulturell „Fremden“, gegen das sich die Apologien in der Regel zuallererst richten, werden in der Folge auf den innergesellschaftlich „Anderen“ übertragen. Gleichzeitig ist natürlich auch der umgekehrte Übertragungsvorgang zu beobachten, der den inneren Anderen mit dem äußeren Anderen identifiziert.9 Ein viertes und letztes Merkmal betrifft die Frage, ob wir es mit Verteidigungsschriften im engeren Sinne, also mit Apologien als literarischen Gattungen, oder mit Schriften zu tun haben, die primär
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Todorov entwickelt dieses Begriffspaar am Beispiel der Korrelation der Oppositionen Indio/Spanier und Frau/Mann im Zusammenhang mit der spanischen Eroberung Lateinamerikas: Aus der Sicht der männlichen Spanier verbindet sich das Weibliche, das „autre intérieur“, mit dem Indio, dem „autre extérieur“. – Die Verteidigung Spaniens gegen Kritik von außen stiftet zwar ein Moment der Gemeinsamkeit zwischen Traditionalisten und Reformern – diesen Aspekt betont Hans Ulrich Gumbrecht in „Eine“ Geschichte der spanischen Literatur (1990, Bd. 1, 487493) –, vertieft die Gegensätze im Innern jedoch noch, anstatt sie zu neutralisieren, wie
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anderen Gattungen zuzuordnen sind und sich nur mit unterschiedlicher Deutlichkeit noch zusätzlich zu einem apologetischen Prinzip bekennen. Dass sich eine solche Abgrenzung nicht mit absoluter Trennschärfe durchführen lässt, liegt in der Natur der Sache und entspricht im Übrigen auch der Logik des in der vorliegenden Arbeit favorisierten offenen und betrachterabhängigen Gattungsbegriffs. Die Geschichte der Apologien, die man in der Regel im Siglo de Oro mit Francisco de Quevedos España defendida (1609) beginnen lässt, ist in ihren Grundzügen und unter Berücksichtigung der wichtigsten Texte schon häufig dargestellt worden, ohne dass jemals der Anspruch auf eine nur annähernd vollständige Dokumentation erhoben worden wäre – ein Vorhaben, das angesichts der Fülle der gerade im 18. Jahrhundert einzubeziehenden Texte, von denen viele längst nicht mehr auffindbar sind, auch gar nicht durchführbar ist.10 Man muss sich nur vor Augen halten, dass allein die Zahl der Artikel, Bücher, Broschüren und sonstigen Schriften, die zwischen 1786, dem Erscheinungsjahr von Forners Oración apologética por la España y su mérito literario, und dem generellen, nur das Diario de Madrid ausnehmenden Publikationsverbot Floridablancas am 24.2.1791 zur Frage der Apologien erschienen sind, auf über hundert geschätzt wurde (García-Pandavenes 1972, 49). Wenn man sich auf das 18. Jahrhundert beschränkt, ist festzustellen, dass sich die apologetischen Aktivitäten, von einzelnen Vorstößen wie Feijoos „Glorias de España“ (1730) in der ersten Jahrhunderthälfte einmal abgesehen, in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts konzentrieren, und dort lassen sich wiederum drei Schwerpunkte feststellen – je nach dem Ereignis, das die Apologien auslöst. Die Einteilung nach diesem Kriterium hat den Vorteil, den Replikencharakter stärker hervortreten zu lassen, der schließlich die meisten Verteidigungsschriften auszeichnet.11 Die drei wichtigsten Ereignisse, gemessen an der durch sie angeregten Textproduktion, sind in chronologischer Folge: Montesquieus François Lopez unterstreicht: „C’est qu’apparemment aucune apologie de l’Espagne ne pouvait plus rallier la nation unanime“ (1976, 346). 10 Vgl. Lopez (1976, 411). Zur Geschichte der Apologien siehe die Überblicksdarstellungen von Lopez (1976, 326-435) und Mestre (1983 u. 2003). 11 Antonio Mestre nimmt dagegen eine thematische Einteilung vor und unterscheidet die Apologien nach Gegenstandsbereichen: „influjo hispano en la decadencia lite-
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78. Brief der Lettres persanes (1721), die Literaturgeschichten der italienischen Gelehrten Girolamo Tiraboschi und Saverio Bettinelli (1772ff.) und natürlich der Artikel „Espagne“ des französischen Geographen und Dichters Nicolas Masson de Morvilliers (1740-1789) in der Encyclopédie méthodique (1782), der zweifellos von allen negativen Äußerungen über Spanien die größte Resonanz hervorgerufen hat. Anders als Montesquieus Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence (1734) und sein Hauptwerk De l’esprit des lois (1748), die 1781 bzw. 1756 verboten wurden, waren die Lettres persanes der gebildeten Leserschaft in Spanien immerhin bis 1797 frei zugänglich (Mercadier 1970, IX) – allerdings nur im französischen Original. Zeugnisse der Rezeption der Lettres persanes finden sich jedoch erst relativ spät. Der bedeutendste Rezipient ist sicherlich Cadalso, der in seiner Defensa darüber klagt, dass sich bisher kein Spanier zu einer Antwort auf Montesquieu habe entschließen können: „Pero nadie lo hace, antes veo muchos españoles callar y, así, autorizar la calumnia con un tácito asentimiento.“ (1970, 4f.)12 Nicht nur, dass Cadalso mit seiner Defensa Montesquieus 78. Brief eine eigene Schrift widmet, er kommt auch in den Cartas marruecas (1773/74) und in seinem zu Lebzeiten bekanntesten und beliebtesten Werk, der Satire Los eruditos a la violeta (1772) ausführlich auf Montesquieu zurück – genauer gesagt in der „Carta de un viajante a la violeta a su catedrático“, die in dem separat im Dezember 1772 erschienenen Suplemento al papel intitulado „Los eruditos a la violeta“ enthalten ist.13
raria latina e italiana; conquista y colonización americanas; sentido y alcance de la aportación cultural española“ (1983, 61). 12 Cadalso ist gleichwohl nicht der erste, der auf Montesquieu antwortet. Eine Widerlegung einiger Behauptungen aus Montesquieus lettre persane 78 findet sich auch in einem achtseitigen Postskriptum zu der im Oktober 1764 an Voltaire geschickten, aber unbeantwortet gebliebenen „Carta sobre el teatro español“, die Marcelin Defourneaux in überzeugender Weise Bernardo de Iriarte zugeschrieben hat (Defourneaux 1960; siehe auch Mercadier 1970, XIf., 37-40). 13 Guy Mercadier hält die Defensa für die früheste, den anderen beiden Texten vorausgehende Auseinandersetzung Cadalsos mit Montesquieu (1970, X). In der Defensa lässt Cadalso an einer Stelle durchblicken, wie gut er sich mit Montesquieus Werk auskennt: „No es éste el estilo sublime, sólido y majestuoso del Espíritu de las Leyes, no es el conciso y fluido de la Decadencia y grandeza de los Romanos, no es el delicado y primoroso del Ensayo sobre el Gusto, ni el delicioso del Temple de Gnido.“ (1970, 19)
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Juan Sempere y Guarinos zeigt sich vom „espíritu patriótico“ (1969 [1785], 1/II, 23) dieser Passage, in der er eine weitgehende Übereinstimmung mit seinen eigenen Motiven erkennt, so beeindruckt, dass er sie im zweiten Band seines Ensayo de una biblioteca española de los mejores escritores del reynado de Carlos III vollständig abdruckt (23-32) und damit entscheidend zu ihrer Verbreitung und Kanonisierung beiträgt.14 Auf Widerspruch stößt Cadalsos Montesquieu-Replik dagegen in einem Manuskript mit dem Titel Comentario sobre el doctor festivo y maestro de los „Eruditos a la violeta“, para desengaño de los españoles que leen poco y malo, das zum ersten Mal 1963 von Julián Marías veröffentlicht wurde. Es stammt aus dem Jahr 1773 und trägt das Pseudonym Pedro Fernández, hinter dem Antonio de Capmany als dessen wahrer Autor identifiziert wurde (vgl. Marías 1988, 164-171). Im Hinblick auf die Brillanz, mit der sich bei Capmany ein hohes Reflexionsniveau und ein ausgeprägtes historisches Bewusstsein mit selbstbewusster Gelassenheit und überlegener Ironie verbinden, erscheint Julián Marías’ Urteil, der in Capmanys Text ein mustergültiges Beispiel der von ihm beschworenen „España posible“ zu erkennen glaubt, kaum zu hoch gegriffen: „nadie había tenido en su tiempo una visión más amplia, profunda y justa del problema“ (1988, 153). Capmany warnt angesichts der in Cadalsos „Carta de un viajante a la violeta a su catedrático“ bekundeten Haltung die Spanier eindringlich vor der Gefahr, ein realitätsfernes, die Vergangenheit überhöhendes, selbstzufriedenes, fortschrittsskeptisches und für die Probleme der Gegenwart blindes Selbstbild aufzubauen: „los que son incapaces de apreciar la Era presente se hacen los Apologistas de los tiempos pasados, porque no hallan otro modo de vengar su inferioridad“ (1988, 144). Auch wenn man die Entstehungszeit der Lettres persanes und ihre romaneske Form als relativierende Umstände berücksichtigen müsse (1988, 135, 140), bleibe Montesquieus Kritik immer noch in vielen Punkten nachvollziehbar, zutreffend und zu beherzigen. Die historische Bedeutung von Capmanys Kommentar liegt darin, dass er gegenüber Cadalsos Kritik
14
„Como uno de los motivos que hé tenido para escribir esta obra, há sido el disminuir en quanto sea posible, las falsas idéas que reynan comunmente acerca de nuestra literatura, usos, y costumbres, así entre los extrangeros, como entre muchos españoles, no puedo menos de insertar aquí un pedazo de quella carta.“ (1969 [1785], 1/II, 23)
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an Montesquieu in beeindruckender Form die grundsätzliche Möglichkeit zu alternativen Reaktionen unter Beweis stellt.15 Ein Fall für sich ist das apologetische Schrifttum, das im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in Italien und in italienischer Sprache überwiegend von spanischen Exil-Jesuiten verfasst wurde, die Spanien nach dem Verbot des Jesuitenordens im Jahr 1767 verlassen mussten. Ein entscheidender, wenn auch nur für einen Teil dieser Schriften maßgeblicher Anstoß ging von Girolamo Tiraboschis (1731-1794) Storia della letteratura italiana (1772-1782, 9 Bde.) und Saverio Bettinellis (1718-1808) Del Risorgimento d’Italia negli studi, nelle arti e ne’ costumi dopo il mille (1775) aus, die den Niedergang der italienischen Literatur im 16. und 17. Jahrhundert auf spanische Einflüsse zurückführten. In explizit apologetischer Absicht reagierte darauf zunächst der gebürtige Katalane Francisco Xavier Llampillas (1731-1810) mit seinem Saggio storico-apologetico della letteratura spagnuola contro le pregiudicate opinioni di alcuni moderni scrittori italiani (1778-1781, 6 Bde.; span. Übers. 1782-1786), der seinerseits eine umfangreiche, ca. 20 Texte umfassende Polemik auslöste.16 Wenig später folgte dann die ähnlich motivierte Storia critica di Spagna e della cultura spagnuola in ogni genere (1781-1787, 2 Bde.; span. Übers. 1783-1805, 20 Bde.) des ebenfalls katalanischstämmigen Juan Francisco Masdeu (1744-1817). Im Kontext der jesuitischen Emigration entstanden außerdem Juan Nuix y Perpiñás (1740-1783) Riflessioni imparziali sopra l’umanità degli Spagnuoli nell’Indie (1780; span. Übers. 1782), die sich gegen den an die Adresse Spaniens gerichteten Vorwurf einer verbrecherischen Kolonialpolitik wendeten, und vor allem die vergleichende Geschichte der europäischen Kulturen von Juan Andrés (1740-1817): Dell’origine, progressi e stato attuale d’ogni letteratura (1782-1799, 7 Bde.; span. Übers. 1786-1807, 10 Bde.).17 Was diese monumentalen Werke
15
Vgl. zu Capmanys Comentario Lopez (1976, 242, 344-346, 428) und Marías (1988, 123-171). 16 Vgl. speziell zu dieser Polemik Tietz (1980a) u. Baasner (1995, 137-187). 17 Vgl. zur Literatur der (Exil-)Jesuiten in Italien u. a. Lopez (1976, 334-339); Mestre (1983, 61-65); García Cárcel (1992, 140-143); Alborg (1993, 858f. [Llampillas]; 860-868 [Andrés]; 902-906 [Masdeu]), Tietz (2001b [Nuix y Perpiñá]) und Sánchez-Blanco (2002, 352-357). Julián Juderías erkennt in ihren Bemühungen, deren Patriotismus er durch das ungerechtfertigte Exil zusätzlich geadelt sieht, „la verdadera reivindicación de España“ (1967, 313).
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neben den besonderen Umständen ihrer Entstehung auszeichnet, ist in erster Linie ihr wissenschaftlich-gelehrtes Profil, durch das sie einen Eigenwert gewinnen, der den apologetischen Impuls und den zumindest im Fall von Llampillas gegebenen Replikencharakter trotz gelegentlicher polemischer Passagen in den Hintergrund treten lässt.18 Die massivste apologetische Wirkung erzielte jedoch Masson de Morvilliers’ Spanien-Artikel, der in Band 1 der Abteilung „Géographie 1“ der von dem bekannten Pariser Verleger Charles-Joseph Panckoucke herausgegebenen Encyclopédie méthodique (1782) enthalten war und im August 1783 nach Spanien ausgeliefert wurde.19 Das Erscheinen von Massons Artikel – Richard Herr spricht diesbezüglich von „the most pregnant incident in the history of the Enlightenment in Spain before 1789“ (1958, 230) – eröffnet insofern eine neue Dimension, als er gleichzeitig zu politisch-diplomatischen und publizistischen Reaktionen führt, mithin verschiedene gesellschaftliche Teilbereiche involviert werden. Darüber hinaus nehmen diese Reaktionen ein internationales Ausmaß an: In Paris antwortet der Spanier Cavanilles (1784), in Berlin der
18 Dass zu einem bestimmten Zeitpunkt die Apologien der spanischen Nation von Italien aus geschrieben werden, bedeutet weder, dass sich die spanisch-italienischen Kulturbeziehungen vollkommen unabhängig von der französischen Kultur entwickelten noch dass man deshalb von einer abgeschwächten Beziehung zu Spanien auszugehen hätte. So vollzieht sich die Darstellung der italienischen Literatur bei Tiraboschi einschließlich der damit verbundenen Angriffe gegen Spanien in deutlicher Abgrenzung von der französischen Kultur (vgl. Tietz 1980a, 432), und spätestens nachdem der Artikel von Masson de Morvilliers erschienen ist, zielen die Reaktionen der spanischen Exil-Jesuiten nicht nur auf die italienischen Stellungnahmen, sondern immer auch auf die Zurückweisung der französischen Perspektive. Was die Beziehung zu Spanien angeht, zeugt allein schon die Tatsache, dass die genannten Werke trotz ihres Umfangs alle sehr rasch ins Spanische übersetzt wurden, von der starken Unterstützung, die sie in Spanien von offizieller Seite erhielten. Außerdem empfingen Autoren wie Llampillas oder Masdeu Pensionszahlungen des spanischen Staates, die anlässlich des Erscheinens ihrer Werke sogar verdoppelt wurden, ohne dass sie sich dadurch jedoch Hoffnungen auf eine Rückkehr nach Spanien machen konnten. 19 Siehe zur Person Masson de Morvilliers und zu den verlegerischen, politischen und literarischen Aspekten der Verbreitung der Encyclopédie méthdodique in Spanien: Herr (1958, 219-230); Lopez (1976, 354-362); Anés Álvarez (1978); Marías (1988, 47-63); Floeck (1991). Die gründlichste Darstellung der gesamten „Affäre Masson“ ist immer noch die von Lopez (1976, 346-435); vgl. auch Sorrento (1928, 89-181); Marías (1988, 4791) und insbesondere zu den Reaktionen im Ausland Lope (1998).
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Italiener Denina (1786) und in Madrid schließlich Juan Pablo Forner (1786). Auffällig ist allerdings, dass in den Jahren 1784/1785 nur wenige unmittelbare Reaktionen auf Masson de Morvilliers’ Artikel zu verzeichnen sind, darunter zum Beispiel das Werk eines anonymen Apologeten, das Antonio Ponz im zweiten Band seiner Viage fuera de España (1785) vollständig abdruckt. François Lopez führt diese relative Zurückhaltung darauf zurück, dass die spanischen Aufklärer die Aufgabe der Verteidigung der spanischen Nation nach den Beiträgen der spanischen Exiljesuiten und der Intervention Cavanilles’ möglicherweise als erledigt betrachteten (1976, 361f.). Andererseits ist festzustellen, dass auch nach Forners kategorischer Oración apologética por la España y su mérito literario durchaus noch direkte Antworten auf Masson de Morvilliers veröffentlicht werden, die nicht vorrangig auf Forners Schrift Bezug nehmen, wovon unter anderem die im Memorial literario im Juni 1787 erschienene „Defensa de Barcelona“ von Mariano Berlon zeugt (vgl. Lafarga 1983). Ähnlich wie im italienischen Milieu der spanischen Exiljesuiten, kommt es auch in Spanien zu ehrgeizigen und umfangreichen Unternehmungen kultureller Selbstvergewisserung, die zwar noch in einer direkten Verweisbeziehung zu Masson de Morvilliers stehen, sich aber keineswegs mehr auf eine rein apologetische Haltung reduzieren lassen. Zu den prominentesten Werken dieser Art gehören Juan Sempere y Guarinos über die spanische Literatur der Gegenwart informierender Ensayo de una biblioteca española de los mejores escritores del reynado de Carlos III (1785-1789, 6 Bde.) und Vicente García de la Huertas die Theaterproduktion des 17. Jahrhunderts dokumentierende Anthologie Theatro hespañol (1785f., 15 Bde.). So erläutert zum Beispiel Sempere y Guarinos seine Absichten in der Vorrede zum ersten Band seines Ensayo folgendermaßen: La publicación de la Encyclopedia Metódica, y varias conversaciones que he oido, así sobre aquella obra, como sobre las Observaciones que ha publicado en París Don Antonio Cavanilles, me han hecho conocer mucho mas la necesdidad que tiene el público de ser instruido con mas individualidad sobre el estado actual de nuestra literatura. Una apología no es suficiente para esto. (1969 [1785], 1/I, 40f.)
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Schließlich bleibt zu erwähnen, dass Masson de Morvilliers’ Artikel ebenso wie Montesquieus Äußerungen über Spanien nicht nur im weitesten Sinne apologetische Reaktionen hervorgerufen hat. So schlägt sich etwa Luis Cañuelo in der Zeitschrift El Censor im „Discurso CX“ vom 22.6.1786 und im „Discurso CXIII“ vom 13.7.1786 demonstrativ auf die Seite des französischen Enzyklopädisten. Die öffentliche Identifikation mit dem ausländischen „Provokateur“ drückt sich schon rein sprachlich in einer Form des Einverständnisses aus, der man zu dieser Zeit so kaum wieder begegnen wird: „Mr. Masson y yo“ (1989, 778). Übertroffen wird Cañuelo nur noch von José Marchena, der sich später der französischen Revolution anschließt. In seiner Zeitschrift El Observador (1787) übernimmt er die Anklage Masson de Morvilliers’ und treibt sie auf die Spitze. Andere, weniger sarkastische Stimmen, wie etwa Bernardo de Iriarte, äußern sich besorgt über die offenkundige Hoffähigkeit der antifranzösischen Stimmungsmache und zugleich belustigt über die Flut der Apologien: „Llovieron apologistas con motivo de aquel fatal artículo“ (zit. n. Lopez 1976, 417). Vorwiegend um eine Entschärfung des Konfliktes und um Sachlichkeit bemüht ist dagegen Julián de Velasco, der Übersetzer und Bearbeiter des anstößigen Spanien-Artikels in der spanischen Fassung des Geographie-Bandes der Encyclopédie, der 1792 in Madrid herauskommt (vgl. Floeck 1991). Das beste Beispiel dafür, dass sich der interkulturelle Konflikt, der den primären Auslöser für die Verteidigungsschriften bildet, in einem intrakulturellen Konflikt fortsetzt und wiederholt, und gleichzeitig die Objektebene der Auseinandersetzung durch eine Metaebene überlagert wird, bietet jedoch die Diskussion, die Juan Pablo Forner mit seiner Oración apologética por la España y su mérito literario entfachte und deren beträchtliches Ausmaß an dieser Stelle wenigstens angedeutet werden soll: Tragende Stützen der Debatte sind zum einen die Angriffe durch die Zeitschriften El Censor, El corresponsal del Censor, El apologista universal und Correo de los ciegos de Madrid, auf die Forner mit den zum Teil umfangreichen Pamphleten Conversaciones familiares (1787, 52 Seiten), Demostraciones palmarias (1787, 55 Seiten) und Pasatiempo (1787, 210 Seiten) antwortet, und zum anderen verschiedene Veröffentlichungen wie die unter dem Pseudonym Josef Canchudo erschienene, Tomás de Iriarte oder Capmany zugeschriebene, Broschüre Car-
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ta al autor de la „Oración apologética por la España y su mérito literario“ (1787, 21 Seiten), auf die Forner mit der Schrift Antisofisma (1787, 63 Seiten) reagiert, sowie die anonymen Cartas de un Español residente en París a su hermano residente en Madrid (1788, 280 Seiten), hinter denen man Joaquín de Escartín vermutet und die Forner im Correo de Madrid in dem Artikel „Lista de los errores“ (1790) zurückweist, und schließlich die ebenfalls anonyme, eventuell von Félix María de Samaniego verfasste, Carta de un amigo de Montesquieu a su amigo „El Censor“ (1788, 23 Seiten). Hinzu kommt eine separate Polemik mit dem Gelehrten Tomás Antonio Sánchez (1790).20 Bevor im nächsten Kapitel der apologetische Kernkomplex, der als Reaktion auf Masson de Morvilliers’ Artikel entstanden ist, einer genaueren Betrachtung unterzogen wird, sollen im Folgenden aus der Geschichte der Apologien zunächst zwei Texte herausgestellt werden, denen innerhalb dieser Geschichte, wie eingangs erläutert, der Status von Gründungsdokumenten zukommt: Montesquieus Lettres persanes und Cadalsos unter dem Titel Defensa de la nación española contra la „carta persiana LXXVIII“ de Montesquieu bekannt gewordene Replik.
C)
DER 78. BRIEF DER LETTRES PERSANES (1721): DOPPELTE SATIRE UND EMBLEMCHARAKTER
Genauso wenig wie die Defensa nicht das einzige Werk ist, in dem sich Cadalso auf Montesquieu bezieht, ist auch der 78. Brief der Lettres persanes bei weitem nicht die einzige Stelle im Gesamtwerk von Montesquieu und nicht einmal in den Lettres persanes selbst, die sich mit Spanien beschäftigt. Ganz im Gegenteil: Das Spanienthema durchzieht als ein relativ kohärenter Gedanken- und Motivkomplex Montesquieus geschichts- und staatsphilosophische Hauptwerke Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence und De l’esprit des lois ebenso wie verschiedene andere, zum Teil erst postum erschienene Werke.21 Die Gründe dafür sind bereits zur 20
Siehe speziell zur Debatte um Forners Oración u. a. Lopez (1976, 388-420); Marías (1988, 64-74); Cañas Murillo (1997, 27-29); Deacon (1998) und Jurado (2000, XXVI-XXXI). 21 So die als Vorarbeiten zu De l’esprit des lois anzusehenden Schriften Considérations sur les richesses de l’Espagne (1721, publ. 1910) und Réflexions sur la monarchie universelle
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Sprache gekommen: Spanien ist für Montesquieu „the pattern country for the disease of Western absolutism in its advanced stages“ (Hulliung 1976, 38) und ein Menetekel für den unter bestimmten Umständen ganz Europa drohenden Verfall imperialer Größe. Dennoch kann man sagen, dass die Lettres persanes eine Sonderstellung einnehmen, und zwar nicht nur, weil sie in dieser Reihe das einzige fiktionale Werk sind, sondern auch weil sie mit der „Lettre LXXVIII“ einen Text enthalten, der Spanien verhältnismäßig ausführlich in seiner kulturellen Eigenart und nicht wie in den übrigen Werken primär als ein – wenn auch herausgehobenes – Beispiel im Rahmen einer übergeordneten universalgeschichtlichen Fragestellung behandelt.22 Das allgemeine Erkenntnisinteresse Montesquieus erstreckt sich im Wesentlichen auf die Fragen nach den Gründen für den Aufstieg und Fall von Imperien und für die Unterschiede zwischen den Regierungsformen. In diesem Zusammenhang gewinnen für ihn in Bezug auf Spanien vier Punkte an Bedeutung: die Kolonialisierung Lateinamerikas, vor allem die Grausamkeit und Tragik der Conquista und die ineffiziente Organisation von Wirtschaft und Handel, dann das Problem der religiösen Toleranz und die Verfolgung Andersgläubiger durch die Inquisition und schließlich die fehlgeleitete Bevölkerungspolitik (Vertreibung der Juden und Muslime, Auswanderung in die Kolonien) sowie die durch den Klerus gestützte, zur Despotie tendierende Regierungsform. Im Unterschied dazu konzentriert sich Montesquieu im 78. Brief der Lettres persanes auf die spanische Kultur im engeren Sinn, das heißt auf elementare Muster des Denkens, Fühlens und Handelns, auf kollektive Werte und Rituale, die sich ihm freilich in Form der zeitgenössischen Vorstellung vom naturgegebenen Nationalcharakter der Spanier darbieen Europe (1734, publ. 1892) sowie die Materialsammlung Spicilège (publ. 1944) und die privaten Notizbücher Mes pensées (publ. 1899-1901). In den Lettres persanes beziehen sich zehn Briefe auf Spanien (29, 60, 78, 102, 109, 112, 121, 131, 136, 143). 22 Soweit zu sehen ist, gibt es weder in der Forschungsliteratur zu Montesquieu noch zu Cadalso oder zum französischen Spanienbild eine Studie, die sich speziell mit dem 78. Brief der Lettres persanes auseinander setzt, oder überhaupt eine Darstellung, die über eine Zusammenfassung der wichtigsten inhaltlichen Aspekte hinausginge. Vgl. zum Spanienbild Montesquieus allgemein Barrière (1947); Fernández Herr (1973, 25-29); Diez del Corral (1976, 357-501); Hulliung (1976, 48-53 u. 85-87); Komorowski (1976, 9-12); Iglesias (1989); Desné (2002, 354-356) und zum Einfluss Montesquieus auf die spanische Geistesgeschichte Elorza (1970, 69-90, „La recepción de Montesquieu“).
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ten. Auch wenn die komisch-anekdotische Oberfläche darüber hinweg täuscht: Das Porträt der Spanier ist nicht nur pittoreskes Beiwerk zu den scheinbar bedeutsameren historischen, politischen und wirtschaftlichen Analysen, sondern genau besehen deren eigentlicher Ursprung, und zwar nicht allein in chronologisch-werkgeschichtlicher Hinsicht. Denn neben den klimatischen und geographischen Verhältnissen zählt Montesquieu ja auch den Nationalcharakter und die unterschiedlichen Sitten und Gewohnheiten der Völker – „les principes qui forment l’esprit général, les mœurs et les manières d’une nation“, wie es in De l’esprit des lois heißt (1951, I, XIX, 556) – zu den zentralen gesellschaftsprägenden Faktoren – was ihn zu einem wichtigen Vorläufer späterer kulturwissenschaftlicher Ansätze macht.23 An der Oberfläche präsentiert sich der „Spanienbrief“ als eine Ansammlung gröbster ethnischer Stereotype, die in dieser kondensierten und zugleich konzisen Form im Kontext der Aufklärung wohl einmalig ist. Im Rahmen der Lettres persanes sind die Spanier überhaupt die einzige Nation, der eine so geschlossene Darstellung zuteil wird.24 Montesquieu schickt Spanien gleichsam als allegorische Figur auf die Bühne der europäischen Öffentlichkeit. Ausgestattet ist diese Figur mit den äußeren Attributen Brille, Schnurrbart, Degen und Gitarre. Hinzu kommen die Charaktereigenschaften Stolz, Eitelkeit, Ernst, Trägheit, Faulheit, Eifersucht, Leidenschaft und Frömmigkeit. Darüber hinaus bringt Montesquieu die Grundlagen des traditionellen spanischen Wertesystems in Erinnerung: Ehre, Blutreinheit, weiße Hautfarbe und Adelsprätention. Spanische Alltagsrituale werden in einer Reihe grotesk-absurder Miniaturszenen der Lächerlichkeit preisgegeben: ein 23
Da Montesquieu Spanien auf seiner obligatorischen Bildungsreise, die ihn zwischen 1728 und 1730 nach Deutschland, Österreich, Italien und England führte, aussparte, kennt er das Land, wie viele andere französische Aufklärer auch, nicht aus eigener Anschauung – und das, wie Julían Marías betont, „a pesar de que su château de La Brède estaba cerca“ (1985, 297). Er stützt sich hauptsächlich auf die Reiseberichte der Mme d’Aulnoys, Relation du voyage d’Espagne, Paris: Barbin, 1681, und des Abbé de Vayrac, Etat présent de l’Europe, 4 Bde., Paris: Des Hayes, 1718. Vgl. zu den Quellen Montesquieus das Vorwort und die Anmerkungen des Herausgebers der Lettres persanes Paul Vernière (Montesquieu 1975, XVIII, XXI, XXVII, 163-168). 24 Vgl. Roland Desné: „Es interesante observar que sólo los españoles, entre los extranjeros europeos, son objeto de una descripción en regla y ocupan, con ese título, una larga entrada en el índice de contenidos.“ (2002, 355)
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General verschickt seinen Schnurrbart als Pfand, Adelstitel werden durch möglichst langes Stillsitzen erworben, beim Liebeswerben unter dem Fenster der Angebeteten holt man sich einen Schnupfen, und Bestrafungen werden nicht ohne die höfliche Bitte um die Erlaubnis der Betroffenen durchgeführt. Neben einzelnen Bevölkerungsgruppen wie dem Adel, dem Klerus und dem Militär werden schließlich auch so unterschiedliche Institutionen wie die Inquisition und die Literatur nicht ausgespart. Auf den ersten Blick erscheint dieser Katalog spanischer Kulturmerkmale sehr heterogen. Er wird jedoch durch zwei verschiedene Isotopien zusammengehalten. Die erste Isotopie manifestiert sich in einer genauen Gegenbildlichkeit zum aufklärerischen Verhaltensideal. So sind alle von Montesquieu angeführten Phänomene durch das eigene positive Selbstbild determiniert, das sie als dessen Negativ implizieren. Wenn man Montesquieus Darstellung daraufhin Punkt für Punkt durchgeht, lässt sich eine Oppositionsreihe herausfiltern, die ungefähr folgendermaßen aussieht: Substanz statt Symbolik, Realitätssinn statt Einbildung, Bewältigung der Gegenwart statt Festhalten an Traditionen, Fleiß statt Faulheit, Arbeit statt Müßiggang, Verdienst durch Leistung statt unverdiente Privilegien, Vernunft (im Sinne der Abschätzung der Folgen des eigenen Tuns) statt Unbedachtheit, Einheit von Theorie und Praxis statt Differenz zwischen beiden, religiöse Toleranz statt Verfolgung von Ketzern, Bildung statt Unwissenheit, Konzentration auf das Naheliegende statt Streben nach dem Fernen usw. Die hier vorliegende Art der Alteritätskonstruktion ist typisch nicht nur für den französischen, sondern den gesamten zentraleuropäischen Aufklärungsdiskurs, wie bereits im ersten Teil dieser Arbeit gezeigt wurde. Sie dient in erster Linie der Selbstbestätigung des eigenen aufgeklärten Wertesystems. Daraus erklärt sich schließlich auch der nicht-referenzielle, weitgehend imaginäre Charakter des Spanienbildes in den Lettres persanes. Die zweite Isotopie besteht in der irritierenden Widersprüchlichkeit, die Montesquieu in die von ihm beschriebenen Verhaltens- und Kommunikationsformen hineinlegt. Dem allseits erhobenen Vorwurf der Oberflächlichkeit seines Spanienbildes zum Trotz, leistet Montesquieu damit durchaus auch eine Tiefendiagnose der spanischen Kultur. So vermerkt er zum Beispiel, dass die spanischen Männer zwar eifersüchtig darüber wachen, dass ihre Frauen nicht einem invaliden Soldaten zu nahe kom-
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men, sie auf der anderen Seite aber bereitwillig mit einem lüsternen Mönch alleine lassen. Um zu verdeutlichen, worauf Montesquieu mit diesem und ähnlichen Beispielen hinaus will, ist es hilfreich, eine Textstelle aus De l’esprit des lois heranzuziehen, die auf den ersten Blick mit dem Beispiel aus den Lettres persanes nicht viel zu tun zu haben scheint. Am Ende des ersten Bandes von De l’esprit des lois geht Montesquieu der Frage nach, warum Spanien nicht in dem erwarteten Ausmaß von der Ausbeutung seiner Kolonien profitieren konnte. Seine Antwort läuft darauf hinaus, dass sich die Spanier verhängnisvollerweise von den durch Arbeit erworbenen „richesses naturelles“ (1951, I, XXI, XXII, 646) zugunsten von Gold und Silber abwendeten, die als „richesse de fiction ou de signe“ (645) keine Subsistenz gewährleisten und in demselben Maß an Wert verlieren, wie sie an Menge zunehmen: „Plus ils se multiplient, plus ils perdent de leur prix, parce qu’ils représentent moins de choses.“ (645f.) Es ist dieser Referenzverlust, die Neigung ohne Rücksicht auf Praxis, Alltag und Zukunft zu handeln, der die beiden Textstellen im Kern miteinander verbindet. Nach Montesquieus Diagnose haben sich die Spanier in einer illusionären Wirklichkeit, in einer Welt der Zeichen und Symbole eingerichtet, die sie der materiellen Realität und der Bereitschaft zu ihrer erfolgreichen Bewältigung entfremdet hat.25 Montesquieus Lettres persanes verdanken einen großen Teil ihrer Wirkung der Brillanz ihrer satirisch-komischen Darstellungsweise.26 Für den 78. Brief gilt das in ganz besonderem Maße. Die Reaktion der Opfer der Satire, der betroffenen Spanier, richtet sich daher vor allem auch gegen den Stil des Briefs, der nicht nur als unzutreffend in der Sache, sondern auch als unangemessen im Ton empfunden wird. Montesquieus 25
Vgl. dazu Hans Ulrich Gumbrecht: „Für uns ist übrigens [...] auch die Beobachtung interessant, daß sich alle Besonderheiten der spanischen Gesellschaft des frühen XVIII. Jahrhunderts, die von Montesquieus Text aufs Korn genommen werden, mit unserer Formel von der ‘Ontologisierung der Fiktion/Entwirklichung des Alltags’ [d. h. dem Deutungsmuster für die spanische Barockkultur] erfassen lassen. Montesquieu – oder sein erfundener ‘in Spanien lebender Franzose’ – ist fasziniert (verwirrt?) angesichts eines sozialen Verhaltens, das all seine praktischen Konsequenzen auszublenden bereit ist, um andererseits der Aktualität von bloßen Gesten und Zeichen höchste, ja ausschließliche Beachtung zu schenken.“ (1990, 491) 26 Von den 161 Briefen der Lettres persanes zählen nach Jean Goldzink 65-70 zu den satirischen Briefen (1989, 81). Goldzink hebt hervor, es sei der „énoncé satirique, qui fonde si évidemment la célébrité des Lettres persanes“ (86).
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satirische Verve beruht auf der Kombination zweier Kunstgriffe: der außerordentlichen Dichte der satirischen Verfahren und der aphoristischen Prägnanz seiner Aussagen – nahezu jeder Satz bringt eine neue Pointe. Montesquieu bedient sich dabei des gesamten Spektrums satirischer Techniken: von der Synekdoche, der Verselbständigung akzessorischer Details wie dem Schnurrbart, der im wahrsten Sinne des Wortes von seinem Träger abgelöst wird, über die Ironie (ein untätiger Mexikaner erscheint als „créature si parfaite“, 1975, 165) und die Hyperbel („ils sont toujours amoureux“, 166) bis zur Periphrase („ces invincibles ennemis du travail“, ebd.) – und von der Klischeehäufung, über die komische Konkretisierung (dem „Ersitzen“ von Adelstiteln) und der Gleichsetzung von Gegensätzlichem (von seelischen Liebesqualen und schmerzhaften Geschlechtskrankheiten) bis hin zu der witzigen und später viel zitierten Sentenz, mit der Montesquieu pauschal die spanische Literatur abwertet: „Le seul de leurs livres qui soit bon est celui qui a fait voir le ridicule de tous les autres.“ (167) Die Arroganz und Selbstgerechtigkeit, mit der in diesen Äußerungen indirekt die eigenen Normen verabsolutiert werden, und die Unkenntnis oder Böswilligkeit, die hinter der Herabwürdigung des Gegners stehen, sind Eigenschaften, die mehr oder minder jede Satire auszeichnen. Darüber hinaus ist aber die Vermutung nicht ganz von der Hand zu weisen, in Montesquieus Vorgehen sei auch eine gewisse Lust am Vernunftwidrigen und Unkorrekten am Werk, die Lust, im ironischen Bewusstsein der eigenen Aufgeklärtheit endlich auch einmal selbst das zu produzieren, was man ansonsten immer nur kritisiert: Klischees und Vorurteile.27 Vor diesem Hintergrund kann es jedenfalls nicht verwundern, dass die spanischen Aufklärer, allen voran Cadalso, gleich einen mehrfachen Verstoß gegen das decorum beklagen. Wenn man den 78. Brief der Lettres persanes ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Spaniensatire betrachtet, folgt man damit zwar der Perspektive, aus der dieser Brief, zumal von spanischer Seite, haupt-
27
Wenn man für möglich und zutreffend hält, dass Montesquieu sich und seinesgleichen die eigene Aufgeklärtheit ironisch dadurch zu bestätigen versucht, dass er sich auch betont unaufgeklärt verhalten kann, dann wird man seine Satire kaum mehr als „fort peu spirituelle“ (Lopez 1976, 234) bezeichnen wollen.
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sächlich wahrgenommen wurde, wird aber der Komplexität und Raffinesse der von Montesquieu angebotenen Rezeptionsmöglichkeiten nicht gerecht. Um die von Montesquieu getroffenen Vorkehrungen zur Relativierung und Distanzierung angemessen zu würdigen, ist es vielmehr nötig, den Kontext und den Gesamtaufbau des Briefes einzubeziehen. Der Blick auf den Kontext offenbart zunächst die triviale Tatsache, dass die überwiegende Mehrzahl der satirischen Briefe Frankreich selbst zum Gegenstand haben. Immerhin scheint es auch Capmany angebracht, diesen Umstand in Erinnerung zu rufen: „Los Lectores que se han enfurecido contra este famoso Presidente deben saber que las Cartas Persianas se dirigieron a satirizar todos los vicios y ridiculeces de sus mismos Paisanos“ (1988, 134). Doch Spanien ist auch nicht das einzige nicht-französische Land, dessen bestenfalls bizarre und schlimmstenfalls barbarisch-perverse Sitten satirisch angeprangert werden. Bezeichnenderweise werden die ebenfalls von Rückständigkeit und Despotismus geprägten Verhältnisse in Russland von Nargum, dem persischen Gesandten in Moskau, im 51. Brief ganz ähnlich dargestellt – ähnlich auch in dem Punkt, dass Montesquieu die besonders provozierende Klage eines jungen Mädchens, das sich von seinem Ehemann nicht ausreichend geachtet fühlt, weil er sie nicht regelmäßig schlägt, in Form eines eingeschobenen Briefes von diesem selbst vortragen lässt.28 Ein solcher Brief im Brief ist es bekanntlich auch, in dem Montesquieu sein Porträt der Spanier unterbringt. Im Grunde wird damit sogar eine Kommunikationsebene dritten Grades eröffnet, wenn man bedenkt, dass die von den Korrespondenten ausgetauschten Briefe in der Einleitung ihrerseits als durch einen anonymen Herausgeber übersetzte und bearbeitete Abschriften bezeichnet werden. Den Rahmen des 78. Briefes bildet ein Einleitungssatz, in dem Rica, der sich in Paris aufhält, die Kopie eines Briefes ankündigt, der von einem Franzosen stammt, der sich gerade in Spanien befindet. Es folgt der Brief des Franzosen, der die Skizze des spanischen Nationalcharakters ent-
28
Dieselbe Anekdote findet sich, wie bereits erwähnt, auch in Feijoos discurso „Amor de la patria y pasión nacional“ im dritten Band des Teatro crítico universal von 1729 (1986, 241f.), wo sie als exotisches Beispiel für hartnäckige Aufklärungsresistenz angeführt wird. Im Unterschied zu Spanien gilt Russland Montesquieu jedoch als aufstrebende Großmacht (vgl. Hulliung 1976, 84f.).
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hält. Daran schließt sich ein kurzer Kommentar Ricas an, in dem sich dieser ausmalt, zu welchen Erkenntnissen ein im Gegenzug durch Frankreich reisender Spanier gelangen würde: „je crois qu’il vengerait bien sa nation“ (168). Eine kurze Anekdote, auf die gleich noch zurück zu kommen sein wird, deutet an, welche Beobachtungen ein solcher Gegenbrief umfassen könnte. Mit einer Abschiedsformel Ricas endet der 78. Brief. Der mehrstufige Aufbau dieses Briefes versetzt den Leser in die Lage, das im Hauptteil konstruierte Spanienbild einer dreifachen Dekonstruktion unterziehen zu können. Das erste Moment der Dekonstruktion besteht darin, dass das Spanienbild seiner Perspektivenabhängigkeit überführt und damit in seiner Objektivität erschüttert wird. Das geschieht durch die nochmalige innerfiktionale Rahmung in Form des Briefs im Brief, wobei der distanzierende Effekt dieser Rahmung durch die Einbettung in eine die eigene Kultur verfremdende persische Außenperspektive zusätzlich verstärkt wird. Dadurch gewinnt die Satire einen doppelten Charakter. Sie gilt nicht mehr allein den spanischen Verhältnissen, sondern fällt auf ihren Urheber zurück; sie wird lesbar als Satire auf die Arroganz und Selbstgerechtigkeit, Unkenntnis und Böswilligkeit, die das sich für aufgeklärt haltende Frankreich im Verhältnis zu seiner Nachbarnation an den Tag legt.29 Ist die Rahmenfiktion dazu geeignet, die Perspektivenabhängigkeit des Fremdbildes aufzudecken, so liegt das zweite Moment der Dekonstruktion bzw. eine andere Variante der doppelten Satire in der insinuierten Möglichkeit der Gegensatire, der potenziellen Umkehrbarkeit der Perspektiven. Mit der Überlegung, dass der verspottete (spanische) Fremde grundsätzlich auch als Beobachter der eigenen (französischen) Verhältnisse in Frage kommt, wird ein Reflexionsprozess angestoßen, an dessen Ende die Einsicht in die unhintergehbare Relativität und kulturelle
29 Vgl. dazu vorsichtig Tietz: „Es handelt sich damit wohl im Grunde um eine Parodie des französischen Spanienbildes.“ (1980, 31) Dass es grundsätzlich zu Montesquieus Anliegen gehört, die kulturelle Borniertheit der Franzosen zu verspotten, zeigt im 30. Brief die Reaktion der Pariser Gesellschaft auf die Begegnung mit Rica: „Ah! ah! Monsieur est Persan? c’est une chose bien extraordinaire! Comment peut-on être Persan?“ (69)
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Standortgebundenheit des eigenen Urteils steht. Dieses erkenntniskritische Element ist ein grundsätzliches Merkmal der Lettres persanes, das schon in der Briefstruktur angelegt ist und auch ausdrücklich beim Namen genannt wird. So schreibt Rica im 59. Brief an Usbek: „Il me semble, Usbek, que nous ne jugeons jamais des choses que par un retour secret que nous faisons sur nous-mêmes. Je ne suis pas surpris que les Nègres peignent le diable d’une blancheur éblouissante et leurs dieux noirs comme du charbon“ (124).30 Um das dritte Moment der Dekonstruktion, oder besser: der Dekonstruierbarkeit des dargestellten Spanienbildes richtig fassen zu können, ist es hilfreich, den Aufbau des Briefs noch einmal unter einem anderen Blickwinkel Revue passieren zu lassen. Man kann diesen Aufbau nämlich auch in Anlehnung an die Struktur eines Emblems beschreiben. Ganz wie ein barockes Emblem, das sich aus inscriptio (Motto), pictura und subscriptio zusammensetzt, umfasst der Brief drei Teile. Der einleitende Satz „une lettre qu’un Français qui est en Espagne a écrite ici“ (163) gibt nach Art der inscriptio in abstrakter Form das Thema an: die Sicht eines Franzosen auf Spanien. Die folgende detailfreudige Schilderung der spanischen Sitten entspricht der pictura, die zu einer „realistischen“, referenziellen Lektüre einlädt. Daran schließt sich die erläuternde subscriptio an, die hier allerdings in eine zweite pictura, eine kleine Erzählung eingekleidet wird – das ist die bereits erwähnte Gegensatire, der imaginierte Bericht eines spanischen Reisenden aus Paris: Il y a ici une maison où l’on met les fous. On croirait d’abord qu’elle est la plus grande de la Ville. Non! Le remède est bien petit pour le mal. Sans doute que les Français, extrêmement décriés chez leurs voisins, enferment quelques fous dans une maison, pour persuader que ceux qui sont dehors ne le sont pas. (168)
30
Weder die Vorstellung vom Ego- und Ethnozentrismus des menschlichen Urteilens noch der „Aufweis einer systematisch und ideologisch nicht einholbaren Vielstimmigkeit“ (Wolfzettel 2000, 53) in den Lettres persanes schließen jedoch die Existenz absoluter und universeller Normen, wie etwa Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit, aus (vgl. Todorov 1989, 393-397).
