Der Beitrag der Biologie zu Fragen von Recht und Ethik [1 ed.] 9783428454570, 9783428054572

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Der Beitrag der Biologie zu Fragen von Recht und Ethik [1 ed.]
 9783428454570, 9783428054572

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Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung

Band 54

Der Beitrag der Biologie zu Fragen von Recht und Ethik Im Auftrag des Goethe-Instituts Herausgegeben von

Margaret Gruter und Manfred Rehbinder

Duncker & Humblot · Berlin

Der Beitrag der Biologie zu Fragen von Recht und Ethik

Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Herausgegeben von Ernst E. Hirsch und Manfred Rehbinder

Band 54

Der Beitrag der Biologie zu Fragen von Recht und Ethik

Im Auftrag des Goethe-Instituts herausgegeben von Margaret Gruter und Manfred Rehbinder

DUNCKER

&

HUMBLOT / BERLIN

Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1983 bel Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Berlln 61 Printed In Germany

© 1983 Duncker ISBN

a 428 05457 1

INHALT Vorwort von Ernst Schürmann ........................................

7

Einleitung der Herausgeber ............................................

11

I. Auftakt: Die Fragestellung, erläutert an einem Beispiel ............

13

1. Roger D. Masters: Evolutionsbiologie, politische Theorie und die

Entstehung des Staates ........................................

15

11. Mehr Fragen als Antworten? Erkenntnistheoretischer Pessimismus mit Aufheiterungen. .. .. .. ... . .. ... .. . . . .. . ... ... . ... . .. ... ... .. ... 37 2. E. Adamson Hoebel: Anthropologie, Recht und Genetik ........ 3. Richard D. Schwartz: Die Bedeutung der Soziobiologie für die

Rechtswissenschaft. Einige Worte der Warnung.... . .. . . . . .. ...

4. Hubert Markl: Biologie und menschliches Verhalten. Dispositio-

nen, Grenzen, Zwänge? ........................................

39 51 67

111. Chemie, Gehirn und Affen: Beiträge aus der Gehirnforschung und der Primatologie .................................................. 85 5. Bartley G. Hoebel: Neurogene und chemische Grundlagen des

Glücksgefühls

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

6. Faul D. MacLean: Die drei Dimensionen der Entwicklung des

Gehirns und des Rechts

87 111

7. Jane Goodall: Ordnung ohne formelles Recht .................. 129 8. Junichiro Itani: Die Tötung von Artgenossen bei nichtmensch-

lichen Primaten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 143

IV. Auch Sozialwissenschaftler wollen etwas aus der Biologie gelernt haben: Rechtsrelevante Beiträge mit Schwerpunkten in der Soziobiologie und Anthropologie ........................................ 159 9. Richard D. Alexander: Biologie und moralische Paradoxa ...... 161

6

Inhalt 10. Donald T. Campbell: Die Funktion des Rechts und der Primär-

gruppen bei der sozialen Kontrolle ............................ 175

11. Christopher Boehm: Die evolutionäre Entwicklung der Moral als

Folge von Dominanzverhalten und Konfliktinterferenz ........ 191

12. Faul Bohannan: Rechtsrelevante Grundlagen der Aggression .... 209

V. Und was sagen die Juristen? Weitere Anwendungsbeispiele ........ 223 13. Margaret Gruter: Die Bedeutung der biologisch orientierten Ver-

haltensforschung für die Suche nach den Rechtstatsachen ...... 225

14. lohn H. Beckstrom: Die elterliche Fürsorge als Entscheidungs-

kriterium in Sorgerechtsverfahren. Ein Anwendungsfall der Soziobiologie .................................................. 243

15. Manfred Rehbinder: Fragen des Rechtswissenschaftlers an die

Nachbarwissenschaften zum sog. Rechtsgefühl .................. 261

16. Ernst E. Hirsch: Die Steuerung des menschlichen Verhaltens

275

Teilnehmer der ersten Monterey Dunes-Konferenz .................... 293

Vorwort

Die Initiative für das Symposium "Rechtswissenschaft und Verhaltensforschung", dessen Ergebnisse im vorliegenden Bande veröffentlicht werden, ging im Frühjahr 1980 von den Rechtswissenschaftlern Prof. Manfred Rehbinder und Dr. Margaret Gruter aus. Beide hatten, zunächst unabhängig voneinander, über Jahre hinweg eine Reihe von Forschungsprojekten in den Lebens- und Verhaltenswissenschaften beobachtet, die ihnen wesentliche Fragen für ihr eigenes Fachgebiet aufzuwerfen schienen. Für das Goethe-Institut San Francisco sagte ich die Unterstützung für einen Meinungsaustausch in einem Symposium mit vornehmlich amerikanischer und deutscher Beteiligung zu. Die spontane Zustimmung der zu Rate gezogenen Wissenschaftler aus den verschiedenen, für das Thema relevanten Fachgebieten, an dem Vorhaben teilzunehmen, zeigte, daß man sowohl von Seiten der Rechts- und Gesellschaftswissenschaften als auch in den Lebens- und VerhaItenswissenschaften die Fragestellung als reif für eine gemeinsame Erörterung betrachtete. Im Hutchins Center for the Study of Democratic Institutions der University of California in Santa Barbara fand das Goethe-Institut - dank der freundlichen Vermittlung Dr. Harvey Wheelers und Prof. Paul J. Bohannans - einen idealen Mitveranstalter und in seinem Präsidenten, Prof. J ames G. Miller, einen aktiven Förderer. Die Herausgeber dieser parallel in den USA auf Englisch und in der Bundesrepublik auf Deutsch erscheinenden Veröffentlichung, Dr. Margaret Gruter, Prof. Paul J. Bohannan und Prof. Manfred Rehbinder, haben das Symposium fachlich mit ihrer großen Sach- und Personenkenntnis und ihrem bewundernswerten Arbeitseinsatz vorbereitet. Ihnen, den vorher Genannten und allen, die durch ihre fachlichen und organisatorischen Beiträge zum Gelingen des Unternehmens beigetragen

Vorwort

8

haben, möchte ich für das Goethe-Institut herzlich danken. Wenn ich hier den unermüdlichen Arbeitseinsatz und das persönliche Engagement von Dr. Margaret Gruter besonders hervorhebe, so bin ich sicher, daß alle, die am Symposium beteiligt waren, mir zustimmen, daß das mehr als verdient ist. Ohne sie hätte es weder ein Symposium noch diese Veröffentlichung gegeben. Während der Vorbereitungen für das Symposium bin ich wiederholt gefragt worden, ob das Goethe-Institut als ein generelles Kulturinstitut der Bundesrepublik Deutschland nicht seine Grenzen überschreite, wenn es die Mitveranstalterschaft bei einem rein wissenschaftlichen Projekt übernehme. Dieser Einwand wäre berechtigt, wenn es sich hier ausschließlich um fachwissenschaftliche Grundlagenforschung ohne erkennbare Verbindung zur gesellschaftlichen Wirklichkeit und ohne Bezug zu aktuellen Fragen in der Bundesrepublik Deutschland handelte. Bei aller unbestreitbaren Wissenschaftlichkeit der hier vorgelegten Arbeiten und Diskussionsergebnisse ist es jedoch unübersehbar, daß die dem Symposium und dieser Publikation zugrundeliegende Fragestellung drängende Probleme der politischen und sozialen Realitäten zumindest der westlichen Industrieländer betrifft. Vermutlich waren sie noch nie so drängend wie gerade heute. Es ist offenkundig, daß wir nur dann zu einem klaren Verständnis dieser Probleme kommen und Wege für praktische Lösungen finden können, wenn wir sie auf einer länderübergreifenden Ebene behandeln. Die alarmierende Mißachtung juristischer Normen und gesetzlicher Regelungen, die wachsende Diskrepanz zwischen gesellschaftlicher Wirklichkeit und den Grundprinzipien unserer Rechtsordnungen, die in vielen Fällen unleugbare Unangemessenheit zwischen gesetzlichen Forderungen und der Fähigkeit - nicht nur Willigkeit - des Einzelnen, sie einzuhalten, all das macht ein gründliches Nachdenken über unsere Auffassung von Recht und gesellschaftlicher Ordnung notwendiger und dringender denn je. Daß sich der Blick dabei mehr und mehr auf die Anthropologie und die Verhaltenswissenschaften richtet, ist, meine ich, nur folgerichtig. Wenn das Goethe-Institut dem Anspruch, den es in seinem Untertitel " ... und zur Förderung der internationalen kulturellen Zusammenarbeit" erhebt, gerecht werden will, dann sind Untersuchungen, wie sie in dieser Ver-