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Worin besteht der Erklärungsgehalt dieser subscriptio? Montesquieu verdeutlicht mit seiner Anekdote, dass sich der Gegensatz zwischen Vernunft und Unvernunft nicht der natürlichen Ordnung oder der göttlichen Vorsehung verdankt, sondern einer letztlich willkürlichen Grenzziehung derjenigen, die für vernünftig gehalten werden wollen und über die Macht verfügen, andere für verrückt zu erklären. So erweist sich die Vernunft nur als eine andere Form des Wahnsinns und der Wahnsinn als eine andere Form der Vernunft. Montesquieu relativiert damit immerhin den zentralen Wert der Aufklärung schlechthin – und die Grundlage des kulturellen Selbstverständnisses der Franzosen, aus dem diese ihren Anspruch auf Meinungsführerschaft in Europa ableiten. Im Hinblick auf ihren gedanklichen Kern und dessen Veranschaulichung am Beispiel der Internierung von Geisteskranken wirkt Montesquieus Anekdote wie eine programmatische Vorwegnahme von Michel Foucaults erster großer diskursanalytischer Studie Folie et déraison. Histoire de la folie à l’âge classique (1961), in der sich die Geschichte der institutionellen Domestizierung des Wahnsinns und seiner diskursiven Hervorbringung als Geisteskrankheit mit einer grundlegenden Kritik der abendländischen Vernunft verbindet. Foucault selbst eröffnet das Vorwort zu seiner Untersuchung im Übrigen mit einem Zitat aus Dostojewskijs Tagebuch eines Schriftstellers, das wie eine Antwort auf Montesquieus Anekdote klingt: „Ce n’est pas en enfermant son voisin qu’on se convainc de son propre bon sens.“ (1961, I) Was sich bei Montesquieu angedeutet findet und von Foucault konzeptuell ausgearbeitet wird, ist die korrelative Entstehung von Erfahrungsbereichen und Erkenntnisgegenständen, die nur noch der Geste der Unterscheidung selbst Ursprünglichkeit zugesteht: „Est originaire la césure qui établit la distance entre raison et non-raison“ (If.). Diese konstitutiven Gesten bestimmt Foucault in der Folge noch genauer als „gestes obscurs, nécessairement oubliés dès qu’accomplis, par lesquels une culture rejette quelque chose qui sera pour elle l’Extérieur“ (III). Wenn man nun die subscriptio in diesem Sinne versteht und auf die pictura zurückwendet, stellt sich eine dreifache Erkenntnis ein. Erstens: Die stereotype Herabsetzung und Verspottung der Spanier, die dadurch zum „village idiot of Europe“ (Hulliung 1976, 53) gemacht werden, leistet dasselbe für das Selbstbild der Franzosen wie
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die Einsperrung einiger Verrückter für das Rationalitätsbewusstsein der Einwohner von Paris. Zweitens: Genauso wie die Unterscheidung zwischen Vernunft und Unvernunft wird auch die zwischen dem Eigenem (Französischen) und dem Fremden (Spanischen) innerhalb einer Kultur (hier der französischen) getroffen. Drittens: Die Definition des Fremden und die des Eigenen sind so untrennbar verbunden wie zwei Seiten einer Medaille: Wer das eine definiert, definiert zugleich auch das andere. Unter der Voraussetzung, dass man dem 78. Brief der Lettres persanes tatsächlich dieses Reflexionsniveau zubilligt, drängen sich zwei abschließende Bemerkungen auf: Zum einen ist festzustellen, dass Montesquieus Erkenntnisstand offenbar kaum hinter dem der modernen Identitäts- und Interkulturalitätsforschung zurückbleibt. Zum andern zeichnet sich in der Darstellung Montesquieus eine spezifische Beschränkung des aufklärerischen Diskurses über das Fremde ab, die zugleich eine Eigenart des französischen Diskurses über das Fremde generell ist: Obwohl in den Lettres persanes die Bereitschaft sichtbar wird, sich grundsätzlich auf kulturelle Sachverhalte einzulassen, zeigt sich gerade im Fall Spaniens, dass das kulturell Fremde nur unter dem universalistischen Aspekt des Anderen der Vernunft in den Fokus der Aufmerksamkeit gerät.31 Das wird schon in der Beschreibung der kulturellen Besonderheiten Spaniens selbst deutlich, die sich durchgehend als Negation zentraler aufklärerischer Werte darstellen: „quelque ennemi secret de la raison humaine“ (167) sieht Montesquieu in den spanischen Bibliotheken am Werk. Aber auch in der emblematischen Struktur des Briefes schlägt sich diese Haltung nieder, und zwar insofern, als die pictura in ihrer Konkretheit üblicherweise eine lediglich dienende Rolle
31 Diese Haltung kennzeichnet nicht nur bis heute den offiziellen politischen Diskurs in Frankreich, sondern schlägt sich in subtilerer Form auch noch in einer Studie wie Julia Kristevas Etrangers à nous-mêmes (1991 [1988]) nieder. Kristeva favorisiert einen psychoanalytischen Begriff des Fremden, der davon ausgeht, dass in jedem Individuum ein irreduzibles Element des Fremden vorhanden ist, das es anzuerkennen gilt, um es nicht aggressiv auf einen äußeren Fremden zu projizieren: „Étrangement, l’étranger nous habite: il est la face cachée de notre identité“ (9). Wolfgang Müller-Funk kommentiert: „Kristevas Konzept des Fremden ist universalistisch, nicht kulturalistisch. Interessant am Fremden ist nicht dessen fremde Kultur, sondern seine Fremdheit als solche, die uns mit der eigenen Fremdheit konfrontiert.“ (2001, 3)
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gegenüber der subscriptio erfüllt, während die subscriptio darauf Anspruch erheben darf, allgemeingültige Einsichten zu vermitteln, wie etwa in diesem Fall die Einsicht in die Konstitutionsbedingungen der Vernunft. Bezeichnenderweise wird diese Einsicht jedoch bei Montesquieu in Form einer zweiten pictura vermittelt, die Paris/ Frankreich zum Schauplatz hat, und sich dadurch ihrerseits als ethnozentrisches Produkt zu erkennen gibt. – Wie reagiert Cadalso auf die unterschiedlichen und widersprüchlichen Verständnisangebote, die Montesquieus „carta persiana LXXVIII“ bereit hält, und wodurch ist seine Reaktion motiviert?
D)
CADALSOS DEFENSA: ANATOMIE EINES KULTURELLEN MISSVERSTÄNDNISSES
Montesquieu hat es den Verfassern eventueller Repliken auf seinen 78. Brief nicht leicht gemacht. Die ironische Vieldeutigkeit seines Textes entzieht sich der Festlegung auf eine eindeutige Aussage und damit auch einem möglichen Angriff: Wer sich über die Spanienkritik empört, muss sich vorhalten lassen, dass er ja nur die Karikatur der arroganten und ignoranten Weltsicht eines Franzosen vor sich hat; wer den Brief aber tatsächlich als eine Satire liest, die sich im Grunde gegen die Franzosen selbst richtet, wird sich nur schwer mit dem Skandalon abfinden können, dass er, soweit es sich um einen Spanier handelt, damit zugleich eine ausführliche Verspottung seiner eigenen Nation in Kauf nehmen muss. Genau darin liegt ja die tiefe Zweideutigkeit der Ironie, der sich Montesquieu so souverän bedient: Obwohl etwas angeblich nicht gemeint ist, wird es gesagt und ist damit in der Welt. Hinzu kommt, dass Montesquieu selbst schon die Möglichkeit einer spanischen Gegensatire vorgesehen hat – „Je ne serais pas fâché, Usbek, de voir une lettre écrite à Madrid par un Espagnol qui voyagerait en France“ (168) – und damit jeden potenziellen Gegner zwangsläufig dazu bringt, in die von ihm bereits vorgezeichneten Spuren zu treten. Antonio de Capmany gelingt es, wie schon angedeutet wurde, aus der von Montesquieu aufgestellten Zwickmühle herauszuspringen, indem er einerseits zur Gelassenheit mahnt und damit auch die Möglichkeit, gar nicht zu antworten, ins Spiel bringt („No seamos tan
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delicados y melindrosos, por unos ultrajes de papel“, 1988, 135), und andererseits Montesquieus Vorgehensweise in ihrer ganzen Komplexität wie auch in ihrer historischen Bedingtheit zur Kenntnis nimmt. Cadalso wählt dagegen einen anderen Weg, der hier unter dem Leitbegriff des „kulturellen Missverständnisses“ untersucht werden soll. Dahinter verbirgt sich ein dreifacher Sachverhalt: Erstens praktiziert Cadalso eine bestimmte Form des misreading, das heißt einer Fehllektüre, die sich in der (teilweisen) Ablehnung des vom Text zur Verfügung gestellten Rezeptionsangebotes niederschlägt und zu einem Verfehlen dessen führt, was sich einem außenstehenden Beobachter als adäquates Verständnis des Textes darstellt.32 Konkret äußert sich Cadalsos Fehllektüre darin, dass er den 78. Brief als missglückten Versuch einer Beschreibung der spanischen Wirklichkeit auffasst und die von Montesquieu vorgesehenen Distanzierungs- und Dekonstruktionmöglichkeiten ignoriert oder zumindest ihre volle Tragweite nicht erkennt bzw. erkennen will. Das betrifft zunächst einmal ganz grundlegend den fiktionalen Status des Briefs und seines Autors (Usbek) und erstreckt sich dann auf die Einsicht in den Doppelcharakter der Satire, der durch die Rahmenkonstruktion nahegelegt wird, auf die im Vorschlag einer Gegensatire implizierte Perspektivenabhängigkeit des Spanienbildes und schließlich auch auf die Offenlegung des Grundmechanismus von Alteritätskonstruktionen in der eingeschobenen Paris-Anekdote, in der Cadalso nur eine für den Stil Montesquieus typische „superficial satirilla“ (33) zu sehen vermag.33 Darüber ist natürlich nicht zu vergessen, dass Cadalsos selbst gewählte Aufgabe die eines Apologeten und nicht die eines Hermeneu-
32 Der Begriff wird hier also nicht wie bei Harold Bloom (A Map of Misreading, 1975) oder Paul de Man (Allegories of Reading, 1979) im dekonstruktivistischen Sinn eines grundsätzlichen Spiels der Differenz, das die Bedeutung literarischer Texte von vornherein unterminiert, verwendet. 33 Es ist zwar richtig, dass die Lettres persanes ursprünglich vor allem als satirisches und moralistisches Werk und nicht als Roman gelesen wurden, doch hatte sich das Bild in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts längst grundlegend geändert, wovon nicht zuletzt die Überlegungen Montesquieus selbst ein eindrucksvolles Zeugnis ablegen („Quelques réflexions sur les Lettres persanes“), die zusammen mit der Neuauflage von 1754 abgedruckt wurden (vgl. Wolfzettel 2000, 54-58).
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ten ist, dem es nach Schleiermacher darauf ankommen muss, „Mißverstand zu vermeiden“ (zit. n. Gadamer 61990, 188). Um sein Anliegen wirkungsvoll zu präsentieren, ja um überhaupt als Apologet auftreten zu können, muss Cadalso Montesquieu geradezu missverstehen und das Bedeutungsspektrum des 78. Briefs auf einen ungerechtfertigten Angriff gegen Spanien reduzieren. In pragmatischer Hinsicht ist Cadalsos Fehllektüre eine richtige Lektüre: Indem er sich weigert, die ironische simulatio und das von Montesquieu vorgesehene Moment der Selbstinfragestellung zur Kenntnis zu nehmen, durchbricht er das immunisierende Spiel mit der Mehrdeutigkeit, das jede eindeutige Festlegung unterläuft. Von einem kulturellen Missverständnis kann zweitens hinsichtlich dessen die Rede sein, was Cadalso an Montesquieu kritisiert: Cadalso wirft Montesquieu mangelndes Bemühen um ein ernsthaftes Verständnis der spanischen Kultur vor. Das Beharren auf einem fiktiven Bild, das nicht mit Realität und Erfahrung vereinbar sei, führt er auf die gewollte Unwissenheit, die Ignoranz und Arroganz des Franzosen zurück. Sein eigenes Werk versteht er dagegen als Versuch, die Missverständnisse und kulturellen Fehlinterpretationen von Montesquieus „crítica tan infundada como atrevida“ (4) zu korrigieren. Ein kulturelles Missverständnis der Art, wie Cadalso es an Montesquieu kritisiert, ist drittens aber auch auf Cadalsos eigener Seite zu konstatieren. Es manifestiert sich in seiner Fehllektüre ebenso wie in seiner Kritik an Montesquieu und resultiert aus dem bedenkenlosen Festhalten an typisiertem Wissen über die französische Kultur, aus einem mangelnden Bewusstsein für die wechselseitige Bedingtheit der Zuschreibungen kollektiver Eigenschaften und aus der nicht weit genug reichenden Bereitschaft, sich gedanklich in die Position des Anderen zu versetzen, obwohl Ansätze hierzu durchaus vorhanden sind. Es muss jedoch im Einzelnen offen bleiben, inwieweit es sich bei all dem um unbemerkt ablaufende Vorgänge oder um eine bewusst angewendete Strategie handelt. Im Hinblick auf den Vorteil, den Cadalso aus seiner Vorgehensweise ziehen kann, spielt die Frage nach der Intention sowieso nur eine untergeordnete Rolle: Die drei genannten Arten des Missverständnisses sind nicht nur dem rhetorisch-polemischen Charakter der Gattung geschuldet, sie bilden
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auch die Voraussetzung für die nationale Ausrichtung der spanischen Kultur, die Cadalso in seiner Defensa vornimmt. Anders ausgedrückt: Mit seiner Replik auf Montesquieu schafft sich Cadalso genau die Vorlage, die er für seine Zwecke braucht. Die Prämisse, dass Montesquieus Aussagen über die spanische Kultur einen gewissen Wahrheitsanspruch erheben, ermöglicht es Cadalso, mit großem Argumentationsgeschick einen ganzen Fächer unterschiedlicher Reaktionen zu entfalten.34 So historisiert er in seiner dritten Vorbemerkung zunächst den Konflikt zwischen Frankreich und Spanien, den er auf die Eroberung Neapels im Jahr 1443, den Imperialismus der Habsburger und die, wie er zugibt, ungastlichen Verhältnisse in Spanien selbst zurückführt. Auch ist er durchaus bereit, Montesquieus Kritik in einigen Punkten als berechtigt anzuerkennen, etwa in Bezug auf bestimmte Charaktereigenschaften der Spanier („gravedad“, 15; „soberbia“, 18; „desidia y superstición“, 19), den Zustand der spanischen Literatur (31) oder die Vernachlässigung einzelner Provinzen (32). Allerdings versäumt er es in keinem Fall, auf die jeweiligen Ursachen, Vorteile und positiven Auslegungsmöglichkeiten der inkriminierten Sachverhalte hinzuweisen – oder er nutzt die Gelegenheit zu einem Gegenangriff: Confieso que pudiera estar en mucho mayor auge nuestra literatura española en este siglo. Pero no toca a los franceses llamarnos ignorantes, pues ellos van caminando a toda prisa a su antigua ignorancia, según la superficialidad de las obras que hoy publican. (31)
Diese Art der Replik, die schon zu den schärferen Formen der Auseinandersetzung gehört, findet sich bei Cadalso in unterschiedlichen Ausprägungen. Entweder antwortet er mit dem Gegenteil dessen, was Montesquieu behauptet, wie im Fall der angeblichen Untätigkeit des spanischen Adels, die er mit einer Auflistung der militärischen Leistungen Spaniens zu widerlegen versucht (21f.), oder er gibt den Vorwurf des Gegners an diesen selbst zurück, indem er beispielsweise die von Montesquieu unterstellte Vorliebe der Spanier
34 Cadalso antwortet also keineswegs nur symmetrisch, wie Hans Ulrich Gumbrecht behauptet (1990, 492).
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für die Inquisition mit einer ausführlichen Darlegung der blutigen Religionskonflikte in Frankreich pariert (25-28). Darüber hinaus stellt Cadalso schon gleich zu Beginn seiner Defensa die Legitimität der Kritik Montesquieus unter Hinweis auf dessen mangelnde Sachkenntnis grundsätzlich in Frage. Seiner eigenen Apologie verleiht er hingegen dadurch Gewicht, dass er deutlich werden lässt, die Spanier stünden mit ihrer Abneigung gegen Frankreich in Europa nicht alleine da: „sabrá cualquiera que ha viajado que sucede lo mismo en casi todas las partes del orbe conocido“ (15). Cadalsos apologetische Reaktion beschränkt sich indessen nicht auf die Zurückweisung der fremden Meinung, sondern bezieht konsequenterweise auch die Form des Angriffs mit ein, deren ethische Dimension er im Horizont der Rhetorik als vierfachen Verstoß gegen das decorum wertet, als Unangemessenheit des Stils im Hinblick auf die Person des Autors, die behandelte Sache, die betreffende Situation und die Stellung der Rezipienten. Die Hauptanklage lautet: „para infamarnos atropellaba a cada renglón las reglas de la verdad, decoro y juicio“ (4). An die Person des Autors richtet sich der Vorwurf, seiner gesellschaftlichen Stellung, seiner Herkunft, seines Amtes und seiner Nation unwürdig zu handeln. Um die Anstößigkeit dieses Handelns zu verdeutlichen, streicht Cadalso die ansonsten glänzenden Verdienste Montesquieus nachdrücklich heraus: „doctor y magistrado, gloria de su nación, honor de la toga francesa y autor del Espíritu de las Leyes“ (4).35 Die Sache selbst, die Kritik eines Königreichs bzw. einer Nation, zähle zu den ernsthaftesten Gegenständen; ihre angemessene Behandlung verlange daher umfangreiche und gründliche Kenntnisse: „Para hacer tan grave papel con algún acierto, se necesitan muchas calidades como conocimiento de las leyes, historias, religión, genio, gobierno, revoluciones, constituciones, clima y producto del país“ (13). Stärker situationsbezogen ist die Kritik an der Funktion des satirischen Stils, dem Cadalso vorwirft, vorrangig dem Bedürfnis nach
35
Auch diese Kritik hat Montesquieu bekanntlich in der Einleitung zu den Lettres persanes bereits ironisch vorweggenommen: „Si l’on savait qui je suis, on dirait: ‘Son livre jure avec son caractère; il devrait employer son temps à quelque chose de mieux: cela n’est pas digne d’un homme grave.’“ (1975, 7)
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Zeitvertreib, Unterhaltung und Zerstreuung zu dienen: „Mucha parte de este estilo clausulado es propio para contar una novela que no tiene más objeto que él de divertir al ocioso, pero no para una cosa tan seria como la crítica de una nación.“ (23)36 Vor allem aber ist aus Cadalsos Warte die Rücksichtslosigkeit und Unangemessenheit des Stils gegenüber den Rezipienten zu beklagen. In diesem Zusammenhang erwähnt er unter anderem die fatale Wirkung auf ungebildete Leser (4), die Beleidigung des spanischen Volkes („agravio de la religión, valor, ciencia y nobleza de los Españoles“, 3), den mangelnden Respekt gegenüber fremden Nationen („todas las naciones son cuerpos respetables“, 34), aber auch das enge dynastische Bündnis zwischen Frankreich und Spanien (5) sowie seine persönlichen Beziehungen zu Frankreich als einem Land, dem er selbst viel zu verdanken habe (5f.). Aus heutiger Sicht stellt sich die umfassende Kritik Cadalsos am Verhalten Montesquieus als repräsentativ für einen Konflikttyp dar, in dem unterschiedliche kulturelle Systeme und Mentalitäten in einer Weise aufeinandertreffen, die über ein ethnozentrisches (Miss-)Verständnis der jeweils anderen Kultur nicht hinausführt. Das spielerisch-paradoxe, sich an Widersprüchen offensichtlich nicht störende Verhalten Montesquieus, in dem sich der Habitus der aristokratischen, am Hof und in den Salons maßgeblichen Gesprächs- und Repräsentationskultur spiegelt, an der sich die französischen Aufklärer, auch wenn sie bürgerlicher Herkunft waren, durchweg orientierten, wird von Cadalso als Verstoß gegen die moralisch gebotene Übereinstimmung von Wort und Tat interpretiert.37 Damit hält er Montesquieu genau das entgegen, was dieser zuvor hin-
36
Cadalso bezieht sich hier konkret auf Montesquieus Bemerkungen über das sexuelle Interesse der Mönche. 37 Ein Ausdruck dieser Haltung findet sich noch in der Aufklärungskritik, die Gazel im vierten Brief der Cartas marruecas übt: „Concédote cierta ilustración aparente que ha despojado a nuestro siglo de la austeridad y rigor de los pasados, pero, ¿sabes de qué sirve esta mutación, ese tropel que brilla en toda Europa y deslumbra a los menos cuerdos? Creo firmemente que no sirve más que de confundir el orden respectivo, establecido para el bien de cada estado en particular.“ (2000, 19) Siehe zum Habitus der namhaften französischen Aufklärer, die sich am Muster der höfischen Kultur des absolutistischen Staates orientieren, gleichzeitig aber öffentlich auf Distanz zu diesem gehen: Giesen (1999, 136-156).
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sichtlich des Auseinanderklaffens von Schein und Sein in der spanischen Alltagskultur kritisiert hatte. Weil er, wie die Cartas marruecas zeigen werden, im Grunde Montesquieus Kritik an den Ambiguitäten der spanischen Barockkultur teilt, es darüber hinaus aber auch für notwendig hält, die entsprechenden praktischen Konsequenzen aus dieser Kritik zu ziehen, muss es ihn irritieren und provozieren, dass Montesquieu selbst in seinem Verhalten solche Ambiguitäten anscheinend bedenkenlos kultiviert. Ähnliche gesellschaftlich und kulturell bedingte Divergenzen ergeben sich auch in Bezug auf die angemessene Behandlung von Nation, Staat und Kirche. Während Montesquieu trotz Zensur über einen relativ großen Spielraum gegenüber den gesellschaftlichen Institutionen seiner Zeit verfügt und eine Haltung der kritischen Distanz zu Monarchie und Kirche geradezu eine Voraussetzung für die Teilhabe an der von den philosophes dominierten literarischen Öffentlichkeit und für den Besuch der von ihnen frequentierten Salons darstellt, ist Cadalso, wie er selbst betont, in wesentlich höherem Maße zum Respekt gegenüber Staat und Kirche und den von ihnen errichteten Tabuzonen verpflichtet, ein Respekt, dem er aber auch aus innerer Überzeugung nachzukommen behauptet und der ihn dazu veranlasst, Montesquieus Äußerungen als respektlos zu verurteilen. Hinzu kommen unterschiedliche Auffassungen über die Funktion der Literatur. Indem Montesquieu den Kriterien der Interessantheit und Unterhaltsamkeit Priorität einräumt, passt er sich dem veränderten Leseverhalten und den Gesetzen des sich entwickelnden Buchmarkts an. Wie gut es ihm auf diese Weise gelingt, aufklärerisches Gedankengut für ein Massenpublikum zu erschließen, zeigt der außerordentliche kommerzielle Erfolg, den die Lettres persanes in ganz Europa erleben (vgl. Dédéyan 1988, 34-46). Bei Cadalso dominieren dagegen Nützlichkeitserwägungen und ein pädagogisch-paternalistischer Standpunkt, der ein gewisses Misstrauen gegenüber der Mündigkeit des Publikums und der unkontrollierten Dynamik der literarischen Öffentlichkeit verrät. So warnt er beispielsweise davor, dass das Buch in falsche Hände geraten könnte: „Pero los necios, que en todas partes abundan, se dejan alucinar con semejantes obras“ (4). Dabei beanspruchen Montesquieus Lettres persanes weder, sich an spanische Adressaten zu wenden noch ein getreues Bild der spani-
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schen Realität abzugeben; vielmehr richten sie sich an ein gebildetes Publikum Gleichgesinnter, deren aufgeklärtes Selbstbewusstsein sie bestätigen und deren verfeinerten ästhetischen Ansprüchen sie durch ihre satirische Schärfe und ironische Ambivalenz entgegenkommen. Cadalso unterstellt dem 78. Brief jedoch einen referenziellen, nicht-fiktionalen Status und liest ihn als Botschaft Montesquieus an die Spanier. Deshalb kann er das Ergebnis auch nur als Verstoß gegen das decorum verbuchen. In der stilistischen Brillanz der Sätze Montesquieus vermag er lediglich eine Bestätigung ihrer Oberflächlichkeit und ihres mangelnden Wahrheitsgehalts zu sehen: „Lo del fraile novicio, soldado o magistrado forma una cláusula simétrica y bonita, pero no sólida ni verdadera.“ (23) Cadalso leugnet nicht das Unterhaltungspotenzial des satirischen Stils, aber es besitzt für ihn keinen Wert, weil er als Angehöriger einer fremden Kultur und noch dazu als direkt Betroffener nicht von dem sozialen und nationalen Distinktionsgewinn profitieren kann, den diese Form der Unterhaltung den „hombres de juicio extranjeros“ (4) verspricht.38 Die Erklärungen, die Cadalso selbst für das Verhalten Montesquieus bemüht, beschränken sich auf traditionelle völkerpsychologische Stereotype und die Vorstellung eines festen französischen Nationalcharakters. Diese Vorstellung kommt mit einigen wenigen Eigenschaften aus: „extravagancias“ (4), „demasiada libertad“ (ebd.), „ligereza“ (ebd., 14), „fantasías ligeras“ (11), „disipación, lujo, afeminación y superficialidad“ (34). Ohne dass der Ausdruck fällt, bedient Cadalso alles in allem das in ganz Europa verbreitete gallophobe Klischee der „Frivolität“: des leichtfertigen, bedenkenlosen und lasterhaften Franzosen. Dabei gelingen ihm durchaus Formulierungen, die stellenweise an den Witz Montesquieus heranreichen: „No parecen racionales de puro volátiles, no son compuestos de los cuatro elementos, sino
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In diesem Zusammenhang erweist sich eine Unterscheidung zwischen mündlicher und schriftlicher Kommunikation von Interesse, die Feijoo im „Prólogo al lector“ seines Teatro crítico universal vornimmt: „Proponer y probar opiniones singulares, sólo por ostentar ingenio, téngolo por prurito pueril y falsedad indigna de todo hombre de bien. En una conversación se puede tolerar por pasatiempo; en un escrito, es engañar al público.“ (1986, 102) Auch Cadalsos Urteil über Montesquieu scheint der Vorwurf einer Vermischung dieser beiden Bereiche zugrunde zu liegen.
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del aire solo.“ (33).39 Die Stilisierung Montesquieus zum Inbegriff französischen Wesens, die bei Cadalso zu beobachten ist, besitzt im Übrigen auch eine Entsprechung in der französischen Kultur, nur dass die Bewertung hier selbstverständlich positiv ausfällt. Während Montesquieus Stil Cadalso als Ausdruck französischer Frivolität erscheint, wird er in Frankreich schon von den Zeitgenossen als höchste Form des „esprit“ gepriesen (vgl. Dédéyan 1988, 36). Noch heute gilt die Staffel der satirischen Briefe in den Lettres persanes als „régal inégalé de l’esprit français“ (Goldzink 1989, 87). Dass Cadalso auf Inhalt und Form des 78. Briefs der Lettres persanes in der skizzierten Weise reagiert, verschafft ihm – darin liegt ein Teil der Produktivität des Missverständnisses – die Gelegenheit, sich in der Rolle eines Aufklärers der Aufklärer inszenieren zu können. Konkret heißt das: die französischen Aufklärer im Namen ihrer eigenen Prinzipien zu kritisieren und sie sozusagen vor sich selbst in Schutz zu nehmen. Diese Rolle bringt einen doppelten Vorteil: Sie ermöglicht es Cadalso, sich als spanischer Patriot gegenüber den in aggressivem und überheblichem Ton vorgetragenen Hegemonialansprüchen der französischen Aufklärer zu profilieren, ohne deswegen seinen eigenen aufklärerischen Überzeugungen abschwören und sich zu einer erpressten Versöhnung mit jenen Positionen herbeilassen zu müssen, die er in Spanien selbst kritisiert und bekämpft. So unterzieht Cadalso Montesquieus Spanienbrief einer minuziösen Vorurteilskritik, bei der er sich auf zentrale aufklärerische Überzeugungen beruft: die Übereinstimmung des Wissens mit Wirklichkeit und Erfahrung sowie die Absicherung des eigenen Urteils durch gründliche historische Kenntnisse und landeskundliche Fakten. Sein methodisches Credo lautet: „manejar las armas de la verdad, siempre victoriosas“ (5). Wie sehr Cadalso als Aufklärer der Aufklärer agiert, lässt sich auch daran erkennen, dass er Montesquieus Ansichten über die Rolle der Inquisition in Spanien mit Hinweisen auf die Bartholomäusnacht beantwortet, die er, wie Guy Mercadier hervorhebt (IX,
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Noch María del Carmen Iglesias greift unreflektiert auf dieses antifranzösische Klischee zurück: „Son los ilustrados franceses [...] los que [...] difunden e intensifican las imágenes más negativas sobre España, en una mezcla de frivolidad y falta de curiosidad unida a veces a un gran desconocimiento“ (1997, 415f.).
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27f.), mit Sicherheit Voltaires Epos La Henriade (1723) entnommen hat. Cadalsos universalistische Attitüde manifestiert sich besonders deutlich in der Bemühung, vermeintliche kulturelle Besonderheiten der Spanier oder der Franzosen als Ausprägungen eines übergreifenden Allgemeinen zu betrachten. So beurteilt er etwa das ihm unverständliche Verhalten Montesquieus aus einer moralistischen Perspektive als „terrible ejemplar de las extravagancias que caben en el corazón humano“ (4). Und in Bezug auf das Vorkommen religiös motivierter Gewalttaten verzichtet er letztlich darauf, die Nationen gegeneinander auszuspielen, indem er „ignorancia“ und „ilustración“ als universale und überzeitliche Tendenzen auffasst: Esos monstruos y sus semejantes no son ni franceses ni españoles, sino una nación de bárbaros llamados fanáticos, y es una calumnia indigna de una noble pluma hacer caer sobre toda una nación los excesos de unos pocos hombres que ha habido en todas partes en unos siglos más que en otros, según ha reinado la ignorancia o la ilustración. (28)
Doch Cadalso will seine Replik am Ende nicht nur in inhaltlicher und methodischer, sondern auch in stilistischer Hinsicht als Lektion verstanden wissen. Deshalb behandelt er Montesquieu durchgehend mit betontem Respekt und beteuert einleitend: „no es mi intento zaherir a la nación francesa“ (5). Zu dieser honorigen, prinzipiell dialogbereiten Haltung passt es auch, dass Cadalso den von ihm ins Spanische übersetzten Text des 78. Briefes ungekürzt abdruckt und damit ungeachtet der apologetischen, der Verteidigung der eigenen Kultur dienenden Absicht seiner Schrift zugleich eine interkulturelle Transferleistung erbringt. Natürlich gehört es zu den strukturellen, für die Gattung der Apologie konstitutiven Paradoxien, dass die Zurückweisung der gegnerischen Position immer auch eine mehr oder weniger ausführliche Darlegung eben dieser Position beinhaltet.40 Dass die Replik hier in Form eines Kom40 Vor allem bei den gegenaufklärerischen Schriften spielte dieser Aspekt eine entscheidende Rolle, wie Manfred Tietz hervorhebt: „Im übrigen war diese Art der ‘indirekten Information’ durch apologetische Schriften (und Predigten) im 18. Jahrhundert sehr geläufig: Die von Amts wegen mit einer Lektüreerlaubnis (licencia) ausgestatteten Prediger und antifilósofos widerlegen die in ihren Augen skandalösen Auffassungen der europäischen Aufklärer – und machen sie dadurch erst breiten Kreisen bekannt.
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mentars – Cadalso spricht von „notas“ (3) – zu einem im Wortlaut abgedruckten fremden Text erfolgt, garantiert der Defensa gleichwohl eine Sonderstellung in der Geschichte der spanischen Apologien. Dahinter steht unter anderem die Erwartung, dass Montesquieus Worte sich zu einem gewissen Grad selbst richten, wie der letzte Satz der Defensa zu erkennen gibt: „el que critica con poco fundamento hace recaer sobre sí mismo toda la mofa que pretendía echar sobre el objeto criticado“ (34). Und zweifellos verleiht Cadalso auf diese Weise auch seiner eigenen Argumentation größere Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft. Darüber hinaus erhält seine Schrift dadurch jedoch auch einen ausgeprägt dialogischen Charakter, denn die fremde Rede wird ja nicht nur ausschnitthaft, in Form von Zitaten und Zusammenfassungen wie etwa in den Rezensionen des Diario de los literatos de España zugelassen, vielmehr kommt es zu einer vollständigen Kopräsenz der Texte Montesquieus und Cadalsos. Das „Gegeneinander unterschiedlicher Standpunkte (‘Kontexte’)“ und die Schärfe der „semantischen Richtungsänderungen“ die nach Jan Mukařovský und Manfred Pfister (1988, 182) die Voraussetzung für einen hohen Dialogizitätsgrad bilden, finden sich in Cadalsos Defensa in exemplarischer Weise verwirklicht. Die dialogische Grundstruktur der Apologie lässt auch ihren Verhandlungscharakter deutlicher hervortreten. Die Zusammensetzung des „carácter español“ (14), die Eigenarten der Geschichte Spaniens und seiner Institutionen und nicht zuletzt die Normen, an denen sich eine Diskussion über eigene und fremde Identitäten zu orientieren habe, werden von Cadalso ja nicht einfach fertig ausgearbeitet präsentiert, sondern erst in der Auseinandersetzung mit der von Montesquieu an Spanien herangetragenen Außenperspektive schrittweise entwickelt und präzisiert.41 Kein anderer Text Cadalsos offenbart so deutlich wie die Defensa, in welch hohem Maß es sich bei der neuen Vorstellung der Nation um ein reaktives Phänomen handelt, das erst eines von außen hinzutretenden Katalysators, wie hier des provozierenden Briefs von Montesquieu, bedarf, um sich entfalten zu können. Vielleicht ist das auch einer der Erst in den 90er Jahren wurde dieses Verfahren durch eine Politik des radikalen Verschweigens abgelöst.“ (1991b, 236) 41 José E. Santos spricht unter Bezug auf Bachtin von einem „intento dialógico de construcción del ser a partir de la imagen del otro“ (2002, 65).
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Gründe dafür, warum diese Schrift nie veröffentlicht wurde.42 Wenn man mit Guy Mercadier davon ausgeht, dass die Defensa tatsächlich das früheste Zeugnis der Beschäftigung Cadalsos mit Montesquieu darstellt, dann drängt sich die Feststellung auf, dass die später entstandenen Texte Suplemento al papel intitulado „Los eruditos a la violeta“ (1772) und Cartas marruecas (1773/74), die sich ebenfalls auf Montesquieu beziehen, allein schon hinsichtlich ihrer größeren literarischen Eigenständigkeit der Vorstellung der Unabhängigkeit und Selbstbestimmung, die mit der Idee der Nation unauflöslich einhergeht, besser entsprechen als eine Apologie, die – wie die Defensa – in Form eines Kommentars auftritt. Die Kommentarform erlaubt es Cadalso zwar, Montesquieus Text beliebig zu unterbrechen, zwingt ihn jedoch auch, seine eigenen Gedanken immer entlang des fremden Textes zu entwickeln. Die satirischen, narrativen und fiktionalen Formen, derer sich Cadalso dann in der Folge bedient, vollziehen schließlich auch auf literarischer Ebene die Emanzipation, die Cadalso in ideologischer Hinsicht bereits mit der Defensa eingeleitet hatte. Dass die nationale Ausrichtung der Apologie durch Cadalso neu ist, zeigt der Vergleich mit Feijoos „Glorias de España“ (1730). Während Feijoo auf Veranlassung des Infanten handelt und schon im Titel seiner Schrift an traditionelle Vorstellungen anknüpft – die Aufzählung von Ruhmestaten („glorias“) und das Land als geographische Einheit („España“) –, findet in der Defensa eine dreifache Neuorientierung im Namen der Nation statt: Erstens unterstreicht Cadalso in seiner zweiten Vorbemerkung, dass er sich angesichts des „tácito asentimiento“ (5) und des „vergonzoso silencio“ (ebd.) seiner Landsleute als Individuum dazu aufgerufen fühlt, der nationalen Pflicht zur Verteidigung seines Vaterlandes nachzukommen – dieser Gestus der heroischen Individualisierung des eigenen Diskurses wird in der Einleitung der Cartas marruecas wiederkehren (vgl. Gumbrecht 1990, 494). Zweitens nimmt er Montesquieus Vorwürfe zum kaum kaschierten Vorwand, um in der dritten Vorbemerkung eine Version der spani-
42
Ein anderer Grund liegt möglicherweise darin, dass Cadalso mit der literarischen Qualität seiner Schrift unzufrieden war. Das lässt zumindest die folgende Bemerkung vermuten: „tropiezo desde el primer paso, o me detiene un obstáculo, cual es no saber qué estilo es el más apto para esta clase de escritos“ (5).
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schen Geschichte zu präsentieren, die in ihrem doppelten Gegenwartsbezug – sie soll die Gegenwart erklären und gleichzeitig Vorbilder für ihre Bewältigung liefern – exemplarisch ist für das spezifische Interesse der Aufklärer an der nationalen Vergangenheit (vgl. Lope 1985). Und drittens gründet Cadalso die imaginäre Gemeinschaft der Nation auf ein Zusammenwirken der Faktoren „gobierno“ (5), „religión“ (ebd.) und „carácter nacional“ (18).43 Obwohl Cadalso zu den Kernpunkten seiner Auffassung von nationaler Identität – die Zustimmung und Verantwortung des Individuums, die gegenwartsbezogene Hinwendung zur Vergangenheit und die Annahme bestimmter primordialer Gemeinsamkeiten – durch die apologetische Zurückweisung und das „Missverstehen“ der Ausführungen Montesquieus gelangt, bleibt er dem französischen Vorbild doch insofern treu, als er mit seiner Defensa die Gattung der Apologie auf ein universalistisches, logozentrisches Wertesystem verpflichtet. Das wird sich allerdings mit dem Text eines Mannes ändern, der gleichwohl zu den Schülern und Bewunderern Cadalsos gehörte, der sich zudem mit Cadalso anfreundete, als dieser während eines Regimentsaufenthalts in Salamanca im Jahr 1773 Kontakt mit einer Gruppe junger Schriftsteller aufnahm, und der wahrscheinlich auch Cadalsos Defensa de la nación española gut kannte (Lopez 1976, 233): Juan Pablo Forners Oración apologética por la España y su mérito literario.
43
Vgl. dazu die folgende Passage aus dem 21. Brief der Cartas marruecas, den Nuño an Ben-Beley schickt: „el carácter español, en general, se compone de religión, valor y amor a su soberano“ (2000, 64).
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4 JUAN PABLO FORNER: ORACIÓN APOLOGÉTICA POR LA ESPAÑA Y SU MÉRITO LITERARIO (1786)
„Mi propósito fué escribir, mas como Declamador, que como Historiador crítico.“ („Al lector“, IV) A)
FORNERS DRITTER WEG
Juan Pablo Forner y Segarras (1756-1797) im Jahr 1786 veröffentlichte Oración apologética por la España y su mérito literario ist eine Gelegenheitsschrift, die als Beitrag zu dem im November 1784 ausgeschriebenen Rhetorik-Wettbewerb der Real Academia Española verfasst wurde. Das Thema hieß: „Apología o defensa de la nación, ciñéndose solamente a sus progresos en las ciencias y las artes, por ser esta parte en la que con más particularidad y empeño han intentado obscurecer su gloria algunos escritores extranjeros [...]“ (zit. n. Lopez 1976, 362). Eine Preisverleihung kam jedoch nicht zustande, da keiner der eingereichten Beiträge die Jury wirklich überzeugen konnte. Die Themenstellung ist, wie bereits hervorgehoben wurde, als Teil der offiziellen Reaktionen auf Nicolas Masson de Morvilliers Spanien-Artikel in der Encyclopédie méthodique (1782) zu verstehen.1
1
Zitiert wird Forners Oración im Folgenden nach der Faksimile-Ausgabe von 1992. Mit Ausnahme des Titels wurde die originale Rechtschreibung beibehalten. Die jüngste, mit Namen- und Sacherklärungen versehene Ausgabe der Oración stammt von Jesús Cañas Murillo (1997).
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Forners Oración, sein wahrscheinlich auch heute noch bekanntestes Werk, verdient aus mehreren Gründen besondere Aufmerksamkeit – wenn auch aus anderen Gründen als denen, die für seinen zweifelhaften Ruhm ausschlaggebend waren. So ist kaum zu bestreiten, dass Forners Verteidigungsschrift eine prominente Stellung innerhalb des spanischen Identitätsdiskurses zukommt. Auch darf sie als markantestes Beispiel für die Gattung der Apologie gelten, deren kulturelle Bedeutung für Spanien allgemein im vorangegangenen Kapitel ausführlich erläutert wurde.2 Darüber hinaus lassen sich jedoch auch an den extrem unterschiedlichen Einschätzungen, die Person und Werk Forners im Lauf der Zeit bis in die Gegenwart hinein zuteil wurden, einmal die grundsätzlichen Schwierigkeiten bei der Beurteilung der spanischen Aufklärung ablesen und dann aber auch der Einstellungswandel, den die Beschäftigung mit dem spanischen 18. Jahrhundert insgesamt erfahren hat. In dieser Hinsicht ist Forners Schrift eine exemplarische und repräsentative Bedeutung zuzugestehen, die allerdings nicht in den Blick kommen kann, wenn man sie nur, wie das häufig geschehen ist, als spektakulären Sonderfall behandelt. Da sich Forners Oración, ebenso wie sein Gesamtwerk, einer pauschalen Charakterisierung entzieht, zwingt das die Interpreten regelrecht dazu – bzw. sollte sie dazu zwingen –, gleichsam selbstverständlich verwendete oder aus anderen europäischen Zusammenhängen übertragene Begriffe wie „Aufklärung“, „Modernität“, „Fortschritt“, „Tradition“ usw. auf ihren Bedeutungsgehalt und die implizit in ihnen enthaltenen Wertungen zu befragen. Weil die Rezeptionsgeschichte der Oración als paradigmatisch für die Rezeptionsgeschichte der spanischen Literatur des 18. Jahrhunderts allgemein aufgefasst werden kann, soll sie im Folgenden auch eine vergleichsweise ausführliche Darstellung erfahren.3 Innerhalb der Geschichte der Rezeption der Oración lassen sich grob drei Phasen unterscheiden. Obwohl Forners Schriften auch schon vor 1876 neu aufgelegt und kommentiert wurden, ist seine Wiederentdeckung
2
Julián Marías nennt Forners Oración „la pieza mayor de todo su género literario“ (1988, 63). 3 Vgl. zu Leben, Gesamtwerk und Rezeptionsgeschichte Forners die jüngeren Überblicksdarstellungen von Cañas Murillo (1987), Mollfulleda (1990) und Jurado (2000).