Vorwort

9

öffentlichung vorgelegt werden, ein fundamentaler Bestandteil unserer Arbeit. Ich bin daher ebenso froh wie dankbar, daß man uns die Möglichkeit gegeben hat, an diesem Unternehmen mitzuwirken. Ernst Schürmann Goethe-Institut San Francisco

Einleitung Die Frage, ob auch die Biologie zu den Grundlagenwissenschaften von Recht und Ethik gehört, ist lange vernachlässigt, ja geradezu verdrängt worden. Die Gründe dafür sind sicher vielfältig, hängen jedoch meist mit der Tatsache zusammen, daß eine scharfe Grenze zwischen Mensch und Tier gezogen werden sollte und wurde. Worin sollte der Unterschied zwischen Mensch und Tier bestehen, wenn selbst die Normsetzungen der Menschen biologisch determiniert wären? Das philosophische Schreckbild des Menschen als biologischer Maschine hat so vieles von dem wieder zugedeckt, was neugieriges Suchen nach der Existenz eines Naturrechts an Fragestellungen aufwarf. Fortschritte der Verhaltensforschung, und hier besonders der Primatologie, sowie der Gehirnforschung haben jedoch die Grenze zwischen Mensch und Tier in neuem Licht erscheinen lassen und die Rolle philosophisch produzierter "Vorurteile" verringert. Nicht nur hat der Mensch Vorläufer im Tierreich und weist Verhaltensmechanismen des Tierreichs auf. Auch seine Moral und sein Recht arbeiten mit sozialen Mechanismen, die auch in nicht-menschlichen Gesellschaften zu finden sind. Den Herausgebern dieses Sammelbandes schien es daher an der Zeit, diejenigen Naturwissenschaften, die sich mit diesen sozialen Mechanismen beschäftigen, dahin zu befragen, welche ihrer Ergebnisse für die Sozialwissenschaften und hier besonders für die sozialwissenschaftlich betriebene Rechtswissenschaft von Bedeutung sein könnten. An diesem Gespräch waren die Nachbarwissenschaften der Rechtswissenschaft nach Möglichkeit zu beteiligen. Der überwiegend ideologisch bedingte Streit um die sog. Soziobiologie, eine Neuauflage des alten Anti-Darwinismus, hat uns von unserem Vorhaben nicht abbringen können. Erkenntnistheoretiker haben uns ja auch einmal weismachen wollen, daß die Erde nicht rund sein kann, weil sie eine Scheibe ist. Wir können heute die Ergebnisse einer ersten Gesprächsrunde dieser Art veröffentlichen. Diesem Meinungsaustausch haften noch viele Zu-

Einleitung

12

fälligkeiten an, und er ist nur ein erster Schritt; aber doch wohl ein Schritt in die richtige Richtung. Und selbst wer das bezweifelt, wird hier mit einer Fülle von Fakten und Hypothesen konfrontiert, die ihn sicher zu frischem Nachdenken bringen. Erkenntnistheoretische Skepsis bleibt unfruchtbar, wenn sie sich nicht stets von neuem bewährt. Wissenschaftlicher Fortschritt, hat uns Karl Popper gelehrt, geschieht nur durch Falsifikation. In diesem Sinne wünschen wir uns von unseren Lesern ein fröhliches Falsifizieren. Wer lieber theoretisiert und neue Forschungsfragen stellt, sei ebenfalls dazu herzlich eingeladen. In der Soziobiologie ist noch alles offen, so daß hier jeder Wissenschaftstyp zum Zuge kommen sollte. An der deutschen Fassung der englischsprachigen Beiträge haben Ulrike E. Lieder und Sigrun Reinders mitgewirkt. Im Dezember 1982 Margaret Gruter

Manfred Rehbinder

ERSTER TEIL

Auftakt: Die Fragestellung erläutert an einem Beispiel

EVOLUTIONSBIOLOGIE, POLITISCHE THEORIE UND DIE ENTSTEHUNG DES STAATES Von Roger D. Masters

I. Problemstellung Weshalb lebt der Mensch in einer Gesellschaft mit Hunderttausenden oder sogar Millionen von Mitgliedern? Wie ist der Staat entstanden? Die Evolutionsbiologie zeigt, daß die Existenz von Institutionen wie "Recht" und "politisches System" wesentlich problematischer ist als gemeinhin angenommen wird. Ihre neuen Perspektiven vom Ursprung des politischen Lebens und den damit verbundenen Verpflichtungen sind Beiträge zur Beantwortung von Fragen, die die Staatsphilosophie schon lange beschäftigt haben. Die gegenwärtigen Sozialwissenschaften und die traditionelle Staatsphilosophie betrachten die Tatsache des geselligen Charakters der Menschen als Frage der "menschlichen Natur". Die Biologie zeigt uns aber, daß sich selbst innerhalb derselben Gattung Bestehen und Struktur sozialer Gruppen aufgrund von Wechselbeziehungen zwischen Individuum und Umwelt verändern, z. B. ist eine Tierart, die sich in einer bestimmten Umgebung asozial verhält, in einer anderen Umgebung durchaus soziaP. Vom biologischen Standpunkt aus ist es daher irreführend, das Leben in Gesellschaft als ein gleichbleib endes natürliches Charakteristikum zu sehen (wie z. B. Augen, Nase und Mund im menschlichen Gesicht). Auch die herkömmliche Ansicht, daß die Biologie zwar das Bestehen der menschlichen Gesellschaft, nicht aber die Unterschiede zwischen den Kulturen erklären kann, ist im Lichte der neueren Evolutionstheorie nicht zutreffend2 • Großgesellschaften und formale Rechtssysteme, die dem modernen Staatsgefüge vergleichbar wären, gibt es bei ande1 Richard Wrangham: On the evolution of ape social systems, in Social Scienee information 18 (1979), S. 335 - 368; ders.: Review essay: Soeiobiology, in Biologieal Journal of the Linnean Society 13 (1980), S. 171; T. H. CluttonBrock / Paul H. Harvey (eds.): Readings in Soeiobiology, San Franciseo 1978; Mare Bekhoff / Michael C. WeHs: The soeial ecology of eoyotes, in Scientific Ameriean 242 (1980), S. 130 - 148; John Maynard-Smith: The evolution of behavior, in Scientifie Ameriean 239 (1978), S. 176 - 192. 2 Marion Blute: Socioeultural evolutionism, in Behavioral Scienee 24 (1979), S. 46 - 59.

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Hoger D. Masters

ren Gattungen nicht. Daher muß die Frage nach ihrer Entstehung im Laufe der Menschheitsgeschichte auch als ein Problem der Biologie betrachtet werden 3 • Die herkömmlichen Antworten auf diese Frage sind nicht vereinbar mit der Evolutionstheorie, weil sie annehmen, daß ein komplexes Sozialverhalten der Gruppe zum Nutzen gereicht4, daß es ein Zufallsergebnis ist oder eine bloße Folge menschlichen Erfindungsgeistes 5 . Der unter der Bezeichnung "inclusive fitness theory" bekannte Ansatz zeigt hier jedoch eine Alternative auf, die im Einklang steht mit der bei Tieren weithin beobachteten Tendenz, ihr Verhalten so anzupassen, daß die Fortpflanzung auf lange Sicht hin gewährleistet wird.