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bzw. „Erfindung“, wie man im Hinblick auf das Ergebnis wohl besser sagen muss, in erster Linie das Werk Marcelino Menéndez Pelayos (18561912). Menéndez Pelayo erwähnt Forner zum ersten Mal 1876 in seiner Pamphlet-Sammlung La ciencia española, widmet ihm dann ein ausführliches Porträt im fünften Band seiner Historia de los heterodoxos españoles (1880-1882) und kommt im dritten Band der Historia de las ideas estéticas en España (1883-1891) erneut auf ihn zurück. Menéndez Pelayos hochstilisierte Charakteristik kulminiert in einer Reihe berühmt gewordener Formulierungen. So erscheint Forner als „defensor y restaurador de la antigua cultura española y caudillo, predecesor y maestro de todos los que después hemos trabajado en la misma empresa“ (1963, 388), als „enemigo más acérrimo de las ideas del siglo XVIII“ (389) und als „gladiador literario de otros tiempos, extraviado en una sociedad de petimetres y de abates“ (390). Das Bild, das Menéndez Pelayo von Forner entwirft, entspringt einer in hohem Maße identifikatorischen und projektiven Lektüre. In ihm spiegeln sich unverkennbar die exzentrische Persönlichkeit Menéndez Pelayos selbst, aber auch die Bedeutung, die er Forner als einem wichtigen Gewährsmann in der ideologischen Auseinandersetzung mit den Liberalen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zumisst.4 Es ist erstaunlich, dass ein solches von markanten Fehleinschätzungen geprägtes Zerrbild, das doch so offensichtlich auf seinen Urheber und die politische Situation, in der es entstand, zurückweist, Kategorien vorgeben konnte, an denen sich die Nachwelt über hundert Jahre lang orientierte.5 Zu erklären ist das nur dadurch, dass sich das von Menéndez Pelayo geschaffene Bild Forners einerseits bestens als Projektionsfläche für positive und negative
4
Zur Rekonstruktion der näheren historischen Umstände dieser Auseinandersetzung, die Züge eines Kulturkampfes annahm, siehe García Camarero (1970, 199-307) und Sotelo Vázquez (1998). 5 Mary Fidelia Laughrin charakterisiert das Gesamtwerk z. B. mit den folgenden Worten: „it fanned and kept aglow the dying flame of Hispanicism, Traditionalism, and Christian Faith“ (1943, 130). Alonso Zamora Vicente spricht bezüglich der Oración von Forners „afirmación casticista“ (1945, XXVII) und seiner „postura de exaltación de valores religiosos“ (XXIX). Dagegen betont François Lopez, dass er die Verwendung der Bezeichnung „casticismo“ in diesem Zusammenhang grundsätzlich für verfehlt halte: „Le casticisme est un mythe qui ne s’est formé qu’au XIXe siècle.“ (1976, 373) Außerdem sei der Begriff, so wie er sich bei Unamuno finde, „totalement étranger aux Espagnols du XVIIIe siècle“ (ebd.). Elsa García-Pandavenes zählt Forner zu den führenden Köpfen der „enemigos de la Ilustración“ (1972, 54). Gilbert Smith resümiert mit
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Vorurteile eignete und dass andererseits inner- und außerhalb Spaniens eine starke Bereitschaft vorherrschte, Forner in genau dieser Weise zu sehen, sei es, weil der Identitätsdiskurs, für den schon Menéndez Pelayo Forner in Anspruch genommen hatte, mit seinen starren Frontziehungen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein stabil blieb, oder einfach, weil diese Sichtweise der allgemeinen Vorstellung entsprach, die man sich lange Zeit vom spanischen 18. Jahrhundert machte. Eine neue Phase bricht in der Forner-Forschung in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts an, in denen die wegweisenden und bis heute maßgeblichen Arbeiten von José Antonio Maravall und François Lopez erscheinen, die sich durch die gemeinsame Intention auszeichnen, Forner als Aufklärer zu rehabilitieren. So hebt Maravall in seinem Artikel „El sentimiento de nación en el siglo XVIII: la obra de Forner“ (1976) hervor, dass das Fortschrittliche und genuin Aufklärerische an Forners Schriften der Bezug auf die neue Idee der Nation und der veränderte Blick auf die Geschichte seien.6 Maravall, der zum Zeitpunkt der Entstehung seines Artikels Cadalsos erst 1970 von Guy Mercadier veröffentlichte Defensa de la nación española contra la „carta persiana LXXVIII“ de Montesquieu noch nicht kennen konnte, schreibt Forners Oracíon das Privileg zu, der Gattung der Apologie zum ersten Mal eine nationale Ausrichtung verliehen zu haben: „defiende a una ‘nación’. Esta es la peculiaridad y la novedad de la Apología forneriana. Por ello hay que estimarla positivamente en la historia del pensamiento“ (1967,
Blick auf die Oración: „it is a defense of Catholic tradition and the pervasive influence of the church in the cultural heritage of Spain“ (1976, 103), nachdem er Forner zuvor als „the most important Gallophobe in Spain“ (29) bezeichnet hat. Auch in deutschen Beiträgen finden sich noch Spuren dieses Bildes. So erscheint Forner etwa bei Hans Hinterhäuser als „ein erbitterter Gegner dessen, was in Spanien von der europäischen Aufklärung rezipiert wurde und im Umlauf war“ (1979, 69), und Manfred Tietz nennt die Oración „eine bedingungslose Verteidigung des traditionalistischen Spaniens und seiner Literatur“ (1991b, 249). Vgl. zur ersten Phase der Forner-Rezeption Lopez (1976, 567-580). 6 Kritisch zu Maravalls These äußert sich Alborg, der dessen Sicht für zu positiv hält: „Pero se esfuerza, con una tenacidad que creemos capciosa, a lo largo de toda su reivindicación forneriana, en valorar positivamente el pensamiento de Forner por lo personal y original de su postura ante lo español, por su concepto de nuestra cultura como expresión legítima de nuestra nación. Bien: aceptemos, pues, su originalidad a condición de rechazarla.“ (1993, 705)
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42). Maravalls Einschätzung der Oración ist von der Einsicht in die Notwendigkeit einer umfassenden Rekontextualisierung geprägt, die das übrige Werk Forners und die zeitgenössische Diskurslandschaft ebenso wie die näheren Publikationsumstände einzubeziehen habe: ni la Apología es toda la obra de Forner, ni el fondo supone una agresiva actitud [...] contra lo de fuera, ya que no hay más negación de lo ajeno que lo que reclama la defensa de lo español, aunque el acaloramiento con que tal defensa se hace circunstancialmente, lleve en la Apología a extremos que no solamente no se dan en las otras obras, sino que están en cierta discrepancia e incluso contradicen lo dicho sobre la decadencia española en otras partes. (39)
Eine vergleichbare Auffassung liegt auch der monumentalen Monographie von François Lopez, Juan Pablo Forner et la crise de la conscience espagnole au XVIIIe siècle (1976), zugrunde, die im Titel unübersehbar auf Paul Hazards berühmtes Buch La crise de la conscience européenne (1680-1715) von 1935 anspielt. Lopez kommt in seiner historisch breit angelegten Untersuchung zu dem Fazit: „Bref, pour nous, la Oración apologética est une œuvre tout à fait typique de la Ilustración et ne contient, n’annonce rien qui ressemble à la réaction que provoquera quelques années plus tard la Révolution française“ (384) – eine solche Vorläuferrolle hatte zum Beispiel Julián Marías Forners Werk in seinem 1963 erschienenen Buch La España posible en tiempo de Carlos III unterstellt.7 Wer Forner als Konservativen oder Reaktionär bezeichne, mache sich, so Lopez, einer unhistorischen Sichtweise schuldig und verkenne, wie die wahrhaft konservativen und reaktionären Positionen aussähen, an denen es in den letzten Regierungsjahren Karls III. nicht mangele.8 Noch 1995 konstatiert Lopez: „Parece que el asunto no es tan pretérito como debiera y sigue llevando mucha carga afectiva“
7
Vgl. Marías (1988, 63): „La publicación de la Oración apologética en 1786, dos años antes de la muerte de Carlos III, tres años antes del comienzo de la Revolución francesa y del triunfo del reaccionarismo en España, preludiaba ya la ofensiva contra la modestísima ilustración española“. 8 Lopez verweist hier auf Javier Herreros einschlägige Studie Los orígenes del pensamiento reaccionario español (1971), der er jedoch in Bezug auf die Einschätzung von Leuten wie Forner, Villanueva oder Capmany mangelnde Differenziertheit vorwirft
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(606). Erneut sieht er sich daher genötigt, darauf hinzuweisen, dass sich Forner weder als Verteidiger des Katholizismus noch pauschal als spanischer Traditionalist annektieren lasse: „Y es de una meridiana claridad que los valores defendidos por el autor de la Oración son los de la Ilustración“ (610). Für die jüngste Phase der Forner-Rezeption, deren Beginn man in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ansetzen kann, ist vor allem die Absicht kennzeichnend, das umfangreiche Werk Forners endlich in seiner ganzen Bandbreite, einschließlich der Lyrik und der Theaterstücke, zu erschließen, und sich von einseitigen Wertungen, egal welcher Couleur, endgültig zu verabschieden. Repräsentativ für diese Intention ist der von Jesús Cañas Murillo und Miguel Ángel Lama im Jahr 1998 herausgegebene Sammelband Juan Pablo Forner y su época (1756-1797). Cañas Murillo entspricht dem heutigen Konsens, wenn er in seinem Beitrag Forner der Gruppe der „reformistas moderados“ zuordnet (1998, 333). Im Vorwort zu seiner Ausgabe der Oración gibt er die folgende Gesamteinschätzung ab: „Forner es un ilustrado, convencido, regalista, defensor del despotismo de su época, de reformas sociales, de renovaciones literarias, del neoclasicismo estético. Pero no le impulsa ello a trocarse en detractor del pasado de su nación.“ (1997, 30) Eine davon abweichende Meinung vertritt zum Beispiel Francisco Sánchez-Blanco, der in verschiedenen Veröffentlichungen der letzten Jahre den unreflektierten Umgang mit den Begriffen „ilustrado“ und „Ilustración“ kritisiert hat.9 So lehnt er die Einschätzung Forners als „ilustrado“ ab, denn allein das Kriterium der „pertenencia al mundo de ideas del siglo de las Luces“ (1992a, 198) – der Vorwurf richtet sich an die Adresse von François Lopez – reiche dafür nicht aus. Sánchez-
(1976, 433). Zur Charakterisierung Forners als „Traditionalist“ bemerkt Lopez sehr zu Recht: „Pour en revenir à Forner, disputer s’il fut du parti des traditionalistes ou de celui des réformateurs n’a de sens que si l’on prend soin, comme nous nous sommes efforcé de le faire, de reconstituer la tradition dont il se réclamait.“ (577) 9 „Así, por ejemplo, celebra Madrid a Carlos III, Valencia a Mayans y Extremadura a Forner, atribuyendo ese calificativo [sc. ‘ilustrado’] a los prohombres del siglo XVIII sin detenerse a pensar lo que ese concepto significa.“ (1999, 7) Und an anderer Stelle bemängelt er: „El término [sc. ‘Ilustración’] ha perdido carácter distintivo y equivale casi a dieciochesco.“ (2002, 9)
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Blanco plädiert dagegen für einen eingeschränkten, ideengeschichtlich fundierten Aufklärungsbegriff: „Mi propuesta es la de reservar el calificativo de ilustrado en la segunda mitad del siglo XVIII para la filosofía de las Luces.“ (2002, 10)10 Von dieser Grundannahme ausgehend, macht Sánchez-Blanco Forner zum Kronzeugen für seine Hauptthese, dass die spanische Aufklärung keineswegs in der Epoche Karls III. auf ihren Höhepunkt gelange oder sich gar auf dessen Herrschaftsausübung beschränke, wie es der von Jean Sarrailh und Richard Herr begründete „Mythos“ wolle. Vielmehr zeichne sich gerade zu dieser Zeit eine tiefgehende Spaltung zwischen der absolutistischen Monarchie und der katholischen Kirche auf der einen und der Aufklärungsbewegung auf der anderen Seite ab (2002, 11). Leider führen die Verwendung eines engen, auf das „pensamiento ‘ilustrado’“ (1999, 271) beschränkten Aufklärungsbegriffs und die daran anknüpfende historische These Sánchez-Blanco am Ende doch nur wieder zu einer reduktionistischen und tendenziösen Sicht zurück, die Forner der Fraktion der „conservadores incorregibles“ (1999, 116) zuschlägt und nicht ohne die bekannten Attribute „tradicionalismo“ (1992a, 193), „galofobia literaria“ (198), „exaltación del casticismo hispánico“ (198), „chovinismo“ (2002, 349) und „xenofobia y nacionalismo“ (350) auskommt.11 Im Folgenden soll stattdessen der Versuch fortgeführt werden, Forners Oración jenseits solcher vereinfachenden Dichotomien und der immer noch üblichen Vereinnahmungen für Aufklärung oder Gegenaufklärung zu situieren. Betrachtet man die von Forner angewendeten
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Das schließt für Sánchez-Blanco u. a. die folgenden Aktivitäten aus: „No se puede llamar ilustrado a alguien solamente porque se haya acercado a las ciencias experimentales; aplique la crítica racionalista al análisis de textos históricos, funde alguna institución benéfica; o proponga alguna forma de hacer más eficaz la Administración pública.“ (2002, 10f.) 11 Mario Onaindía, der in seinem Buch La construcción de la nación española zwischen einem politischen, auf Modernisierung (republicanismo) und einem kulturalistischen, auf Tradition (nacionalismo) ausgerichtenen Begriff von Nation unterscheidet, geht immerhin so weit, Forner und Franco in einem Zusammenhang zu nennen: „Confío en que, en estos momentos, le lector habría percibido que la construcción de España como nación no está ligada sólo al nacionalismo, ni al de Forner ni al de Franco sino que siempre, desde el comienzo mismo del proceso, han existido ambas versiones coexistiendo y enfrentandose.“ (2002, 30)
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Identitätsstrategien und den von ihm propagierten Entwurf einer spanischen Gegenidentität genauer, erscheint er als Vertreter eines dritten Weges, der ihn nicht mehr pauschal als antimodern oder antiaufklärerisch, wohl aber als Gegner einer ganz bestimmten Form der Moderne und der Aufklärung ausweist, die der Philosoph und Wissenschaftshistoriker Stephen Toulmin in seinem Buch Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne (1991) als die zweite, rationalistische Phase der Moderne beschrieben hat, die sich im 17. Jahrhundert herausbildete und gegen die sich auch im Wesentlichen der Vorwurf der theoretischen und praktischen Selbstüberforderung richtete, der in der Debatte um Moderne und Postmoderne in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts eine zentrale Rolle spielte. In einem weiteren Schritt wird dann zu begründen sein, warum Forners Text allein durch eine immanente, auf innerer Kohärenz bestehende und alle Aussagen auf feste Überzeugungen des Autors zurückführende Lektüre nicht adäquat beurteilt werden kann und deshalb eine Rekontextualisierung erfordert.12 Die bisherigen Versuche, Forners Text zu rekontextualisieren, konzentrieren sich auf den Publikationsanlass, die Gattungszugehörigkeit, das textuelle Umfeld, die Einordnung in den ideengeschichtlichen Zusammenhang der Zeit und die Berücksichtung des Gesamtwerks, wie es unter anderem Maravall und Lopez verlangt haben. So wurden insbesondere Forners Discurso sobre el modo de escribir y mejorar la historia de España (1788/1789) und sein Discurso sobre la tortura (1792), die zwar zu Lebzeiten des Autors in Abschriften kursierten, im Druck aber zum Teil erst wesentlich später erschienen (1816 bzw. 1990), immer wieder als ideologisches Korrektiv zu den in der Oración dargelegten extremistischen Ansichten ins Feld geführt.
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So hat etwa Santiago Mollfulleda überzeugend dargelegt, dass die Widersprüche, die Forners gesamtes Werk durchziehen, auf sein Bestreben zurückgeführt werden können, es den rasch wechselnden Bedürfnissen der Politik recht zu machen: „Por tanto, si Forner pretendía gozar del favor de los poderosos no tenía otro remedio que intentar ajustarse en cada momento a los diferentes programas y directrices que del gobierno emanaban, pues nuestro protagonista sabía muy bien, por experiencia directa, que los gobernantes apoyarían sus ideas cuando coincidiesen con las de ellos, y las rechazarían cuando se opusiesen.“ (1990, 59)
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Gegenüber diesen Gesichtspunkten, die selbstverständlich auch in der vorliegenden Darstellung berücksichtigt werden, sollen jedoch zwei kontextuelle Aspekte herausgehoben werden, die in besonderem Maße dazu geeignet sind, die Identitätsthematik der Oración in einem anderen Licht erscheinen zu lassen als bei einer rein textimmanenten Lektüre: Einmal ist das die Karrierestrategie Forners bzw. die machtpolitische Instrumentalisierung seiner privaten Interessen, und dann sind es die übrigen Texte, mit denen zusammen sich der Text der Oración im November 1786 den zeitgenössischen Lesern zum ersten Mal in Buchform präsentierte. Neben den kontextuellen Bedingungen ist es nötig, noch einen weiteren Umstand zur Sprache zu bringen, der in der FornerRezeption bisher zugunsten einer geistes-, ideen- und ideologiegeschichtlichen Auswertung – bis auf wenige Bemerkungen zum rhetorischen Charakter der Oración – nahezu vollständig ausgeblendet wurde: die literarische Dimension des Textes. Wie sich zeigen wird, ist das umso bedauerlicher, als die Thematisierung der spanischen Identität nicht nur in einem engen und vielschichtigen Verhältnis zur literarischen Form der Oración steht, sondern Forner auch zu einer aufschlussreichen dichtungstheoretischen Selbstpositionierung veranlasste. Die nachstehende Abbildung 7 verdeutlicht das komplexe textuelle Umfeld, in das Forners Oracíon eingebettet ist, wobei die Linien zwischen den einzelnen Titeln explizite intertextuelle Bezüge symbolisieren. Der Schwerpunkt liegt auf der institutionellen Einbindung (Wettbewerb der Real Academia), der Beziehung zu den prominentesten Vorgängertexten (Cavanilles, Denina) und der Auseinandersetzung mit der von Luis Cañuelo und José Pereira herausgegebenen Zeitschrift El Censor. Auf die Abbildung weiterer Reaktionen auf Massons Artikel sowie der umfangreichen Debatte, die Forners Oración ihrerseits auslöste, wurde verzichtet, weil sie bereits zu Beginn des vorangegangenen Kapitels erwähnt wurden und für die folgende Analyse ohne Bedeutung sind.
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II. Literarische Inszenierungsformen des Identitätsdiskurses 1782: Artikel „Espagne“ von Nicolas Masson de Morvilliers in der Encyclopédie méthodique
Anfang 1784: Observations sur l'article „Espagne“ de la Nouvelle Encyclopédie von Antonio Cavanilles 30.11.1784: Ausschreibung des Rhetorikwettbewerbs für das Jahr 1785 durch die Real Academia Española
Sommer 1785: Apología de la literatura y artes de España von Juan Pablo Forner
26.1.1786: Réponse à la question „Que doit-on à l'Espagne?“ von Carlo Denina
22.6.1786: „Discurso CX“ von Luis Cañuelo in El Censor
13.7.1786: „Discurso CXIII“ von Luis Cañuelo in El Censor
31.8.1786: „Discurso CXX“ von Luis Cañuelo in El Censor
Juan Pablo Forner: Contestación al discurso CXIII del Censor
Juan Pablo Forner: P. D. sobre el discurso CXX
November 1786: Oración apologética por la España y su mérito literario von Juan Pablo Forner
Abbildung 7: Von Masson zu Forner
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ENTWURF EINER SPANISCHEN GEGENIDENTITÄT
Juan Pablo Forners Oración apologética por la España y su mérito literario darf unter den zahlreichen Apologien, die in und außerhalb Spaniens als Antwort auf Masson de Morvilliers Enzyklopädie-Artikel entstanden, eine Sonderstellung beanspruchen. In einem entscheidenden Punkt bricht Forner nämlich mit der Verteidigungsstrategie seiner unmittelbaren Vorgänger unter den Fürsprechern Spaniens, dem in Paris lebenden Botaniker Antonio José de Cavanilles (Observations de M. l’abbé Cavanilles sur l’article „Espagne“ de la Nouvelle Encyclopédie, 1784) und dem am Hof des preußischen Königs weilenden Italiener Carlo Giovanni Maria Denina (Réponse à la question „Que doit-on à l’Espagne?“, 1786). Cavanilles und Denina beschränken sich weitgehend auf die Aufzählung der im Laufe der Geschichte von Spaniern auf allen möglichen Gebieten erbrachten und von Masson de Morvilliers ihrer Ansicht nach fahrlässig ignorierten Leistungen – ein Verfahren, dessen sich schon Quevedo in seiner España defendida (1609) bedient hatte. Die von dem Piemonteser Denina (1731-1813) am 26.1.1786 in der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin anlässlich des Geburtstags Friedrichs des Großen vorgetragene Verteidigung Spaniens gilt darüber hinaus als erstes Zeugnis einer Solidarität – „no sólo latina sino de la antigua Europa meridional y del mundo sajón“ (Lopez 1995, 605) – gegen die Kulturhegemonie Frankreichs.13 Das ändert freilich nichts an der Tatsache, dass Denina, ebenso wie Cavanilles, mit seiner Vorgehensweise das Argumentationsmuster, den Wertekanon und durch den Gebrauch des Französischen nicht zuletzt auch die sprachliche Gestalt des hegemonialen Diskurses bestätigt, den Masson de Morvilliers mit einer offensichtlich nicht nur für Spanier provozierenden Selbstgerechtigkeit verkörpert. Dass mit einem solchen symmetrischen Verhalten nur das Gegenteil dessen erreicht würde, was man eigentlich erreichen wollte, war einer der Hauptvorwürfe der Kritiker der Apologien. Das Kommunikationsparadox, das allen Apologien, die einer Logik des gegenseitigen Aufrechnens folgen, unvermeidlich
13
Über die näheren Umstände der Entstehung und des Vortrags der Verteidigungsrede Deninas informieren Sorrento (1928, 159-216), Gutiérrez (1992) und Lope (1998).
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zugrunde liegt, wurde bekanntlich am prägnantesten noch vor der Veröffentlichung der Oración Forners von Luis Cañuelo im „Discurso LXXXI“ in der Zeitschrift El Censor in der Ausgabe vom 1.12.1785 beschrieben: „¡Desgraciada Nación aquella de cuya literatura se escriben Apologías! Ellas mismas son una prueba de la verdad que intentan combatir“ (1989, 351). Auch Forner verzichtet nicht auf die Aufzählung der „glorias de España“. Das zeigt vor allem der zweite Teil seiner Oración, in dem er einen weiten Bogen von Lukan, Quintilian, Seneca und Hadrian über die Kultur der Araber bis zu den Humanisten Nebrija und Vives schlägt. Selbst anekdotische Details stehen auf seiner Liste: Zwar hätten die Spanier den Kompass nicht erfunden, sich seiner aber als erste und mit weit größerem Erfolg als andere Völker bedient (96f.) – ein Argument, das sich so schon bei Denina findet (1992, 20f.). Im Unterschied zu den meisten seiner Vorgänger unter den Apologeten Spaniens, Cadalso nicht ausgenommen, der stets an einen gemeinsamen Kanon universaler Werte appelliert, verweigert sich Forner jedoch dem herrschenden Diskurs, indem er gleich zu Beginn seiner Oración dem üblichen Leistungsvergleich mit Europa die Prämisse aufkündigt und für Spanien ein ganz anderes Wertesystem in Anspruch nimmt: „La gloria científica de una nación no se debe medir por sus adelantamientos en las cosas superfluas o perjudiciales“ (1). Forner macht zwar exzessiven Gebrauch von den aufklärerischen Schlüsselbegriffen „utilidad“, „virtud“, „progreso“, „felicidad“, „libertad“ und „racionalidad“, aber nur, um sie systematisch in seinem Sinne umzukodieren. Das geschieht in zwei Schritten: zum einen diskreditiert er die Gegenstände, Methoden und Ziele, mit denen sich die Begriffe im Verständnis der von ihm bekämpften filósofos, der französischen Aufklärer, gewöhnlich verbinden. Ebenso wortreich wie eintönig denunziert er sie als „caprichos“, „sofismas“, „sueños“, „delirios“, „ficciones“, „mundos imaginarios“ etc. Zum anderen unterlegt er ihnen neue Bedeutungen, die seinem eigenen Ideal – „practicar dignamente las virtudes humanas y civiles“ (VIII) – entsprechen.14
14 Forners Strategie beruht auf einem Denkmuster, das häufig im Zusammenhang mit der Konsolidierung kultureller und nationaler Identitäten auftritt. Der Soziologe
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Flankiert wird diese kulturkritische Grundunterscheidung zwischen wahrem und falschem, notwendigem und überflüssigem Wissen, die Forner auf das Verhältnis von Spanien und Europa projiziert, von einer Reihe weiterer Operationen aggressiver Abgrenzung und Umdeutung, die keineswegs Forners eigene Erfindungen sind, sondern bis heute überall dort herangezogen werden, wo es um die symbolische Bewältigung asymmetrischer Beziehungen geht. Die erste dieser archetypischen Argumentationsformen kann man als „Selbstbarbarisierung“ bezeichnen. Sie besteht in der selbstbewusstaffirmativen Übernahme eines pejorativen Fremdbildes. So antwortet Forner auf den von Masson erhobenen Vorwurf „En España no se piensa: la libertad de pensar es desconocida en aquella Península: el Español para leer y pensar necesita la licencia de un Frayle...“ – ein Vorwurf, dessen geistigen Urheber Forner in Voltaire sieht – mit dem Satz „No se piensa en España: así es“ (18).15 Dieses ironisch-selbstgerechte Bekenntnis zur eigenen Unbildung ist in Wahrheit nicht nur ein indirekter Angriff gegen die Repräsentanten des falschen und überflüssigen Wissens, sondern auch eine zwar paradoxe, aber keineswegs bloß rhetorisch gemeinte Form kultureller Selbstbehauptung. Der nobilitierende Vergleich mit Sokrates, der als Identifikationsfigur immer wieder ins Spiel gebracht wird, unterstreicht diesen Anspruch: „Seamos bárbaros como Sócrates, y dexémosles la gloria de emular la sabiduría de los jactanciosos sofistas que le desacreditaban“ (21).
Reinhard Bendix charakterisiert es folgendermaßen: „Die Stärke des Vorsprungslandes mag überwältigend erscheinen, aber sie wird durch falsche Werte, Korruption und geistigen Zerfall über kurz oder lang zugrunde gehen.“ (1996, 54f.) Indessen ist die Polemik gegen die philosophes natürlich kein exklusiv spanisches Phänomen, sondern vereint in Frankreich selbst ein breites Spektrum unterschiedlicher Kräfte, die sich als Verteidiger des Christentums verstehen und gegen die von den philosophes angestrebte Diskurshoheit kämpfen, wie Didier Masseau in seiner kultur- und sozialgeschichtlichen Untersuchung Les ennemis des philosophes. L’antiphilosophie au temps des Lumières (2000) detailliert gezeigt hat. 15 Wörtlich heißt es bei Masson: „c’est peut-être la nation la plus ignorante de l’Europe. Que peut-on espérer d’un peuple qui attend d’un moine la liberté de lire & de penser?“ (1782, 565) und „mais quels savans peut produire un pays où il faut demander la permission de penser?“ (566) Ohne eine konkrete Quelle angeben zu können, bekräftigt jedoch auch Manfred Komorowski, dass Massons Fragen „nur zu deutlich die geistige Vaterschaft Voltaires“ (1976, 175) verraten.
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Der „Selbstbarbarisierung“ steht die „Selbstviktimisierung“ gegenüber, der Versuch, sich in der Rolle des unschuldigen, missverstandenen, bemitleidenswerten Opfers zu präsentieren. So behauptet Forner, dass der Ausdruck „buen gusto“ eigentlich aus Spanien stamme, diese Herkunft von den Ländern, die sich in der Folge mit dem Begriff schmückten, aber schnell vergessen wurde (101).16 Spaniens einziger Fehler sei es daher, seine zahlreichen an der Menschheit vollbrachten Wohltaten nicht richtig „verkauft“ zu haben. Das Land könne sich verhalten, wie es wolle, immer werde es ihm zum Nachteil ausgelegt: „Es sabio, y le culpan de bárbaro: se defiende, y le insultan: presenta pruebas irrefragables, y sin escucharles se obstina el odio en sustentar su error; y todo esto en el siglo de la Filosofía.“ (102) Die stereotype Klage über „la maligna ignorancia de un Masson que cree que nada debe Europa á los Españoles“ (72), „la injusticia de las acriminaciones generales“ (76) oder „infames acusaciones“ (101f.) zieht sich durch den gesamten Text. Die selektive Rezeption des Artikels von Masson de Morvilliers eignet sich natürlich besonders zur Verwertung im Rahmen der von Forner eingeschlagenen Opferstrategie. Zu Forners Entlastung ist daran zu erinnern, dass er bei weitem nicht der einzige ist, der Massons im Grunde umfassend informierenden Artikel, der ja auch durchaus anerkennende Worte für die Leistungen Spaniens in der Vergangenheit und die Reformbemühungen in der Gegenwart enthält, auf seine beleidigende Kernfrage reduziert. Zu Forners Identitätsstrategien gehört auch der wertende Umgang mit den Kategorien Raum und Zeit. Die erste in diesem Zusammenhang zu nennende Operation – man könnte sie unter dem Begriff „splendid isolation“ fassen –, ist die Aufwertung der geographischen Randlage Spaniens, die schon während der Römerzeit dafür gesorgt habe, dass das Land von den schlimmsten Auswüchsen der vom Zentrum Rom ausgehenden imperialen Macht verschont geblieben sei: „Salvaban á España de las violencias que sufria Roma su distancia y separacion del centro del Imperio“ (110). Im Mittelalter habe sich Spa-
16
Tatsächlich galt Gracián lange Zeit als Erfinder des Geschmacksbegriffs, obwohl der metaphorische Gebrauch auch schon vor dem Erscheinen seiner Schriften in Frankreich und Italien belegt werden konnte, so dass unklar ist, ob der Begriff ursprünglich aus Spanien stammt (Jacobs 1996, 236).
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nien durch den positiven Einfluss der arabischen Kultur und die geographische Distanz zu den europäischen Hochburgen der Scholastik Paris, Bologna, Oxford und anderen der allgemeinen geistigen Korruption entziehen können und dadurch zeitweise eine einzigartige zivilisatorische Überlegenheit erlangt: „Dificilmente podrán persuadirse los Massones, Tiraboschis y Bettinelis que fué España en aquellos siglos tenebrosos la que mantuvo el verdadero uso de las ciencias“ (55). Hinter der vordergründigen Selbstmarginalisierung verbirgt sich also nicht weniger als die Aufwertung der exzentrischen Provinz zum heimlichen Zentrum, zum Rückzugsgebiet der wahren Lehre („la severa provincia“, 110). Neben der Aufwertung der geographischen Randständigkeit spielt auch die Umdeutung der historischen Rückständigkeit Spaniens eine entscheidende Rolle. Diese strategische Option zielt darauf ab, all das, was sich von außen betrachtet als fehlendes Wissen und mangelnder Fortschritt darstellt, als Tugend zu verbrämen bzw. in moralisches Kapital umzumünzen. So wird zum Beispiel die unzureichende Konkurrenzfähigkeit Spaniens auf dem Gebiet der modernen, „positiven“ Naturwissenschaften, die unter anderem von Feijoo, den Herausgebern des Diario de los literatos de España und Cadalso einmütig beklagt wird, sinngemäß mit dem Hinweis pariert, dass die Erforschung der Naturgesetze, wie sie Newton betreibe, einer Tendenz zur Oberflächlichkeit Vorschub leiste und nicht zum Wesen der Dinge vordringe, wie es den tiefergehenden Bedürfnissen der spanischen Mentalität eher entspreche (vgl. 35-40). Und die Weigerung, sich der neuen theoriezentrierten, rationalistischen Philosophie im Stile Descartes anzuschließen, wird moralisch mit deren Anmaßung, Überheblichkeit und Eitelkeit begründet, die mit der eigenen Bescheidenheit kaum vereinbar sei: „Desgraciada virtud es para el Español la moderacion.“ (101) Dass Forner damit riskiert, wie der Fuchs in der äsopischen Fabel zu erscheinen, der die Trauben für sauer erklärt, weil sie ihm zu hoch hängen, ist eine Nebenwirkung, die er offensichtlich in Kauf nimmt (vgl. Alborg 1993, 704). Um den Überblick über die von Forner verwendeten Identitätsstrategien zu vervollständigen, ist noch eine letzte Argumentationsfigur zu erwähnen, die wesentlich direkter als die zuvor genannten der Immunisierung gegen Kritik von außen dient: In der Schlussanmer-
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kung zu seiner Oración erklärt Forner kurzerhand die Spanienkritik zur ureigensten Domäne der Spanier. Da die Spanier selbst ihre ältesten, kompetentesten, schärfsten und letztlich auch effektivsten Kritiker seien, habe Spanien keinen Rat von außen nötig: „ninguna nacion del mundo ha conocido sus males con la individualidad que ha conocido España los suyos, ni en ninguna se han escrito libros tan doctos sobre la decadencia de las cosas públicas, causas sobre las que han influido en ella, y sobre los medios de restaurarlas.“ (225) Wie die gegenwärtigen Reformen bewiesen, würden die Verbesserungsvorschläge der autochthonen Kritiker in Spanien tatsächlich auch umgesetzt. Forners Bewusstsein für die Geschichtlichkeit der spanischen Selbstkritik, aber auch seine Absicht, sie als Mittel zur Abgrenzung und Auszeichnung Spaniens gegenüber dem Ausland einzusetzen, sind deutliche Anzeichen dafür, dass der Topos der Spanienkritik schon im 18. Jahrhundert eine identitätsstiftende Funktion übernimmt. Die Schroffheit, mit der sich Forner gegen zentraleuropäische Entwicklungen und insbesondere gegen die französische Aufklärung abgrenzt, täuscht leicht darüber hinweg, dass er damit im Grunde eine ganz ähnliche Haltung einnimmt wie der von ihm als „maniaco“ (119) geschmähte anti-philosophe Jean-Jacques Rousseau (1712-1778). In der Tat gibt es zahlreiche Parallelen zwischen Rousseaus gesellschaftskritischem Discours sur les sciences et les arts von 1750 und Forners Oración – von der Radikalität, mit der beide nicht nur den Fortschritt der Wissenschaften und Künste, sondern den Sinn des Fortschritts überhaupt in Frage stellen, über die dialektische Beziehung zwischen Wissensvermehrung und sittlichem Verfall bis hin zu einer Reihe einzelner Motive. Dazu zählen der Vergleich zwischen der Austerität Spartas und der dekadenten Raffinesse Athens, die Missbilligung der theoretischen Neugierde, das Lob der Unwissenheit und die Geste der „Selbstbarbarisierung“, die auch bei Rousseau unter anderem die Identifikation mit Sokrates einschließt.17
17
So fallen in Rousseaus Discours von 1750 die Ausdrücke „vaine curiosité“ (1964, 17), „contagion des vaines connoissances“ (11) und „heureuse ignorance“ (12, 15). Vorangestellt ist das Ovid-Zitat „Barbarus hic ego sum quia non intelligor illis.“ (1) Wie Ursula Link-Heer verdeutlicht, beschränkt sich die „Selbstbarbarisierung“ bei
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Doch ist Juan Pablo wirklich ein „fils de Jean-Jacques comme bien des jeunes écrivains de sa génération“, wie François Lopez behauptet hat (1976, 376), um das von Menéndez Pelayo im 19. Jahrhundert geprägte und hartnäckig sich haltende Bild Forners als „patriota nacionalista enemigo de la Ilustración“ (Sotelo Vázquez 1998, 269) ein für allemal zu entkräften? Wie nicht anders zu erwarten, hat die Verwandtschaft zwischen Forner und Rousseau ihre Grenzen – Grenzen, die nicht zuletzt für die Unterschiede zwischen den Diskursformationen der Aufklärung in Spanien und Frankreich insgesamt symptomatisch sind. Rousseau tritt als Individuum auf und argumentiert im Kern universalistisch. Forner dagegen versteht sich als Verteidiger der kulturellen und nationalen Identität Spaniens: Nicht die Exzentrizität des Subjekts, sondern die des Kollektivs ist für ihn Garant der Wahrheit. Während sich Rousseaus Kulturkritik auf die fundamentale Opposition von Natur und Kultur stützt, speist sich die Kulturkritik Forners aus einem anderen Verständnis von Kultur. Die entscheidende Differenz zwischen Rousseau und Forner liegt jedoch in ihrer unterschiedlichen Auffassung der menschlichen Natur. Der Mythos vom Naturzustand des Menschen, den Rousseau in seinem Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (1754) als letzte Instanz einführt und von der her seine Kritik an der gegenwärtigen Gesellschaft und ihren Institutionen ihre
Rousseau ebenso wie bei Forner und anders als bei Ovid oder auch Voltaire nicht auf „das Spiel einer ironisch-paradoxen Umkehrung der Relation von Über- und Unterlegenheit, in der das kultiviert-zivilisierte Subjekt seine Selbstherrlichkeit und Eigenliebe nur umso applaussicherer genießt, als es gar keinen Gegenwert [...] durchsetzen will“ (1997, 44f.). Auf die Parallelen zwischen Forner und Rousseau hat als erster François Lopez nachdrücklich aufmerksam gemacht (1976, 375f., 380-387; 1995, 607). Auf die nicht weniger aufschlussreichen Unterschiede zwischen beiden Autoren geht Lopez jedoch kaum ein (siehe aber 394). In Bezug auf die Abschätzigkeit, mit der Forners Ansichten häufig bewertet wurden, merkt Hans Ulrich Gumbrecht an, „daß wir dasselbe – wenn auch argumentativ anders fundierte – kulturpessimistische Werturteil als eine höchst bedeutsame Variante aufklärerischen Denkens zu akzeptieren, ja zu bewundern bereit sind, wenn es uns bei der Lektüre eines kanonisierten Textes der Epoche – etwa im ersten Discours von Rousseau – begegnet.“ (1990, 490) Siehe zur Rousseau-Rezeption in Spanien García Cárcel (1992, 148f.) und vor allem Spell (1969), der bei Forner jedoch nur dessen manifeste Ablehnung Rousseaus hervorhebt (96), ohne die Ähnlichkeiten zwischen beiden Autoren anzusprechen.
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Legitimation bezieht, stößt bei Forner auf vehemente Ablehnung, weil Rousseau damit den Menschen seiner (von Gott verliehenen) Vernunft beraube: „un Rosseau, que solicitó inutilizar la razon, reduciendo al estado de bestia al que nació para hombre“ (22). Forners christliches Weltbild, in dem die Attribute des Menschlichen allein durch den Schöpfergott verliehen werden, lässt die Annahme einer nicht hintergehbaren menschlichen Natur nicht zu. Da eine solche Annahme für Forner der Leugnung des Menschseins überhaupt gleichkommt, muss sie ihm zwangsläufig als Entmenschlichung bzw. Vertierung des Menschen erscheinen.18 Für seine grundsätzlich positive Einstellung zur Kultur liefert Forner zu Beginn des zweiten Teils der Oración eine anthropologische Begründung: Da sich das menschliche Wesen durch ein fragiles Gleichgewicht zwischen Körper und Geist auszeichne, sei es auf die Stütze und die Orientierung durch den Staat und die christliche Religion („la Legislacion civil y la Religion revelada“, 87f.) angewiesen, die das Glück der Menschen garantierten. Aus der Notwendigkeit, diese Institutionen zu schützen und zu bewahren, erklärt sich auch die zentrale Stellung, die der Begriff der „límites“ in Forners Entwurf einer spanischen Gegenidentität einnimmt. Das größte kulturelle Verdienst („mérito literario“) kommt demnach der Nation zu, der es am besten gelingt, sich gegen die „Auswüchse der Vernunft“ („contra las extravagancias de la razon“, 95) zu wehren und den Wissenschaften Grenzen zu setzen („reducir las ciencias a sus verdaderos límites y fines“, 94). Eine solche freiwillige Selbstbeschränkung lässt dann auch bestimmte praktische Maßnahmen wie die Zensur – durch den Staat – gerechtfertigt erscheinen (vgl. 21f.). Alles, was diese „límites y fines“ überschreitet und verfehlt, wird von Forner mit Invektiven belegt, zu denen neben den bereits genannten auch
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Hans Ulrich Gumbrecht spricht im Hinblick auf das Ausbleiben eines Erkenntnisprozesses, „in dem der Mensch sozusagen ‘die Natur in sich selbst’ entdeckt und in dessen Folge er sich als eine letzte, durch keine Skepsis mehr zu hintergehende Instanz der Sinngebung einsetzt“ (1990, 530) von „einer spezifischen Begrenzung der spanischen Reformbewegungen des XVIII. Jahrhunderts“ (ebd., Hervorhebung im Original), die auf das Festhalten an einem „vom religiösen Schöpfungsgedanken beherrschten Weltbild“ (533) zurückzuführen sei – wobei die Allgemeingültigkeit dieser Feststellung noch zu prüfen bliebe.
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die Reihen „ostentación“, „apariencia“, „ligereza“ und „vanidad“, „curiosidad“, „novedad“ gehören. Bei näherem Hinsehen wird deutlich, dass diese Litanei durch eine Isotopie des ontologischen Mangels, der fehlenden Tiefe und der Selbstzweckhaftigkeit zusammengehalten wird. Hinter Forners Diffamierungen zeichnet sich indessen eine ernsthafte Kritik der Moderne ab, die den Prozess der beschleunigten Säkularisierung und die Ausdifferenzierung unterschiedlicher gesellschaftlicher Teilbereiche und Wertsphären (Wissenschaft, Religion, Kunst, Moral) mit ihrer je eigenen Logik als Bindungs-, Sinn- und Orientierungsverlust bilanziert. Deshalb zeigt sich Forner auch in Bezug auf Entwicklungen besonders empfindlich, die zur Autonomie gegenüber den lebensweltlich bestimmenden Normen der Religion und der Moral tendieren. Hier liegt der tiefere Grund dafür, dass die Ansätze zur theoretischen Neubegründung der Naturwissenschaften und der Philosophie von Forner mit religiös-moralischen Begriffen verurteilt werden.19 Wenn man sich diese, zumindest in den angesprochenen Punkten, „antimoderne“ Haltung vergegenwärtigt, wundert es nicht, dass gerade Descartes, Newton, Rousseau und Voltaire zur Hauptzielscheibe Forners werden – Descartes, der das Subjekt auf seine Fähigkeit zur Selbstreflexion gründet, Newton, der die Eigengesetzlichkeit der Natur theoretisch absichert, Rousseau, der den Ursprung des Menschen in die Natur verlegt, und Voltaire, der sich als Kosmopolit und Religionskritiker inszeniert, worauf Forner mit dem antiintellektuellen Verdammungsurteil „vivió sin patria, murió sin religion“ (22) reagiert. Besser greifbar als in seinen pauschalen Verwünschungen wird Forners Kritik der Moderne in verschiedenen charakteristischen Einzelmotiven. Eines davon wurde bereits genannt: die aus der christlichen Tradition stammende Ablehnung der curiositas, der philosophischen Weltneugierde, die beispielsweise im Diario de los literatos de
19
Auch diese Haltung ist der Rousseaus ähnlich. So bemerkt etwa Hans Sanders zu Rousseaus erstem Discours: „Zum Problem wird für Rousseau die Ausdifferenzierung normativ indifferenter Handlungsbereiche aus einer Lebenswelt, die bis dahin auf dem Primat bestimmter Normen (Religion, Moral, Normen staatsbürgerlichen Handelns, vertus militaires) beruht haben müßte.“ (1987, 176) und „Offensichtlich ist die Kritik an einem Gesellschaftstyp orientiert, in dem Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst unter dem Primat ethischer, religiöser und staatsbürgerlicher Normen des Handelns stehen, und wo eine auch nur relative Autonomie der Teilbereiche ausgeschlossen wäre.“ (177)
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España noch eine uneingeschränkt positive Einschätzung erfahren hatte. Weil die Neugier die Menschen dazu bringt, die Grenzen des ihnen zuträglichen Wissens zu überschreiten, wird sie von Forner als „ambiciosa“ (72), „vana“ (91) und „ociosa“ (149) moralisch verurteilt. Dem bereits etablierten Wissen droht dagegen eine andere Gefahr, die vor allem in den neuen Wörterbüchern nach Art der französischen Encyclopédie greifbar wird. Forner spricht von „sucintos é infieles diccionarios, donde dislocadas, si no trastornadas las noticias, se pierden y rompen las conexîones de los sistemas“ (8) und von „Diccionarios acinados malignamente para ofuscar la verdad“ (103). In Forners Kritik an der Auflösung innerer Sinnzusammenhänge durch die beliebige alphabetische Aufbereitung des Wissens spiegelt sich der Wunsch, am universalwissenschaftlichen Ideal des Humanismus und der Barockzeit festzuhalten, das auf der Vorstellung einer scheinbar natürlichen, die Totalität und Harmonie des göttlichen Universums abbildenden Ordnung beruhte.20 Doch Forner sieht sich noch in anderer Hinsicht dazu genötigt, den Wert des überlieferten Wissens zu verteidigen, und zwar gegen die Herausforderung durch das neue Paradigma der Beobachtung und Reflexion, das von Luis Cañuelo in der Zeitschrift El Censor polemisch gegen die angeblich nutzlose und nicht mehr zeitgemäße Buchgelehrsamkeit ausgespielt wird. Im Zuge seiner kritischen Auseinandersetzung mit den überwiegend historisch argumentierenden Apologien bekennt Cañuelo ironisch im „Discurso CXIII“ vom 13.7.1786, der namentlich auf die Rede Deninas antwortet: „no estoy muy versado en la historia literaria: he gastado mas tiempo en adquirir las pocas letras que tengo, que en saber la historia de ellas; he observado mas que he léido“ (1989, 865).21 Schon Forners gesamte, ein immenses Wissen ausbreitende Oración kann als implizite Antwort auf dieses für ihn provozierende Bekenntnis aufgefasst werden. Explizit äußert sich Forner zu den Ansichten Cañuelos jedoch erst 20
Zum gesamteuropäischen Prozess der Genese der modernen Wissensgesellschaft in der Zeit von 1450 bis 1820 siehe den von Richard van Dülmen und Sina Rauschenbach herausgegebenen Sammelband Macht des Wissens (2004), der sich jedoch auf die kulturgeschichtliche Rekonstruktion der Entwicklung in Deutschland, England und Frankreich konzentriert. 21 Vgl. Elsa García-Pandavenes: „Éste es muy probablemente el mejor, y ciertamente el más famoso de los discursos publicados en El Censor.“ (1972, 48)
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in der im Anhang zur Oración abgedruckten Contestación al discurso CXIII del Censor. Forner verteidigt darin keineswegs die Bildung um ihrer selbst willen, vielmehr belehrt er Cañuelo ausführlich über den unverzichtbaren Nutzen eines umfangreichen historischen Wissens für die angemessene Beurteilung und erfolgreiche Bewältigung der Gegenwart: „un Reformador universal de la sociedad civil, y de lo que en ella se piensa y obra, necesita en verdad ser un docto“ (1992, 13).22 Was den Streit zwischen Forner und Cañuelo indessen so aufschlussreich macht, ist weniger die Auseinandersetzung um das Für und Wider der Gelehrsamkeit, als das Aufeinandertreffen zweier entgegengesetzter epistemologischer Paradigmen, in denen das Subjekt einmal primär als Teil der Welt (Forner) und einmal als der Welt gegenüberstehender Betrachter (Cañuelo) aufgefasst wird. Von dieser Feststellung führt ein direkter Weg zu dem konstruktiven Gegenbild, das ja gleichfalls in der Oración enthalten ist, obwohl es von der Polemik überdeckt wird, die ihre Triebkraft aber letztlich auch nur aus diesem Gegenbild bezieht. Es gilt zu sehen, dass Forner allein durch die Tatsache, dass er sich den Ansichten Descartes, Newtons, Rousseaus und Voltaires so heftig verweigert, noch nicht zu dem Reaktionär wird, als den ihn so unterschiedliche Interpreten wie Menéndez Pelayo und Julián Marías dargestellt haben. Indem er dafür plädiert, das uneingelöste Reformpotenzial der Vergangenheit zu nutzen, profiliert er sich vielmehr als Vertreter eines dritten Weges. Das positive Identifikationsangebot, in das er seine Apologie effektbewusst münden lässt, zeigt das unmissverständlich (143-149). Mit den Renaissance-Humanisten Juan Luis Vives (1492-1540), der zwar in Valencia geboren wurde, aber einen Großteil seines Lebens im Ausland verbrachte, und dem Engländer Francis Bacon (1561-1626) empfiehlt Forner seinen Landsleuten zwei Vorbilder von gesamteuropäischer Bedeutung, die seiner Überzeugung nach zugleich der spanischen Mentalität am besten entsprechen, weil sie für vergleichsweise 22 Jesús Cañas Murillo, der penibel alle Namen und Werke aufgelistet und nach verschiedenen Kriterien klassifiziert hat, die in der Oración und der Contestación erwähnt werden, bezeichnet Forner angesichts des beeindruckenden Ergebnisses als „uno de los intelectuales más cultos de su época“ (1998, 303f.). Essenziell für die Kenntnis von Forners Bildungshintergrund ist das Kapitel „La tradition intellectuelle“ in Lopez (1976, 37-208).