11. Die Theorie der "inclusive fitness" und das menschliche Sozialverhalten Da in der Regel die Gemeinschaft vom Einzelnen gewisse Opfer verlangt, warfen die Biologen die Frage auf, welchen Nutzen ein Tier aus sozialem Verhalten zieht, und zeigten, daß dieser Nutzen die zu erbringenden Opfer übersteigt. Zum Beispiel: Wenn ständig reichlich Futter zur Verfügung steht, neigen Tiere, die nicht gejagt werden, zu asozialem Verhalten6 • Daher ist das Leben der Lepilemur und der OrangUtan Rousseaus "Naturzustand" bemerkenswert ähnlich7 • Nach vorherrschender Meinung findet die natürliche Auslese vornehmlich, wenn auch nicht ausschließlich, auf der Ebene des Individuums statts. Wenn zwei Lebewesen miteinander in Kontakt kommen, kann im allgemeinen aufgrund einer Kosten-Nutzen-Rechnung der Alternativen vorausgesagt werden, ob sie sich kooperativ verhalten werden oder nicht. Diese Kosten-Nutzen-Rechnung ist nicht unbedingt bewußt, wie beim Modell des rational Handelnden in der Wirtschaftstheorie; insbesondere in bezug auf die Frage des "Gemeinwohls"9 braucht nur vorausgesetzt zu 3 Donald T. Campbell: On the geneties of altruism and the eounter-hedonie eomponents in human eulture, in Journal of Social Issues 28 (1972), S. 31 - 37; Hichard D. Alexander: Natural seleetion and societallaws, in T. Englehardt j D. Callahan (eds.): Morals, Scienee and Soeiety, vol. 3, Hastings-on-Hudson 1978; Edward O. Wilson: Sociobiology, CambridgejMass. 1975, Part 111; David Barash: Sociobiology and behavior, New York 1977. 4 z. B. Thomas von Aquin: Summa theologiea 1- 11, Q. 90 - 97. 5 z. B. Machiavelli: Diseourses I, 2 und 9. e Barash (FN 3); Hans Kummer: On the value of social relationships to nonhuman primates, in Mario von Cranach et al. (eds.): Human Ethology, CambridgejMass. 1979, S. 381 - 395; Wilson (FN 3). 7 Housseau: Seeond Diseourse, Part I und Note j; Birute Galdikas-Brindamour: Orangutans, Indonesia's "People of the Forest", in National Geographie 148 (1975), S. 444 - 473; Hoger D. Masters: Jean-Jaeques is alive and weIl, in Daedalus 1978, S. 93 - 105. 8 George C. Williams: Adaption and natural seleetion, Prineeton 1966; Wilson (FN 3).

Evolutionsbiologie, politische Theorie, Entstehung des Staates

17

werden, daß das Verhalten geändert wird, um ein optimales KostenNutzen-Verhältnis zu erzielen1o • Die Wirtschaftstheorie benützt bei der Kosten-Nutzen-Rechnung im allgemeinen einen monetären oder zumindest materialistischen Maßstab. Die Evolutionsbiologie ersetzt diesen durch die erfolgreiche Fortpflanzung auf lange Sicht, d. h. durch den Anteil der Gene des Einzelnen in zukünftigen Generationen. Diese sog. "inclusive fitness" unterscheidet sich demnach vom "überleben des Stärkeren", und zwar stellt diese Theorie mehr auf die Fähigkeit des Einzelnen ab, sein Genmaterial an die Nachwelt weiterzuleiten, als auf seine "Stärke" im Sinne von Gesundheit, Macht oder Schönheit. Eine erfolgreiche Fortpflanzung kann neben oder anstelle der Paarung auch durch Hilfestellung für einen Artgenossen erfolgen; denn bei der Berechnung des Erfolges einer Fortpflanzung in diesem Sinne wird häufig der Verwandtschaftsgrad hinzugezogen, d. h. "the fraction of all genes in two individuals that are identical by descent, averaged over allloci"l1. In dem bekannten Aufsatz, mit dem Hamilton sein Konzept der "inclusive fitness" in die Diskussion einführte 12 , spricht er von vier allgemeinen "Klassen" oder "Arten" des Verhaltens, die durch ein genetisches Kosten-Nutzen-Verhältnis definiert werden. Wenn zwei Lebewesen miteinander in Kontakt kommen, kann der Handelnde als Folge seines Verhaltens entweder einen Nutzen (+) ziehen oder einen Verlust (-) erleiden und die "Nachbarn", d. h. weitere an diesem sozialen Kontakt Beteiligte, können ebenfalls einen Nutzen ziehen oder einen Verlust erleiden (Abb. 1). Da das Interesse hier eher auf die Resultate als auf die Ursachen eines bestimmten Verhaltens gerichtet ist, können diese Kategorien ausgeweitet werden auf die Untersuchung von individuell erworbenem oder von der Umgebung bedingtem menschlichen Verhalten, ohne dabei eine Theorie genetischer Vorprogrammierung zu unterstellen13 • Die Termini, mit denen Hamiltons vier Verhaltensweisen normalerweise beschrieben werden, sind jedoch unglücklich gewählt. Es ist unzulässig, anderen Lebewesen bewußte Motive wie "Eigennutz" oder "Altruismus" zu unterstellen 14 • Daher werden in Abb. 1 Termini vor9 Anthony Downs: An economic theory of democracy, New York 1957; Mancur Olson: The logic of collective action, Cambridge/Mass. 1965. 10 Jack Hirshleifer: Natural economy vs. political economy, in Journal of Social and Biological Structures 1 (1978), S. 319 - 337; Roger D. Masters: Is sociobiology reactionary?, in Quarterly Review of Biology 57 (1982), S. 275 bis 292. 11 Wilson (FN 3), S. 74. 12 William Ramilton: The genetical evolution of social behavior, in Journal of Theoretical Biology 7 (1964), S. 1 - 16. 13 Masters (FN 10).

2 Recht und Ethik

18

Roger D. Masters

geschlagen, die sich auf die Folgen von gewissen Verhaltensweisen beziehen. Die Ethologie hat gezeigt, daß diese Unterscheidung von Verhalten und Motivierung überaus wichtig ist 15 , und sie ist unerläßlich, wenn Kosten-Nutzen-Modelle zur Untersuchung von menschlichen Entscheidungen eingesetzt werden16 • Abb.l: Grundtypen sozialen Verhaltens nach HamiltonUl

I I

Nutzen

I

A

I

Verlust

I

Nutzen

gegenseitiger Nutzen

gemeinschaftsnützliches Verhalten oder Tugend

Verlust

Nepotismus

beidseitiger Schaden

8

I

Eine Gattung, die als Folge des sozialen Umgangs Schaden erleidet, wird dazu neigen, sich asozial zu verhalten. Obwohl viele Tiere Mittel und Wege entwickelt haben, in der Isolation zu überleben, schadet es ihnen mehr, wenn sie sich von der Nutzung einer Ressource ausschließen, als wenn sie das Risiko eingehen, daß ihnen diese Ressource von Rivalen innerhalb der Gruppe weggeschnappt wird 17 • Rivalität in der Gruppe ist "selten" bei anderen Tieren, ist jedoch "an der Tagesord11 Gunther s. Stent (ed.): Morality as a biological phenomenon, Berkeley 1979. 16 Mario von Cranach et al. (eds.): Human ethology, Cambridge/Mass. 1979; Konrad Lorenz: Studies in animal and human behavior, 2 Vol., Cambridge/ Mass. 1970/71. 11 Jack Hirshleifer: Evolutionary models in economics and law, UCLA Department of Economics Working Paper No. 170, 1980. 17 Raymond Pierotti: Spite and altruism in gulls, in American Naturalist 115 (1980), S. 290 - 300.