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bescheidene, pragmatische, an Empirie und Alltag orientierte Formen des Wissens und der Vernunft eintreten. Ihre maßgeblichen Kategorien heißen für Forner „utilidad“, „experiencia“ und „observación“, nur dass mit „Beobachtung“ in diesem Zusammenhang eine Methode gemeint ist, der sich der Gelehrte zu seinem Vorteil bedient, und nicht, wie bei Cañuelo, eine mit der Gelehrsamkeit unvereinbare bzw. ihr entgegenzusetzende Grundeinstellung. Insbesondere der universal interessierte Vives erscheint als idealer Vertreter einer vorwiegend am Menschen ausgerichteten, ihn in seiner Ganzheit erfassenden, alle Erkenntnisse unter den Vorbehalt der praktischen Relevanz stellenden Haltung. Nur vor dem Hintergrund dieser weltanschaulichen Bindung wird auch ein zunächst unangemessen erscheinender Vergleich wie der folgende verständlich, in dem Forner konkretes Handeln und abstrakte Reflexion miteinander konfrontiert: „Una nacion, cuya Náutica y arte militar ha dado á Europa, en vez de un soñado y árido mundo Cartesiano, un mundo real y efectivo, manantial perenne de riquezas“ (74). Die Abgrenzung, die Forner zwischen Vives und Bacon auf der einen und Descartes, Newton, Rousseau und Voltaire auf der anderen Seite vollzieht, und die Art, wie er sie begründet, entspricht ziemlich genau der Unterscheidung, die Stephen Toulmin in seinem Buch Kosmopolis zwischen einer ersten, literarisch-humanistischen und einer zweiten, wissenschaftlich-philosophischen Phase der Moderne, vornimmt (1991, 49). Während die erste Phase, die Toulmin um 1500 beginnen lässt, von einem kontextgebundenen, rhetorischen, an partikulären und praktischen Fragen interessierten Denken geprägt sei, werde die zweite Phase, die im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts einsetze, von einem kontextunabhängigen, theoriezentrierten Denken dominiert, das nach Abstraktheit, Allgemeinheit, logischer Strenge und Gewissheit strebe. Indem Toulmin den Renaissance-Humanismus als einen der beiden Ursprünge der Moderne auffasst und ihn noch dazu als Korrektiv einer rationalistischen, einseitig theoriebezogenen Moderne aufwertet, verschiebt er gewissermaßen die gewohnten Bewertungsmaßstäbe zugunsten Forners. Toulmins Sichtweise ist daher besonders gut geeignet, um Forners Konzept einer spanischen Gegenidentität vom pauschalen Vorwurf des Antimodernen und
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Rückwärtsgewandten zu befreien und seine zugleich reformorientierte und modernitätskritische Substanz offenzulegen. Doch auch unabhängig davon bietet Forners Vorgehensweise Anhaltspunkte, um derartige Vorwürfe zu entkräften. Ebenso wie die Aneignung historischer Bildung, ist auch die empfohlene Rückbesinnung auf Vorbilder wie Vives und Bacon kein Selbstzweck, denn sie erfolgt mit dem Anspruch, aus der Geschichte zu lernen und wird an die Vorstellung der Nation gekoppelt, mit der ein dynamisches, zeitgemäßes und zukunftsorientiertes Modell gesellschaftlicher Integration ins Spiel kommt, wie José Antonio Maravall schon 1967 betont hat. Das Bindeglied zwischen der vorbildlichen Vergangenheit und der reformbedürftigen Gegenwart heißt Traditionspflege. Das wird am Schluss der Oración deutlich, als der unbeirrbare Apologet Forner auch einige kritische Worte an die Adresse seiner eigenen Nation richtet. Er ermahnt sie, die Erinnerung an so verdienstvolle Menschen wie Vives wachzuhalten, zum Beispiel in Form von Denkmälern – ein Vorschlag, der sich bekanntlich auch im sechzehnten Brief von Cadalsos Cartas marruecas findet: „Por qué mi España, mi sábia España, no ostenta en la Capital de su Monarquía estatuas, obeliscos eternos que recuerden sin intermision el nombre de este ilustre reformador de la sabiduría?“ (143)
C)
DIE APOLOGIE: BEWERTUNG, FUNKTION, KONTEXT
Wie verhält sich Forners idiosynkratisches Identitätskonzept zur literarischen Form der Apologie? Festzuhalten ist zunächst, dass er sich, im Zuge der von Cañuelo in El Censor angefachten Diskussion, ausführlich und an verschiedenen Stellen – im Vorwort (XIII-XVI), in der 23. und letzten Anmerkung (223-228) und in der 86 Seiten langen Contestación al discurso CXIII del Censor – mit Sinn und Berechtigung, Funktion und Wirkung der Apologien auseinandersetzt. Er lässt keinen Zweifel daran, dass es sich bei dieser Gattung um ein rein reaktives, von außen angeregtes und situationsgebundenes Phänomen handelt: „¿Qué causas dan motivo á las Apologías? Las imposturas y acusaciones insolentes. No haya imposturas ni insolencia en las acusaciones, y cesaran al momento las Apologías...“ (226). Zumindest implizit
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scheint er sich auch über den Widerspruch im Klaren zu sein, dass sich eine selbstbewusste Darstellung des Eigenen nur schwer mit der Replikenstruktur der Apologien verträgt. Jedenfalls lässt sich seine Haltung gegenüber der Apologie als Gattung auch so interpretieren, dass sie als direkte Konsequenz aus dem von ihm propagierten Identitätskonzept erscheint. Zu dieser Interpretation passt, dass sich Forner von den Erwartungen distanziert, die das zeitgenössische Publikum mit der Gattung verbinden musste. Seine Absicht definiert er ausdrücklich als „dar una demostracion que no dexase lugar á la réplica“ (XIV). Auch gehe es ihm nicht darum, Beweismaterial anzuhäufen (IIIf.) oder eine „Apología circunstanciada“ (XIV) im Stil der gerade wiederaufgelegten Biblioteca hispana (1783) des Historikers Nicolás Antonio (1617-1684) zu verfassen. Forner bekennt sich zwar vorbehaltlos zur umstrittenen Rolle des Apologeten, möchte aber den Eindruck vermeiden, als ideenloser Epigone dazustehen oder ausschließlich durch äußere Faktoren motiviert zu sein. Deshalb erweckt er im Vorwort auch den Anschein, sein Werk gleichsam zum Zeitvertreib und um seiner selbst willen verfasst zu haben („una Oracion que habia yo escrito poco tiempo há en defensa de nuestra literatura, con solo el fin de exercitar mi estilo en la eloqüencia Castellana“, II), anstatt wahrheitsgemäß auf die Tatsache hinzuweisen, dass es ursprünglich als Beitrag für den Wettbewerb der Real Academia de la Lengua im Sommer 1785 geplant war, aber von dieser als unzulänglich zurückgewiesen wurde. Wenn man will, kann man sogar noch die Diskrepanz zwischen der Schilderung der Publikationsgeschichte der Oración, wie sie Forner im Vorwort zu seinem Werk liefert, und der Gestalt der tatsächlich vorliegenden Publikation als symbolischen Ausdruck der von ihm inhaltlich vorgenommenen Neuausrichtung der Identitätsproblematik sehen. Beschreiben lässt sich diese Diskrepanz als Ergebnis einer intertextuellen Strategie: Forner gibt an, zunächst nichts anderes als eine ausführlich kommentierte Übersetzung der Rede Deninas beabsichtigt zu haben. Die Umstände hätten ihn dann allerdings dazu bewogen, seine eigene Oración zusammen mit dem französischen Original von Deninas Rede gewissermaßen als deren „suplemento é ilustracion“ (III) bzw. zu deren „exôrnacion“, wie es auf dem äußeren Titelblatt heißt, zu veröffentlichen (vgl. Abbildung 8). De facto stehen jedoch schließlich in dem 1786 von der
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Imprenta Real gedruckten Werk 340 Seiten aus der Feder Forners 45 Seiten Deninas gegenüber, das ist ein Textverhältnis von 7,6 zu 1. Das „suplemento“, das im Vorwort noch bescheiden und respektvoll als Ergänzung und Vervollständigung des Textes von Denina angekündigt wird, präsentiert sich im Ergebnis als dessen Verdrängung und Ersetzung: Aus Denina ist Forner geworden, und zwar nicht nur in quantitativer, sondern auch und gerade in ideologischer Hinsicht. Forners Text erhält dadurch einen performativen Charakter: Indem er seine Aussage abbildet, intensiviert er zugleich deren Wirkung.23
Abbildung 8: Das Titelblatt der Oración
23
Forners Vorgehen illustriert perfekt die Doppeldeutigkeit des Wortes „Supplement“, die, wie Gérard Genette im Kapitel XXXVII seines Buchs Palimpsestes hervorhebt, das dem supplément als Gattung gewidmet ist, weit über „complément“ hinausgehen kann: „En vertu d’une ambiguïté bien connue, le terme de supplément porte une signification plus ambitieuse: le post-scriptum est ici tout disposé à suppléer, c’est-à-dire à remplacer, et donc à effacer ce qu’il complète.“ (1982, 225) Bekanntlich ist der Begriff „supplément“ auch eine zentrale Kategorie der Rousseau-Lektüre Derridas in De la grammatologie (1967). Die genauen Umstände der Publikation der Oración werden u. a. von Smith (1976, 35-39) und Lopez (1976, 370-373; 1995, 604-606) rekonstruiert.
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Abgesehen von der Möglichkeit, Forners Werk einschließlich seiner formalen Eigenschaften als Resultat der in ihm dargelegten Überzeugungen zu lesen, drängt sich allerdings noch eine andere, die historischen Entstehungsbedingungen stärker berücksichtigende Interpretation auf. Aus kultursoziologischer Perspektive lässt sich das Werk nämlich auch als Resultat einer Strategie begreifen, die in erster Linie darauf abzielt, der Karriere seines Verfassers auf die Sprünge zu helfen und ihm eine stabile gesellschaftliche Stellung zu verschaffen. Diese Strategie ist letztlich auch aufgegangen, wie es der sich prompt einstellende literarische Ruhm und die angesehenen öffentlichen Ämter bezeugen, die der Jurist Forner in den folgenden Jahren bekleidete: Obwohl man ihm erst 1785 die Auflage erteilt hatte, nichts ohne die Zustimmung der Regierung zu veröffentlichen, wurde ihm 1788 die Zensur der Historia universal des Jesuiten Tomás Borrego übertragen, die ihm 6000 Reales einbrachte. 1790 erfolgte die Ernennung zum „fiscal del crimen de la Real Audiencia de Sevilla“, und 1796, ein Jahr vor seinem frühen Tod, stieg er zum „fiscal del Consejo de Castilla“ in Madrid auf. Vor dem Hintergrund dieser nachfolgenden Karriereschritte erscheinen jedenfalls Forners Überbietungsgeste, seine Distanzierung von den bisher im In- und Ausland veröffentlichten Apologien und seine Beteuerung „nuestras Apologías no deben escribirse para nosotros, sino para convencer á los extrangeros que nos acusan“ (II) als wohlkalkulierte Signale, die ihre eigentlichen Adressaten im Zentrum der politischen Macht in Spanien selbst hatten und diese auch nicht verfehlten. Wenn man den primären Zweck von Forners Veröffentlichung darin sieht, ihrem Verfasser einen möglichst großen materiellen und symbolischen Gewinn zu bescheren, wird man ihrem propositionalen Gehalt zwangsläufig weniger Gewicht beimessen, als das im Verlauf der Rezeptionsgeschichte häufig der Fall war. Tatsache ist, dass Forners Oración ihr Erscheinen der Fürsprache des damaligen Präsidenten des Consejo de Castilla, Floridablanca, verdankte, der die Drucklegung durch die Imprenta Real ermöglichte und von dem Forner anschließend auch eine finanzielle Unterstützung in Höhe von 6000 Reales erhielt. Entgegen einer lange Zeit und zum Teil sich hartnäckig bis heute haltenden Annahme handelte Forner, wie man weiß,
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ursprünglich nicht im politischen Auftrag des Ministers.24 Vielmehr bemühte er sich aus eigenem Antrieb und mit Hilfe seines Mittelsmannes, dem „secretario del Consejo de Estado“ und späteren Herausgeber der zweiten Auflage der Poética Luzáns (1789) Eugenio Llaguno y Amírola (1724-1799), darum, den einflussreichen Politiker für sich zu interessieren und auf diese Weise den Staat als Mäzen zu gewinnen. Für Forners weiteres Schicksal, aber auch für sein Fortleben im kulturellen Gedächtnis der Nachwelt, hatte dieser Schritt entscheidende Bedeutung, wie sein Biograph François Lopez hervorhebt: „Sin esta audacia, muy otra hubiera sido la fama de Forner, no sólo durante toda su vida sino para la posteridad.“ (1976, 605) Forners Vorstoß konnte allerdings nur deshalb zum Erfolg führen, weil Floridablanca seinerseits an einer publizistischen Unterstützung des nationalistischen Kurses interessiert war, den seine Regierung als Antwort auf Masson de Morvilliers Attacke, aber auch zur Disziplinierung der Verhältnisse im Inneren eingeschlagen hatte.25 Die Vorgänge um die Veröffentlichung von Forners Oración führen beispielhaft vor Augen, wie stark sich politische und private Erfolgsstrategien in den letzten Jahren der Regentschaft Karls III. an der Frage der nationalen Identität ausrichten, und sie zeigen, wie sehr gerade aus diesem Grund eine vorteilhafte Position im literarischen 24 Francisco Sánchez-Blanco kolportiert immerhin noch 1992: „El ministro Floridablanca, no obstante, incita personalmente a Forner para que tome la pluma y éste le sirve con la Oración apologética, que es impresa a expenas de las arcas estatales.“ (1992a, 198) und „A partir del momento en que Floridablanca le encarga escribir la apología, cambia su suerte.“ (249) Andrés Amorós äußert sich 1999 unverändert: „Floridablanca, que compartía el sentimiento antifrancés con el escritor extremeño, le encargó una obra que arremetiera contra Masson y respondiera con una apología de España.“ (162) Dagegen stellte François Lopez schon 1976 kategorisch fest: „Contrairement à ce que l’on a souvent affirmé, Floridablanca n’a jamais chargé Forner d’écrire une apologie de l’Espagne.“ (371) 25 Diesen Aspekt betont Francisco Sánchez-Blanco, der Forner als Schachfigur der Machtpolitik Floridablancas sieht, der im Sinne der Maxime divide et impera daran interessiert gewesen sei, mit Hilfe Forners Zwietracht innerhalb der Partei der „ilustrados“ zu säen: „Existen fundadas sospechas de que Floridablanca defendió su propio conservadurismo propiciando una propaganda antifilosófica y xenófoba.“ (2002, 351) Vgl. zur Gallophobie als einem gängigen „Instrument kulturpolitischer Steuerung“ nicht nur bei Floridablanca, sondern auch bei Campomanes, Pablo de Olavide, Aranda und Godoy Jüttner (2005, 198).
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Feld von einem politisch opportunen Verhalten abhängt.26 Dass Forner sich dieser Situation vollkommen bewusst ist und von ihr maximal zu profitieren versteht, wird nicht zuletzt daran deutlich, dass er die günstige Gelegenheit zur Publikation seiner Oracíon gleich auch noch dazu nutzt, eine umfangreiche Contestación al discurso CXIII del Censor mit abzudrucken. Der Vorschlag, Forners Oración unter stärkerer Berücksichtigung des Entstehungskontextes zu beurteilen, ist nicht grundsätzlich neu. Wie eingangs dargelegt, haben José Antonio Maravall und François Lopez schon früh deutlich gemacht, dass die lange Zeit dominierende rein traditionalistische Lesart des Textes nur um den Preis seiner Dekontextualisierung und Entpragmatisierung aufrecht zu halten war. Um Forner gegen solche in ihren Augen falsche bzw. verfälschende Interpretationen in Schutz zu nehmen, insistieren sie auf der Notwendigkeit, den Text in den weiteren historischen Kontext der spanischen Reformbewegung wie auch den engeren Kontext von Forners Gesamtwerk zu stellen.27 Außerdem erinnern sie daran, die situative Einbindung der Rede und den rhetorischen Charakter der Gattung Apologie nicht zu vernachlässigen.28 Dabei können sie sich auf Forner selbst berufen, der schließlich den Rollencharakter der Sprechinstanz seiner Oración ausdrücklich hervorgehoben hat: „Quise ser orador, y ajusté á este fin el color del estilo y la distribucion de las partes“ (IV). Eine relativierende Sicht auf Forners Oración lässt sich jedoch auch auf einem anderen, bisher noch nicht beschrittenen Weg gewinnen. Schon die Identität des Werkes selbst ist ja nicht so eindeutig, wie es scheinen mag, denn es existiert in zweierlei Form: als „Buch“ und als „Text“, wie die nachstehende Abbildung 9 verdeutlichen soll:
26
Siegfried Jüttner spricht in diesem Zusammenhang von einem „Lehrstück auch über die politische Dimension der Kultur im aufgeklärten Absolutismus“ (2005a, 208). 27 Vgl. dazu Lopez: „Nosotros creemos que se trata de la obra de un ilustrado que hay que restituir a un amplio contexto, teniendo muy presentes las circunstancias en que se elaboró. Otros textos hay donde la ideología del autor se manifiesta sin ambigüedades, y a éstos hay que acudir si se quiere saber qué ideas y qué ilusiones tuvo este pensador.“ (1995, 610f.) 28 Vgl. Maravall (1967, 30, 39) und Lopez (1976, 372-375, 380, 387, 433).
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Oración apologética (Text) Parte primera
Parte segunda
Notas
Apéndices Contestación al discurso CXIII del Censor
P. D. sobre el discurso CXX
Discours de l’abbé Denina
Abbildung 9: Die Oración als Buch und Text Auch wenn Forners Oración im Laufe der Rezeptionsgeschichte vorwiegend als Text wahrgenommen wurde, begegnete sie den zeitgenössischen Lesern doch zunächst als Buch. Und dieses Buch enthielt wesentlich mehr als nur den gleichnamigen Text, nämlich das Vorwort „Al lector“ (I-XVII), dann die zwei nahezu gleich langen Teile der Oración (1-76 und 77-150), dazu umfangreiche „Notas“ (151-228) sowie „Apéndices“, bestehend aus der bereits erwähnten Contestación al discurso CXIII del Censor (1-86) und dem in der französischen Originalfassung belassenen Discours de l’abbé Denina (1-44), der nur noch als Publikationsvorwand für Forners eigene Schriften dient. Damit nicht genug, hat Forner die philosophischen Darlegungen zu Beginn des zweiten Teils seiner Oración auch noch mit 19 Marginalien versehen, und zu den Anmerkungen gibt es weitere Fußnoten, die Belegzitate in lateinischer Sprache und Quellennachweise enthalten.29 Das unter dem Titel Oración apologética erschienene Werk ist also im Grunde nicht mehr als eine „Buchbinder-Synthese“, denn es fasst Texte zusammen, die sich hinsichtlich Intention, Stil, Adressaten und Entstehungszeitpunkt deutlich voneinander unterscheiden und die zudem nicht einmal alle von demselben Autor stammen.30 Die Unterscheidung zwischen der Oración als Text und als Buch ist nun insofern interessant, als sie dazu beiträgt, die ideologische Kom-
29
Die Anmerkungen, ebenso wie das Vorwort, wurden von Forner erst für die Publikation hinzugefügt. Der Text der Oración ist jedoch im Wesentlichen identisch mit dem unter dem Titel „Apología de la literatura y artes de España“ eingereichten Wettbewerbsbeitrag: „Entre le manuscrit présenté à l’Académie, dont l’original nous a été conservé, et le texte qui va voir le jour grâce à Floridablanca, les divergences sont peu nombreuses et n’affectent que des détails“ (Lopez 1976, 372). 30 Nachvollziehen lässt sich diese Feststellung natürlich nur anhand der editio princeps bzw. der von Cañas Murillo besorgten Neuausgabe (1997), die allerdings Deninas
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paktheit des Textes zu relativieren, die ihn auch in semantischer Hinsicht als Musterbeispiel einer monologischen Rede und damit als idealtypisches Gegenstück zu dialogisch angelegten Werken wie etwa Cadalsos Defensa de la nación española oder dessen Cartas marruecas erscheinen lässt. Während beispielsweise die Marginalien zu Beginn des zweiten Teils der Oración die „Einsinnigkeit“ des Textes, zu der sich Forner ja auch unmissverständlich bekennt („Sujetéme á la estrechez de una sola hipótesis ó proposicion fundamental“, 4), noch verstärken, indem sie die zentralen philosophischen Aussagen der entsprechenden Abschnitte prägnant zusammenfassen, wird diese Einsinnigkeit schon durch die notas in einigen zentralen Punkten abgeschwächt. So erläutert und differenziert Forner gleich in der ersten Anmerkung seine Haltung in der heiklen Frage der Gedankenfreiheit und der Zensur, indem er vor allem auf die Situation in den übrigen Ländern Europas verweist – wie überhaupt festzustellen ist, dass sich in den notas die ethnozentrische Perspektive des Haupttextes lockert. Darüber hinaus wird die Fixierung auf die ferne Vergangenheit durchbrochen, und der Fortschrittswille generell, aber auch die konkreten Reformanstrengungen der spanischen Krone finden lobende Erwähnung: „debemos [...] reconocer tambien en gracia de la verdad y de la justicia que el estado presente […] es incomparablemente mas feliz que el que lograron nuestros visabuelos“ (228). Einen deutlichen Kontrast zum Grundtenor der Oración markiert schließlich auch das Ende der 23. und letzten Anmerkung, wo der aufklärerische, genuin moderne Gedanke anklingt, dass sich der Wert der Gegenwart nach der Bedeutung bemisst, die sie in den Augen der Zukunft haben wird: „La recompensa mas digna será la memoria de sus desvelos [sc. der tatkräftigen Jugend] en los tiempos futuros, quando agradeciendo nuestra posteridad los beneficios que herede labrados por nuestro trabajo, diga á sus hijos con enternecido reconocimiento.“ (228)
Rede in spanischer Übersetzung wiedergibt. Die Ausgabe von Zamora Vicente (1945) liefert den Text der Oración zuzüglich der Anmerkungen Forners; die in der Biblioteca Virtual Miguel de Cervantes (http://www.cervantesvirtual.com) zugängliche elektronische Fassung enthält ausschließlich den Text.
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Bezeichnenderweise tritt das Motiv, die Gegenwart als Vergangenheit der Zukunft zu sehen, hier nicht in der Form eines markanten, konflikthaften Bruchs zwischen Anciens und Modernes auf, also in dem Zusammenhang, in dem es zum Beispiel von Werner Krauss und Hans Robert Jauß für die französische Tradition beschrieben wurde,31 sondern im Zeichen eines versöhnlichen Verhältnisses zwischen den Generationen und einer intakten Traditionskette, die durch Gesten der Dankbarkeit und die Bereitschaft zum Gedenken zusammengehalten wird. Über der Hervorhebung dieses Schlussmotivs ist nicht zu vergessen, dass Forner auch schon im Vorwort durchaus moderate Töne anschlägt, wenn er die Berechtigung fremder Kritik einräumt („Tal vez nuestros acusadores nos culpan justamente en algunas cosas“, VII) oder die Spanier vor übertriebenem Stolz warnt („Hay entre nosotros quienes creen muy de corazon que todo se sabe en España, y que nuestros métodos de enseñar son los mejores del mundo“, VIIf.). Durch die Einbeziehung der Anmerkungen und des Vorworts entsteht eine semantische und ideologische Spannung, die sich noch verstärkt, wenn man den Fokus auf die übrigen Texte des Buchs und vor allem natürlich auf die fundamental anders gelagerte Rede Deninas ausdehnt. Ohne dass man erst auf den Kontext außerhalb des Buchs zurückgreifen müsste, kann man daher, wenn schon nicht dem Text selbst, so doch zumindest der Oración als Buch ein gewisses Maß an Dialogizität nicht absprechen.
D) IDENTITÄTSSTIFTUNG ZWISCHEN
RHETORIK UND DICHTUNG
Im Hinblick auf die für uns maßgebliche Leitfrage nach der Wechselbeziehung von Identitätsdiskurs und literarischer Evolution bleibt noch ein letzter Aspekt zu berücksichtigen, der von Forner selbst ins Spiel 31
Vgl. dazu Jauß, der explizit an Werner Krauss’ Arbeiten zur Periodisierung der Aufklärung anknüpft: „In diesem epochalen, zuvor nicht anzutreffenden Grundmotiv hat sich die Modernität der Aufklärung am entschiedensten von der Gegenposition der humanistischen Anciens abgekehrt: im offenen Horizont einer wachsenden Perfektion des Zukünftigen, nicht mehr am Idealbild einer vollendeten Vergangenheit liegt von nun an das Richtmaß, nach dem die Geschichte der Gegenwart zu beurteilen, ihr Anspruch auf Modernität zu bemessen ist.“ (1970, 35)
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gebracht wird und die literarische Identität der Oración als Text (in der zuvor angesprochenen Bedeutung) betrifft. Den Ausgangspunkt bildet dabei die Beobachtung, dass Forner es offenbar für notwendig hält, die Beziehung zu klären, in der seine Apologie der kulturellen Verdienste Spaniens zu den Disziplinen der Geschichtsschreibung, der Rhetorik und der Dichtung steht. Forners Abgrenzung gegen die Geschichtsschreibung fällt eindeutig aus. Im Vorwort bekennt er: „Mi propósito fué escribir, mas como Declamador, que como Historiador crítico“ (IV), und am Ende des ersten Teils der Oración bekräftigt er erneut: „No es Biblioteca esta Oracion: no es tampoco Historia“ (76). Dieses Urteil ist deswegen von Gewicht, weil Forner selbst an anderer Stelle, in seinem 1788/1789 abgeschlossenen Discurso sobre el modo de escribir y mejorar la historia de España, eine fundierte und eigenständige Meinung über Sinn und Aufgaben der Geschichtsschreibung vertreten hat. Anders sieht es mit Forners Haltung zur Rhetorik aus, denn diese ist weniger eindeutig, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Obwohl die Oración ursprünglich als Wettbewerbsbeitrag in der Sparte „elocuencia“ konzipiert war und Forner den rhetorischen Charakter des Textes mehrfach betont („Quise ser orador“ IV), möchte er ihn aber offensichtlich auch nicht vollständig der Rhetorik zuschlagen und situiert ihn deshalb zwischen Rhetorik (retórica) und Dichtung (poesía).32 Um Forners Zögern zu verstehen, muss man sich zunächst bewusst machen, dass die im 18. Jahrhundert übliche schematische Aufteilung des weiten Feldes der Literatur in die Bereiche Rhetorik und Dichtung in der Theorie und mehr noch in der Praxis immer wieder neue Abgrenzungsprobleme aufwarf, die in der zweiten Hälfte
32
Die literaturtheoretischen Positionen Forners werden in der Forschung vorwiegend unter Bezug auf seine in dieser Hinsicht ergiebigsten Schriften Los gramáticos. Historia chinesca (1782) und Exequias de la lengua castellana (1788/1793) erörtert. Abgesehen von den Ausführungen zum „buen gusto“ (vgl. z. B. Carbonell 1995, 73-80), wurden die poetologischen Bemerkungen in der Oración bisher kaum kommentiert. In der Regel beschränkt man sich darauf, die wichtigsten Selbstaussagen Forners im Vorwort zu zitieren. Der Grund dafür liegt darin, dass sich die Forschung mit den Worten von François Lopez, dessen Werk exemplarisch für diese Haltung steht, traditionellerweise auf „ses idées philosophiques et politiques“ (1976, 583) konzentriert. Aus dieser Sicht sind etwa die Gattungsfrage oder die Zugehörigkeit zur Rhetorik nur insofern von Interesse, als sie ideologische Fehldeutungen zu korrigieren vermögen.
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des 18. Jahrhunderts zu einer Annäherung der beiden Bereiche und anfangs des 19. Jahrhunderts zu ihrer definitiven Vereinigung im modernen Begriff der Literatur führten (vgl. Aradra Sánchez 1997, 167-174). Der Dichtungstheorie des 18. Jahrhunderts zufolge umfasst die traditionell höher geschätzte Beredsamkeit alle in Prosa verfassten Gattungen. Ihre Hauptmerkmale sind der Wirklichkeitsbezug, der Anspruch auf Wahrheit, die Betonung des Verstandes und das Übergewicht des docere. Die im 18. Jahrhundert allgemein und insbesondere in Spanien geringer geachtete Dichtung (vgl. Aguilar Piñal 1991, 209-211) erstreckt sich dagegen auf alle Texte, die in Versen abgefasst sind und sich durch einen schöpferischen Anspruch im Sinne des heutigen Verständnisses von Literatur auszeichnen. Sie dient der Nachahmung der Wirklichkeit, gehorcht dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit, betont die Leidenschaftlichkeit des Dichters, richtet sich an die Einbildungskraft und privilegiert das Moment des delectare. Diese Einteilung, die sich weitgehend an der aristotelischen Unterscheidung zwischen Geschichtsschreibung und Dichtkunst orientiert, sorgte vor allem durch die starre Korrelation der Begriffspaare Prosa/Vers und Realität/Fiktion sowie die ihnen fest zugeschriebenen Funktionen und Wirkungen für heftige Diskussionen, die das ganze Jahrhundert über anhielten (vgl. Checa Beltrán 1998, 59-62). Der nötige Verweis auf den literaturtheoretischen Hintergrund der Zeit ist aber noch zu allgemein, um Forners Verhalten hinreichend zu erklären. Sowohl sein Votum für die Rhetorik als auch sein Zögern in Bezug auf die Entscheidung, seine Oración umstandslos der Sparte Eloquenz zuzuschlagen, hängen auch mit der nationalen Relevanz der Thematik und der intendierten identitätsstiftenden Funktion seines Textes zusammen. Zumindest der Zusammenhang zwischen Identitätsproblematik und Rhetorik steht dabei von Anfang an außer Frage, wird doch die rhetorische Gattung der Apologie ausdrücklich in den Dienst der Verteidigung der spanischen Nation gestellt. Souverän setzt Forner die Grundtechniken der rhetorischen Überzeugung, logos, ethos und pathos ein (vgl. Pfister 1988, 212-215). Die logosStrategie ist gegenstandsbezogen, informierend und argumentativ. Sie kommt vor allem dort zum Tragen, wo Forner die historischen Verdienste Spaniens ins Feld führt. Die ethos-Strategie ist dagegen sen-
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derbezogen. Sie manifestiert sich unter anderem in dem Bemühen, die Spanier als möglichst bescheiden, moralisch integer und wahrheitsliebend erscheinen zu lassen. Die pathos-Strategie schließlich richtet sich an den Empfänger, den sie durch die Erregung heftiger Affekte zu beeinflussen versucht. Hierher gehören etwa rhetorische Fragen wie „¿Y deberá España sonrojarse por carecer de este linage de ciencia?“ (35) oder der leidenschaftliche Appell an das personifizierte Spanien: „Sí, injuriada España: no te detengan los dicterios de una turba que maldice de lo que la acusa“ (131f.). Über die bloße Indienstnahme der Rhetorik zu nationalen Zwecken hinaus gibt es aber noch eine grundlegendere Affinität zwischen der allgemeinen Wirkungsabsicht der Rhetorik und den ihr unterstellten einzelnen rhetorischen Verfahren und dem Vorgang der Identitätsstiftung: So wie man vom identitätsstiftenden Potenzial der Rhetorik ausgehen muss, kann man umgekehrt von der rhetorischen Verfasstheit der nationalen und kulturellen Identität sprechen. Deutlich wurde das bereits am Beispiel der Strategie der „Selbstbarbarisierung“, die man aus der Perspektive der Rhetorik auch als eine Form der Ironie (chleuasmos) beschreiben kann, ohne damit ihre Bedeutung jedoch vollständig zu erfassen.33 Ein weiteres, konventionelles Beispiel, von dem bereits im Zusammenhang mit dem Diario de los literatos de España die Rede war, ist die Neigung, der abstrakten Einheit der Nation personale Attribute wie „honor“, „carácter“, „mérito“, „genio“, „gusto“ usw. zuzuschreiben. Ins Repertoire der Identitätsrhetorik gehört auch, dass Forner die in Spanien geborenen Römer Quintilian, Hadrian und Seneca durchgehend als „el Español Fabio“ (119), „el Español Adriano“ (139) und „el Español Séneca“ (191) apostrophiert. In der zusammen mit der Oración abgedruckten Contestación al discurso CXIII del Censor erscheinen die Dichter Lukan und Martial in derselben Weise als „dos honrados Españoles“ (8). Andererseits werden auch Christen und Muslime unter dem Begriff „los Españoles“ zusammengefasst. Forner verwendet die Bezeichnung „español“, die bei Bedarf auch die gesamte iberi-
33
Vgl. Lausberg (1960, 303, § 583, „Selbstironie“) sowie den Eintrag „Chleuasme“ in Dupriez (1984, 111): „Ironie tournée vers soi. Moquerie, persiflage, sarcasme dont on fait soi-même les frais, mais en attendant de l’interlocuteur au moins un geste de protestation...“
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sche Halbinsel umfassen kann, in einem weiten, unhistorischen, rein auf die geographische Herkunft bezogenen Sinn.34 Mit dieser gleichsam metonymischen Verwendung bewegt er sich ganz im Rahmen der zeitgenössischen Praxis, wie ähnliche Textstellen in Cadalsos Cartas marruecas zeigen,35 einer Praxis, die in Spanien bis weit ins 20. Jahrhundert hinein nicht ungewöhnlich war, auch wenn sie uns in der Rückschau befremdlich vorkommen mag.36 Obwohl „español“ bei Forner noch nicht die ethnische, kulturelle oder staatliche Zugehörigkeit meint, die wir heute damit verbinden, ändert das nichts daran, dass sein Sprachgebrauch eine Einheit und Kontinuität suggeriert, die sich mit dem Hang zur Entdifferenzierung und zum Synkretismus deckt, der für nationale Vergangenheitskonstruktionen typisch ist.37 Dass Forner mit dieser Vorgehensweise durchaus auch
34
Vgl. dazu Jesús Cañas Murillo: „En toda la obra es de destacar el concepto que su autor muestra de español, como todo aquello que tuvo su origen, o nació, si es una persona, en España. De ahí que no sienta ningún escrúpulo en reivindicar las aportaciones de los naturales de la Hispania romana, por ejemplo, o de los árabes de Al Ándalus. Todo lo procedente de España, sin distinciones de razas, credos o religiones, es resaltado.“ (1997, 26) 35 So bemerkt Joaquín Arce in einer Anmerkung zur „carta XXVI“ seiner Ausgabe der Cartas marruecas: „Cadalso no vacila en considerar españoles a los nacidos en tierras de España, aunque pertenecieran al mundo de la cultura romana o árabe: así, el emperador Trajano, natural de Itálica, en la Bética; o el escritor y filósofo Lucio Anneo Séneca, nacido en Córdoba.“ (Cadalso 1998, 150) 36 Das gilt z. B. für José Ortega y Gasset und Ramón Menéndez Pidal, wie Juan Goytisolo hervorhebt (1982, 24f.). Vgl. auch Manfred Tietz, der im Zusammenhang mit Tiraboschis Storia della letteratura italiana (1772-1782) erläutert: „Dieses Verfahren, die Antike in die jeweilige Nationalliteratur einzubeziehen, war im 18. Jh. der Normalfall. In Spanien ist diese Tendenz noch heute nicht endgültig verschwunden, wenn auch Castro gezeigt hat, daß erst seit dem mittelalterlichen Zusammenleben von Mauren, Juden und Christen von einem Spanien als kultureller Einheit gesprochen werden kann.“ (1980a, 448) Bleibt hinzuzufügen, dass auch Castros These mittlerweile als Mythos gilt, der den historischen Fakten nicht standhält (vgl. Fusi 2000, 46: „La identidad de España, que evolucionaría sustancialmente a lo largo de la historia, no nació, como quería Américo Castro, sólo del entrecruce de las tres castas de cristianos, judíos y musulmanes, un hecho muy poco relevante para los pueblos del norte de España, para las regiones pirenaicas y para Cataluña“). 37 Im 19. Jahrhundert konnte hingegen die Subsumierung Portugals unter den Begriff des Spanischen längst nicht mehr anders denn als bewusste nationalistische Provokation gemeint sein – und aufgefasst werden –, wie der skandalöse „Brindis del
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schon bei seinen Zeitgenossen Befremden hervorrufen konnte, beweisen unterdessen die 1788 in Madrid anonym veröffentlichten, dem am spanischen Konsulat in Paris angestellten Joaquín de Escartín zugeschriebenen Cartas de un Español residente en París a su hermano residente en Madrid: Lo que escribe de los Romanos y Arabes es tiempo perdido: el Pueblo Romano ni Arabe no fueron el Español, ni el Pueblo Español aquéllos [...]. En efecto, si los Escritores Romanos que nacieron en las Provincias a éstas honraron, no a Roma, el honor de Roma será sólo rudeza y grosería; mas, al contrario, si honraron a Roma, a ella pertenecieron, no a las Provincias. Forner abusa de la voz España, tomándola por el suelo, no por el Pueblo; pero con propiedad éste significa, no aquél. (zit. n. Lopez 1976, 413f.)
Denina geht in dieser Hinsicht sogar noch ein Stück weiter als Forner. In seiner Berliner Rede nennt er die Eingemeindung vornationaler Errungenschaften offen beim Namen und verteidigt sie als legitimes Element nationaler Rhetorik: „Un savant apologiste de la litterature Espagnole pretend, que les Arabes aussi bien que les Visigots étant établis en Espagne doivent être regardés comme faisant une partie de la nation“ (1992, 12). Auch scheut er nicht davor zurück, noch den Erfolg heterodoxer Strömungen wie den des Quietismus und Jansenismus auf die Mühlen seiner nationalen Argumentation zu leiten (6, vgl. Marías 1988, 50f.). Wie Forner neigt auch Denina dazu, Spanien und Portugal als Einheit zu behandeln. Doch treibt sein apologetischer Eifer bisweilen seltsame Blüten, etwa wenn er in Bezug auf die Überlegenheit der epischen Dichtung aus dem Prestige eines Camões noch einen Vorteil für Spanien herauszuschlagen versucht: „Le jugement seroit encore bien plus décisif si l’on comptoit le Camoëns parmi les Espagnols“ (33, vgl. auch 22f.). Dass Forner in seiner Rolle als Verteidiger des Vaterlandes erklärtermaßen und für jeden erkennbar als „declamador“ (1992, IV) und „orador“ (IV) handelt, hindert ihn andererseits nicht daran, gegen die französischen Aufklärer das gesamte Arsenal der traditionellen Rhetorikkritik in Anschlag zu bringen. Unter Berufung auf antike Autoritäten wie Retiro“ Marcelino Menéndez Pelayos aus dem Jahr 1881 zeigt (vgl. Gumbrecht 1990, 720).
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die Philosophen Pythagoras (9) und Sokrates (21) stilisiert er sich zum Kämpfer gegen die „Sophistik“, wie sein Lieblingsvorwurf lautet. Das Vorwort eingeschlossen, fallen in der Oración die Worte „sofismas“, „sofistas“, „sofísticos“ und „sofistería“ insgesamt 31 Mal. Die Verwendung dieser Bezeichnungen erlaubt es ihm, ein breites Spektrum an negativen Konnotationen zu aktivieren: Eitelkeit, Geschwätzigkeit, Effekthascherei, Machtstreben, Oberflächlichkeit, Künstlichkeit, Wahrheitsferne, Werterelativismus, Glaubensfeindschaft, Bindungslosigkeit usw. Obwohl es die französischen Aufklärer am härtesten trifft – Forner spricht von „la audaz y vana verbosidad de una tropa de sofistas ultramontanos“ (7f.) und nennt Voltaire „un gran maestro de sofistería y malignidad“ (22) –, richtet sich der Vorwurf der Sophistik nicht allein gegen sie. Forner belegt mit dieser Vokabel alles, was ihm schädlich und ablehnenswert erscheint – von den Zuständen im antiken Athen bis zur unmittelbaren Gegenwart. Wie verträgt sich dieser Angriff auf die Sophisten aller Zeiten, vor allem aber die der Gegenwart, mit der betonten Rhetorizität von Forners eigener Rede? Oder anders gefragt: Warum sieht Forner selbst keinen Widerspruch in seinem Vorgehen? Das Vorwort zur Oración bietet dafür zwei Antworten. Die erste Antwort ist im Grunde schon in der antisophistischen Polemik selbst enthalten. Sie besteht darin, dass Forner im Einklang mit der antiken Tradition – zwar nicht wortwörtlich, doch zumindest der Sache nach – zwischen einem richtigen und einem falschen Gebrauch der Rhetorik unterscheidet. Für sich selbst nimmt er natürlich den richtigen Gebrauch der Rhetorik in Anspruch, der nach Cicero, auf dessen Vorbild er sich hier bezieht, durch ein ausgewogenes Verhältnis von „sabiduría“ und „eloqüencia“ bestimmt ist (VI). Den filósofos unterstellt er dagegen pauschal einen Mangel an „sabiduría“ und ein Übermaß an „eloqüencia“. Letztlich läuft Forners Argumentation jedoch wieder auf seine Grundunterscheidung zwischen wahrem und falschem, nützlichem und überflüssigem Wissen hinaus, denn die Rhetorik seiner Gegner erscheint ihm vor allem deswegen unausgewogen und leer, weil diese eine andere Auffassung von „sabiduría“ und „ciencia“ vertreten als die von ihm einzig für richtig gehaltene. Das angemessene Verhältnis von res und verba, von Redeinhalt und Redeausdruck, von Eloquenz und Wissen ist für Forner auch der
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Maßstab, an dem sich Kritiker wie Apologeten einer Nation auszurichten haben, wenn sie ihrer besonderen gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden wollen: „Sobre todo las Apologías de la literatura de una nacion pueden ocasionar daños gravísimos, si no se fundan en la verdad, y carecen del conveniente temperamento.“ (VII) Während das Wissen dem Wahrheitskriterium gehorchen muss, soll der sprachliche Ausdruck den Anforderungen der „urbanidad“ und des „decoro“ (VII) genügen, die in der rhetorischen Tradition ja immer auch eine ethische Dimension besitzen. Darüber hinaus gelte das Verhaltensideal des „justo medio“ (VIIf.), das übertriebenen Stolz ebenso verbiete wie übertriebene Selbstkritik. Nur so sei gegebenenfalls auch gewährleistet, dass notwendige und berechtigte Kritik ihren Adressaten wirklich erreiche und nicht schon unter Hinweis auf ihren inakzeptablen „Ton“ bequem zurückgewiesen werden könne. Mit Blick auf den Text der Oración kann man nun einwenden, dass Forner selbst der erste ist, der gegen dieses im Vorwort aufgestellte Stil- und Tugendideal verstößt, verdankt sich doch der legendäre Ruf seiner Schrift gerade ihrer polemischen Kompromisslosigkeit. Julián Marías hat das zumindest seinerzeit so gesehen und diesen Widerspruch, auf den er schon im Vorwort zu stoßen meint, sarkastisch mit den Worten kommentiert „Adiós imparcialidad; adiós justo medio“ (1988, 55) – woraufhin ihm François Lopez mangelndes Verständnis für den rhetorischen Charakter der Oración vorgehalten hat, ohne seinerseits jedoch mit einer Erklärung für die offensichtliche Unstimmigkeit im Vorwort bzw. für die Diskrepanz zwischen Text und Vorwort aufzuwarten (1976, 372f.). Dabei hätte Lopez ruhig bei seiner Einschätzung bleiben können, denn aus rein rhetorischer Sicht existiert dieser Widerspruch nicht wirklich, beruht er doch auf Äußerungen, die bereits als Teil jener Überredungsstrategie zu betrachten sind, die der Apologet von Anfang an verfolgt. Und zu dieser Strategie gehört es eben auch, dass er zunächst seine Unparteilichkeit und Wahrheitstreue beteuert, um so seine Glaubwürdigkeit zu erhöhen und seinen Argumenten größtmögliche Zustimmung zu sichern: Die Betonung des ethos des Sprechers ist Teil der persuasio. Die zweite Antwort, die der Sophisten-Kritiker Forner, der sich selbst auf der Seite von Pythagoras, Sokrates und Cicero sieht, auf die Frage bereithält, welchen Stellenwert er der Rhetorik beimisst, darf
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besondere Aufmerksamkeit beanspruchen, weil diese Antwort die Dichtung (poesía) ins Spiel bringt. Obwohl er sich primär als Rhetor präsentiert, geht Forner nämlich bis zu einem gewissen Grad auf Abstand zur Rhetorik, und zwar indirekt, indem er die Rolle der Dichtung aufwertet. Das zeigt sich zunächst auf noch unauffällige Weise darin, dass Forner die Gemeinsamkeiten zwischen Rhetorik und Dichtung in den Vordergrund stellt. Dazu zählt er den Redeschmuck der Figuren und Tropen (ornatus), aber auch das traditionell rhetorische Wirkungsziel der Überzeugung bzw. Überredung (persuasio). Die Dichtung wird von ihm also in Fortsetzung der humanistisch-aufklärerischen Tradition im Wesentlichen noch rhetorisch aufgefasst; sie ist rhetorische Dichtung: „la Oratoria y la Poesía tienen estrecho parentesco entre sí en lo que toca á los ornatos de estilo y al ayre extraordinario con que visten ámbas artes los argumentos que se encaminan á la persuasion“ (V). Darüber hinaus sind sie natürlich denselben ästhetischen Grundprinzipien der Imagination sowie der Nachahmung der Natur und der Repräsentation der Wirklichkeit unterstellt, die Forner den Künsten insgesamt zuschreibt: „las artes son hijas de la imaginacion, y el oficio principal de esta es la viva imitacion y representacion de las cosas“ (V). Ebenso unterstreicht er die allgemeine Bedeutung der Regeln und die Notwendigkeit der Kontrolle des Schaffensprozesses durch Vernunft und Schicklichkeit. All dies sei aber nur dann von Wert, wenn auch eine genuin dichterische „inspiracion íntima“ hinzukomme, die angeboren sei und durch keine noch so genaue Befolgung von Regeln und Vorschriften erlernt werden könne: La Poesía y la Oratoria, así como aman la prudente economía y regularidad en el todo de la composición, aborrecen de muerte á los talentos que deben las figuras é imágenes mas á la observancia de las reglas y preceptos mudos, que á la inspiracion íntima. El arte no sirve para crear grandes poetas ú oradores: sirve solo para que los que nacen tales eviten las extravagancias, y sepan el camino por donde deben conducir sus talentos. (VI)
Dass „la poesía“ hier innerhalb des zusammengesetzten Subjektes im Unterschied zu dem davor angeführten Zitat („la Oratoria y la Poesía tienen...“) an erster Stelle genannt wird, signalisiert bereits auf syntaktischer Ebene, dass Forner jetzt die Gemeinsamkeiten zwischen
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Rhetorik und Dichtung von Seiten der Dichtung her begründet. Anders als es das alte lateinische Sprichwort „Orator fit, poeta nascitur“ will, reklamiert Forner, über die selbstverständlich nötige Beherrschung der künstlerischen Technik (ars) hinaus, auch für die Rhetorik die Kriterien Inspiration und natürliche Begabung, die traditionell stärker mit der Dichtung verbunden sind. Es ist vielleicht nicht überflüssig zu betonen, dass sich Forner mit diesen literaturtheoretischen Stellungnahmen im üblichen Rahmen der neoklassizistischen Poetik bewegt.38 Das gilt insbesondere für die Bewertung der „inspiración“, die als unverzichtbarer Komplementärbegriff zu „razón“, „arte“, „estudio“ und „reglas“ einen festen Platz im neoklassizistischen System einnimmt und dort auch als „naturaleza“, „genio“, „ingenio“, „numen“, „furor“ oder „entusiasmo“ bezeichnet wird.39 Gegenüber dem Bestreben, die grundsätzlichen Gemeinsamkeiten zwischen Rhetorik und Dichtung herauszustellen, fällt jedoch auf, dass Forner gerade den poetischen Anteil an der Komposition seiner Oración stark hervorhebt: „sin estar en mi mano me acerqué á veces á la energía poética“ (V). Dieser poetische Anteil wird in der Folge durch eine Reihe durchweg positiv gewertete Attribute genauer bestimmt: „calor de la composicion“ (V), „ímpetus de la agitacion interior“ (V) und „exceso en el estro“ (V). Dagegen gesetzt werden, immer noch positiv, „el entendimiento“ (V) sowie, nun schon deutlich abwertend, „la frialdad y exâctitud nimiamente estudiada“ (V), mithin Eigenschaften, die der Rhetorik traditionell näherstehen als der Dichtung. Forner etabliert also unterhalb des gemeinsamen Dachs von Rhetorik und Dichtung einen Gegensatz zwischen Wärme und Kälte, Gefühl und Vernunft, Bewegung und Erstarrung, Überschwang 38
Die Einordnung Forners als „neoclásico“ ist heute unumstritten; vgl. u. a. Krömer (1968, 75, 155, 157f.), Sebold (1970), Lopez (1976, 612f.) und Checa Beltrán (1998). 39 Vgl. zur Bestimmung des Verhältnisses von rationalen und irrationalen Elementen im Schaffensprozess bei den Neoklassizisten Carnero (1995a, XXXV) und Sebold (1995a, 156-158). Beide verweisen zudem auf die maßgeblichen vier Anfangsverse von Boileaus L’art poétique (1669-1674): „C’est en vain qu’au Parnasse un téméraire auteur/Pense de l’art des vers atteindre la hauteur./S’il ne sent point du Ciel l’influence secrète,/Si son astre en naissant ne l’a formé poète“ (1970, 39) und Luzáns Poética (1737): „si bien la poesía depende, en gran parte, del genio y numen, sin embargo, si éste no es arreglado, no podrá jamás producir cosa buena“ (1977, 126).
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und Beherrschung, der letztlich auf eine Akzentuierung des Unterschieds zwischen Dichtung und Rhetorik hinausläuft und dabei der Dichtung eine erhöhte Bedeutung beimisst. Damit verschiebt sich gleichzeitig das künstlerische Gravitationszentrum zur Ausdrucksseite hin und das produktionsästhetische Moment des literarischen Kommunikationsaktes tritt stärker hervor. Forners Bekenntnis zum (kontrollierten) Kontrollverlust, das einem Moment der Unverfügbarkeit und des Ergriffenseins („sin estar en mi mano...“) Raum gibt, erscheint in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Die Aufwertung der lange Zeit gering geschätzten Dichtung bei gleichzeitiger Relativierung der Bedeutung der Rhetorik – die immerhin noch bis ins 19. Jahrhundert hinein, im Unterschied zu Frankreich, als eigenständige Disziplin galt – und die sich daraus ergebende Annäherung zwischen Dichtung und Rhetorik ist zunächst einmal, wie bereits angedeutet, grundsätzlich symptomatisch für die Entwicklung der literarischen Theorie in Spanien im späten 18. Jahrhundert.40 Über diese allgemeine Erklärung hinaus ist zu erwägen, ob Forner nicht von einer ähnlichen Überlegung geleitet wurde, wie der, die ihn in seinem Discurso sobre el modo de escribir y mejorar la historia de España dazu veranlasste, die Geschichtsschreibung in durchaus ungewöhnlicher Weise den „artes de imitación“ zuzurechnen und in einem Atemzug mit Dichtung, Rhetorik, Malerei, Bildhauerei und Musik zu nennen (1973, 114). Dass die von ihm geforderte Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung gerade nicht zur Emanzipation von den bellas artes, sondern zur Wiederannäherung an sie führen soll, hängt mit der Öffentlichkeitswirkung zusammen, die sich Forner von
40
In der Beschreibung dieses Prozesses stimmen die maßgeblichen Untersuchungen zur Dichtungstheorie des 18. Jahrhunderts weitgehend überein, auch wenn sie unterschiedliche Blickwinkel wählen: Wolfram Krömer konzentriert sich auf die Entwicklung der ästhetischen Zentralbegriffe Geschmack und Gefühl (1968, 123148; vgl. auch 1979); Helmut C. Jacobs legt den Schwerpunkt auf das System der Künste und seinen Wandel (1996); Rosa María Aradra Sánchez behandelt die Öffnung der Rhetorik hin zur Theorie der Literatur (1997, 135-174), und José Checa Beltrán untersucht parallel dazu die Geschichte der Poetik und ihre Vorschriften zu den einzelnen Gattungen (1998).
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einer solchen Annäherung verspricht.41 Es ist gut möglich, dass er die poetische Komponente seiner Oración aus demselben Motiv heraus betonte. Das impliziert aber auch, dass er der Rhetorik allein die beabsichtigte Wirkung nicht mehr zutraute. Stützen lässt sich diese Vermutung auch aus gattungs- bzw. medienhistorischer Perspektive, denn Forners schriftlich ausgearbeitete, als Manuskript eingereichte, im Druck 150 Seiten umfassende, mit zahlreichen gelehrten Anmerkungen versehene und schließlich in Buchform einem Lesepublikum zugänglich gemachte Oración ist denkbar weit vom zugrunde liegenden Modell der öffentlichen, mündlich vorgetragenen Rede entfernt. Im Kern ist dieser Widerspruch zwischen medialer Schriftlichkeit und konzeptioneller Mündlichkeit bereits in Forners eigener Formulierung „escribir [...] como Declamador“ (IV) enthalten.42 Von oraler Orientierung und unmittelbarer Publikumsbezogenheit kann bei diesem Text allerdings keine Rede mehr sein. Wenn Alonso Zamora Vicente in der Einleitung zu seiner Ausgabe von 1945 meint „La Oración hay que oirla“ (XXVIIIf.), dann kann man darin zwar den wohlgemeinten Versuch sehen, Verständnis für die rhetorisch-polemischen Übertreibungen der Oración zu wecken, eine adäquate Beschreibung der medialen, funktionalen und situativen Merkmale der Gattung ist damit jedoch gerade nicht geleistet. Forners Verteidigungsrede und die von ihm reklamierten Rollen eines „declamador“ und „orador“ sind (noch) allseits akzeptierte Fiktionen innerhalb eines institutionalisierten klassizistischen Literatursystems. Obwohl sie natürlich auch eine bestimmte symbolische Funktion im Rahmen der staatlichen und nationalen Selbstrepräsentation erfüllten, indem sie an die antike Tradition der öffentlichen Rede erinnern, ist anzunehmen, dass sie mit der Zeit immer unglaub-
41
Für Siegfried Jüttner kündigt sich im Rollenbild des „historiador filósofo“ der neue Typ des politischen Schriftstellers an: „Kein Zweifel also, es gilt, aus politischer Vernunft, den Bund zwischen Geschichte und Literatur neu zu stiften, soll der Boden für Reformen bereitet, durch historische Rückbesinnung ein Klima politischer Veränderung erzeugt werden.“ (1991c, 120) 42 Die Unterscheidung zwischen einer medialen, auf den Kode (graphisch/phonisch) bezogenen und einer konzeptionellen, die kommunikativen Strategien (geschriebene/gesprochene Sprache) betreffenden Schriftlichkeit/Mündlichkeit stammt ursprünglich von Ludwig Söll (1985, 17-25).
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würdiger und anachronistischer wirkten. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Aufwertung des Anteils der poesía in der Oración auch als Konsequenz aus der Einsicht in die unabweisbare Schriftlichkeit des Textes interpretieren, dessen Redecharakter nur noch im Modus der Imagination zu seinem Recht gelangt. In Abwandlung der Worte Zamora Vicentes wäre es daher zutreffender, zu sagen: „La Oración hay que imaginarla“. Wenn man versucht, die angeführten Erklärungsmöglichkeiten auf einen Nenner zu bringen, drängt sich der gerade für unseren Problemhorizont bedeutsame Schluss auf, dass die Thematik der nationalen und kulturellen Identität und die damit verbundene Aufgabe des Schriftstellers als Fürsprecher der Nation offensichtlich nach einer individuell-emotionalen Fundierung verlangen, die im Rahmen der Rhetorik nicht mehr befriedigend zu leisten ist und daher einen Rückgriff auf das Konzept der Dichtung erforderlich macht. Ohne von Anzeichen für einen sich grundsätzlich verändernden Literaturbegriff sprechen zu können, ist doch zumindest festzuhalten, dass sich hier im Zusammenhang mit der Identitätsthematik ein Symptom für das Ungenügen traditioneller poetischer Kategorien einstellt. Damit erweisen sich aber auch Forners knappe poetologische Äußerungen – ebenso wie sein Umgang mit der literarischen Form der Apologie und seine Stellung im Identitätsdiskurs insgesamt – als zu komplex, um auf einfache Formeln gebracht zu werden. Gerade diese Komplexität, Mehrsinnigkeit und Widersprüchlichkeit ist es jedoch, die Forners Oración apologética por la España y su mérito literario zu einem aufschlussreichen Dokument werden lässt, das einen weit über die persönliche Intention des Autors und seine strategischen Entscheidungen hinaus gehenden Einblick in die konfliktreiche Diskurs- und Interessenlage im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts vermittelt.
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5 JOSÉ CADALSO: CARTAS MARRUECAS (1774/1789)
¿Cuál tiene razón? ¡No lo sé! No me atrevo a decidirlo, ni creo que pueda hacerlo sino uno que ni sea africano ni europeo. La naturaleza es la única que pueda ser juez; pero su voz ¿dónde suena? Tampoco lo sé.“ (Cartas marruecas 2000, 5) A)
MODELLIMITATION UND KONTEXTBINDUNG
Verglichen mit seiner kurzen Verteidigungsschrift Defensa de la nación española contra la „carta persiana LXXVIII“ de Montesquieu (1768/1771) wirkt José Cadalsos (1741-1782) im Jahr 1774 beendeter, zwar von Freunden und Bekannten schon im Manuskript gelesener, aber erst nach dem Tod des Autors im Jahre 1789 veröffentlichter Briefroman Cartas marruecas wie ein Dokument der ideologischen und künstlerischen Emanzipation, das den Autor nicht mehr in der Rolle des bloß reagierenden Apologeten gegenüber dem kritisierten und zugleich bewunderten Vorbild aus Frankreich zeigt, sondern ihn seinerseits als selbstbewusst agierenden Kritiker der eigenen Nation und als originellen Schriftsteller erscheinen lässt. Dessen ungeachtet folgte die Bewertung der Cartas marruecas lange Zeit den negativen Urteilen von Manuel José Quintana („desigual imitación“), Marcelino Menéndez Pelayo („pálida imitación“) und Emilio Cotarelo y Mori („imitación débil“), durch die sich im 19. Jahrhundert die Vorstellung etablierte, Cadalsos Roman sei im Wesentlichen eine
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Nachahmung von Montesquieus Lettres persanes (1721), die allerdings einem Vergleich mit dem französischen Original kaum standhalte.1 Während Apologien im Stil von Cadalsos Defensa und Forners Oración apologética por la España y su mérito literario wie geschaffen schienen, um das Vorurteil der selbstverschuldeten Isolation und Sterilität der spanischen Kultur des 18. Jahrhunderts zu bestätigen, glaubte man, an den Cartas marruecas die gleichfalls für typisch erachtete künstlerische Epigonalität und – in ideologischer und poetologischer Hinsicht – die Entradikalisierung oder Depotenzierung ausländischer Einflüsse besonders gut festmachen zu können.2 Cadalso selbst schien dafür in der Einleitung mit seinem Hinweis auf die Übernahme des „método epistolar“ (2000, 3) und seinem erklärten Verzicht, sich (direkt) mit Politik und Religion, den Pflichtthemen eines „echten“ Aufklärers auseinanderzusetzen – „Me he animado a publicarlas por cuanto en ellas no se trata de religión ni de gobierno“ (4) – die beste Rechtfertigung zu liefern.3 1
Eine kurze Übersicht über die wechselhafte Rezeptionsgeschichte der Cartas marruecas und den Prozess ihrer literaturgeschichtlichen Kanonisierung liefern Lope (1973, 6-10, 13-18), Alborg (1993, 737-739) und Glendinning (1995, 633-637). In den letzten Jahren hat sich das Interesse der Forschung vor allem auf die Neuordnung des Wissens, die Leserlenkung, das Reiseschema, die Romanform, die Frage der Gattungszugehörigkeit, das Verhältnis zu Europa, den Gegensatz von Stadt und Land, die Darstellung der Geschlechterverhältnisse und der Gesellschaftsstruktur, die Rolle des Körpers, die Beziehung zur Tertulia und den Typus der Kritik konzentriert, vgl. u. a. San Vicente (1990), Pérez Magallón (1995), Albiac (1998), Camarero (1998; 2000), Dale (1998), Haidt (1998, 151-187), Merle (1998), San Miguel (2000), Kilian (2002, 74-98), Chen Sham (2004), Gelz (2006, 83-89) und Witthaus (2007). Darüber hinaus ist der zunehmende Einfluss postmoderner und postkolonialistischer Theorien auf die Forschung festzustellen, vgl. etwa La Rubia Prado (1996), Torrecilla (1996), Iarocci (1997), Scarlett (1999) und Santos (2002). Bezüglich des Vergleichs der Cartas marruecas mit den Lettres persanes sind hervorzuheben: Laborde (1952), Hughes (1969, 75-86), Bremer (1971), Domínguez (1989), La Rubia Prado (1996) und Lopez (1998b). La Rubia Prado analysiert beide Texte mit einer ähnlichen Absicht wie ich selbst „como representativos de dos modelos de Ilustración, uno radical, el francés, y otro moderado, el español“ (208); seinem Fazit, die Lettres persanes als „protomodern“ und die Cartas marruecas als Präfiguration der „Postmoderne“ einzustufen (229), kann ich indessen nicht folgen. 2 Von der „Depotenzierung ausländischer Anregungen“ spricht noch in Bezug auf die „Generation von 27“ Hans Ulrich Gumbrecht (1982, 149). 3 Eine Zusammenstellung sensibler (zensurrelevanter) Passagen zu Politik und Religion findet sich bei Domergue (1981, 31-39). Vgl. auch Martínez Mata (1999).
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Ausschlaggebend für die weiteren Ausführungen soll indessen nicht primär die Frage nach dem Grad der Eigenständigkeit oder Abhängigkeit Cadalsos gegenüber dem von ihm rezipierten Modell des Briefromans sein. Für einen fruchtbareren Ausgangspunkt halte ich vielmehr die Beobachtung, dass Cadalso unter den spezifischen Voraussetzungen des spanischen Identitätsdiskurses in einen Verhandlungsprozess mit seinen ausländischen Vorbildern eintritt, der in seiner Art typisch ist für die Beziehungen zwischen Kulturen, die den Beteiligten als asymmetrisch erscheinen. Die in diesem Zusammenhang übliche Rhetorik der nationalen Selbstdefinition begegnet uns schon im ersten Satz der Einleitung der Cartas marruecas: Desde que Miguel de Cervantes compuso la inmortal novela en que criticó con tanto acierto algunas viciosas costumbres de nuestros abuelos, que sus nietos hemos reemplazado con otras, se han multiplicado las críticas de las naciones más cultas de Europa en las plumas de autores más o menos imparciales. (3)
Bevor Cadalso überhaupt auf die fremde, von ihm importierte und in Spanien heimisch gemachte Gattung der „cartas“ (ebd.), die er im Titel seines Werkes ankündigt, zu sprechen kommt, integriert er sie bereits in eine eigene nationale Tradition, die zudem in ganz Europa – und das gerade im 18. Jahrhundert – allgemeine Anerkennung findet. Das Bestreben, nicht-spanische Einflüsse in einen spanischen Kontext zu stellen, ist Teil einer Strategie der kulturellen Rezentrierung, die das fremde Modell zugleich als Grundlage und Widerpart behandelt.4
4
Jesús Torrecilla rückt diese „interpretación del género a través del filtro de la tradición española“ (1996, 287; vgl. 285-288) in die Nähe der von Homi Bhabha beschriebenen „rhetorical strategies of hybridity, deformation, masking, and inversion“ (1990b, 296), der sich bevorzugt marginalisierte Gruppen bedienen. In der Tat vermag die Postkolonialismustheorie den Blick für Verhältnisse zu schärfen, denen wir in ähnlicher Form auch im spanischen 18. Jahrhundert begegnen. Die paradoxe Übernahme und Umfunktionierung fremder Kulturformen erscheint vor diesem Hintergrund dann auch nicht mehr so ungewöhnlich, wie etwa Klaus-Dieter Ertler meint, der in Bezug auf Tomás de Iriartes Fábulas literarias (1782/1805) feststellt: „Es ist verwunderlich, wie sehr der Autor die französischen Importe auf symbolischer Ebene kritisiert, andererseits aber selbst eine literarische Gattung einführt, die eng mit dieser Welt verbunden ist.“ (2003a, 208)
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Im Folgenden möchte ich nun zunächst diese Art der Kontextanbindung an zwei weiteren charakteristischen Merkmalen der Cartas marruecas verdeutlichen. Anschließend werde ich zeigen, dass auch die Reflexion über die Konstitution von Identität selbst, die Art des Wechselspiels zwischen Eigen- und Fremdperspektive sowie Cadalsos genuiner Beitrag zur Gattungsentwicklung nicht von dem Bezug auf die kulturelle Situation Spaniens abzutrennen sind. Das offensichtlichste Merkmal, durch das sich Cadalsos Cartas marruecas von Montesquieus Lettres persanes unterscheiden, entspricht zugleich in exemplarischer Weise dem Kriterium der Kontextbindung: Es ist die Hinwendung zur Nation, zu den Sitten und Lebensverhältnissen des eigenen Landes, zu seiner Geschichte und seinen Regionen, zu seiner Literatur, Sprache und Wissenschaft. Zwar erklärt auch Montesquieu die Sitten der Nation zu seinem Thema („des mœurs et des manières de la Nation“, 1975, 8), doch bleibt sein Zugang in eine universalistische, theoretisch orientierte Gesamtperspektive eingebettet. Cadalsos Interesse richtet sich dagegen auf das Besondere: „Estas cartas tratan del carácter nacional, cual lo es en el día y cual lo ha sido.“ (7) Gleich im ersten Brief wird diese Aufgabe an den Protagonisten Gazel, den marokkanischen Spanienreisenden delegiert: „Observaré las costumbres de este pueblo, notando las que le son comunes con las de otros países de Europa y las que le son peculiares.“ (10)5 Angesichts dieser mehrfachen Absichtserklärungen und der unübersehbaren Dominanz der nationalen Thematik in den Briefen selbst, ist es kein Wunder, dass sich Cadalsos Einstellung zur Nation zu einem Kernbereich der Forschung entwickelte und dass alle Vergleiche zwischen den Lettres persanes und den Cartas marruecas dieses Charakteristikum hervorheben. So hält zum Beispiel John B. Hughes fest: „para Montesquieu Francia como tal no es problema“ (1969, 83), und Klaus-Jürgen Bremer unterstreicht: „Montesquieu sorgt sich nicht wie Cadalso um das Schicksal seiner Nation.“ (1971, 189)6 5
Dazu bemerkt bereits José Antonio Maravall: „Esta busca de la peculiaridad, producto del singular desarrollo de una historia, es primordial para Cadalso.“ (1966, 85) 6 Vgl. zum Thema der Nation bei Cadalso die Arbeiten von Maravall (1966); Caso González (1983b); Lopez (1985); Torrecilla (1996); Onaindía (2002, 180-186; 194f.; 223233) u. Santos (2002, 57-70).
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Man kann sich in diesem Zusammenhang auch fragen, ob Cadalsos ungewöhnlich deutliches Bekenntnis zur Autorschaft der nachfolgenden Briefe nicht doch mehr ist als eine bloße Parodie der für die Gattung typischen Herausgeberfiktion: „pero el amigo que me dejó el manuscrito de estas Cartas, y que, según las más juiciosas conjeturas, fue el verdadero autor de ellas era tan mío y yo tan suyo, que éramos uno propio“ (6). Die unverhohlene Bindung an die eigene Person und die am Ende bereitwillige Übernahme der Verantwortung für die eigene Rede, die der Tendenz der Gattung zur Mystifikation zuwiderlaufen, verstärken jedenfalls entschieden die Verbindlichkeit der nationalen Thematik. Abgesehen von der schon früh bemerkten und häufig kommentierten Dominanz der nationalen Thematik, zeichnen sich die Cartas marruecas gegenüber der zeitgenössischen Mode der Briefromane aus fingierter fremder, nicht-europäischer Perspektive und insbesondere gegenüber der von Montesquieu mit den Lettres persanes begründeten Gattungsvariante durch eine weitere spezifische Form der Kontextbindung aus, die der Identitätsproblematik einen Aspekt von fundamentaler Bedeutung hinzufügt: die Wahl Marokkos als Bezugspunkt des Fremden.7 Montesquieus Entscheidung, die von ihm gewählte imaginative Fremdperspektive gerade Reisenden aus Persien zu übertragen, ist zwar dem Geschmack des französischen Publikums geschuldet, das gegen Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts von einer Welle der Begeisterung für alles Orientalische erfasst war, darf ansonsten aber, wie zum Beispiel Earl Jeffrey Richards betont, als weitgehend willkürlich betrachtet werden: this choice is entirely arbitrary, for Montesquieu could just as easily have selected China or Peru or Abyssinia – as d’Argens and Goldsmith (China), Madame de Graffigny (Peru) and Johnson (Abyssinia) later did – as
7
Ausgehend von der Frage „But the question remains: why does Cadalso choose to appropriate Moroccan subjectivities?“ (66) ist als erste Elizabeth Scarlett in ihrem Aufsatz „Mapping Out the Cartas marruecas: Geographical, Cultural, and Gender Coordinates“ (1999) ausführlicher auf die historische, kulturelle und interpretatorische Relevanz dieser Wahl eingegangen. Eine umfassendere Untersuchung zur afrikanischen Problematik der Cartas marruecas und ihres Kontextes steht meines Wissens jedoch noch aus.
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Persia. The choice of a specific exotic foreign country was essentially gratuitous, the only essential element being the French/non-French opposition. (1992, 313)
Montesquieu benutzt seine persischen Reisenden Rica und Usbek hauptsächlich als Vehikel zur Kritik an der europäischen und vor allem an der französischen Gesellschaft. Auch die Schilderung der Verhältnisse in Persien gehorcht den Prinzipien einer Alteritätskonstruktion, die zum einen als versteckte Kritik der eigenen Zustände und zum anderen als exotische Projektionsfläche europäischer Wunschvorstellungen dient. Das zeigt sich natürlich am deutlichsten in der erotischen Einfärbung der Haremsszenen, in denen sich das kulturell Fremde mit dem geschlechtlich Anderen überlagert und gegenseitig verstärkt.8 Doch das Fremde erhält letztlich keinen Eigenwert. Persien bleibt bei Montesquieu im Grunde eine literarische Erfindung. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man die Lettres persanes mit Friedrich Wolfzettel als conte philosophique liest und ihre erkenntnistheoretische Tendenz und die in der multiperspektivischen Anlage wirksame Dialektik der Aufklärung als das wahre Novum dieses Briefromans betrachtet: „Weniger die Überwindung von Vorurteilen, als die mit diesem Vorgang verbundenen Probleme wären dann das eigentliche Thema der Lettres persanes, deren orientalische Einkleidung eher instrumentelle Funktion als genuin kulturgeschichtliche Gründe hätte.“ (2000, 47)9 Im Unterschied zu der Kontingenzbeziehung, in der sich das Eigene und das Fremde in Montesquieus Lettres persanes befinden, haben wir es in Cadalsos Cartas marruecas mit einer Kontiguitätsbeziehung zu tun: einer Beziehung der Nachbarschaft und des kulturellen Kontaktes, die sich daraus ergibt, dass Cadalso seinen Spanienreisenden Gazel aus dem angrenzenden Marokko kommen lässt. Dadurch tritt an die Stelle
8
Mit Jean-Michel Racault lässt sich hier (vgl. Einleitung) von den Verfahren der „identité masquée“ und der „altération“ sprechen (1988, 34-37). 9 Montesquieus genuin literarische Innovationen erstrecken sich nach Jean Goldzink auf vier Bereiche: „1. Il met du roman dans un recueil idéologique [...]. 2. Il met de l’idéologie dans un roman épistolaire [...]. 3. Il fonde le roman épistolaire polyphonique [...]. 4. Il porte la polyphonie idéologique (la philosophie, la politique, la morale) et la polyphonie stylistique (lettre portrait, fable, dissertation, diatribe, confession, conte, etc.) à un point jusque-là inconnu [...].“ (1989, 92)
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eines exotistischen, literarisch stark kodifizierten Fernverhältnisses eine interkulturelle Beziehung, die fest in der historischen Lebenswelt Spaniens verwurzelt ist.10 In der Einleitung der Cartas marruecas begründet Cadalso die Entscheidung, warum er sich in diesem Punkt von der europäischen Mode abkoppelt, ausdrücklich mit dem Verweis auf die außertextuelle Wirklichkeit, und zwar nicht die Wirklichkeit im Allgemeinen, sondern die besondere und konkrete Wirklichkeit Spaniens: „Esta ficción no es tan natural en España, por ser menor el número de viajeros a quienes atribuir semejante obra. Sería increíble el título de Cartas persianas, turcas o chinescas, escritas de este lado de los Pirineos.“ (3f.)11 Das Beharren auf verosimilitud ist für Cadalso nicht nur eine ästhetische Forderung, die – wie bei Montesquieu – gewissermaßen zur Gattung des multiperspektivischen Brief- und Reiseromans selbst gehört, sondern enthält auch die moralische Pflicht, sich kontextindifferenten Sichtweisen, die sich ihm als Oberflächlichkeit des Denkens und Urteilens darstellen, zu verweigern. Dieser Anspruch wird gleich im Anschluss an die Einleitung, in den ersten Briefen, in deutlicher Frontstellung gegen das französische Vorbild im Detail entwickelt.12
10
Zur Präsenz Spaniens in Marokko in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bemerkt Antonio Domínguez Ortiz: „Quedaba todavía bastante presencia española: misioneros, descendientes de moriscos, etc. En las ciudades corría nuestra moneda y el conocimiento del idioma español estaba bastante extendido, pero a nivel oficial no había contactos, y el escaso comercio exterior estaba en manos de ingleses.“ (1988, 112) 11 Cadalso mag hier abgesehen von Montesquieus Lettres persanes an Giovanni Paolo Maranas L’esploratore turco (1684) und Germain-François Poullain de Saint-Foix’ Lettres d’une turque à Paris (1730) bzw. Jean Baptiste de Boyer, marquis d’Argens’ Lettres chinoises (1739/40) und Oliver Goldsmiths The Citizen of the World (1762) gedacht haben (vgl. Bremer 1971, 55-76). In Spanien erschienen in den Zeitschriften El Pensador je ein siamesischer („Pensamiento XXXII“, 1763) und ein türkischer Brief („Pensamiento XLV“, 1763; vgl. Ertler 2003b, 153-158) sowie in El Censor zwei Briefe eines marokkanischen Spanienreisenden („Discurso LXV“ vom 18.3.1784 u. „Discurso LXXXVII“ vom 12.1.1786; vgl. Ertler 2004, 73-77). Daneben verfasste Juan Meléndez Valdés zwischen 1780 und 1787 seine Cartas turcas/Cartas de Ibrahim, die aber bis auf die ersten beiden Briefe verschollen sind (vgl. Deacon 1981; Sebold 1989, 341-347 u. Hertel-Mesenhöller 2001, 169-171). 12 Francisco La Rubia Prado erklärt den hohen Stellenwert der Ethik („virtud“) bei Cadalso mit dessen kulturell vermitteltem Menschenbild: „Mientras en las Cartas persianas la virtud encuentra su fundación en la razón, y ésta florece en la Europa ilustra-
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Durch die Wahl des marokkanischen Blickwinkels kommt zu der epistemischen Funktion, die im Verfahren des „fremden Blicks“ üblicherweise dominiert, noch eine bedeutungsvolle kulturgeschichtliche Dimension hinzu, die nicht ohne Auswirkungen auf die Grenzziehungen zwischen dem Eigenen und dem Fremden bleibt, wie später noch ausführlicher zu zeigen sein wird. Dass das Verhältnis von Spanien und Afrika, abgesehen von der geographischen Nähe, auch durch eine jahrhundertelange Konfrontation und Koexistenz der Kulturen geprägt ist, wird von den fiktiven Briefpartnern der Cartas marruecas mehrfach zur Sprache gebracht. So erwähnt beispielsweise Nuño im 44. Brief im Zuge der Erinnerung an die glorreiche militärische Vergangenheit Spaniens im 16. Jahrhundert die Unterwerfung Afrikas durch spanische Truppen (117). Umgekehrt wird jedoch auch die 800jährige Herrschaft der Araber auf spanischem Boden nicht ausgespart. So zitiert Gazel im 57. Brief, der an Ben-Beley gerichtet ist, eine Anspielung Nuños auf diese Zeit – „el yugo de tus abuelos“ (138) – und dessen Kritik an der Lückenhaftigkeit von Universalgeschichten: „Doctores cordobeses de tu religión y descendientes de tu país, que conservaron las ciencias en España mientras ardía la peninsula en guerras sangrientas, tampoco ocupan una llana en la obra.“ (139) Eine der Auswirkungen der in diesen Briefstellen evozierten kulturellen Nahbeziehung, die das Fremde im Laufe der Geschichte teilweise zum Eigenen werden ließ, ist sicherlich auch die Tatsache, dass in den Cartas marruecas die orientalisch-pittoresken Elemente stark in den Hintergrund treten. Offensichtlich sind sich die beiden Kulturen dafür nicht fremd genug.13 Reste orientalischen Lokalkolorits finden sich etwa da, en las Cartas marruecas la razón ha de encontrar su fundación en la virtud, y ésta se encuentra en los individuos virtuosos de cualquier cultura o nacíon.“ (1996, 221) 13 Das wird auf ironische Weise in einer Bemerkung Gazels im elften Brief an BenBeley deutlich: „Las noticias que hemos tenido hasta ahora en Marruecos de la sociedad o vida social de los españoles nos parecía muy buena, por ser muy semejante aquella a la nuestra, y ser natural en un hombre graduar por esta regla el mérito de los otros. Las mujeres guardadas bajo muchas llaves, las conversaciones de los hombres entre sí muy reservadas, el porte muy serio, las concurrencias pocas, y esas sujetas a una etiqueta forzosa, y otras costumbres de este tenor no eran tanto efectos de su clima, religión y gobierno, según quieren algunos, como monumentos de nuestro antiguo dominio. En ellas se ven permanecer reliquias de nuestro señorío, aún más que en los edificios que subsisten en Córdoba, Granada, Toledo y otras partes.” (49)
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im 10. Brief, in dem das Thema Polygamie angeschnitten wird und Gazel sich die Frage nach der Größe seines Serails („tengo doce blancas y seis negras“, 47) gefallen lassen muss.14 Natürlich ist auch in den Cartas marruecas eine „Kolonisierung“ bzw. „Orientalisierung“ der marokkanischen Perspektive zu beobachten, insofern es stellenweise zu einer abwertenden oder idealisierenden Darstellung des Afrikanischen kommt, die dazu dient, die eigene spanische Identität zu profilieren. Im Gegensatz zu dem, was der Orientalism Edward Saids primär thematisiert, liegt der Tenor in den Cartas marruecas letztlich aber nicht auf der Herstellung von Dichotomien, sondern auf der Betonung der Gemeinsamkeiten zwischen Spanien und Afrika sowie dem afrikanischen Erbe Spaniens. Ja, man kann in diesem Sinne geradezu von einer anti-orientalistischen Tendenz sprechen, deren pädagogische Botschaft hauptsächlich an die Adresse der Franzosen gerichtet ist. Diese pädagogische Absicht erwächst aus der Erfahrung, selbst zur Spielfigur europäischer Identitätskonstruktionen geworden zu sein. Über die allgemeine Affinität zwischen Spanien und Marokko hinaus spielt Cadalso jedoch auch – worauf keine Ausgabe der Cartas marruecas hinzuweisen versäumt – auf ein zeitgenössisches Medienereignis an, das den damaligen Lesern mit Sicherheit noch in guter Erinnerung war.15 Von Mai 1766 bis Februar 1767 hatte ein Gesandter des marokkanischen Sultans mit Namen Ahmad ibn al-Muhdi al-Gazzâl Spanien besucht,
14
Schon Emily Cotton weist auf das Fehlen des orientalischen Lokalkolorits hin (1976 [1940/1931], 4), ebenso Bremer (1971, 188). Lope äußert sich dazu wie folgt: „Das Übergewicht des europäischen Schauplatzes ist in den Cartas marruecas endgültig, der Orient spielt nicht einmal mehr eine Nebenrolle. Nur einmal erwähnt Gazel seinen Harem [...], aber keine seiner Frauen erscheint individualisiert wie Zelis, geschweige denn, daß sie die wilde Größe einer Roxane annähme.“ (1973, 35) Torrecilla präzisiert demgegenüber allerdings völlig zu Recht: „Si aceptamos la definición de lo oriental proporcionada por Said, necesita ser matizada la constatación de Lope [...]. Lo oriental o marroquí desempeña un papel esencial en la obra de Cadalso, pero no como superposición adicional de un mundo exótico totalmente ajeno a la sociedad analizada, sino como componente básico de la identidad española que ha contribuido históricamente a la formación de su ‘carácter’.“ (1996, 291) In Meléndez Valdés’ Cartas turcas/Cartas de Ibrahim scheinen dagegen die exotistischen Elemente wesentlich stärker ausgeprägt gewesen zu sein als in den Cartas marruecas (vgl. Sebold 1989, 343). 15 Manuel Camarero spricht von einem „juego retórico entre la literatura y la realidad“ (2000, 141).
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war mit Karl III. in Madrid zusammengetroffen und hatte anschließend Andalusien, Murcia und Neu-Kastilien bereist.16 Von dem großen Interesse, das der Besuch des Marokkaners mit seinem Gefolge in Spanien hervorrief, zeugt die ungewöhnlich ausführliche und detailfreudige Berichterstattung in der Gaceta de Madrid, die noch elf Jahre später, am 19. August 1777, nicht versäumte, den Tod des von ihr „El Gazel“ genannten Gesandten zu melden. Auch namhafte bildende Künstler wie Manuel Salvador Carmona und Antonio González Velázquez hielten das Ereignis in Kupferstichen fest. Über den denkwürdigen Besuch AlGazzâls in Cádiz existiert darüber hinaus eine 16-seitige Broschüre aus der Feder Alonso Jaén y Castillos, einem an der dortigen Universität lehrenden Professor.17 Al-Gazzâl beeindruckte seine spanischen Gastgeber durch seine umfassende Bildung und durch sein großes Interesse an der spanischen Kultur. Das belegt auch der von ihm auf Arabisch verfasste Reisebericht, der interessante, von Stolz und Kritik geprägte Beobachtungen über das Spanien Karls III. enthält.18 Indem Cadalso seinen marokkanischen Spanienreisenden „Gazel Ben-Aly“ nennt und ihn den ersten Brief der Cartas marruecas mit den folgenden Worten beginnen lässt: „He logrado quedarme en España después del regreso de nuestro embajador, como lo deseaba muchos días ha“ (9), erweckt er gezielt den Eindruck, mit seiner Fiktion unmittelbar an reale Ereignisse anzuknüpfen.19 16
Über den Besuch Al-Gazzâls in Spanien informieren u. a. Glendinning (1962, 210); Lope (1973, 88-91), der diesen Aspekt bereits „sehr viel mehr als nur eine historische Kuriosität“ nennt (88); Vilar/Lourido (1994, 272-276) und bislang am ausführlichsten Camarero (1999). Als erster hat auf diesen Zusammenhang der costumbristische Schriftsteller Serafín Estébanez Calderón (1799-1867) aufmerksam gemacht. 17 Diario, e individual relación del obsequio hecho en Cádiz al Excelentísimo Señor Sidi Hamel Helgazel, embajador en España por el Serenísimo Señor Sidi Mohamet Benaudala, Emperador de Marruecos, su autor Don Alonso Jaén y Castillo, profesor de Filosofía y Bellas Letras en dicha ciudad, su patria, Cádiz o. J. Daneben erschienen auch einige volkstümliche coplas. 18 Der Bericht wurde von Marcel Bodin (1918) und D. Commandant (1933) ins Französische übersetzt und von A. Bustani (Larache 1941) herausgegeben. Auszüge daraus finden sich in Camarero (1999, 136-138). 19 Allerdings unterscheidet sich, wie auch Camarero hervorhebt (1999, 139f.), der reale, als Staatsgast auftretende Al-Gazzâl, dessen Verhalten und dessen Bericht ein irreduzibles Alteritätsbewusstsein verraten, fundamental von dem fiktiven Gazel Ben-Aly, dessen Besuch rein privater Natur ist und der sich der spanischen Kultur
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Der aufsehenerregende Besuch des Marokkaners Al-Gazzâl in Spanien ist indessen nur das sichtbarste Zeichen einer Annäherung und kurzzeitigen Parallelentwicklung zwischen den beiden benachbarten Ländern. Unter dem Sultan Sidi Mohammed ben Abdallah, der von 1757-1789 regiert, erlebt Marokko, analog zur Entwicklung in Spanien unter der Herrschaft Karls III., eine Phase der Aufklärung und Modernisierung, verbunden mit einer Annäherung an Europa, vor allem an Spanien und Frankreich, die jedoch mit dem Tod des Sultans und der Machtübernahme durch seinen tyrannischen Sohn bald wieder ein Ende findet. In diesem Umfeld kommt dem Botschafter Al-Gazzâl die Aufgabe zu, den im Jahr darauf, am 30. Mai 1767, in Marrakesch unterzeichneten Vertrag vorzubereiten, in dem sich Spanien und Marokko zu Frieden verpflichten und ihre Haltungen in Bezug auf den Status von Ceuta und Melilla sowie in anderen Bereichen (Fischerei, Schiffsverkehr, Handel, Gefangenenfreilassungen etc.) regeln. Im Jahr 1774, dem Jahr der Fertigstellung der Cartas marruecas, versichert der Sultan gegenüber Karl III. noch einmal, dass er nicht vorhabe, den Friedensvertrag von 1767 zu brechen.20 Cadalsos Entscheidung, die spanischen Verhältnisse nicht nur aus einem allgemein fremden, sondern konkret aus einem marokkanischen Blickwinkel zu beschreiben, besitzt also nicht nur eine kulturgeschichtliche Dimension und einen aktuellen Anlass, die sie von Montesquieus Lettres persanes und anderen vergleichbaren, in dieser Hinsicht sehr viel weniger kontextgebunde-
gegenüber neugierig, lernbereit und anpassungswillig zeigt. Auch der erste der beiden in El Censor erschienenen Briefe eines marokkanischen Spanienreisenden spielt auf den Besuch Al-Gazzâls an, wie eine Bemerkung im „Discurso LXV“ zeigt: „Si no fuera por el mucho tiempo que al parecer se ha detenido aquí, creyera fuese, ò alguno de los Embaxadores que vinieron estos años pasados de aquella Corte, ò alguno de su séquito.“ (1989, 292) 20 Antonio Domínguez Ortiz hebt im Zusammenhang mit der Afrikapolitik Karls III. hervor: „Las relaciones con Marruecos estuvieron [...] impregnadas por un mutuo deseo de entendimiento, por un afán de poner término a un estado de guerra permanente que causaba generales perjuicios.“ (1988, 112) Eine detaillierte Darstellung der Beziehungen zwischen Spanien und Marokko in der Epoche Karls III. findet sich in Vilar/Lourido (1994, 257-382). Trotz der Beteuerungen des Sultans kam es immer wieder zu Angriffen auf spanische Niederlassungen, die schließlich in einer Kriegserklärung gipfelten, auf die hin der spanische König am 23.10.1774 seinerseits Marokko den Krieg erklärte.