Evolutionsbiologie, politische Theorie, Entstehung des Staates

19

nung in menschlichen Gesellschaftsformen", denn "human beings are keenly aware of their own blood lines and have the intelligence to plot intrigue"18. Soziobiologen nennen das Kästchen unten links in Abb. 1 Nepotismus; denn das positive Resultat für den Handelnden - ein im Vergleich zu "anderen" größerer Genanteil in künftigen Generationen - bedeutet notwendigerweise, daß nahe Verwandte gegenüber weiter entfernten Verwandten oder gar nicht verwandten Lebewesen bevorzugt werden. Dies wird auch als "kin selection" (Verwandtschaftsauslese) bezeichnet; und eine solche Bevorzugung bedeutet natürlich Konflikte mit NichtVerwandten, wenn nur wenig Ressourcen zur Verfügung stehen. Daher bedeutet Nepotismus allgemein eine Kombination von enger Zusammenarbeit innerhalb der nahen Verwandtschaft einerseits und Konkurrenzdenken zwischen den Mitgliedern verschiedener Familiengruppen andererseits. Wie ein Lebewesen sich verhält, wird demzufolge auch davon abhängen, wer, wenn überhaupt, am Nutzen dieser Verhaltensweise teilhaben wird. Im Kästchen links unten haben Verwandte am Nutzen teil. Hingegen bezieht sich gegenseitiger Nutzen (häufig als "Reziprozität" bezeichnet) im Kästchen oben links auf Situationen, in denen zwei wahrscheinlich nicht verwandte Wesen beide aus einer Handlungsweise Nutzen ziehen19. Um bestehen zu können, bedarf ein solcher Austausch von gegenseitigem Nutzen zwischen zwei nicht verwandten Lebewesen einer Art Anerkennung oder Gegenseitigkeit, die vor unkooperativen "free riders" (Trittbrettfahrern oder Nassauern) schützt. Sowohl Nepotismus als auch gegenseitiger Nutzen beziehen sich auf Situationen, die gemeinhin als Eigennutz oder "egoistisches" Verhalten angesehen wurden 20 und die sich leicht evolutionistisch erklären lassen21 . Da angenommen wird, daß die natürliche Auslese vor allem unter Individuen stattfindet, ist es jedoch schwieriger zu erklären, wie Verhaltensweisen sich entwickeln, durch die der Handelnde einen relativen Verlust an "inclusive fitness" erleidet, während ein potentieller Konkurrent einen Vorteil erlangt. Da ein solches Verhalten eher den anderen in der Gruppe als dem Handelnden zum Vorteil gereicht, kann man Wilson (FN 3), S. 119. Robert Trivers: The evolution of reciprocal altruism, in Quarterly Review of Biology 46 (1971), S. 35 - 57; ders.: Sociobiology and politics, in Elliott White (ed.): Sociobiolgy and Human Politics, Lexington 1981; Robert Axelrod / William D. Hamilton: The evolution of cooperation, in Science 211 18 19

(1981), S. 1390 - 1396.

20 Robert Axelrod: The emergence of cooperation among egoists, in American Political Science Review 75 (1981), S. 306 - 318. 21 Richard Dawkins: The selfish gene, New York 1976.

20

Roger D. Masters

sagen, daß es eher im "Interesse der Gruppe" als im "Interesse des Handelnden" liegt. Die heutige Theorie der natürlichen Auslese betont die Seltenheit der "Gruppenselektion"22, und es kann daher nicht der Schluß gezogen werden, daß eine Verhaltensweise zur Norm wurde, weil sie der Bevölkerung oder der Gattung als solcher zum Vorteil gereichte. Es ist jedoch genauso irrig daraus abzuleiten, daß die natürliche Auslese prinzipiell nie derartige Verhaltensweisen hervorbringt 23 . Hier geht es um einen relativen Verlust an "inclusive fitness" zum Vorteil der anderen Mitglieder der sozialen Umwelt. Die Tiere verhalten sich tatsächlich so, zumindest in einigen wohlbelegten Fällen, z. B. dann, wenn sie bei der Verteidigung der Herde sterben, wodurch andere, mit denen sie bei der Fortpflanzung konkurrierten, gerettet werden 24 . Wenn soziale Kooperation zwischen Nicht-Verwandten stattfindet und der Handelnde dadurch einen kurzfristigen Verlust an "inc1usive fitness" erleidet, so daß seine Verwandten nur im Umweg über die soziale Gruppe daraus einen Nutzen ziehen können, dann kann man von gemeinschaftsnützlichem Verhalten oder Tugend sprechen, ohne Gegenseitigkeit auf persönlicher Ebene oder gegenseitigen Nutzen zu unterstellen. Menschliche Großgesellschaften, insbesondere hochentwickelte Zivilisationen, scheinen auf derartiger Kooperation von Millionen von Individuen zu beruhen, bei der die meisten Individuen voraussichtlich keinen persönlichen Nutzen aus ihrem Verhalten werden ziehen können. Zum Beispiel scheint die Erhebung von Steuern bereits seit den Uranfängen des Staates eine solche Rolle gespielt zu haben: Die ersten uns bekannten Schriftstücke sind eine Art Quittung für bezahlte Steuern, bei denen der Einzelne dann das Gefühl hatte, "seinen Teil" beigetragen zu haben 25 . Wie dieses Beispiel zeigt, gibt es kooperative oder helfende Verhaltensweisen, wo die Wahrscheinlichkeit einer Kompensation nicht von der Gegenseitigkeit zwischen bestimmten Individuen abhängt 26 . Die Entstehung einer Herrschaftsmacht - also dessen, was man konventionell als Staat bezeichnet - bestärkt derartige Verhaltensweisen, Williams (FN 8). Wilson (FN 3); David S. Wilson: The natural selection of populations and communities, Menlo Park 1979; Roger D. Masters: The value - and limitiations - of sociobiology, in Elliott White (ed.): Sociobiology and Human Politics, Lexington 1981. 24 Robert Ardrey: African Genesis, New York 1961, S. 80 f. 25 Denise Schmandt-Besserat: Decipherment of the earliest tablets, in Science 221 (1981), S. 283 - 285. 28 Howard Margolis: A new model of rational choice, in Ethics 91 (1981), 22