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nen Werken unterscheiden, sondern auch einen bestimmten politischen Hintergrund. Dieser politische Hintergrund ist es allerdings vermutlich auch, der das Erscheinen der Cartas marruecas zu Lebzeiten ihres Autors verhinderte. Das würde freilich in der Konsequenz bedeuten, dass die weit verbreiteten Überlegungen zum Irritationspotenzial des Textes und seiner Einschätzung durch die Zensur die wahren Gründe für sein verspätetes Erscheinen eher verdecken als erhellen. Denn eigentlich lassen sich die Dinge für Cadalso zunächst vielversprechend an: Am 14. Oktober 1774 legt er sein nach eigenen Aussagen zwischen Mai 1773 und August 1774 während eines Aufenthalts in Salamanca verfasstes, möglicherweise aber auch schon um 1768 begonnenes Manuskript dem Consejo de Castilla zur Beurteilung vor, der es an die Real Academia de la Lengua weiterleitet, die wiederum überraschend schnell, mit Datum vom 20. Februar 1775, ein positives Votum fällt, wenn auch mit einigen Korrekturauflagen: „parece a la Academia que puede ser útil la Crítica que se hace en ellas de las costumbres antiguas y modernas de los Españoles para corregir varios abusos que en éstas se han introducido“ (zit. n. Lope 1973, 67). Cadalso vermerkt dazu in seiner Autobiografía: „me escribió el tutor que las dichas Marruecas habían logrado una aprobación honrosísima y llena de los mayores elogios de la Academia“ (1979, 24); dabei hatte er sich über das Urteil der Zensoren keine großen Hoffnungen gemacht: „me formé muy corta esperanza de su éxito, respecto de haber en la Academia muchos del sistema opuesto a cuanto digo en ellas, tocante a la Nación“ (23). Die entscheidende Verzögerung tritt jedoch erst ein, als eine mit den Differenzen zwischen Spanien und Marokko zusammenhängende Anordnung ergeht, die jegliche Veröffentlichung über die afrikanischen „Gefängnisse“ verbietet.21 Obwohl sich entsprechende Vorbehalte gegen die Cartas marruecas schließlich als gegenstandslos erweisen (vgl. Camarero 1996, 27), zieht Cadalso im Juli 1778 sein Manuskript, das er
21
So wurde dem bereits positiv beurteilten Manuskript nachträglich (am 23.2.1775) die Notiz „que no se imprime nada tocante a los Presidios de Africa“ (zit. n. Lope 1973, 68) hinzugefügt. Als „presidios“ (Gefängnisse) bezeichnete man die befestigten Niederlassungen der Spanier an der nordafrikanischen Küste, weil sie als Aufenthaltsort für Verbannte und Sträflinge dienten (vgl. Vilar/Lourido 1994, 242).
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dem Buchhändler Bernardo Alverá anvertraut hatte, desillusioniert zurück.22 Weder der Konflikt mit den allgemeinen Zensurrichtlinien, auf den sich die Cadalso-Forschung mehrheitlich konzentriert, noch persönliche Feindschaften oder widrige Gruppeninteressen, wie Cadalso selbst argwöhnt, wären ihm damit letztlich zum Verhängnis geworden, sondern das unglückliche Zusammentreffen seiner eigenen Bemühung um Aktualität und Konkretheit mit den unvorhersehbaren Wendungen der spanischen Afrikapolitik.
B)
REFLEXIVES IDENTITÄTSKONZEPT
Die verhinderte Veröffentlichung der Cartas marruecas besiegelt das Scheitern von Cadalsos schriftstellerischer und intellektueller Existenz. Die Tatsache, dass Cadalso immer wieder die Vereitelung seiner schriftstellerischen Vorhaben durch Politik und Zensur erleben musste und sich resigniert auf seinen Beruf als Soldat zurückgeworfen sah,23 aber auch der Umstand, dass er die Literatur zeitlebens nur als Zeitvertreib und als Mittel zum Zweck betrachtete, um seinem eigent-
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Veröffentlicht wird es dann, nachdem es zuvor schon in Abschriften zirkulierte, sieben Jahre nach seinem Tod vom 14. Februar bis zum 29. Juli 1789 zunächst in der Zeitschrift Correo de Madrid o de los ciegos (Nummer 233 bis 280), bis es im Jahr 1793 bei dem Madrider Drucker und Buchhändler Antonio de Sancha zum ersten Mal als Buch erscheint. In einem Brief an Tomás de Iriarte aus dem Jahr 1776 hatte Cadalso Schwierigkeiten mit der Zensur angedeutet. Welche Eingriffe die Zensoren von Cadalso tatsächlich verlangt haben, lässt sich aber nur vermuten, denn die Korrekturvorschläge sind nicht erhalten geblieben. Lucienne Domergue, die sich mit der Zensur bei Cadalso beschäftigt hat, verfolgt daher zwei Wege: Sie fragt sich zunächst „En las Cartas Marruecas, ¿qué es lo que podía chocar a los censores?“ (1981, 26) und verlegt sich darüber hinaus auf einen Vergleich der verschiedenen gedruckten und ungedruckten Textvarianten (25-29, 31-39). Noch Jorge Chen Sham fragt: „¿A partir de qué elementos textuales, los lectores-censores extrajeron consecuencias polémicas que conducen a lo no publicación del texto?“ (2004, 23). Emilio Martínez Mata stellt dagegen stärker das zunehmend oppressive Klima ab 1773 in den Vordergrund, das Cadalso zum Verzicht bewogen haben könnte (1999, 321f.). 23 So schreibt Cadalso im Februar oder März 1777 von Montijo aus an den befreundeten Tomás de Iriarte in Bezug auf seine Cartas marruecas: „obra que compuse para dar al ingrato público de España y que detengo sin imprimir porque la superioridad me ha encargado que sea militar exclusive“ (1979, 121).
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lichen Lebensziel, am Hof zu reüssieren, näherzukommen, unterstreichen nur noch die utopische und antizipatorische Eigenschaft des Rollenbildes, das er in den Cartas marruecas von einem spanischen Intellektuellen des 18. Jahrhunderts entwirft.24 Betrachtet man dieses Rollenbild genauer, so wird deutlich, dass es sich aus vier Komponenten zusammensetzt, die jede auf ihre Weise – das ist das Besondere daran – von der identitätskonstitutiven Leitdifferenz des Eigenen und des Fremden geprägt sind: Cadalso handelt, erstens, im stolzen Bewusstsein, einen öffentlichen Auftrag zu erfüllen, den er sich selbst gestellt hat und der auch keinem Ausländer überlassen werden kann. Er scheut sich daher auch nicht, das Risiko, das er mit dieser selbst gewählten Aufgabe eingeht, gebührend hervorzuheben. So heißt es am Ende der Einleitung: „Yo no soy más que un hombre de bien, que he dado a luz un papel que me ha parecido muy imparcial sobre el asunto más delicado que hay en el mundo, cual es la crítica de una nación.“ (2000, 9)25 Cadalso fühlt sich, zweitens, weder einer Institution wie der Monarchie oder der Regierung verpflichtet noch auf ein bestimmtes Themengebiet festgelegt. Seine maßgeblichen Bezugsgrößen sind die vorgestellte Gemeinschaft der spanischen Nation und die Gesamtheit der spanischen Gesellschaft in ihrer enzyklopädischen Vielfalt. Die individuelle Verantwortung für diese beiden Größen äußert sich, drittens, in einer Haltung, in der die Kritik an den im eigenen Land herrschenden Verhältnissen überwiegt, die aber auch apologetische Züge aufweist, wie die unterschwellige Polemik gegen Montesquieu zeigt. Zu dieser Haltung fühlt sich Cadalso, viertens, dadurch ermächtigt, dass er seine eigene Rolle als die eines öffentlichen Schiedsrichters begreift, der seine Autorität aus dem Bekenntnis zu Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gewinnt, die ihrerseits an den Gebrauch der Vernunft 24
Über die biographischen Umstände informieren Glendinning (1962), Cadalso (1979), Camarero (1996, 17-25), Arce (1998, 13-20) und Martínez Mata (2000, XXXIXXXIX). 25 Vgl. dazu Manuel Camarero in der Einleitung zu seiner Ausgabe der Cartas marruecas: „Cadalso escribió siempre [...] con una intención clara de utilidad pública, de intervenir por derecho propio en la vida del país como político, moralista y militar“ (1996, 25).
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geknüpft sind: „Es verdad que este justo medio es el que debe procurar seguir un hombre que quiera hacer algún uso de su razón“ (8). In unserem Zusammenhang ist dabei entscheidend, dass Cadalso den heroischen intellektuellen „Gestus der Individualisierung des Diskurses“ (Gumbrecht 1990, 494) auf der Grundlage einer Konstruktion vornimmt, in der sich mit den antiguos und den modernos zwei Parteien gegenüberstehen, deren Unversöhnlichkeit in hohem Maße von der Tatsache bestimmt wird, dass das Neue, ob gefürchtet oder herbeigewünscht, immer auch mit dem kulturell Fremden gleichgesetzt wird.26 Das intellektuelle Rollenbild, das Cadalso in der Einleitung der Cartas marruecas entwirft, bestimmt auch das Identitätskonzept, das den Briefen selbst zugrunde liegt. Die Hauptmerkmale dieses Identitätskonzepts sind die Prinzipien der Vermittlung und der Reflexion. Es steht damit in Opposition zu dem etwa von Juan Pablo Forner in seiner Oración apologética kategorisch verteidigten Entwurf einer spanischen Gegenidentität. Auch die von beiden eingesetzten Identitätsstrategien könnten kaum unterschiedlicher sein. Cadalso kombiniert aufs Ganze gesehen zwei gegensätzliche Perspektiven: einen spanienkritischen Eurozentrismus, der die spanischen Verhältnisse nach dem Vorbild Europas und dem Maßstab einer universalen Vernunft beurteilt, und einen europakritischen Ethnozentrismus, der im Einfluss Europas und insbesondere des benachbarten Frankreichs eine Gefährdung der kulturellen und nationalen Identität Spaniens sieht.27 An diesen beiden Perspektiven orientiert sich nicht nur das gesamte Themenspektrum, das seine Protagonisten erörtern, ihnen entspricht jeweils auch eine bestimmte Semantisierung der historischen Zeit und des geographischen Raums. So erscheint die spanische Geschichte zum einen als Prozess des Niedergangs, aus dem sich die
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In seinem Essay „Paralelo de las lenguas castellana y francesa“ aus dem Jahr 1726, dem 15. discurso des ersten Bandes des Teatro crítico universal hatte Feijoo bereits den gleichen Gegensatz aufgestellt: „Dos extremos, entrambos reprehensibles, noto en nuestros españoles, en orden a las cosas nacionales: unos las engrandecen hasta el cielo; otros las abaten hasta el abismo.“ (1958, 211) Jesús Torrecilla (1996, 283) verweist auf die Wiederaufnahme dieser Figur in Miguel de Unamunos Essaysammlung En torno al casticismo (1895). 27 Manuel Camarero (1998) fasst diesen Gegensatz etwas schematisch in die Begriffe „cosmopolitismo“ und „casticismo“.
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gegenwärtige Krise herleiten lässt, wie zum Beispiel im 21. Brief, in dem von der „decadencia aparente del carácter nacional“ (65) die Rede ist. Zum anderen dient sie als positiver Bezugspunkt der nationalen Identitätsbildung, wenn etwa im zweiten bis fünften Brief der Cartas marruecas die Beschäftigung mit der Geschichte zur Voraussetzung für das Verständnis der Nation gemacht wird oder wenn im 16. Brief, wie in Forners Oración apologética, die Errichtung von Denkmälern zur nationalen Gedächtnispflege empfohlen wird: „Las naciones modernas no tienen bastantes monumentos levantados a los nombres de sus varones ilustres.“ (58) Ähnlich verhält es sich mit dem Raum: Mit Europa verbindet sich im Wesentlichen die Idee des Fortschritts, mit Spanien die der Fortschrittsresistenz – eine Bedeutungszuschreibung, die sich innerhalb Spaniens, in der Opposition von Hauptstadt und Provinz wiederholt. So skizziert Nuño im 21. Brief, der an Ben-Beley adressiert ist, das Bild eines Spaniens der zwei Geschwindigkeiten, in dem der Kontakt mit dem Fremden einen ständigen Wandel bewirkt bzw. das Fehlen dieses Kontaktes für den herrschenden Stillstand verantwortlich gemacht wird: La multitud y variedad de trajes, costumbres, lenguas y usos es igual en todas las cortes por el concurso de extranjeros que acude a ellas; pero las provincias interiores de España, que por su poco comercio, malos caminos y ninguna diversión no tienen igual concurrencia, producen hoy unos hombres compuestos de los mismos vicios y virtudes que sus quintos abuelos. (64)
Umgekehrt erfahren die „variedad increíble“ (12) und die „diversidad“ (74) speziell der spanischen Provinzen eine grundsätzliche Aufwertung, die sich im 26. Brief (Gazel an Ben-Beley) zum Beispiel darin äußert, dass von den „cántabros“ bis zu den „aragoneses“ alle Volksgruppen und Regionen auf ihre Wesensmerkmale hin durchgemustert werden. Dadurch tritt das Eigenrecht des Partikularen stärker hervor, und die Alterität Spaniens insgesamt wird betont. Um ihr gerecht zu werden, sind eine besondere Tiefenschärfe der Beobachtung und ein Sinn für Unterschiede nötig. Eine auf das Allgemeine, Einheitliche und Regelhafte ausgerichtete Sichtweise, wie sie Cadalso Montesquieu unterstellt, ist ihr nicht angemessen.
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Abgesehen von dieser dialektischen Konfrontation zweier Perspektiven, dem spanienkritischen Eurozentrismus und dem europakritischen Ethnozentrismus mit ihren jeweiligen chronologischen und topologischen Festlegungen, gewinnt Cadalsos Identitätskonzept auch dadurch reflexive Züge, dass sowohl die Entstehung und Wirkung von Fremdbildern als auch die Konstruktion von Selbstbildern zum Thema gemacht werden. Das lässt sich jeweils an einem prägnanten Beispiel zeigen. Gleichzeitig wird daran deutlich werden, dass die genuin aufklärerische und prinzipiell universalistisch ausgerichtete Thematik der Vorurteilskritik in den Cartas marruecas einer kulturspezifischen, ethische gegenüber epistemologischen Aspekten betonenden Reformulierung unterzogen wird. Im 60. Brief (Gazel an Ben-Beley) legt Cadalso Nuño eine Anekdote in den Mund, die von einem Ereignis erzählt, das die interkulturelle Kommunikationsforschung unserer Tage als „critical incident“ bezeichnen würde. Weil die französische Flotte zu Zeiten Ludwigs XIV. den Befehl hat, sich bei Begegnungen mit Spaniern so gut wie möglich deren Sitten anzupassen – der Tod Karls II. steht bevor und damit die Frage der spanischen Erbfolge, die Ludwig XIV. zugunsten seines Neffen gelöst sehen will –, stattet ein französischer Kommandeur seine Leute bei einem Besuch im Hafen von Cartagena allesamt mit Brillen aus, nachdem ein zuvor von ihm ausgesandter Kundschafter auf zwei Spanier getroffen war, die zufällig beide Brillen trugen. Angesichts des grotesken Aufzugs der Franzosen – „cargados con tan importunos muebles“ (145) – bricht die spanische Bevölkerung in Gelächter aus, und es kommt zu einer blutigen Auseinandersetzung, die von den herbeigeeilten Vorgesetzten nur mit Mühe beendet werden kann, weil keiner der beiden über die nötigen Fremdsprachenkenntnisse verfügt und selbst die Verständigung der zu Hilfe gerufenen Geistlichen an der jeweils unterschiedlichen Aussprache des Lateinischen scheitert.28 28 Die Anekdote entstammt im Kern dem ersten Band des Reiseberichts Voyages du P. Labat de l’ordre des FF. Prêcheurs en Espagne et en Italie, 8 Bde., Paris: Delespine, 1730, 264f. (vgl. Cadalso 2000, 144; eine elektronische Version der Erstausgabe findet sich unter http://gallica.bnf.fr). Der Dominikanermissionar und beliebte Reiseschriftsteller JeanBaptiste Labat (1663-1738), der gegenüber Spanien einen kritisch-herablassenden Ton anschlägt, hatte sich vom 10.10.1705 bis 30.1.1706 in Cádiz und im übrigen Andalusien
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Cadalso führt mit seiner Anekdote auf witzige Weise vor Augen, wie Stereotype aus der voreiligen Generalisierung von Einzelbeobachtungen entstehen und wie selbst gute Vorsätze ins Gegenteil umschlagen können, wenn es am nötigen Wissen über eine fremde Kultur fehlt. Dass Cadalso diese Erkenntnis an einer Begegnung zwischen Franzosen und Spaniern und ausgerechnet am Merkmal der Brille exemplifiziert, ist natürlich kein Zufall, sondern eine Erwiderung auf den berühmten 78. Brief aus Montesquieus Lettres persanes, in dem zu Beginn die Spanier, wie bereits im Kapitel über Cadalsos Defensa erwähnt, als eine Nation von Brillenträgern verspottet werden: „La gravité est le caractère brillant des deux nations; elle se manifeste principalement de deux manières: par les lunettes et par la moustache.“ (1975, 163) In seiner Defensa de la nación española hatte Cadalso darauf noch mit den Worten „también se podrá inferir con igual raciocinio que la nación francesa funda su bello espíritu en las lorgnettes de sus superficiales sabios“ (1970, 16) reagiert. Jetzt nimmt er symbolische Rache, indem er den Franzosen die Brillen aufsetzt, die diese zuvor den Spaniern angedichtet hatten. Eine implizite Kritik an Montesquieus Spanien-Brief ist darüber hinaus auch darin zu sehen, dass Cadalso einen bei aller Komik ernsthaften, ja blutigen Vorfall zwischen den beiden Nationen als Beispiel wählt, wodurch er zu verstehen gibt, dass mit Klischees über andere Völker nicht zu scherzen sei. Dabei mobilisiert der in dieser Kritik mitschwingende Vorwurf der „Frivolität“, der mit dem spanischen „Ernst“ kontrastiert, natürlich seinerseits ein traditionelles antifranzösisches Klischee. Abgesehen von diesen konkreten Bezügen, unterscheidet sich Cadalsos Vorgehen von dem Montesquieus noch in einer Weise, die für unseren Problemhorizont von grundsätzlicher Bedeutung ist. Während Montesquieu den individuellen Fremdheitserfahrungen seiner Perser – „Comment peut-on être Persan?“ (1975, 69) – ganz selbstverständlich universale Gültigkeit beimisst, bindet Cadalso dieselben Einsichten in die Mechanismen interkulturellen Verstehens an den
aufgehalten (vgl. Bennassar 1998, 1222f.). Seine Beobachtungen zur spanischen Brillenmode fasst er unter dem Marginaltitel „lunettes fort en usage en Espagne“ (264) zusammen. Die Geschichte der Symbolik der Brille in der spanischen Kultur und ihrer Darstellung in Literatur und Kunst bleibt noch zu schreiben.
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besonderen Fall einer „conversación de las naciones“ (144) und verankert sie darüber hinaus, wie die Anekdote zeigt, in einem konkreten historischen und politischen Kontext, der ihnen einen unmittelbaren Praxisbezug und ein Moment der persönlichen Betroffenheit verleiht, die bei Montesquieu in dieser Weise nicht zu finden sind. In Zusammenhang damit ist nicht zuletzt auch die Tatsache von Bedeutung, dass Cadalso, in einer für seine Herangehensweise insgesamt charakteristischen Art, gerade nicht die Verfremdung des Gewohnten, für die Montesquieus Text spektakuläre Beispiele liefert, sondern im Gegenteil den Abbau von Fremdheit in den Mittelpunkt seiner Erzählung stellt.29 Doch noch zwei weitere Beobachtungen drängen sich auf, die jedoch weniger mit dem interkulturellen Aspekt der Anekdote als vielmehr mit dem Aufklärungsbegriff zusammenhängen, der in ihr zum Tragen kommt. So verknüpft Cadalso die Entstehung und die Lösung des Konflikts mit sozialen Kategorien: Während das versammelte Volk und die Soldaten ihrem Unverständnis der Situation mit Gewalt Ausdruck verleihen, obliegt es den umsichtigen Autoritäten, die sofort die Situation erkennen, Frieden zu schaffen: „La prudencia de ambos, conociendo la causa de donde dimanaba el desorden y las consecuencias que podía tener, apaciguó con algún trabajo las gentes“ (146). Nicht allgemeines Selbstdenken – so kann man daraus schließen – ist Cadalsos aufklärerisches Ideal, sondern das verantwortliche Denken für andere, eine Aufgabe, die der Elite der gobernadores und comandantes vorbehalten bleibt.30 Die wichtigste Eigenschaft, auf die es dabei
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Vgl. dazu Jesús Torrecilla: „Al contrario que en la obra de Montesquieu, lo que a Cadalso le preocupan son los prejuicios que se originan en la falta de costumbre más que en la costumbre; en la falta de familiaridad más que en la excesiva familiaridad.“ (1996, 277) Nicht der Kritikwürdiges entlarvenden Verständnislosigkeit des Fremden, der „Form des ‘Nichtverstehens’“ (Bachtin 1986, 353), der sich neben Montesquieu im 18. Jahrhundert auch Voltaire und Swift bedienen, sondern dem Bedürfnis nach dem Verstehen des Anderen gilt Cadalsos Hauptaugenmerk. Vgl. zum episodischen Charakter dieser Passage Dale (1998, 114-116). 30 Dieses paternalistische Prinzip kommt auch in dem Umstand zum Ausdruck, dass Gazel in Gestalt Nuños und Ben-Beleys gleich zwei geistige Führer aus verschiedenen Kulturen beigegeben sind. Neben der Freundschaft ist das Lehrer-SchülerVerhältnis die zweite privilegierte Beziehungsform im Sozialverhalten und in der Vorstellungswelt der Aufklärer. Vgl. zum Stellenwert der Freundschaft bei Cadalso
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ankommt – auch das vermittelt die Anekdote – ist die Leistung des Verstandes, für die Cadalso das Schlüsselwort „distinguir“ verwendet, das im Zusammenhang mit der Analyse spanischer Autostereotype ebenfalls eine entscheidende Rolle spielt. Wie die Konstruktion von Selbstbildern erfolgt, verdeutlicht Cadalso im 21. Brief (Nuño an Ben-Beley), in der er im Stil der aufklärerischen Vorurteilskritik Feijoos die historischen Argumente der spanischen Traditionalisten entkräftet. An verschiedenen Beispielen demonstriert Cadalso, dass vieles von dem, was die antiguos für genuin spanisch halten, auf eingebildeten bzw. „erfundenen“ Traditionen beruht, die sich vollständig ausländischen Einflüssen verdanken. Cadalso kritisiert damit an anderen genau die Vorgehensweise, die er bereits im ersten Satz seiner Einleitung mit der Annektierung der nationalen Selbstkritik als spanischer Tradition selbst praktiziert hatte. Jetzt urteilt er lakonisch über den angeblich spanischen Kleidungsstil: „un traje totalmente extranjero para España, pues fue traído por la Casa de Austria“ (66), über die Feinheiten der scholastischen Philosophie: „tal tejido de sutilezas, precisiones, trascendencias y otros semejantes pasatiempos escolásticos que tanto influjo tienen en las otras facultades nos han venido de afuera“ (67) und über die uralte spanische Militärdisziplin: „la tal disciplina no era española [...] pues era la francesa“ (68). Indem Cadalso die in allen diesen Fällen vorausgesetzte Opposition von Eigenem und Fremdem dekonstruiert, möchte er vor allem der Vorstellung entgegentreten, dass die Idee des Fortschritts mit dem spanischen Nationalcharakter unvereinbar sei. Sein Ziel ist es, falsche von echten Wahrheiten zu unterscheiden, Schein und Sein auseinander zu halten und historisch-akzidentelle von ewigen Werten zu trennen: „soy de parecer que se deben“ – hier fällt das Wort – „distinguir las verdaderas prendas nacionales de las que no lo son sino por abuso o preocupación de algunos, a quienes guía la ignorancia o pereza“ (66). Festzuhalten ist also, dass es Cadalso auf keinen Fall darum geht, die Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Fremden grundsätzlich in Frage zu stellen oder den essenzialistischen Begriff des Natio-
Sebold (1974, 45-58) und als Element einer säkularen Ethik bei den spanischen Aufklärern allgemein Sánchez-Blanco (1992b).
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nalcharakters, der sich aus „vicios y virtudes“ (64, 87) zusammensetzt, an sich zu historisieren, obwohl er tatsächlich nicht mehr weit davon entfernt ist. Die Möglichkeit, seine Erkenntnisse auch auf die eigene Position anzuwenden, bleibt ihm jedoch verwehrt, weil das die Grenzen eines Diskurses sprengen würde, der, wie das Ende des Briefes bestätigt, von den Reformern verlangt, sich gegenüber den engstirnigen Verteidigern der Tradition bei jeder Gelegenheit als die eigentlichen Patrioten präsentieren zu müssen: „el patriotismo mal entendido, en lugar de ser una virtud, viene a ser un defecto ridículo y muchas veces perjudicial a la misma patria“ (68).
C)
SPANIEN ALS AFRIKA EUROPAS
Zu den beiden eingangs im Zusammenhang mit der besonderen Kontextbindung der Cartas marruecas erwähnten Differenzmerkmalen, der Hinwendung zur eigenen Nation mit allen ihren kulturellen Eigenarten und der Wahl Marokkos als Herkunftsland des fremden Spanienbesuchers, ist jetzt noch ein drittes entscheidendes Differenzmerkmal hinzuzufügen, durch das sich, wie ich zeigen möchte, der Reflexivitätsgrad der im Text behandelten Identitätsthematik zusätzlich erhöht. Dieses dritte Merkmal ist in dem Umstand zu sehen, dass die für die Gattungstradition des Briefromans charakteristische binäre Grundkonstellation – zum Beispiel Persien/Frankreich in Montesquieus Lettres persanes (1721) oder China/England in Goldsmiths The Citizen of the World (1762) – in eine komplexe Dreiecksbeziehung überführt wird, in der Spanien eine Position zwischen Afrika und Europa einnimmt. Damit wird ein ganzes Spektrum neuer Korrespondenz- und Kontrastmöglichkeiten geschaffen, das bisher noch kaum angemessen beleuchtet wurde.31
31
Vgl. dazu auch Ángel San Miguel: „Puede incluso afirmarse que, de esta forma, Africa queda convertida, junto a Europa, en el segundo subtema de la obra. España aparece enfocada sobre todo desde sí misma y en parangón con Europa y Africa; Europa sobre todo desde España y desde Africa; Africa sobre todo desde sí misma, desde España y desde Europa.“ (2000, 858)
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Bevor ich im Einzelnen auf die Möglichkeiten eingehe, die sich aus dieser Konstellation ergeben, soll jedoch zunächst der Kontext rekonstruiert werden, in dem sich die Cartas marruecas hinsichtlich des Vergleichs Spaniens mit Afrika innerhalb der spanischen Literatur der Zeit bewegen. Das geschieht einerseits, um die bereits erfolgte Rekonstruktion des kulturhistorischen und politischen Kontextes der Cartas marruecas zu ergänzen, und andererseits, um der französischen Sichtweise, die in dem Kapitel „Das Zerrbild der französischen Aufklärer“ im ersten Teil der Arbeit ausführlich dargelegt wurde, die spanische Perspektive entgegenzustellen. Im französischen Spaniendiskurs erfüllt die Beziehungsformel „Spanien als Afrika Europas“, wie wir gesehen hatten, eine relativ einseitige Funktion: Sie dient als diskursive Stütze des eigenen aufgeklärten Selbstbildes und gleichzeitig als Strafe für die vermeintliche Abweichung davon. Anders sieht es aus, wenn wir nach Spanien blicken. Hier ist das Spektrum der Verwendungen dieser Beziehungsformel ungleich größer, und auch die Funktionen sind wesentlich vielfältiger. Vier verschiedene Realisierungsformen aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert sollen im Folgenden näher vorgestellt werden. Als erstes ist die bereits aus Frankreich bekannte Variante zu nennen: die Kritik der Rückständigkeit, durch die sich der Kritiker zugleich seiner eigenen Fortschrittlichkeit versichert, nur dass es jetzt nicht mehr um ein benachbartes Land, sondern um das selbstkritische Insistieren auf der eigenen Rückständigkeit geht.32 Mit geradezu obsessiver Häufigkeit wird der Vergleich Spanien-Afrika von Luis Cañuelo in der Zeitschrift El Censor erwähnt. Vordergründig lässt auch Cañuelo keinen Zweifel daran, dass er diesen Vergleich für vollkommen unangemessen hält. Das beteuert er jedenfalls mehrfach.33 Im Gegensatz zu 32 Doch zunächst einmal verwahren sich die Spanier, wie der bereits zitierte Feijoo, natürlich dagegen, mit „aquellos bárbaros“ („Glorias de España“, 1965, 104), „Negros de Angola“ (Cadalso, Los eruditos a la violeta, 1982, 67), „persas“ (Tomás de Iriarte, Los literatos en cuaresma, zit. n. Mercadier 1970, XI) oder „moros“ und der „Berbería“ (Bernardo de Iriarte in seinem Brief an Voltaire von 1764, zit. n. Cadalso 1970, 38f.) gleichgesetzt zu werden. 33 Vgl. z. B.: „Estoy asimismo muy lexos de creer, que nos hallamos respecto de las otras Naciones de Europa en el mismo caso que se hallan respecto á nosotros los Africanos, ú otros Pueblos á quienes honramos con el título de barbaros.“ (discurso CX, 1989, 777f.)
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Feijoo nimmt er sogar die ausländischen Kritiker in Schutz, von denen er behauptet, dass sie Spanien niemals mit Afrika gleichsetzen würden: „hasta ahora ningun Extrangero [...] nos ha confundido con los Africanos ó Asiaticos“ (discurso CXIII, 1989, 848). Die einzigen, die seiner Meinung nach tatsächlich den Eindruck erwecken, dass der Entwicklungsstand Spaniens noch weit unter dem Niveau der ungebildetsten Völker Afrikas liege, seien die Apologeten Spaniens selbst. Allerdings betont der ansonsten ja äußerst kritische Cañuelo die Unzulässigkeit des Vergleichs so stark, dass sich der Verdacht einstellt, dass er nur aus strategischen Gründen oder aus Rücksicht auf die Zensur darauf verzichtet, diese Vergleichsformel selbst offensiv zu verwenden. Im privaten Kreis jedenfalls scheint es nicht ganz ungewöhnlich zu sein, Spanien als „Afrika“ zu bezeichnen. Das zeigt zumindest die Korrespondenz des langjährigen spanischen Botschafters beim Vatikan und gleichzeitigen Voltaire-Anhängers José Nicolás de Azara, der diese Metapher in den Briefen an seine Freunde gebraucht (SánchezBlanco 1992a, 192f.).34 Eine weitere Variante der Afrikanisierung als Form der spanischen Selbstkritik ist schließlich darin zu sehen, dass die spanischen Aufklärer, die zum großen Teil aus dem Norden des Landes stammen, auf den Süden herabblicken, dessen Rückständigkeit sie auf die afrikanische Prägung zurückführen. Die an der Nord-Süd-Achse ausgerichtete Hierarchie zwischen den Kontinenten Europa und Afrika wiederholt sich also nicht nur innerhalb Europas, im Verhältnis Europa-Spanien, sondern auch noch einmal innerhalb Spaniens selbst.35 34
Vgl. auch Sánchez-Blanco (2002, 365). Zur aufschlussreichen Korrespondenz Azaras siehe Sarrailh (1957, 366-373). Wie Álvarez de Miranda hervorhebt, bleiben zeitgenössische Klagen über die „barbarie“, in der sich Spanien befinde, generell auf die private und nichtöffentliche Kommunikation beschränkt (1992, 420). In Fernán Caballeros costumbristischem Roman La gaviota von 1856 wird eine ähnliche Haltung von der afrancesada Eloísa zum Ausdruck gebracht – „¡Qué bien opinan los franceses, cuando dicen que, pasados los Pirineos, empieza el África!“ (1987, 246) –, aber aus einer patriotisch-nationalistischen Perspektive heraus als höchst verwerflich gebrandmarkt. 35 Vgl. Lopez: „il semble que les ilustrados, qui sont dans leur grande majorité des hommes du nord, nourrissent un préjugé défavorable à l’égard de l’Espagne du sud
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Die zweite in Spanien selbst verbreitete Realisierungsform des Spanien-Afrika-Vergleichs ist die ironische Applikation, genauer gesagt, die ironische Positivierung kultureller Alterität, wie sie uns bereits in Juan Pablo Forners Oración apologética por la España y su mérito literario aus dem Jahr 1786 begegnet ist. Zwei der Identitätsstrategien, die wir in Forners Text analysiert haben, sind hier von besonderem Interesse: die „Aufwertung der geographischen Randlage Spaniens“, die Forner unter anderem mit dem positiven Einfluss der arabischen Kultur begründet hatte, und die „Selbstbarbarisierung“, die in der affirmativen Übernahme des Vorwurfs gipfelte, dass man in Spanien nicht denken würde. Zwar ist von „Afrika“ in Forners Text nicht wortwörtlich die Rede, doch ist ihm auch der explizite Vergleich nicht grundsätzlich fremd: In seinen Exequias de la lengua castellana von 1788 lässt er einen ausländischen Spanienkritiker, den portugiesischen Gelehrten Luís António Verney, sagen: „si no lo desmintiera la geografía, se pudiera creer que España, en materia de filosofía, es una de las regiones de lo interior de África“ (2000, 267). Die Reaktion auf Forners Apologie beweist jedoch, dass die Denkfigur auch da assoziiert wird, wo sie als Sprachfigur nicht auftritt. Am deutlichsten zeigt sich das in Luis Cañuelos Parodie „Oración apologética por el Africa y su mérito literario“, die im August 1787 von der Zeitschrift El Censor abgedruckt wird. Der Kunstgriff dieser Parodie besteht bekanntlich darin, Forners Text wortgetreu zu übernehmen und nur das Begriffspaar Spanien/Ausland durch das Begriffspaar Afrika/Europa zu ersetzen. Dass die Parodie den Grundgestus von Forners Verteidigungsrede, also die „Selbstbarbarisierung“, sofort als Gleichsetzung Spaniens mit Afrika identifizieren kann, unterstreicht die Verfügbarkeit dieser Figur im mentalen Haushalt der Zeit. Wenn die Parodie behauptet, dass man Forners Apologie nur als Plädoyer für die Afrikanisierung Spaniens interpretieren kann, offenbart sie aber auch deutlich den blinden Fleck des spanienkritischen Diskurses, dem sie zuzurechnen ist. Anders gesagt: Cañuelo kann oder will Modernitätskritik wie Forner sie übt, nicht als Modernitätskritik, sondern nur als Rückfall in die Barbarei verstehen bzw. missverstehen.
qui leur apparaît comme retardataire et profondement marquée par les mœurs mauresques“ (1976, 431).
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Die dritte Realisierungsform trägt ideologiekritische und antiimperialistische Züge. Sie kommt in einer besonders radikalen Variante in Antonio de Capmanys gegen Napoleon gerichteter Propagandaschrift Centinela contra franceses zum Ausdruck, die wir bereits an früherer Stelle als Extrembeispiel für eine gallophobe Haltung zitiert haben. Verfasst wurde sie im Sommer 1808, also in dem kurzen Interregnum zwischen dem Abzug Joseph Bonapartes aus Madrid und dem Einmarsch Napoleons. Der entscheidende Satz lautet: „El África a que tenía ganas Bonaparte era la España y los africanos éramos nosotros.“ (1988b, 107) Konkret bezieht sich dieser Satz auf die irrtümliche Annahme, dass sich Napoleons Truppenaufmarsch im Jahr 1807 gegen Afrika und nicht gegen Spanien richten würde. Doch auch im metaphorischen Sinn behält dieser Satz seine volle Gültigkeit, denn Capmanys Hauptvorwurf gegen Napoleon lautet ja gerade, dass er Spanien in jeder Hinsicht wie Afrika und nicht anders als zuvor Ägypten behandele. In Capmanys Augen tritt Napoleon gegenüber Spanien wie ein Kolonialherr auf, der im Namen der Einheit Europas die von ihm versklavten Länder gewaltsam nach dem kulturellen und politischen Modell Frankreichs ausrichten möchte.36 Der demütigende Eindruck, von Napoleon als Teil Afrikas betrachtet zu werden, wird konkret noch dadurch verstärkt, dass sich die Spanier mit der Mameluckenabteilung der kaiserlichen Garde – „sus impúdicos e insolentes mamelucos“ (87) – konfrontiert sehen, wie sie auch auf Goyas berühmtem Gemälde „El dos de mayo“ von 1814 dargestellt ist. Goyas Bild von der Niederschlagung des Volksaufstandes an der Puerta del Sol visualisiert kongenial das symbolische Potenzial dieser Konfrontation, denn es entlarvt nicht nur das barbarische Wesen der vermeintlichen Zivilisationsbringer, indem es die Afrikanisierungsstrategie Napoleons gegen ihren Urheber wendet und die Franzosen als die eigentlichen Afrikaner erscheinen lässt, sondern rückt den Einfall der französischen Truppen und den Widerstand gegen sie auch in
36
Das muss Capmany umso mehr provozieren, als sein eigenes Ideal in einem vereinheitlichten Europa besteht, in dem die europäischen Nationen in einer „confraternidad general“ zusammenleben, wie er in seinem Comentario sobre el doctor festivo y maestro de los „Eruditos a la violeta“, para desengaño de los españoles que leen poco y malo aus dem Jahr 1763 formuliert (1988a, 135).
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den historisch-mythologischen Kontext der muslimischen Eroberung der iberischen Halbinsel und der erfolgreichen Reconquista. Im Zusammenhang mit der mehr erzwungenen als freiwilligen Rückbesinnung auf die eigene maurische Vergangenheit ist auch noch eine vierte Realisierungsform der Identifikation Spaniens mit Afrika zu verzeichnen. Es ist die nun keineswegs mehr ironisch verkleidete Positivierung kultureller Alterität, die in der Entdeckung und Aufwertung des maurischen Erbes als eines bewahrenswerten Spezifikums der spanischen Nationalkultur zum Ausdruck kommt. Während sich Capmany in Centinela contra franceses darauf beschränkt, die Mauren zu gleichsam natürlichen Verbündeten der Spanier zu erklären (89f., 95, 137), scheint Goya in seinem ebenfalls 1814 geschaffenen, zweifellos noch bekannteren Gemälde „Tres de mayo“ einen entscheidenden Schritt darüber hinauszugehen. Die Figur des Aufständischen, die sich im Fokus des Betrachters befindet, ist in die heraldischen Farben gelb und weiß der katholischen Kirche gekleidet und steht mit ausgebreiteten Armen wie ein Gekreuzigter vor dem französischen Erschießungskommando. Indem Goya dieser zentralen Figur eine „maurische Physiognomie“ verleiht, deutet er eine bemerkenswerte kulturelle Synthese an. Welche Stellung nehmen nun Cadalsos Cartas marruecas innerhalb dieses Diskurspanoramas ein? Cadalsos Briefroman enthält nicht nur alle bisher erwähnten Realisierungsformen des Spanien-AfrikaVergleichs, er löst auch die agonale Logik und die starren symbolischen Ordnungen auf, die dieser Denkfigur zugrunde liegen und überführt sie in ein komplexes Wechselspiel, wie es nur unter literarisch-fiktionalen Bedingungen zustande kommen kann. So vermag sich Spanien gegenüber Afrika als Teil Europas und gegenüber Europa als Teil Afrikas definieren. Aber auch Afrika kann in bestimmter Hinsicht für Spanien die Rolle Europas spielen, wie der 42. Brief verdeutlicht, in dem Nuño Ben-Beley mitteilt, dass er Europa nur allzu gern den Rücken kehren und nach Afrika gehen würde, um sich in die Gesellschaft des bewunderten Mentors seines marokkanischen Freundes Gazel zu begeben: „Deseo tratar un sabio africano, pues te juro que estoy fastidiado de todos los sabios europeos, menos unos pocos que viven en Europa como si estuviesen en África.“ (2000,
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112)37 Nuño wünscht sich zudem, dass viele Erzieher von der Art BenBeleys nach Spanien kämen, um dort den Platz der europäischen – französischen, spanischen und italienischen – Erzieher einzunehmen, die zwar viel wüssten, aber bei der moralischen Erziehung ihrer Schüler versagten: „descuidan mucho la dirección de los corazones“ (113).38 Darüber hinaus hat Spanien jedoch auch die Möglichkeit, sich in doppelter Absetzung gegen Afrika und Europa als justo medio zu verstehen und damit eine Position einzunehmen, die der gleicht, die Cadalso als Schiedsrichter zwischen antiguos und modernos für sich selbst reklamiert. Dass mit der Relativierung der Wertmaßstäbe und festen Grenzziehungen zwischen dem Eigenen und dem Fremden auch ein Orientierungs- und Identitätsverlust einherzugehen droht, lässt Cadalso in der Einleitung in einem melancholischen Anflug von modernem („romantischem“?) Erkenntniszweifel ahnen: „¿Cuál tiene razón? ¡No lo sé! No me atrevo a decidirlo, ni creo que pueda hacerlo sino uno que ni sea africano ni europeo. La naturaleza es la única que pueda ser juez; pero su voz ¿dónde suena? Tampoco lo sé.“ (5) Doch kann sich Spanien ebenso umgekehrt als Teil eines kulturübergreifenden afro-europäischen Zusammenhangs begreifen, wie er beispielsweise durch das transkulturelle Verhaltensideal der hombría de bien konstituiert wird. Einen solchen freundschaftlichen Männerbund über geographische und kulturelle Grenzen hinweg bemüht sich Nuño im 42. Brief an Ben-Beley zu stiften: „Según las noticias que Gazel me ha dado de tí, sé que eres un hombre de bien que vives en África, y según las que te habrá dado el mismo de mí, sabrás que soy un hombre de bien que vivo en Europa.“ (112) Dabei ist es für die 37
Dass auch dieses Afrika noch einmal über ein eigenes, in diesem Fall positiv gewertetes inneres Afrika verfügt, gewissermaßen als Potenzierung des Randständigen, verrät der 81. Brief, in dem Gazel über den Wunsch nachdenkt „de retirarse a lo más desierto de nuestra África, huir de sus semejantes y escoger la morada de los desiertos u montes entre fieras y brutos“ (200). 38 Elisabeth Scarlett sieht darin ein Symptom der Vorliebe Cadalsos für die stoische Philosophie, die er als eine andere Form der Vernunft begreife, die sich gegen den europäischen Rationalismus richte und die er auf seine marokkanischen Figuren projiziere: „the Moroccan commentators come to represent what Cadalso feels that Spain is missing now that it is in danger of dissolving in Eurocentrism: the Stoicism of the Classical past“ (1999, 69).
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identitäre Ausrichtung der Cartas marruecas bezeichnend, wie Elisabeth Scarlett bemerkt, dass das Privileg des hombre de bien vorrangig dem afrikanischen Nachbarn und nicht einer europäischen Nation zugestanden wird.39 Noch komplexer gestaltet sich die Situation, wenn man die immer zu berücksichtigende real gegebene Nahbeziehung zu Afrika und die bereits erwähnte Möglichkeit hinzunimmt, ein und dieselbe Konstellation aus einer eurozentrischen oder ethnozentrischen Perspektive zu betrachten. Denn je nach Standpunkt stellt sich die Gleichsetzung Spaniens mit Afrika als selbstkritisches Insistieren auf der eigenen Rückständigkeit dar oder als Positivierung kultureller Alterität – die unter Umständen auch ironisch gemeint sein kann. Das zeigt zum Beispiel der 64. Brief, der als doppelte, auf den majismo und den petimetre zugleich anwendbare Satire aufgefasst werden kann. Gazel berichtet darin Ben-Beley von der modischen Vorliebe der Spanier für arabische Kleidungssitten, die dazu führt, dass er sich als „Señor moro“ (149) bzw. „Señor marrueco“ (151) vor entsprechenden Auskunftswünschen spanischer Schneider kaum retten kann: Suplicamos a V. se sirva darnos varios diseños de calzones, calzoncillos, calzonazos, cuales se usan en África [...]; pues creemos que volverán a su más elevado auge nuestro crédito e interés si sacamos a la luz algo nuevo que pueda acomodarse a los calzones de nuestros europeos, aunque sea sacado de los calzones africanos. (152)
Ein Thema der Cartas marruecas, an dem nahezu alle Möglichkeiten durchgespielt werden, ist die Stellung der Frau in der Gesellschaft. An diesem Thema lässt sich zugleich besonders gut verdeutlichen, dass Cadalso seinerseits die Marokkaner im Hinblick auf die unterschiedlichen Rollen, die ihnen im spanischen Identitätsdiskurs jeweils zugedacht sind, „orientalisiert“ bzw. „afrikanisiert“. Indem er beispielsweise die Freiheit der Frauen in Spanien mit ihrer Unterdrückung in
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„Still it is significant with respect to the cultural coordinates of the text that this citizenship is extended first to African, rather than European, neighbors.“ (1999, 71) Eine ausführliche Deutung des Konzepts der hombría de bien und seiner Bindung an den (männlichen) Körper unternimmt im Rückgriff auf Aristoteles’ Nikomachische Ethik Rebecca Haidt (1998, 151-187).
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Marokko vergleicht – wie im 76. Brief, in dem eine „emanzipierte“ junge Spanierin ihren marokkanischen Geschlechtsgenossinnen Ratschläge zur Herrschaft über die Männer erteilt (185f.) –, betont er die Zugehörigkeit Spaniens zu Europa und delegiert damit an Afrika genau die Rolle, die im Europadiskurs der französischen Aufklärer nur allzu oft Spanien zugedacht war. Daneben gibt es jedoch Fälle, wie die in der Literatur des 18. Jahrhunderts häufig thematisierte arrangierte Heirat – allen voran in Leandro Fernández de Moratíns Komödie El sí de las niñas (1806) –, die zeigen sollen, dass auch in Spanien zum Teil noch „afrikanische Verhältnisse“ herrschen, die eines europäischen Landes unwürdig sind und die es daher zu überwinden gilt. So klagt eine 24-jährige Frau, die bereits sechsfache Witwe ist und jedes Mal gegen ihren Willen von ihrem Vater verheiratet wurde, in einem Brief an Gazel, den dieser unverändert an Ben-Beley übermittelt (75. Brief): „aunque he oído muchas cosas que espantan de lo poco favorables que nos son las leyes mahometanas, no hallo distinción alguna entre ser esclava de un marido o de un padre“ (184). Im Hinblick auf die Achtung, die der Frau in den islamischen Ländern öffentlich entgegengebracht wird, kann wiederum Afrika Spanien und Europa als Korrektiv und Vorbild dienen. Im zehnten Brief konstatiert Gazel zunächst den Widerspruch, dass in den europäischen Gesellschaften die Polygamie zwar anders als im Islam verboten sei, Promiskuität dagegen ohne Weiteres geduldet werde: „Entre estos europeos, la religión la prohíbe y la tolera la pública costumbre.“ (46) Angesichts des in Spanien seit einiger Zeit um sich greifenden Sittenverfalls, den eine Spanierin im Gespräch mit Gazel beklagt, geraten jetzt europäische Einflüsse ins Zwielicht: „Ésta es una casta nueva entre nosotros [...]; o, por mejor decir, una nación de bárbaros que hacen en España una invasión peligrosa“ (47). Gleichzeitig kommt der Wunsch nach einer Rückkehr zu früheren Zuständen auf: „Hasta entonces las mujeres, un poco más sujetas en el trato, estaban colocadas más altas en la estimación; viejos, mozos y niños nos miraban con respeto; ahora nos tratan con despejo.“ (ebd.) Die Tatsache – Tatsache im Sinn der Realitätskonstruktion des Textes –, dass diese idealisierten Zustände eher denen in Afrika als in Europa ähneln, lässt die afrikanischen Sitten, zumindest in diesem
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Punkt, zivilisierter als die europäischen erscheinen.40 Mit der Vermittlung dieser Erkenntnis verbindet sich der unausgesprochene Appell, das afrikanische Erbe Spaniens nicht zu vergessen und als Teil der eigenen Identität zu begreifen.41 In diesem Rezeptionsangebot offenbart sich noch einmal in aller Deutlichkeit die spezifische kulturelle Funktion der imaginierten Außenperspektive in den Cartas marruecas, die weit über die konventionelle Umkehr eurozentrischer Perspektiven hinausgeht, wie sie zum Beispiel in der von Cadalso ebenfalls erwogenen Frage zum Ausdruck kommt, welches Bild sich wohl Patagonier, Hottentotten und Chinesen von Europa machen.42
D)
NARRATION, FIKTION, IDENTITÄT
Es bedarf wohl kaum der ausdrücklichen Hervorhebung, dass das offene, dynamische und reflexive Identitätskonzept, das Cadalso in den Cartas marruecas propagiert, in vielfacher Weise dem hybriden Gattungsmodell des kombinierten Reise- und Briefromans entspricht. Während es der Reiseroman erlaubt, die Auseinandersetzung mit dem Eigenen und dem Fremden als Prozess konkreten Erlebens und persönlicher Erfahrung zu inszenieren, ermöglicht es der Briefroman mit seiner multiperspektivischen, dialogischen Struktur wiederum, diese Erlebnisse und Erfahrungen zu reflektieren und zu relativieren.43
40 Die Ironie Cadalsos, die sich im elften Brief Gazels naiver Deutung der rigiden Normen des Sozialverhaltens in Spanien als kulturelle Spuren afrikanischen Einflusses, als „monumentos de nuestro antiguo dominio“ (49) und „reliquias de nuestro señorío“ (ebd.) bedient, erfährt dadurch eine unerwartete Relativierung. 41 An dieses Erbe werden dann im 19. und 20. Jahrhundert unter anderem Pedro Antonio de Alarcón, Benito Pérez Galdós, Miguel de Unamuno, Américo Castro und Juan Goytisolo auf je eigene Weise anknüpfen (vgl. Kapitel 2. c, Fußnote 22 des ersten Teils). 42 Vgl. den 57. Brief (139) u. den 59. Brief (142). 43 Vgl. zu den Cartas marruecas als Reiseroman Lope (1973, 75-91), Dale (1996) und Chen Sham (2004, 73-118) sowie als Briefroman Bremer (1971, 17-105), Lope (1973, 92100), Zavala (1985), Dale (1998, 35-58), Rueda (2001, 291-297) und Chen Sham (2004, 73118). Beginnend mit den Cartas marruecas (in Buchform 1793 erschienen) zählt Ana Rueda in ihrer umfassenden Bestandsaufnahme der novela epistolar bis hin zu Vicente
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Diese Eigenschaften bringen es gleichwohl mit sich, dass sich die Frage nach der Identität auch im Hinblick auf den Text selbst stellt. So bezeichnet Pedro Álvarez de Miranda die Cartas marruecas als „una de las obras más importantes y estudiadas, y también de más difícil encasillamiento genérico, del siglo XVIII español“ (1996, 299). Wenn man die unterschiedlichen Klassifizierungsversuche Revue passieren lässt, die den Cartas marruecas im Laufe der Zeit zuteil geworden sind, fällt vor allem auf, dass der Text in der spanischen Literaturgeschichtsschreibung vorwiegend unter „Prosa“, „Essay“ oder „Satire“ firmiert und der Begriff „Roman“ erst in der jüngsten Zeit häufiger bemüht wird.44 In der deutschen Literaturgeschichtsschreibung hingegen ist die Bereitschaft wesentlich stärker ausgeprägt, von „Roman“ zu sprechen, obwohl hierzulande auch die Tendenz besteht, der Frage der Gattungsbezeichnung insofern aus dem Weg zu gehen, als man Cadalsos Werk gleich thematisch einordnet und der „Spanienproblematik“ zuschlägt.45 Damit setzt sich offenbar noch auf der literarhistorischen Metaebene jener identitäre Konflikt fort, von dem die zeitgenössischen Texte und die sie begleiBoix’ El amor en el claustro ó Eduardo y Adelaida (1838) neben zahlreichen Übersetzungen, Adaptionen und Manuskripten, die keine Druckerlaubnis erhielten, immerhin 19 spanische Originalbeiträge und kommt zu dem Schluss: „hay evidencia de una producción nacional nada desdeñable“ (66). 44 Von Gewicht ist hier vor allem der vieldiskutierte und -kritisierte Umstand, dass Joaquín Álvarez Barrientos die Cartas marruecas in seinem Standardwerk La novela del siglo XVIII (1991) mit keinem Wort erwähnt. Den romanesken Charakter der Cartas marruecas hat dagegen in der letzten Zeit, neben Zavala (1985), Sebold (1995b) und vor Dale (1998), namentlich Jesús Pérez Magallón betont. Für ihn lautet die entscheidende Frage: „¿por qué elegir una forma fictiva en lugar de un tratado?“ (1995, 160) In diesem Zusammenhang ist mit Friedrich Wolfzettel darauf hinzuweisen, dass auch die Lettres persanes nicht sofort als Roman rezipiert wurden: „Edgar Mass (1981) hat zeigen können, daß sich die romanhafte Rezeption erst spät gegenüber einer ursprünglich satirischen und moralistischen Lektüre – vor allem in den kalvinistischen Kreisen der durch die Revozierung des Edikts von Nantes exilierten Franzosen in den Niederlanden oder auch in den libertinistischen Zirkeln – durchsetzte.“ (2000, 42f.) 45 Vgl. die Einteilungen in Spanien: Alborg (1993): „La prosa satírico-didáctica“; Carnero (1995a): „La prosa del siglo XVIII“; Aguilar Piñal (1996): „Ensayo“; Álvarez de Miranda (1996, 300): „literatura costumbrista“; Sánchez Blanco (1997a): „Ensayo“; und in Deutschland: Floeck (1980): „Die Wurzeln des sogenannten Spanienproblems“; Tietz (1991b): „Cadalso, das Spanienproblem und die Folgen“; Ertler (2003a): „Der Roman“; Schütz (2006): „Satirische Spanienkritik und romantische Schwermut: Cadalsos Prosatexte“.
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tende Debatte beherrscht werden, scheint doch die Verwendung der Bezeichnung „Roman“ einer eher eurozentrischen und deren Vermeidung einer stärker ethnozentrischen Sichtweise zu entsprechen. Gleichsam selbstverständlich behandelt Friedrich Wolfzettel in seiner Gattungsgeschichte Der spanische Roman von der Aufklärung bis zur frühen Moderne (1999) Cadalsos Werk als Roman. Allerdings gelten ihm die Cartas marruecas im Wesentlichen als Beispiel dafür, „wie isoliert der Roman noch immer ist“ (18) und als „Beleg für die fehlende Romantradition und die daraus folgenden Einschränkungen, die mit der Übernahme fremder Modelle verbunden sind“ (22).46 Wolfzettels Gesamturteil ist unübersehbar durch eine Reihe von Voreinstellungen geprägt, die für die Diskussion um die Existenz des spanischen Romans im 18. Jahrhundert – insbesondere innerhalb der deutschsprachigen Hispanistik – charakteristisch sind.47 Erstens gehört dazu eine geschichtsphilosophische Auffassung des Romans, die sich an den Thesen Hegels und Georg Lukács’ orientiert, wonach der moderne Roman das Verhältnis zwischen den Ansprüchen des Subjekts und der sich diesen Ansprüchen verweigernden Gesellschaft bzw. zwischen dem problematischen Individuum und der kontingenten Welt gestaltet. Als genuin bürgerlicher Form des Erzählens komme dem Roman in einer säkularisierten und funktional ausdifferenzierten Gesellschaft die Aufgabe zu, individuelle Sinnbedürfnisse zu befriedi-
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Weiter kommentiert Wolfzettel in Bezug auf Cadalsos Ankündigung, die Themen Religion und Politik aussparen zu wollen: „Aus einer solchen romanästhetischen Perspektive beleuchten die Cartas marruecas die Leerstellen des literarischen Systems, die zugleich auf ideologische Leerstellen verweisen.“ (22) 47 Der Verlauf der Diskussion wird u. a. von Wolfzettel (1999, 9-18); HertelMesenhöller (2001, 19-34) und Kilian (2002, 31-43) referiert. Dabei erweist sich die Frage nach dem jeweiligen Romanbegriff als Hauptquelle des Dissenses. Auch für Kilian wird „in der Gattungsdiskussion ein Gegensatz zwischen der deutschen und der spanischen Hispanistik deutlich: Denn wie am Beispiel des Valdemoro dargestellt werden konnte, beschränkt Manfred Tietz den Romanbegriff auf den modernen Roman, während Joaquín Álvarez Barrientos von einem offenen Romanbegriff ausgeht, der traditionelle Formen wie etwa den höfischen Roman, den Schelmenroman oder religiös inspirierte Erzähltexte durchaus einschließt“ (2002, 41). Das sei, so Kilian, „ein generell zu beobachtender Unterschied“ (ebd.). Beide Standpunkte stimmen freilich, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, darin überein, dass sie die Cartas marruecas nicht als Roman gelten lassen.
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gen und lebensweltliche Orientierungshilfe zu leisten. In einer „ständisch gegliederten, vormodernen Gesellschaft, deren vorgegebene Normen und Lebenswelt und deren kollektive Strukturierung keine individuelle und subjektive Orientierung erforderlich machen“ (14), seien die Bedingungen für die Entstehung solcher Bedürfnisse nur in geringem Maße gegeben.48 Zweitens geht Wolfzettel von der bereits zitierten These aus, dass der moderne Roman in Spanien „als fiktionale Historie und/oder als Spiegel des gegenwärtigen gesellschaftlichen Lebens zum kritischen Instrument wird, mit dem die nationale Problematik direkt oder indirekt reflektiert wird“ (9). Die gattungsprägende Beschäftigung mit der Frage nach der kulturellen und nationalen Identität äußere sich vor allem in einer „Tendenz zur Thesenhaftigkeit, welche nicht selten eine quasi allegorische Interpretation“ (10) nahelege: Das heißt, oberhalb der Ebene des individuellen und psychologischen Konflikts spiegelt die Handlung auch eine allgemeine und nationale Problematik. Es geht also nicht nur, wie überall im europäischen Raum, um Ständesatire, Sitten- und Gesellschaftskritik, sondern um die Reflexion der jeweiligen historischen Situation Spaniens und die Suche nach der Wirklichkeit Spaniens. (ebd.)
Drittens neigt Wolfzettel weiterhin dazu, das zu Beginn dieses Kapitels erwähnte Moment der Entradikalisierung und Depotenzierung im Umgang des spanischen Romans mit ausländischen Vorbildern zu betonen. Im Fall der Cartas marruecas wirkt sich diese Haltung vor allem auch deswegen nachteilig aus, weil Wolfzettel zugleich Montesquieus Lettres persanes einen besonders hohen Komplexitätsgrad bescheinigt (vgl. auch Wolfzettel 2000). Wenn man diese drei Vorannahmen berücksichtigt, kann das Urteil Wolfzettels über die Cartas marruecas nicht weiter überraschen. So liefert in Wolfzettels Augen die Fixierung auf die Identitätsthematik die
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In Bezug auf Spanien und unter Betonung des verzögerten Säkularisierungsprozesses der spanischen Gesellschaft bzw. der Bedingung „nicht erfolgter Säkularisierung“ (1986, 79) hat diese These vor allem Manfred Tietz vertreten (1986; 1992b; 1992c). Der von Tietz (1994) kritisch rezensierte Álvarez Barrientos greift die Kategorie der Säkularisierung auf (1991, 52, 163; 1996, 253-242).
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Erklärung für „die Eigenart, daß der dem Briefroman eigene Perspektivismus nicht voll zum Tragen kommt und daß damit auch die romanhafte Qualität des Werkes nur wenig entwickelt ist“ (21).49 Und im Vergleich zu den epistemologischen und existenziellen Einsichten, die Montesquieus Lettres persanes ermöglichten, stellt Wolfzettel fest: Cadalso übernimmt die gängige aufklärerische Fiktion des orientalischen Reisenden, doch es gelingt ihm weder, einen Erkenntnisprozeß darzustellen, noch verbindet er damit eine persönliche Problematik. So wird der ‘método epistolar’, von dem der Autor in der Einleitung spricht, tatsächlich nur zur Methode, um einen fundamental diskursiven Gedankengang perspektivisch aufzulockern. (ebd.)
Um zu einer anderen Einschätzung der Cartas marruecas zu gelangen und eine letztlich stagnierende Diskussion zu überwinden, erscheint es mir daher zunächst notwendig, sich bis zu einem gewissen Grad von einem idealtypischen Verständnis der Gattung „Roman“ in der Nachfolge Hegels zu lösen. Denn in diesem Verständnis, das vor allem in der deutschsprachigen Hispanistik immer noch vorherrscht, lässt sich die Beschäftigung mit Fragen der kollektiven – kulturellen und nationalen – Identität entweder nur als Verhinderung der als zentrales Modernitätskriterium geltenden Konfrontation zwischen Individuum und Gesellschaft interpretieren oder mit Russell P. Sebold gleich als genuin „romantisch“ verbuchen.50 Hier kann ein Blick auf die Gepflogenheiten der spanischen Philologie, die einer Klassifizierung der Cartas marruecas als „Roman“ eher skeptisch gegenübersteht, als willkommenes Korrektiv wirken. Nun ist andererseits Wolfzettels These von der gattungsprägenden Dominanz der Identitätsproblematik im spanischen Roman seit dem 18.
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Vgl. ebenso, als ein Beispiel unter vielen, Pedro Álvarez de Miranda: „El ingrediente ‘novelesco’, sin ser ningún caso central, es indudablemente mayor en las Lettres persanes que en las Cartas marruecas.“ (1996, 300) 50 Genau das macht dann auch Wolfzettel: „Der in der ‘Introducción’ an erster Stelle genannte Roman [Don Quijote] scheint hier bereits im postaufklärerischen Sinn für eine idealistische Kritik der Wirklichkeit zu stehen und bestätigt die These von Russell P. Sebold, der Autor sei ‘el primer romántico europeo de España’.“ (20f.)
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Jahrhundert durchaus zuzustimmen. Nur halte ich es für zu einseitig, diese Dominanz hauptsächlich in einem Hang zur Thesenhaftigkeit und in einer Neigung zu allegorischen Strukturen, das heißt in tendenziell antiromanesken, Narration und Fiktion entgegenstehenden Merkmalen sehen zu wollen. Und schließlich verstellt die Verabsolutierung ausländischer Modelle, zumindest in Wolfzettels Darstellung der Cartas marruecas, den Blick für die besonderen literarischen Leistungen des spanischen Romans. Dieser Sichtweise möchte ich nun zwei Thesen entgegensetzen. Anders als Montesquieus Lettres persanes, die im Wesentlichen eine philosophische und im engeren Sinne epistemologische Absicht mit universalistischem Anspruch verfolgen, geht es Cadalso zum einen darum, eine bestimmte Vorstellung der spanischen Nation, und zwar gerade auch unter Ausnutzung genuin romanhafter Möglichkeiten (Narration/Fiktion) zu schaffen. Zum anderen besteht seine Leistung darin, das Modell einer idealen interkulturellen Begegnung entworfen zu haben, das es in dieser Weise bei Montesquieu nicht gibt – ein Modell, das primär ethisch und nicht erkenntnistheoretisch ausgerichtet ist und das die angemessene Haltung zum Eigenen und den richtigen Umgang mit dem Fremden lehren soll.51 Benedict Anderson hat in seiner längst zum Klassiker gewordenen Studie Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism dem Verhältnis von Roman und Nation einige vielbeachtete Überlegungen gewidmet (1991 [1983], 24-36). Seine Hauptthese lautet, dass die Entstehung der Nation als einer vorgestellten Gemeinschaft („the birth of the imagined community of the nation“,
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Vgl. auch Elisabeth Scarlett zum Unterschied zwischen den Lettres persanes und den Cartas marruecas: „a comparison demonstrates more multicutural exchange and intermingling taking place in the Cartas“ (1999, 69). Iris M. Zavala spricht allgemein von einem „mensaje ético-reformista“ (1985, 359) des Romans und einer „perspectiva ética sobre España“ (361). Rebecca Haidt präzisiert: „In fact, an ongoing discussion of ethics is the most salient component of the Cartas marruecas: the state characterizing the three correspondents is that of virtue; they become friends because they are alike in their virtuousness and hold similar ethical principles. They are all three hombres de bien and are all three good in like ways.“ (1998, 153) Die Freundschaft zwischen den drei tugendhaften Männern diene in den Cartas marruecas als „model for a wider program of national ethical restoration“ (154).
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24) eng mit dem Aufkommen der Gattung Roman und des Mediums Zeitung im 18. Jahrhundert sowie den durch sie geschaffenen neuen Repräsentationsmöglichkeiten zusammenhänge: „For these forms provided the technical means for ‘re-presenting’ the kind of imagined community that is the nation.“ (25)52 Genau besehen behauptet Anderson, dass es eine dreifache Beziehung zwischen Roman und Nation gebe: Indem der Roman den Leser dazu bringe, gleichzeitig an unterschiedlichen Orten stattfindende Ereignisse und Handlungen in seinem Bewusstsein als Einheit zu imaginieren, wirke er als strukturelles Analogon zur Vorstellung der Nation („a precise analogue of the idea of the nation“, 26). Außerdem biete der Roman dem Leser die Möglichkeit, sich eine ganz bestimmte Nation vorzustellen, indem er die Welt im Roman mit Hilfe geeigneter Verfahren und Plotstrukturen, wie etwa der Pikareske oder des Bildungsromans, die eine Beschreibung der Gesellschaft in allen ihren Facetten erlaubten, als glaubwürdige Repräsentation der außertextuellen Welt, als „sociological landscape“ (30) bzw. „social space“ (ebd.) erscheinen lasse. Und schließlich gebe es eine Verbindung zwischen der Vorstellung der Nation und der Expansion des Buchmarktes, die sich im Wissen des Einzelnen um die gleichzeitige Lektüre derselben Informationen durch viele andere Leser manifestiere („the almost precisely simultaneous consumption [‘imagining’] of the newspaper-as-fiction“, 35).53
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Anderson illustriert seine These an dem mexikanischen Roman El Periquillo Sarniento (1816) von José Joaquín Fernández de Lizardi, an zwei philippinischen Romanen, Francisco Balagtas Pinagdaanang Buhay ni Florante at ni Laura sa Cahariang Albania (1838) und José Rizals Noli me tangere (1886) sowie an dem indonesischen Roman Semarang Hitam (1924) von Mas Marco Kartodikromo. 53 Eine detaillierte Kritik an Andersons Thesen zum Roman und einen Versuch ihrer Reformulierung aus literaturwissenschaftlicher Sicht unternimmt Jonathan Culler in seinem Aufsatz „Anderson and the Novel“ (1999). Er konzentriert sich auf die folgenden Aspekte „the formal structure of narrative point of view, the national content of the fictions (which may include both the plot and the particular nature of the world of the novel), and finally the construction of the reader“ (22). Culler wirft Anderson hauptsächlich vor, nicht scharf genug zwischen der Form des Romans als struktureller Bedingung der Möglichkeit der Vorstellung der Nation und der Darstellung nationsrelevanter Inhalte zu trennen. Cullers eigene, gerade auch im Hinblick auf die Cartas marruecas überaus bedenkenswerte These besagt, dass die
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Dieser letzte, spekulative Aspekt, der sich zudem hauptsächlich auf das Medium Zeitung bezieht, kann hier vernachlässigt werden, wobei allerdings nicht vergessen werden sollte, dass ja auch die Cartas marruecas zunächst in der zweimal pro Woche erscheinenden Zeitschrift Correo de Madrid o de los ciegos veröffentlicht wurden, bevor sie 1793 erstmals in Buchform herauskamen. Umso interessanter ist es jedoch zu fragen, inwiefern die Cartas marruecas im Sinne der beiden anderen von Anderson genannten Kriterien, der strukturellen Analogie und der referenziellen Illusion, eine Grundlage für die Imagination der (spanischen) Nation liefern. In Bezug auf die inhaltliche Repräsentation der Nation steht die Leistung der Cartas marruecas außer Frage, auch wenn sie sicherlich einer gewissen Nuancierung bedarf. Cadalso liefert nicht nur ein umfassendes Panorama der spanischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, sondern unternimmt auch eine weniger abgrenzende als vielmehr integrative identitätsstiftende Ordnung der historischen Zeit und – in der „costumbristischen“ Entdeckung der spanischen Provinzen – des geographischen Raums. Das strukturelle Mittel, mit dem diese tour d’horizon literarisch organisiert wird, ist die Reise, durch die der Raum der Nation nach innen und außen abgegrenzt wird. Gemäß seinem Credo „formar una verdadera idea del país en que se viaja“ (12) bereist Gazel, wie er zu Beginn des 26. Briefs mitteilt, alle spanischen Provinzen, von denen er im Übrigen wie selbstverständlich annimmt, dass man sie sich trotz aller Unterschiede als Einheit vorstellen müsse („la diversidad de las provincias que componen esta monarquía“, 74), auch wenn diese Einheit nicht immer dem Ideal einer „perfecta unión“ (78) entspreche. Gelegentlich weiten sich die Berichte aus der Provinz auch zu lebendig gestalteten Mikroerzählungen aus, wie im 43. Brief, in dem sich Gazel aus einer Stadt meldet, in der sich die „antigua España“ (114) noch vollständig und von der Moderne unbehelligt erhalten habe, oder im 69. Brief, in dem es Gazel nach einem Kutschenunfall in die patriarchalische Idylle eines Landgutes verschlägt.
nationale Bedeutung des Romans vor allem in seiner integrativen Leistung liege: „If a national community is to come into being, there must be the possibility for large numbers of people to come to feel a part of it, and the novel, in offering the insider’s view to those who migth have been deemed outsiders, creates that possibility.“ (37)
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Im siebten Brief wird eine derartige Episode, Nuños Begegnung mit einem andalusischen „señorito“ und dem „tío Gregorio“, von Gazel ausdrücklich als „un lance que parece de novela“ (29) bezeichnet. Zudem begibt sich Gazel, der nach eigener Auskunft bereits auf verschiedenen Europareisen Auslandserfahrungen sammeln konnte (12), auch zweimal nach Frankreich, „más allá de los montes Pirineos“ (84), wie er im 29. Brief verkündet. Der 90. und letzte Brief Gazels, in dem er seine Rückkehr nach Marokko via Málaga und Ceuta ankündigt, stammt dagegen aus Cádiz und ruft die südliche Grenze Spaniens in Erinnerung. Dabei wird die referenzielle Illusion, die von den in den Briefen erzählten Begebenheiten ausgeht, noch zusätzlich durch die Struktur des fingierten Briefwechsels und den der Gattung Brief eigenen Zeugnischarakter verstärkt, der auf den formalen Merkmalen der Autodiegese und der Verwendung des Präsens beruht. Wenn von referenzieller Illusion die Rede ist, muss im Gegenzug auch der diskontinuierliche, inkohärente und fragmentarische Aufbau der Cartas marruecas zur Sprache kommen, auf den in der Forschung immer wieder hingewiesen wird und durch den sich Cadalsos Werk von einem „echten“, handlungszentrierten Briefroman wie Choderlos de Laclos’ Les liaisons dangereuses (1782) oder einem nicht-fiktiven Reisebericht wie Antonio Ponz’ (1725-1792) monumentaler, zwischen 1772 und 1794 in 18 Bänden erschienener, sich weitgehend auch der Briefform bedienender Viage de España, en que se da noticia de las cosas más apreciables, y dignas de saberse que hay en ella unterscheidet.54 So tragen etwa die Briefe, aus denen sich die Cartas marruecas zusammensetzen, weder Zeit- noch Ortsangaben. Auch lässt sich der Reiseweg Gazels nur sehr lückenhaft rekonstruieren,55 und der erzählende oder beschreibende Modus tritt sehr oft hinter einer summarisch-inventarisierenden oder verallgemeinernd-kommentierenden Darstellungsweise zurück. Das wird zum Beispiel zu Beginn des bereits zitierten 26. Briefs deutlich, in dem Gazel eine 54 Vgl. zur spanischen Reiseliteratur im 18. Jahrhundert Fabbri (1996) und speziell zu Ponz’ Werk Frank (1997). 55 Vgl. Camarero: „Cualquier intento de reconstruir por orden el viaje de Gazel es imposible, porque las referencias son sumamente imprecisas. Tan sólo podemos establecer algunos itinerarios parciales, conque sería más oportuno hablar de los viajes de Gazel que del viaje, en singular.“ (2000, 141)
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Übersicht über die verschiedenen Volksgruppen der einzelnen Provinzen gibt. Cadalso lässt Gazel zwar kurz erwähnen, dass seine Ausführungen auf eigener Anschauung beruhen, verpflichtet ihn dann jedoch sogleich auf ein Referat der von Nuño vermittelten landeskundlichen Informationen: „Después de haberlas visitado hallo muy verdadero el informe que me había dado Nuño de esta diversidad.“ (74) Der Anfang des ebenfalls bereits zitierten 43. Briefs kann hingegen als Beispiel für die eher seltene deiktische Verankerung einer Sprechsituation in Raum und Zeit angeführt werden. Gazel schreibt darin an Nuño: „La ciudad en que ahora me hallo es la única de cuantas he visto que se parece a las de la antigua España, cuya descripción me has hecho muchas veces“ (114), und etwas später heißt es: „y todo lo restante del aparato me hace mirar mil veces al calendario por ver si estamos efectivamente en el año que vosotros llamáis de 1768“ (ebd.). In Bezug auf die inhaltliche Repräsentation der Nation sieht sich der Leser der Cartas marruecas also einer Spannung zwischen kognitiv orientierter Belehrung und imaginativem Nachvollzug ausgesetzt. Die andere im Anschluss an Andersons Thesen zu stellende Frage lautet, ob Cadalsos Roman auch als strukturelles Modell für die Vorstellung der Nation betrachtet werden kann, und zwar ungeachtet der Tatsache, dass Spanien in den Cartas marruecas in seiner Vielfalt als Einheit thematisiert und im Modus von Narration und Fiktion annäherungsweise als Kollektiv erfahrbar gemacht wird. Diese zweite Frage ist meiner Ansicht nach uneingeschränkt positiv zu beantworten, und das aus mehreren Gründen: Die verwirrende Vielfalt, Heterogenität und relative Zusammenhanglosigkeit der mitgeteilten Informationen, Erkenntnisse, Erfahrungen und Erlebnisse, die von keinem übergeordneten Erzähler strukturiert wird, zwingt den Rezipienten zunächst einmal zu einer synthetisierenden Bewusstseinsleistung besonderer Art. Diese Behauptung gilt natürlich vor allem für die Rezeption der Cartas marruecas als Buch und im Modus der seinerzeit noch keineswegs selbstverständlichen stillen Lektüre. Hinzu kommt die spezifische Kommunikationsform des Briefverkehrs, die eine räumliche Trennung der Briefpartner impliziert, aber zugleich auch eine imaginäre räumliche und zeitliche Verbindung zwischen ihnen stiftet, insofern Briefschreiber und Briefempfänger
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(bzw. die sich mit ihnen identifizierenden realen Leser) jeweils eine innere Vorstellung von der gleichzeitigen Anwesenheit ihres Gegenübers an einem anderen Ort entwickeln. Und schließlich ist der Umstand zu erwähnen, dass sich bei einem multiperspektivischen und polyphonen Briefroman wie den Cartas marruecas der Leser als eine gottähnliche Instanz begreifen kann, der als einziger das Privileg zukommt, die in sich beschränkten Einzelperspektiven jede für sich nachzuvollziehen und gleichzeitig als Ganzes zu überblicken. Das Hin- und Hergleiten im Lektüreprozess zwischen der subjektiven Sicht der handelnden Figuren und der diesen selbst nicht zugänglichen Gesamtschau der Handlung vermittelt dem Leser ein intuitives Wissen um den Zusammenhang zwischen Individuum und Kollektiv, von dem angenommen werden kann, dass es auch dem Verständnis der Nation als einer vorgestellten Gemeinschaft zugrunde liegt. Die narrativ-fiktionalen Elemente der Cartas marruecas – das Handlungsmuster der Reise, die Verwendung individualisierter und interagierender Figuren und die multiperspektivische, dialogische Erzählweise – bilden auch die Grundlage, auf der Cadalso das Modell einer idealen interkulturellen Begegnung entwirft. Dieses Modell ist als literarische Umsetzung der in der „Brillen-Anekdote“ im 60. Brief enthaltenen ethischen Botschaft aufzufassen, der zufolge vorrangig nach dem Abbau von Fremdheit, gleichgültig ob zwischen Individuen oder Nationen, zu streben sei. Zusammen mit seiner Leistung in Bezug auf die literarische Imagination der Nation ist darin Cadalsos genuiner Beitrag zur Gattungsentwicklung zu sehen. Cadalso verwirklicht dieses Modell dadurch, dass er auf der makrostrukturellen Ebene eine Konstellation schafft, die drei Figuren miteinander konfrontiert: den Spanier Nuño Nuñez und die beiden Marokkaner Gazel Ben-Aly und Ben-Beley. Während der in Spanien lebende Nuño und der in Afrika verbliebene Ben-Beley jeweils aus ihrer kulturellen Binnenperspektive wahrnehmen und urteilen, agiert der junge Gazel, Cadalsos marokkanischer Spanienreisender, als Kontaktfigur zwischen Europa und Afrika und als interkultureller Grenzgänger, der im Gefolge des marokkanischen Botschafters nach Spanien kommt und am Ende wieder in seine Heimat zurückkehrt, um den dort auf ihn wartenden öffentlichen Pflichten nachzukom-
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men. Die Konzentration auf nur drei Figuren wertet die Beziehungen zwischen den einzelnen Personen auf und verleiht ihnen – in dem Maße, wie sie sich als eigenständige Charaktere profilieren – existenzielles Gewicht. Auf der Diskursebene entspricht dieser Konzentration eine Realisierung aller möglichen Kommunikationsbeziehungen, auch wenn Gazel von den insgesamt 90 Briefen im Vergleich zu Nuño (zehn Briefe) und Ben-Beley (elf Briefe) weitaus die meisten verfasst (69).56 In den Lettres persanes existieren dagegen auf der Ebene der Makrostruktur keine vergleichbaren Beziehungen zwischen Vertretern unterschiedlicher Kulturen, und auch auf der Diskursebene bleiben die persischen Briefpartner unter sich. Darüber hinaus ist bei Montesquieu die Zahl der Korrespondenten (21) und der zwischen ihnen ausgetauschten Briefe (161) wesentlich größer als in Cadalsos Roman (drei Korrespondenten/90 Briefe). Im Vergleich zu der situativen Prägnanz in den Cartas marruecas werden wir in den Lettres persanes also mit einem abstrakten, vielstimmigen Panorama konfrontiert. Die eigentliche formale Neuerung der Cartas marruecas besteht allerdings darin, dass mit der Figur Nuños ein autochthoner Partner für die ausländischen Reisenden und Briefeschreiber eingeführt wird. Das unterstreicht bereits Russell P. Sebold: „Nuño ocupa un lugar tan nuevo en el género en que aparece, que de resultas de ello la técnica de tal género se altera de modo significativo“ (1974, 223). Sebold weist auch darauf hin, dass es in den Lettres persanes oder in The Citizen of the World keine vergleichbare Figur gebe. Der fiktive Herausgeber und Übersetzer der Lettres persanes berichtet zwar in der Einleitung „Les Persans qui écrivent ici étaient logés avec moi; nous passions notre vie ensemble“ (1975, 7), als Figur tritt er aber in den nachfolgenden Briefen nicht mehr in Erscheinung. Seine Mitteilung dient allein der Authentifizierung des Briefwechsels und erfüllt damit eine rein technische Funktion. Sebold geht dem interkulturellen Potenzial der von Cadalso eingeführten Neuerung dann aber nicht weiter nach, sondern
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Zavala spricht von einer „relación hermética“ (1985, 351). Vgl. zur Übersicht über den Briefverkehr u. a. Lope (1973, 21) und Chen Sham (2004, 84). Dale hält fest: „El 76,6 por ciento de las misivas las escribe Gazel, y todas ellas salvo tres son para su maestro árabe.“ (1998, 52)
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interpretiert in einer autobiographischen Lesart Nuño in erster Linie als innerfiktionale Stellvertreterfigur und als Sprachrohr des Autors (1974, 225-236). In der Tat gibt es für die „naturaleza autobiográfica del corresponsal español Nuño“ (226) eine Reihe von Anhaltspunkten – von der soldatischen Karriere und schriftstellerischen Tätigkeit Nuños bis hin zu seinem Wandel vom Gesellschaftsmenschen zum kontemplativ gestimmten Einsiedler. Die Behauptung, dass Nuño im Figurenensemble der Cartas marruecas eine privilegierte Rolle einnimmt, lässt sich freilich auch ohne den Hinweis auf diese außertextuelle Parallele aufrecht erhalten, wie gleich noch zu erläutern sein wird.57 Wie sieht das Verhaltensmodell aus, in dem Cadalso unter den Bedingungen der Fiktion anhand der Figuren Nuño und Gazel die lebensweltlich relevante Situation einer interkulturellen Begegnung durchspielt? Nuño wird als hervorragender Kenner des eigenen Landes und seiner Geschichte porträtiert. Die Zugehörigkeit zur spanischen Kultur versteht er angesichts des Zufalls der Geburt nicht als Determination – „tiene por cosa muy accidental el haber nacido en esta parte del globo o en sus antípodas, o en otra cualquiera“ (13) –, sondern als Verpflichtung zu einer patriotischen und zugleich kritischen Haltung gegenüber dem eigenen Land. Doch wäre er, wie schon erwähnt, unter geeigneten Umständen auch bereit, nach Afrika zu gehen. Das Ideal des „hombre de bien“ (112), die Haltung der „virtud“ (ebd.), der Glaube an ein „Ser Supremo“ (114) und das Gut der Freundschaft sind für ihn wichtiger als kulturelle und religiöse Unterschiede.58 Seinem ausländischen Freund steht er als unermüd57
Die Gewichtung der verschiedenen Erzählperspektiven und die Frage nach ihrer ideologischen Relevanz bilden einen eigenen Topos innerhalb der Cadalso-Forschung. Zu der von vielen geteilten Ansicht, dass Nuño eine dominante Stellung zukomme, gibt es auch zahlreiche Gegenstimmen. So spricht Zavala von einer „función de igualdad […] (nadie se erige en autoridad ni emplea el discurso del poder)“ (1985, 361). Dale konstatiert: „Lo pertinente es el ‘mensaje total’ de las perspectivas reunidas de Gazel, Nuño y Ben-Beley, es decir que el ‘equilibrio colectivo’ es mayor que la suma de sus partes individuales“ (1998, 55); und Rueda warnt: „No debemos caer en la trampa de que haya una voz privilegiada, ni sospechar que Cadalso se agazapa tras la voz del español, Nuño.“ (2001, 293f.) 58 Vgl. auch die folgende Passage aus dem 87. Brief, die im Zusammenhang mit der Diskussion zwischen Nuño, Gazel und Ben-Beley über die Legende steht, dass der
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licher Gesprächspartner und Ratgeber zur Verfügung, ohne ihn jedoch zu bevormunden und ihm die Möglichkeit zu eigenen Erfahrungen zu nehmen. Als Briefautor tritt Nuño, der lediglich zehnmal als Absender firmiert, zwar von allen drei Figuren am seltensten in Erscheinung, gleichwohl ist er in den Cartas marruecas – Iarocci spricht von einer „forma de presencia silenciada“ (1997, 165) – nahezu omnipräsent. So hat Sebold ermittelt: Además de las diez cartas que Nuño escribe, se le cita, se le parafrasea, o se dirigen a él los otros corresponsales, en otras cincuenta y tres cartas, lo cual quiere decir que desempeña un papel importante en más de setenta y cinco por ciento de todas las cartas, y nunca se le pierde de vista por un espacio de más de tres cartas. (1974, 225)
Gazel erweist sich in seinem ersten Brief an Ben-Beley als gut vorbereitet auf die Begegnung mit dem fremden Land. Er ist offen, neugierig, anpassungswillig und entschlossen, die Gruppe, mit der er angereist ist, hinter sich zu lassen: „Me hallo vestido como estos cristianos, introducido en muchas de sus casas, poseyendo su idioma y en amistad muy estrecha con un cristiano llamado Nuño Nuñez“ (9). Im ständigen Austausch mit seinem spanischen Freund Nuño und seinem väterlichen Mentor Ben-Beley versichert er sich immer von Neuem der Gültigkeit seines Urteils. Die wichtigsten Verhaltensstrategien zur Bewältigung der Fremdheitserfahrung – beobachten, informieren, reflektieren, kommunizieren – spiegeln sich in seiner Art, Reisetagebuch zuführen: „Notaré todo lo que me sorprehenda, para tratar de ello con Nuño y después participártelo con el juicio que sobre ello haya formado.“ (10) Wie der letzte Brief zeigt, geht Gazel aus der Erfahrung mit dem Fremden grundsätzlich verändert hervor. Er denkt sogar daran – ganz ähnlich, wie es Nuño in umgekehrter Richtung erwogen hatte – sein eigenes, ihm fremd gewor-
Heilige Jakob, der spanische Nationalheilige Santiago, in der Schlacht von Clavijo im Jahr 844 den Asturiern im Kampf gegen die Mauren auf einem weißen Pferd zu Hilfe gekommen sei: „Esta conversación entre un moro africano y un cristiano español es sin duda odiosa, pero entre dos hombres racionales de cualquier país o religión puede muy bien tratarse sin entibiar la amistad.” (211) Vgl. zur Legende selbst als einem Prüfstein für den Umgang der Aufklärer mit dem Verhältnis von religiöser Mythologie und nationaler Geschichte, ja mit der Religion überhaupt, Lope (1973, 172-179).
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denes Land endgültig zu verlassen und in die neue, vertraut gewordene Kultur überzutreten: Siento dejar tan pronto tu tierra y tu trato. Ambos habían empezado a inspirarme ciertas ideas nuevas para mí hasta ahora, de las cuales me había privado mi nacimiento y educación, influyéndome otras que ya me parecen absurdas, desde que medito sobre el objeto de las conversaciones que tantas veces hemos tenido. (219)
Gazels Stellung auf der Grenze zwischen den Kulturen spiegelt sich auch in der Heteroglossie seiner Rede. Denn der Dialog zwischen dem Eigenen und dem Fremden findet nicht nur zwischen den Briefen, sondern auch in den Briefen selbst statt. Wie noch einmal mit Sebold (1974, 225) zu betonen ist, zitiert und referiert Gazel in seinen Mitteilungen an Ben-Beley unablässig, was Nuño geschrieben und gesagt hat.59 Und fast auf jeder Seite finden sich Redehinweise wie „dice Nuño“, „me dijo Nuño“, „decía Nuño“ usw., die Nuños Mittlerund Ratgeberfunktion unterstreichen. Ben-Beley fungiert ebenfalls nicht nur als Adressat der Briefe Gazels, er wird auch in ihnen selbst immer wieder vergegenwärtigt, wie hier am Ende des ersten Briefs: ¿Qué será de mí en un país más ameno que el mío y más libre, si no me sigue la idea de tu presencia, representada en tus consejos? Esta será una sombra que me seguirá en medio del encanto de Europa, una especie de espíritu tutelar que me sacará de la orilla del precipicio, o como el trueno, cuyo estrépito y estruendo detiene la mano que iba a cometer el delito. (11)
Der Umstand, dass die Rede Gazels in hohem Maße durch die Worte und Gedanken Nuños geprägt ist – bis hin zur ihrer beinahe vollständigen Ersetzung, wie zum Beispiel im 33. Brief, der bis auf vier einleitende Zeilen ganz aus der Abschrift eines Briefes von Nuño besteht –, lässt verschiedene Interpretationen zu, die jeweils unterschiedliche Auffassungen der Textstruktur, der Figurenkonzeption und der Leserrolle implizieren. In jedem Fall setzen sie jedoch ein dynamisches Konzept individueller und kollektiver Identität voraus,
59 Eine Liste der „subtextos“, die in Gazels Briefen an Ben-Beley enthalten sind und fast alle von Nuño stammen, findet sich in Zavala (1985, 351f.).
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das von der grundsätzlichen Veränderbarkeit der Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden ausgeht. Die erste Lesart betont das Durchlässigwerden der Persönlichkeitsgrenzen, die Auflösung fest umrissener Identitäten und die Herausbildung neuer, hybrider Identitäten und interpretiert sie als Symptome eines idealen freundschaftlichen Austauschs zwischen Vertretern benachbarter Kulturen, als Ergebnis einer gelungenen interkulturellen Begegnung im Zeichen der hombría de bien und ihrer zentralen Werte virtud, razón und amistad.60 Neben dieser idealisierenden und harmonisierenden Lesart, die von den Aussagen im Text selbst nahegelegt wird, lassen die Cartas marruecas aber auch noch eine andere, gegenläufige Lektüre zu, der die Annahme zugrunde liegt, dass sich gewissermaßen hinter dem Rücken der Figuren eine strategische Absicht vollzieht, die letztlich darauf abzielt, dem Leser die Anziehungskraft und das integrative Potenzial der spanischen Nation vor Augen zu führen.61 Wenn man die subtile Hierarchisierung der Diskurse – subtil, weil Nuño als Briefschreiber am wenigsten präsent ist – noch durch den allgemeinen Hinweis auf seine herausgehobene Rolle ergänzt (ohne ihn damit gleich als innerfiktionalen Stellvertreter und Sprachrohr des Autors betrachten zu wollen), dann lässt sich der Verlauf der interkulturellen Begegnung zwischen Nuño und Gazel, wie der Abschiedsbrief Gazels zeigt, auch als offensichtlich erfolgreicher Versuch deuten, Gazel zur spanischen Nation und ihrer Kultur zu bekehren.62 Eine solche
60 Iarocci charakterisiert dieses Phänomen folgendermaßen: „la confluencia de espíritus afines, la influencia que ejerce una personalidad sobre otra, las múltiples voces – ajenas y propias –, que suenan en cualquier conciencia individual“ (1997, 166). 61 In seiner Auseinandersetzung mit Benedict Anderson bezeichnet Jonathan Culler diese Eigenschaft des Romans als „its open invitation to readers of different conditions to become insiders“ (1999, 38). 62 Hans-Joachim Lope geht sogar so weit, in den „divinas luces“ (219), die sich Gazel von einem erneuten Aufenthalt in Europa verspricht, auch einen möglichen Religionswechsel angedeutet zu sehen: „Zwar wird nicht gesagt, was er mit den ‘divinas luces’ meint, von denen er hofft, dass sie bei seiner Rückkehr nach Europa den letzten Rest von Dunkelheit aus seinem Herzen vertreiben mögen, aber der Gedanke liegt nahe, dass er dann möglicherweise zum Christentum übertreten wird.“ (1973, 37) Angesichts des aufgeklärten Verständnisses von „divinas luces“ als dem Menschen von Gott eingepflanzter Vernunft und im Hinblick auf das nüchterne Verhältnis zur
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Sichtweise unterstreicht indessen nur erneut, dass Cadalsos Leistung nicht allein darin liegt, der spanischen Literatur das aufklärerische Potenzial der neuen Gattung des Briefromans erschlossen zu haben, sondern vor allem auch dessen identitätsstiftende Kraft.
Religion, das in den Cartas marruecas vorherrscht, kann Lopes Vermutung aber nicht überzeugen.
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Nachdem zu Beginn der vorliegenden Untersuchung im einleitenden Kapitel „Textauswahl und thematischer Aufriss“ bereits eine chronologische Darstellung der im Einzelnen behandelten Fragen und Gegenstände gegeben wurde, möchte ich mich abschließend vor allem auf eine Zusammenfassung der Ergebnisse der Textanalysen konzentrieren – aus einem stärker systematischen Blickwinkel und unter weitgehendem Verzicht auf die Rekapitulation der literar- und kulturhistorischen Rahmenbedingungen. Den Ausgangspunkt der Arbeit bildete die Beobachtung, dass die sich in Spanien in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts formierende Aufklärungsbewegung, die Entwicklung der Literatur in Richtung eines Züge von Eigenständigkeit aufweisenden Symbol- und Sozialsystems und die Entstehung eines die innerspanische Reflexion über Spanien bis ins 20. Jahrhundert, ja im Grunde bis heute, prägenden Identitätsdiskurses einen kulturspezifischen Zusammenhang bilden, der sich in dieser Zeit und in dieser Form in den übrigen europäischen Ländern nicht findet. Eines meiner beiden Hauptziele war es, den Konnex zwischen diesen drei Phänomenen herauszuarbeiten. Natürlich wurden diese auch bisher nicht nur isoliert voneinander wahrgenommen. Dazu waren die Orientierung der spanischen Aufklärungsbewegung am Wohl der eigenen Nation und die Präsenz der Identitätsthematik in der spanischen Literatur der Zeit viel zu offensichtlich. Was jedoch fehlte, war der Versuch, sie aus einer genuin literarischen Sichtweise aufeinander zu beziehen. Konkret ließ sich daraus die Aufgabe ableiten, einen Diskurs, in dem Aufklärungs- und Identitätsthematik eine untrennba-
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re Verbindung eingehen, nicht weiter medien- und gattungsindifferent zu betrachten, sondern den spezifischen Anteil der Literatur an der Modellierung dieses Diskurses, der ihm zugrunde liegenden Identitätskonzepte und der in ihm wirksamen Identitätsstrategien zu verdeutlichen und gleichzeitig die Auswirkungen dieses Diskurses auf die Themen, Formen, Verfahren und Funktionen der Literatur und ihres historischen Wandels zu untersuchen. Mit der Bewältigung dieser Aufgabe verband sich jedoch noch ein anderes Ziel, das bereits im Titel der Arbeit „Identität der Aufklärung/Aufklärung der Identität“ zum Ausdruck kommt: das Ziel, gerade jene Phänomene in ein positives Licht zu rücken und im Hinblick auf ihre kulturelle Leistung zu betrachten, die überwiegend als Defizite und Entwicklungshemmnisse erscheinen, solange man eine Perspektive einnimmt, die sich hauptsächlich am Verlauf der Aufklärungsbewegungen und der literarischen Evolution in den restlichen Ländern Europas, insbesondere natürlich Frankreichs, orientiert. Mit dem Identitätsbegriff ist meiner Auffassung nach eine Kategorie gefunden, die der Eigenart der spanischen Aufklärung gerecht wird, ohne sie von vornherein Maßstäben auszusetzen, die unweigerlich negative Werturteile implizieren. Dasselbe gilt für den Begriff der „Kontextgebundenheit“, dem im Hinblick auf die kulturellen und literarischen Sachverhalte, die im Zentrum der Arbeit stehen, ein privilegierter Deutungsanspruch eingeräumt wird. Die Anregung dazu stammt von dem Philosophen Stephen Toulmin (Kosmopolis, 1990), der in der Kontextgebundenheit das dominante Merkmal der von ihm als erste Moderne aufgewerteten Phase des Renaissance-Humanismus sieht, gegen die sich die intendierte „Kontextfreiheit“ jener zweiten, im 17. Jahrhundert einsetzenden Phase der Moderne, die wir üblicherweise mit der Moderne überhaupt identifizieren, abhebt. Typologisch gesehen, aber auch hinsichtlich der historischen Orientierung an der von Toulmin als erste Moderne beschriebenen Epoche, erscheint der Begriff der Kontextbindung besonders geeignet, um die spezifische Differenz der spanischen Aufklärung zu charakterisieren. Mit der Absicht, den synthetischen und polymorphen, semantisch und moralisch überfrachteten Begriff der Identität in ein operables Instrument zur Analyse von Kulturen und Texten zu verwandeln,
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wurde die folgende Definition vorgeschlagen: „Identität ist das Bewusstsein bzw. die Vorstellung einer Einheit und Eigenart, die sich an der Leitdifferenz Eigenes/Fremdes orientiert und die selbst als Produkt der Anwendung oder des Vollzugs einer solchen differenziellen Basisoperation aufzufassen ist“. Dieser im weitesten Sinne kommunikationsbezogene Identitätsbegriff lässt sich dann je nach konkretem Erkenntnisinteresse und Anwendungsbereich in dreifacher Weise präzisieren: semiotisch, als denotativer bzw. konnotativer Akt, hermeneutisch, als Zuschreibung, die auf einer vorgängigen Interpretation beruht, oder diskurshistorisch, als kulturelle und gesellschaftliche Ermöglichungsbedingung individueller Bezeichnungs- und Interpretationsakte. Um das Verhältnis von Identität und Literatur mit Hilfe dieses kommunikationsbezogenen, einen semiotischen, hermeneutischen und diskurshistorischen Ansatz integrierenden Identitätsbegriffs so umfassend wie detailliert bestimmen zu können, wurde der komplexe Gegenstandsbereich „Literatur“ in vier Teilgebiete aufgespaltet: 1. Thematik (Objektivierungen der Identität im Text, identitätsrelevante Gegenstände, Identitätskonzepte und -strategien, metatextuelle Elemente); 2. Poetik (literarische Formung durch rhetorische, poetische, diskursive, narrative und dramatische Verfahren, Intertextualität); 3. Pragmatik (Gattungsproblematik, kommunikative Leistung, Texte als Modelle des Sozialverhaltens und Orte kultureller Identitätsverhandlungen) und 4. sozialer Kontext (Selbstverständnis der Autoren, Nähe/Ferne zur Macht, Institutionen, Interessen). Diese Gebiete bilden den Bezugsrahmen, in dem sich die Textanalysen, die den Hauptteil der Arbeit ausmachen, bewegen. Im Einzelnen wurden die folgenden fünf Texte, die vier verschiedenen, allesamt nicht-kanonisierten Gattungen angehören, auf ihre jeweiligen Wechselbeziehungen mit dem spanischen Identitätsdiskurs hin untersucht: Benito Jerónimo Feijoos Essaysammlung Teatro crítico universal (1726-1740), das Gelehrtenjournal Diario de los literatos de España (1737-1742), José Cadalsos Apologie Defensa de la nación española contra la „carta persiana LXXVIII“ de Montesquieu (1768/1771), Juan Pablo Forners Apologie Oración apologética por la España y su mérito literario (1786) und schließlich José Cadalsos Briefroman Cartas marruecas (1774/1789). Da die Textanalysen jeweils zwar alle vier genannten Teilbereiche be-
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rühren, selbst jedoch bewusst unsystematisch aufgebaut sind und unterschiedliche Schwerpunkte setzen, sollen nun an dieser Stelle die Ergebnisse noch einmal unter den genannten systematischen Gesichtspunkten zusammengefasst werden: 1. In Bezug auf die Art, in der Identität im Rahmen der europäischen Aufklärung üblicherweise zum Thema gemacht wird, kann Feijoos Teatro crítico universal als repräsentativ gelten. Das aufklärungsbedürftige Eigene wird bei ihm zum Fremden erklärt, wohingegen dem Fremden, das in Gestalt des vernünftigen und fortschrittsversprechenden Neuen auftritt, die Stelle des Eigenen zugedacht ist. Der angestrebte Identitätswandel wird in erster Linie als Prozess der Wissensvermittlung aufgefasst. Die axiologische Neuausrichtung der Gesellschaft im Sinne der Aufklärungsprogrammatik geht einerseits mit der Entwicklung eines Kulturbegriffs einher, der sich im Wesentlichen durch den Gegensatz zur Natur definiert und die Reflexion eigen- und fremdkultureller Phänomene einschließt, und andererseits mit der Befürwortung eines modernen Nationenverständnisses, das allerdings, wie gezeigt werden konnte, mit begriffsgeschichtlichen Mitteln allein nicht adäquat erfasst werden kann, denn Feijoo ist von der Sache her immer schon weiter, als es die von ihm verwendeten Begriffe erkennen lassen. Das gelehrte Rezensionsorgan Diario de los literatos de España knüpft an die traditionskritische und logozentrische Grundhaltung Feijoos an und greift, wie dieser, nur aus strategischen Gründen auch ethnozentrische Argumentationsformen auf. Unterdessen entwickelt sich die Idee der Nation zum allgegenwärtigen Horizont und durchzieht als transdiskursives Konzept die Rezensionen aus den unterschiedlichsten Wissengebieten. Mit Cadalsos Defensa de la nación española contra la „carta persiana LXXVIII“ de Montesquieu wandelt sich das Bild: In einem mehr oder weniger gewollten Missverständnis nimmt Cadalso Montesquieus „Spanienbrief“ aus den Lettres Persanes (1721) zum Anlass für eine nationale Ausrichtung der spanischen Kultur, bleibt dabei jedoch einem gemeinsamen europäischen Kanon universaler Werte verpflichtet. Dieser Kanon wird von Forners Oración apologética por la España y su mérito literario in einer polemischen Weise aufgekündigt, die leicht den Umstand übersehen lässt, dass er eine durchaus ernstzunehmende Kritik der Moderne vorbringt, die darüber hinaus von einem Gegenvorschlag flankiert
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wird, in dem Forner das uneingelöste Reformpotenzial des Renaissance-Humanismus (Vives/ Bacon) in Erinnerung ruft. Im scharfen Gegensatz dazu entwickelt Cadalso in den Cartas marruecas ein offenes, dynamisches und reflexives Identitätskonzept, das zwar auch dezidiert auf die Nation bezogen ist, aber gleichzeitig die Entstehung und Wirkung von stereotypen Fremdbildern und die Konstruktion von Selbstbildern einer kritischen Analyse unterzieht. 2. Was den als Poetik bezeichneten Teilbereich angeht, ist festzustellen, dass alle hier behandelten Texte im Gattungssystem der Zeit eine gewisse Pionierrolle einnehmen, die nicht von ihrer Beziehung zum spanischen Identitätsdiskurs abzutrennen ist. So begründet Feijoo mit seinen kontextoffenen, unsystematischen und antirhetorischen discursos, die in seinen Augen der aktuellen Bedürfnislage des Landes am besten entsprechen, in Spanien die Form des Essays. Formale und funktionale Ähnlichkeit mit Feijoos discursos haben auch die Rezensionen des Diario de los literatos de España, mit dem das moderne Pressewesen in Spanien – als Ergebnis eines von den Herausgebern bewusst geleisteten Kulturtransfers – begründet wird. Mit Cadalsos Defensa wiederum nimmt die traditionsreiche Gattung der Apologie in Spanien zum ersten Mal eine nationale Wendung. Dabei zeichnet sich Cadalsos Streitschrift gleichzeitig durch einen ausgeprägt dialogischen Charakter aus und bleibt durch ihre Kommentarform vom fremden Bezugstext – dem 78. Brief aus Montesquieus Lettres persanes – abhängig. Von diesem Manko will Forner die Gattung mit seiner monologisch ausgerichteten Oración befreien. Zugleich nimmt er eine poetologisch aufschlussreiche Positionierung zwischen Rhetorik und Dichtung vor, die eng mit der von ihm beanspruchten Aufgabe des Schriftstellers als Fürsprecher der Nation zusammenhängt. Cadalso schließlich führt mit den Cartas marruecas die Gattung des Briefromans in die spanische Literatur des 18. Jahrhunderts ein und nimmt mit der Privilegierung der nationalen Thematik und der funktionalen Aufwertung der afrikanischen Fremdperspektive eine kulturelle Rezentrierung des ausländischen, vor allem durch Montesquieus Lettres persanes repräsentierten Modells vor. 3. In pragmatischer Hinsicht ist festzuhalten, dass Feijoos Teatro crítico universal mit seinen Popularisierungsstrategien als Interdiskurs (im Sinne Jürgen Links) fungiert, der durch die Reintegration von
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Spezialwissen und die Vernetzung unterschiedlicher Diskurse die Zirkulation des Wissens innerhalb der spanischen Kultur, aber auch den interkulturellen Wissenstransfer mit den übrigen europäischen Nationen nachhaltig belebt. Der Diario de los literatos de España trägt dagegen vor allem zur Konstruktion eines spezielleren Wissens- und Handlungsraums bei: der nationalen Gelehrtenrepublik, die allerdings durch die neue journalistische Form und den popularisierenden Anspruch der diaristas gleich wieder unterminiert wird. Den einzelnen Rezensionen fällt dabei die Aufgabe zu, die Grundlinien aufgeklärter Identität auszuhandeln, indem sie Wissen aus fremden Diskursen nach gattungsspezifischen Vorgaben verarbeiten und anderen kulturellen Verwendungen zuleiten. Die herausgehobene Rolle, die Apologien wie Cadalsos Defensa und Forners Oración im Gattungssystem der Zeit zukommt, ist wiederum ein untrügliches Indiz für den allgemeinen Funktionswandel der Literatur in Spanien, in dessen Folge die Formung und Festigung der eigenen kulturellen und nationalen Identität zu einer zentralen Aufgabe wird. Das vielschichtigste Zeugnis dieser Entwicklung ist zweifellos Cadalsos multiperspektivischer Reise- und Briefroman Cartas marruecas, der sich von dem antagonistischen Modus der Identitätsbildung, die Forners Oración auszeichnet, fundamental unterscheidet. Unter Ausnutzung genuin romanhafter Möglichkeiten (Narration/Fiktion) liefern die Cartas marruecas die Grundlage für eine Vorstellung der Nation (im Verständnis Benedict Andersons) und entwerfen zugleich eine nicht mehr vorrangig erkenntnistheoretisch relevante Konstellation, sondern das in erster Linie ethisch begründete Verhaltensmodell einer interkulturellen Begegnung, die keine der beiden Seiten unverändert lässt – ein Verhaltensmodell, das unter Umständen auch als subtiler Versuch einer Überredung zur spanischen Nation und ihrer Kultur gedeutet werden kann. In seinem utopischen, kontrafaktischen Charakter verweist es aber in jedem Fall auf eine reale Situation, in der genau diese Form der interkulturellen Kommunikation, die den Regeln der Vernunft und des Herzens folgt, als hochgradig gestört gilt. 4. Im Hinblick auf die Bedeutung des sozialen Kontextes ist zunächst Feijoos große Nähe zu den Institutionen Kirche und Monarchie anzuführen, die vor der Kontrastfolie der sich primär gegen diese beiden Institutionen profilierenden französischen
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Aufklärung generell als paradigmatisch für die spezifischen Grenzen der spanischen Aufklärungsbewegung angesehen wird. Im Fall des Diario de los literatos de España konnte gezeigt werden, dass die machtgeschützte Berufung auf die Nation als oberstem Handlungsziel auch als Legitimationsstrategie zur Durchsetzung der neuen sozialen Rolle des Kritikers und als Machtstrategie zur Bekämpfung unliebsamer Gegner, wie beispielsweise des Valencianer Gelehrten Gregorio Mayans y Siscar, eingesetzt werden konnte. In welchem Maße sich politische und private Erfolgsstrategien vor allem auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an der Frage der kulturellen und nationalen Identität entscheiden, ließ sich wiederum am Beispiel der Umstände nachvollziehen, unter denen Forners Oración im Jahr 1786 veröffentlicht wurde. Wie schließlich die Selbstdefinition Cadalsos in der Defensa, aber auch das Vorwort zu den Cartas marruecas zeigen, war die Literatur angesichts des Verhältnisses von Literatur und Gesellschaft im 18. Jahrhundert der einzige Ort, an dem sich ein Schriftsteller – wenn überhaupt – als autonom inszenieren konnte.
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Literaturverzeichnis
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PERSONENVERZEICHNIS
Abellán, José Luis 61, 328 Adorno, Theodor W. 33, 328 Aguilar Piñal, Francisco 42, 72, 76, 108, 174, 188, 259, 301, 328, 329, 337, 346 Aguirre, Jesús 103, 329 Ahmad ibn al-Muhdi al-Gazzâl 279 Alarcón, Pedro Antonio de 79, 300, 325 Albertan-Coppola, Sylviane 188, 329 Albiac, María Dolores 272, 329 Alborg, Juan Luis 119, 129, 170, 174, 188, 198, 230, 241, 272, 301, 329 Albrecht, Corinna 360 Alfons X., der Weise 108 Álvarez Barrientos, Joaquín 15, 17, 41, 107, 109, 301, 302, 303, 329, 357, 359 Álvarez de Cienfuegos, Nicasio 105 Álvarez de Miranda, Pedro 17, 66, 68, 76, 121, 128, 129, 130, 137, 142, 143, 144, 146, 148, 159, 170, 176, 177, 293, 301, 304, 329 Álvarez Santaló, León Carlos 329 Amalric, Jean-Pierre 78, 329 Amorós, Andrés 253, 330 Anderson, Benedict 49, 148, 305, 306, 307, 309, 315, 322, 330, 334 Andrés, Juan 198 Anés Álvarez, Gonzalo 199, 330 Anes, Georges 330 Antonio, Nicolás 250
Aradra Sánchez, Rosa María 259, 267, 330 Aranda, Conde de 52, 103, 104, 253, 329, 353 Arce, Joaquín 106, 261, 284, 325, 330 Arendt, Hannah 178, 330 Arnscheidt, Gero 15, 57, 330 Artola, Miguel 61, 330 Assmann, Aleida 26, 28, 330, 359, 360 Assmann, Jan 26, 29, 31, 187, 330 Azara, José Nicolás de 293 Azorín 71 Baasner, Frank 157, 198, 330 Bachmann-Medick, Doris 29, 82, 331 Bacon, Francis 20, 119, 120, 122, 129, 247, 248, 249, 321 Bahner, Werner 21, 331 Balagtas, Francisco 306 Barco, Antonio Jacobo del 90 Barrera del Barrio, Carlos 164, 354 Barrès, Maurice 79, 325 Barrière, Pierre 203, 331 Baßler, Moritz 19, 37, 331 Bayle, Pierre 22, 116, 130, 162, 325, 358 Beaumarchais, Pierre-Augustin Caron de 78 Bendix, Reinhard 58, 239, 331 Bennassar, Bartolomé u. Lucile 288, 331 Berlon, Mariano 200, 325
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Identität der Aufklärung/Aufklärung der Identität
Bernecker, Walther L. 52, 331 Bhabha, Homi K. 49, 178, 273, 331, Bismarck, Otto von 50 Blanco White, José María 76 Bloom, Harold 40, 214, 331 Blumenberg, Hans 158, 159, 170, 331 Boileau, Nicolas 174, 266, 325 Boixareù, Mercè 78, 329, 331, 335 Bolufer Peruga, Mónica 14, 331 Bonaparte, Joseph 295 Bonaparte, Napoleon 59, 60, 73, 90, 91, 92, 295, 359 Borrego, Tomás 252 Bourdieu, Pierre 17, 18, 332, 344, 345 Boyle, Robert 119, 131, 133, 136 Bray, René 80, 332 Bremer, Klaus-Jürgen 97, 272, 274, 277, 279, 300, 332 Broc, Numa 83, 332 Brockmeier, Peter 122, 332 Bueno Martínez, Gustavo 40, 129, 332 Burke, Peter 70, 332 Burriel, Andrés Marcos 179 Caballero, Fernán 293, 325 Cadalso, José 16, 39, 40, 41, 44, 45, 52, 62, 67, 68, 69, 76, 93, 94, 97, 98, 105, 107, 110, 111, 116, 142, 143, 172, 185225, 230, 238, 241, 249, 256, 261, 271316, 319, 320, 321, 322, 323, 325, 326, 329, 330, 332, 333, 334, 335, 337, 338, 339, 342, 346, 347, 348, 349, 350, 352, 354, 355, 358, 360, 361 Calderón de la Barca, Pedro 104, 122 Camarero, Manuel 272, 279, 280, 282, 284, 285, 308, 332 Campomanes, Conde de 253 Cañas Murillo, Jesús 15, 41, 202, 227, 228, 232, 247, 255, 261, 327, 332, 333, 334, 335, 343, 347, 348, 349, 356 Canavaggio, Jean 332, 340 Canchudo, Josef (Pseudonym) 201
Canovas del Castillo, Antonio 83 Cantos Casenave, Marietta 15, 332 Cañuelo, Luis 68, 76, 183, 201, 235, 236, 238, 246, 247, 248, 249, 292, 293, 294, Capmany, Antonio de 61, 73, 74, 77, 91, 143, 144, 157, 197, 198, 201, 208, 213, 231, 295, 296, 326, 337 Caraccioli, Francesco 84 Carbonell, Marta Cristina 258, 333 Carnero, Guillermo 15, 103, 188, 266, 301, 333, 339, 348, 349, 350, 355 Caro Baroja, Julio 55, 74, 142, 333 Casas, Bartolomé de las 105 Caso González, José Miguel 120, 128, 274, 326, 327, 333 Cassirer, Ernst 19, 123, 333 Castañón Díaz, Jesús 155, 161, 164, 172, 173, 179, 182, 334 Castro, Américo 79, 261, 300 Cavanilles, Antonio 199, 200, 235, 236, 237 Cavour, Camillo Benso di 50 Cebrián, José 14, 334 Ceñal, Ramón 130, 334 Cervantes, Miguel de 55, 107, 153, 256, 273 Chasselas de Troyes, M. de 90 Checa Beltrán, José 14, 107, 259, 266, 267, 334 Chen Sham, Jorge 272, 283, 300, 311, 334 Cicero, Marcus Tullius 263, 264 Clavijo y Fajardo, José 68, 76, 313, 336 Cohen, William B. 83, 334 Conrad, Christoph 78, 334, 354 Cook, John A. 103, 334 Cornaro, Giovanni 79 Cortés, Hernán 108, 335, 360 Cotton, Emily 279, 334 Cruz, Ramón de la 76, 77, 326 Cruzado, Javier 179, 334 Cuesta, Leonardo Antonio de la 130 Culler, Jonathan 306, 315, 334 Curtius, Ernst Robert 122, 334
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Personenverzeichnis
Dale, Scott 272, 289, 300, 301, 311, 312, 334 Dann, Otto 142, 334 Deacon, Philip 183, 202, 277, 334, 335 Deciu Ritivoi, Andreea 335 Dédéyan, Charles 219, 221, 335 Defourneaux, Marcelin 94, 196, 335 Denina, Carlo Giovanni Maria 171, 189, 190, 200, 235, 236, 237, 238, 246, 250, 251, 255, 257, 262, 326, 327, 341 Derrida, Jacques 33, 251, 335 Descartes, René 21, 119, 120, 136, 241, 245, 247, 248 Desné, Roland 78, 203, 204, 335 Diderot, Denis 33, 78, 87, 332, 357 Diez del Corral, Luis 203, 335 Di Pinto, Mario 335, 337, 338, 347, 361 Diz, Alejandro 14, 40, 55, 78, 335 Domergue, Lucienne 272, 283, 335 Domínguez Ortiz, Antonio 52, 95, 96, 101, 119, 272, 277, 281, 329, 335, 349 Dostojewskij, Fjodor M. 211 Dowling, John 108, 335 Dülmen, Richard von 246, 336, 358 Dupriez, Bernard 260, 336 Durán Lopez, Fernando 16, 336 Duviols, Jean-Pierre 15, 329, 348, 350, 335 Eagleton, Terry 59, 60, 336 Eder, Klaus 336 Egido, Teófanes 336 Eisenstadt, Shmuel Noah 336 Elias, Norbert 59, 60, 336 Elizalde Armendaríz, Ignacio 119, 336 Elorza, Antonio 203, 336 Enciso Recio, Luis Miguel 154, 336 Erasmus von Rotterdam 20 Erikson, Erik H. 26 Ertler, Klaus-Dieter 14, 16, 18, 22, 40, 109, 273, 277, 301, 336, 337 Escartín, Joaquín de 202, 262
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Escobar, José 76, 337 Etienvre, Françoise 73, 91, 326, 337 Fabbri, Maurizio 108, 308, 335, 337 Feijoo, Benito Jerónimo 39, 40, 41, 44, 52, 55, 61, 61, 69, 72, 73, 80, 82, 96, 97, 98, 109, 111, 115-151, 172, 173, 175, 179, 181, 185, 189, 195, 208, 220, 224, 241, 285, 290, 292, 293, 319, 320, 321, 322, 326, 332, 333, 334, 335, 336, 348, 349, 350, 352, 353, 354, 356, 357, 359 Fendler, Ute 83, 337 Fernández Albaladejo, Pablo 52, 337 Fernández de Lizardi, José Joaquín 306 Fernández de Moratín, Leandro 93, 103, 299, 326 Fernández de Moratín, Nicolás 76, 104, 105 Fernández Herr, Elena 78, 81, 82, 186, 203, 337 Fernández Navarrete, Francisco 165, 172 Figueiredo, Fidelino de 57, 337 Fink-Eitel, Hinrich 163, 337 Flasche, Hans 40, 337 Floeck, Wilfried 16, 40, 78, 86, 92, 93, 188, 199, 201, 301, 337, 338 Floridablanca, Conde de 52, 72, 98, 195, 252, 253, 255 Foucault, Michel 26, 29, 29, 127, 162, 211, 337, 338, 341 Fontenelle, Bernard le Bovier de 22, 116 Forner, Juan Pablo 39, 40, 41, 45, 52, 61, 62, 67, 76, 93, 97, 98, 108, 111, 119, 142, 143, 170, 172, 180, 183, 184, 185, 189, 190, 195, 200, 201, 202, 225, 227271, 272, 285, 286, 294, 319, 320, 321, 322, 323, 326, 327, 332, 333, 334, 335, 344, 346, 347, 348, 349, 350, 354, 355, 356, 358, 361 Fox, Inman 54, 338
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Francis, Emerich 49 Franco, Dolores 40, 55, 57, 338 Frank, Ana Isabel 308, 338 Frank, Christoph 14, 338, 357 Franzbach, Martin 40, 338 Friese, Heidrun 26, 28, 330, 359, 360 Froldi, Rinaldo 15, 338, 339 Fuente, Bienvenido de la 62, 338 Fusi, Juan Pablo 14, 50, 51, 53, 56, 70, 71, 261, 338 Gadamer, Hans-Georg 215, 338 Galilei, Galileo 131 Galle, Roland 40, 338, 360 García Camarero, Enrique 40, 55, 229, 338 García Camarero, Ernesto 40, 55, 229, 338 García Cárcel, Ricardo 55, 78, 86, 163, 182, 184, 198, 243, 338, 339, 353 García de la Huerta, Vicente 105, 200 García-Pandavenes, Elsa 183, 195, 229, 246, 326, 339 Garelli, Patrizia 15, 339 Gassendi, Pierre 119, 124, 136 Geertz, Clifford 19 Gellner, Ernest 49, 339 Gelz, Andreas 9, 10, 14, 52, 109, 272, 329, 336, 339, 341, 344, 345, 358, 359, 360 Genette, Gérard 189, 251, 339 Gil-Albarellos Pérez Pedrero, Susana 14, 339 Giesen, Bernhard 30, 66, 95, 218, 331, 336, 339 Gipper, Andreas 128, 339 Glendinning, Nigel 186, 272, 280, 284, 325, 339 Godoy, Manuel de 53, 144, 253 Godzich, Wlad 102, 107, 339 Goethe, Johann Wolfgang von 54 Goldzink, Jean 206, 221, 276, 339
Gómez Aparicio, Pedro 339 Goodrich, Peter 189, 340 Gothart-Mix, York 340 Goya, Francisco de 14, 74, 138, 295, 296, 342, 355 Goytisolo, Juan 79, 261, 300, 340 Gracián, Baltasar 122, 240 Graef, Juan Enrique de 90, 90, 327 Graffigny, Madame de 275 Graille, Patrick 84, 340 Grant, Edward 131, 340 Greenblatt, Stephen 36, 37, 166, 331, 340 Greilich, Susanne 83, 337 Groys, Boris 58, 340 Gründer, Karlfried 351 Guinard, Paul-Jacques 154, 155, 161, 162, 178, 182, 183, 340 Gumbrecht, Hans Ulrich 17, 22, 35, 40, 66, 67, 69, 74, 75, 76, 95, 115, 194, 206, 216, 224, 243, 244, 262, 272, 285, 340 Gunia, Inke 18, 341 Gutiérrez, Jesús 237, 341 Habermas, Jürgen 17, 20, 22, 23, 50, 124, 177, 341 Hadrian (Publius Aelius Hadrianus) 238, 260 Hänsel, Sylvaine 14, 338, 357 Hafter, Monroe Z. 177, 341 Haidt, Rebecca 15, 272, 298, 305, 341 Hazard, Paul 231 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 302, 304, 350 Heinrich IV. 21 Herder, Johann Gottfried 60, 61, 136 Hernández Sánchez-Barba, Mario 54, 341 Herr, Richard 54, 95, 199, 233, 342 Herrero, Javier 231, 342 Hertel-Mesenhöller, Heike 14, 16, 17, 277, 302, 342
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Personenverzeichnis
Hilgendorf, Eric 188, 345 Hinterhäuser, Hans 40, 55, 230, 342 Hobsbawm, Eric J. 49, 50, 54, 342 Huerta Calvo, Javier 14, 42, 342 Huerta y Vega, Francisco Javier Manuel de la 154, 182 Hughes, John B. 272, 274, 342 Hulliung, Mark 87, 203, 208, 211, 342 Iarocci, Michael P. 272, 313, 315, 342 Iglesias, María del Carmen 55, 56, 57, 65, 66, 70, 78, 85, 203, 221, 342, 349 Iriarte, Bernardo de 94, 103, 196, 201, 292 Iriarte, Juan de 76, 94, 173, 174 Iriarte, Tomás de 201, 273, 283, 292 Irving, Washington 79, 327 Iser, Wolfgang 38 Isla, José Francisco de 16 Jacobs, Helmut C. 14, 17, 108, 168, 240, 267, 342 Jaén y Castillo, Alonso 280 Jauß, Hans Robert 257, 343 Jeismann, Michael 78 Jovellanos, Gaspar Melchor de 17, 52, 62, 67, 68, 102, 103, 104, 105, 106, 115, 327, 333, 343, 354 Jover Zamora, José María 95, 154, 336, 348 Juderías, Julián 78, 79, 198, 343 Juliá, Santos 55, 57, 344 Jung, Thomas 137, 344 Jurado, José 202, 228, 327, 344 Jurt, Joseph 18, 78, 86, 344, 345 Jüttner, Siegfried 10, 14, 15, 17, 40, 41, 42, 62, 71, 72, 77, 91, 93, 95, 153, 154, 155, 165, 170, 182, 253, 254, 268, 330, 337, 338, 343, 344, 345, 347, 350, 351, 352, 354, 355, 357, 358, 359, 361 Kamen, Henry 70, 91, 163, 345 Kant, Immanuel 20, 21, 123, 341, 345
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Kany, Charles E. 74, 75, 345 Karl III. 39, 51, 53, 72, 97, 104, 117, 184, 192, 231, 233, 253, 280, 281 Kartodikromo, Mas Marco 306 Katharina II. 57 Kienzler, Klaus 188, 345 Kilian, Elena 14, 17, 272, 302, 345 Klever, Wim 131, 345 Kloss, Benjamin 66, 68, 345 Kohl, Karl-Heinz 31, 168, 345 Komorowski, Manfred 78, 87, 203, 239, 345 Kossok, Manfred 15, 345 Krauss, Werner 15, 65, 68, 76, 77, 166, 257, 346 Kristeva, Julia 33, 212, 335, 346, 350 Krömer, Wolfram 173, 266, 267, 346 Laborde, Paul 272, 346 Lafarga, Francisco 200, 325, 335, 346 Lafuente, Antonio 131, 346 Lama, Miguel Ángel 41, 232, 333, 334, 335, 347, 348, 349, 356 Ladero Quesada, Miguel Ángel 70, 346 La Rubia Prado, Francisco 272, 277, 346, 358 Laughrin, Mary Fidelia 229, 346 Lauria, Roger de 105 Lausberg, Heinrich 260, 346 Lefere, Robin 78, 329, 331, 335 Lemos, Luis 172 Link, Jürgen 126, 127, 321, 340, 346, 347 Link-Heer, Ursula 242, 347 Llaguno y Amírola, Eugenio 253 Llampillas, Francisco Xavier 198, 199, 356 Locke, John 120 Lope, Hans-Joachim 14, 15, 16, 40, 69, 104, 185, 186, 199, 237, 272, 279, 280, 282, 300, 311, 313, 315, 33, 343, 344, 347, 348 Lopez, François 56, 61, 80, 94, 182, 183, 186, 192, 193, 195, 198, 199, 200, 201,
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Identität der Aufklärung/Aufklärung der Identität
202, 207, 225, 227, 229, 230, 231, 232, 234, 237, 243, 247, 251, 253, 254, 255, 258, 262, 264, 266, 272, 274, 293-294, 327, 329, 347-348, 359 López-Cordón Cortezo, María Victoria 348 López de Ayala, Ignacio 105 López Fanego, Otilia 129, 348 Lorenzo Álvarez, Elena de 14, 348 Lotman, Jurij 30 Lourido, Ramón 280, 281, 282, 359 Ludwig XIV. 69, 287 Lüsebrink, Hans-Jürgen 33, 337, 348 Luhmann, Niklas 17, 18, 19, 37, 38, 348 Lukács, Georg 302 Lukan (Marcus Annaeus Lucanus) 238, 260 Luna, Álvaro de 105 Luzán, Ignacio de 41, 68, 102, 153, 155, 173, 253, 266, 327, 353 Man, Paul de 214 Mañer, Salvador José 153 Maravall, José Antonio 51, 76, 102, 120, 210, 230, 231, 234, 249, 254, 274, 348, 349 Marchena, José 201 Marchetti, Giovanni 15, 339 Marco, Joaquín 42, 349 Marías, Julián 51, 52, 56, 92, 95, 171, 172, 192, 197, 198, 199, 202, 204, 228, 231, 247, 262, 264, 326, 349 Marichal, Juan 148 Marín, Nicolás 155 Martial (Marcus Valerius Martialis) 260 Martínez Mata, Emilio 272, 283, 284, 326, 349 Martínez de Salafranca, Juan 154, 179, 180, 182 Martínez Shaw, Carlos 95, 349 Masdeu, Juan Francisco 198, 199 Mass, Edgar 301
Masseau, Didier 239, 349 Masson de Morvilliers, Nicolas 43, 59, 81, 108, 109, 110, 190, 196, 199, 200, 201, 202, 227, 235, 236, 237, 239, 240, 241, 253, 327, 337 Matzat, Wolfgang 23, 26, 349 Mayans y Siscar, Gregorio 107, 153, 155, 179, 180, 181, 182, 183, 232, 323, 334, 350, 353 McClelland, Ivy Lillian 119, 130, 349 McLuhan, Herbert Marshall 160, 349 Mead, George Herbert 26 Mecke, Jochen 9, 10, 55, 349 Meinecke, Friedrich 50, 349 Meléndez Valdés, Juan 105, 106, 277, 279, 327, 334 Melón Jiménez, Miguel Ángel 68, 349 Menéndez Pelayo, Marcelino 85, 154, 155, 229, 230, 243, 247, 262, 271, 334, 350, 353, 355 Menéndez Pidal, Ramón 57, 261, 350 Mercadier, Guy, 185, 196, 221, 224, 230, 292, 325, 350 Mercier, Roger 83, 350 Merle, Alexandra 272, 350 Mestre Sanchís, Antonio 14, 56, 61, 110, 118, 119, 120, 149, 163, 179, 181, 182, 193, 195, 198, 350 Molinié, Annie 15, 329, 348, 350, 355 Mollfulleda, Santiago 228, 234, 327, 350 Monjour, Alf 174, 350 Montaigne, Michel de 20, 32, 116, 122, 125, 129, 348 Montengón, Pedro de 16 Montesquieu, Baron de 26, 33, 39, 43, 44, 45, 66, 69, 78, 85, 86, 87, 88, 92, 94, 97, 107, 110, 111, 116, 123, 126, 185-225, 230, 271, 272, 274, 275, 276, 277, 281, 284, 286, 288, 289, 291, 303, 304, 305, 311, 319, 320, 321, 325, 327, 328, 331, 332, 335, 339, 342, 346, 350, 352, 361 Montiano y Luyando, Agustín 105
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Personenverzeichnis
Moreris, Louis 130 Mukařovský, Jan 167, 223, 351 Müller-Funk, Wolfgang 27, 212, 350 Muñoz, Juan Bautista 193 Nasarre y Férriz, Blas Antonio 180 Nebrija, Antonio de 238 Nerlich, Michael 108, 351 Neumeister, Sebastian 22, 351 Newton, Isaac 21, 22, 119, 120, 241, 245, 247, 248 Niedermayer, Franz 57, 351 Niethammer, Lutz 25, 351 Nipho, Francisco Mariano 68, 76, 77 Nora, Pierre 108 Nuix y Perpiñás, Juan 198, 357 Nuñez de Balboa, Vasco 105 Nünning, Ansgar 19, 331, 348, 351, 360 Nünning, Vera 19, 331, 348, 351, 360 Oesterreicher, Wulf 351 Olavide, Pablo de 95, 103, 253, 335 Onaindía, Mario 14, 40, 54, 55, 149, 233, 274, 351 Ortega y Gasset, José 14, 51, 55, 261, 351 Ovid (Publius Ovidius Naso) 242, 243 Pageaux, Daniel-Henri 78, 89, 351 Palacio Atard, Vicente 61, 74, 352 Palacios Fernández, Emilio 14, 42, 342, 352 Palacios Rico, Germán 119, 352 Panckoucke, Charles-Joseph 199, 327 Papin, Denis 131 Pedraza Jiménez, Felipe B. 115, 352 Pereira, José 235 Pérez Galdós, Benito 79, 300, 328 Pérez Magallón, Jesús 14, 102, 103, 272, 301, 352 Perrault, Charles 66 Peter der Große 57
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Pfeiffer, Helmut 40, 338, 360 Pfister, Manfred 167, 190, 223, 259, 352 Philipp V. 39, 72, 117, 163, 345 Pietschmann, Horst 52, 331 Piquer, Andrés 183 Pitillas, Jorge (Pseudonym) 173, 174 Pizarro, Francisco 105 Polt, John H. R. 54, 327, 342 Polzin-Haumann, Claudia 165, 352 Ponz, Antonio 200, 308, 338 Puig, Leopoldo Jerónimo 154, 182 Quesada Marco, Sebastián 83, 352 Quevedo, Francisco de 55, 189, 195, 237 Quintana, Manuel José 62, 102, 271, 338, 357 Quintilian (Marcus Fabius Quintilianus) 238, 260 Quirk, Ronald J. 155, 352 Racault, Jean Michel 32, 276, 352 Ranger, Terence 49, 342 Rauschenbach, Sina 246, 336, 358 Renan, Ernest 49 Richards, Earl Jeffrey 275, 352 Rico, Francisco 148, 333, 335, 352 Ritter, Joachim 351 Rivarol, Antoine de 43, 59, 60, 82, 84, 88, 328 Rizal, José 306 Rodríguez Cáceres, Milagros 115, 352 Rodríguez Gutiérrez, Borja 14, 352 Rodríguez Pequeño, Mercedes 15, 339 Rodríguez Sánchez de León, María José 108, 353 Roura i Aulinas, Lluís 184, 353 Rousseau, Jean-Jacques 21, 43, 78, 90, 95, 136, 242, 243, 244, 245, 247, 248, 251, 328, 335, 347, 356 Rubio Jiménez, Jesús 103, 353 Rueda, Ana 14, 300, 312, 353
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Ruiz Veintemilla, Jesús M. 98, 155, 156, 161, 166, 173, 179, 180, 181, 183, 326, 353 Rüsen, Jörn 58, 353 Saavedra Fajardo, Diego de 146 Saenz de Santa María, Carmelo 130, 353 Sahlins, Peter 70, 353 Said, Edward W. 29, 30, 89, 90, 91, 137, 279, 353 Saint-Évremond, Charles de 80, 328 Salinas, Pedro 57 Salvador Carmona, Manuel 280 Samaniego, Félix María 202 Sancha, Antonio de 283 Sánchez Aranda, José Javier 164, 354 Sánchez, Juan José 35, 66, 67, 69, 74, 75, 340 Sánchez, Tomás Antonio 202 Sánchez-Blanco, Francisco 14, 16, 90, 104, 119, 128-130, 164, 177, 184, 192, 198, 232-233, 253, 290, 293, 301, 327, 354 Sanders, Hans 38, 245, 354 San Miguel, Ángel 272, 291, 354 Santos, José E. 14, 40, 62, 103, 121, 186, 223, 272, 274, 354 San Vicente, Félix 272, 354 Sarrailh, Jean 233, 293, 348, 354 Scarlett, Elizabeth 83, 272, 275, 297, 298, 305, 354 Schenk, Frithjof Benjamin 30, 89, 354 Schlobach, Jochen 15, 59, 84, 343, 345, 347, 355 Schlünder, Susanne 14, 355 Schmidt, Bernhard 40, 55, 69, 84, 86, 94, 186, 355 Schmidt, Siegfried J. 17, 37, 165, 355 Schulze, Hagen 50, 355 Schütz, Jutta 40, 106, 301, 355 Sebold, Russel P. 15, 104, 266, 277, 279, 290, 301, 304, 311, 313, 314, 327, 333, 349, 355
Segura, Jacinto 179 Sempere y Guarinos, Juan 68, 110, 111, 116, 154, 185, 197, 200, 328 Seneca, Lucius Annaeus 238, 260, 361 Serrano, Carlos 15, 329, 348, 350, 355 Sgard, Jean 166, 355 Sidi Mohammed ben Abdallah 280, 281 Sill, Oliver 38, 355 Smith, Gilbert 229, 251, 355 Söll, Ludwig 268, 355 Sokrates 124, 159, 239, 242, 263, 264 Sorrento, Luigi 78, 199, 237, 356 Sotelo Vázquez, Adolfo 229, 243, 356 Spadaccini, Nicholas 102, 107, 339 Spell, Jefferson Rea 90, 243, 356 Stackelberg, Jürgen von 21, 189, 356 Steinkamp, Volker 10, 84, 91, 344, 356 Stiffoni, Giovanni 118, 123, 124, 146, 326, 356 Strosetzki, Christoph 356, 357 Subirats, Eduardo 118, 356 Tamarit Vallés, Inmaculada 356 Tarazona, Pedro Ángel 130 Thomé, Horst 35, 356 Tietz, Manfred 14, 15, 16, 21, 40, 54, 57, 61, 78, 84, 85, 86, 87, 95, 105, 107, 139, 141, 142, 143, 188, 198, 199, 209, 222, 230, 261, 301, 302, 303, 330, 338, 354, 356, 357 Tiraboschi, Girolamo 196, 198, 199, 241, 261, 356 Todorov, Tzvetan 194, 210, 358 Tomsich, María Giovanna 168, 174, 358 Toro, Alfonso de 23, 358 Torrecilla, Jesús 272, 273, 274, 279, 285, 289, 346, 358 Torres Villarroel, Diego de 16, 76 Torricelli, Evangelista 131 Toulmin, Stephen 20, 21, 22, 234, 248, 318, 358 Tous, Pere Joan 15, 57, 330
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Personenverzeichnis
Treskow, Isabella von 162, 358 Trigueros, Cándido María 76, 105, 106, 328 Tschilschke, Christian von 14, 155, 329, 336, 341, 344, 345, 358, 359, 360 Tulard, Jean 73, 359 Tynjanov, Jurij 37, 359 Uhlig, Christiane 58, 359 Unamuno, Miguel de 79, 229, 285, 300, 328 Urban, Astrid 165, 167, 359 Urzainqui Miqueleiz, Inmaculada 41, 116, 158, 162, 164, 168, 191, 329, 359 Uzcanga Meinecke, Francisco 14, 359 Valladares y Sotomayor, Antonio 68 Varela, Javier 54, 359 Vayrac, Abbé de 201 Velasco, Julián de 201, 337 Verney, Luis Antonio 294 Vernière, Paul 204, 328 Vico, Giambattista 22, 136 Vilar, Juan Bautista 280, 281, 282, 359, Vilar, Pierre 52, 359 Virrey, Pasqual Francisco 175 Vives, Juan Luis 119, 238, 247, 248, 249, 321
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Voltaire 21, 33, 43, 53, 66, 69, 78, 81, 86, 87, 88, 92, 94, 95, 96, 196, 222, 239, 243, 245, 247, 248, 263, 289, 292, 293, 328, 335, 345 Voltes, Pedro 58, 359 Wagner, Peter 25, 360 Waldenfels, Bernhard 26, 30, 31, 59, 84, 168, 350, 360 Weber, Max 19, 49 Wehler, Hans-Ulrich 50, 148, 360 Weigel, Sigrid 29, 360 Weinrich, Harald 158, 159, 160, 171, 360 Wenzel, Peter 188, 360 Werber, Niels 19 Wierlacher, Alois 27, 28, 32, 360 Wilke, Jürgen 161, 360 Wilpert, Gero von 189, 360 Wittgenstein, Ludwig 187 Witthaus, Jan-Henrik 10, 40, 108, 165, 272, 360, 361 Wolfzettel, Friedrich 14, 16, 54, 109, 210, 214, 276, 301, 302, 303, 304, 305, 361 Zahn, Johannes 97, 141 Zamora Vicente, Alonso 229, 256, 268, 269, 327, 361 Zavala, Iris M. 300, 301, 305, 311, 312, 314, 361
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