23

S. 265 - 279.

Evolutionsbiologie, politische Theorie, Entstehung des Staates

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indem sowohl die Kosten für betrügerisches Verhalten als auch die Vorteile erhöht werden, die aus Tugenden wie z. B. Heldenmut auf dem Schlachtfeld, Nächstenliebe und dem Befolgen von Rechtsnormen er~ wachsen, die dem Eigeninteresse zuwiderlaufen 27 • Daher unterscheidet sich die Kategorie der Reziprozität, die in Abb. 1 als Nutzen für die Gruppe oder Tugend beschrieben wird, sowohl von jener des Nepotismus als auch von der des gegenseitigen Nutzens. Sie ist für jegliche Anwendung der Soziobiologie auf die Untersuchung des menschlichen Verhaltens von größter Wichtigkeit28 • Trivers neigt dazu, diese Unterscheidung zu verwischen, weil er mit seinem Begriff des "reziproken Altruismus" eine Gegenseitigkeit sowohl innerhalb der Familie (Nepotismus) als auch außerhalb der Familie beschreibt 29 • Genau genommen besteht ein erheblicher Unterschied zwischen einer Gegenseitigkeit zwischen A und B und einem Opfer, daß A für B bringt, wenn die einzige "Gegenseitigkeit" auf lange Sicht darin besteht, daß ein Dritter, C, im Endeffekt Ns Nachkommen oder Familie hilft. Im letzteren Falle kann A's Opfer seiner Familie nicht ohne den Umweg über die Gesellschaft nützen, anders als bei "Gegen~ seitigkeit" zwischen Individuen. Nur Verhaltensweisen, die dem Konkurrenten ebenso helfen wie der Familie, können wirklich von der Kategorie des gegenseitigen Nutzens ausgeschlossen und demnach als gemeinschaftsnützliches Verhalten oder Tugend bezeichnet werdenso. Die Kriterien für rein gemeinschaftsnützliches Verhalten oder Tugend bei Nicht-Verwandten werden nicht häufig erfüllt. Bei Primaten findet man überraschend wenige Beweise eines solchen Verhaltens. Die meisten (wenn auch nicht alle) Fälle einer scheinbar "moralischen" Selbstbeschränkung wurden als "eigennütziger Opportunismus" gekennzeichnet, d. h. sie sind also entweder Fälle von "kin selection" oder gegenseitigem Nutzen 31 • Während des größten Teils der menschlichen Evolution bestand die typische Gruppe (die man heute noch bei Jägern und Sammlern wie den San-Buschmännern oder den Lappen findet) wahrscheinlich aus der Großfamilie. Gesellschaften, in denen Hunderttausende oder gar Millionen zusammenleben und -arbeiten und manchmal sogar ihr Leben für die Gruppe opfern, sind für den Homo sapiens erst nach der Entwicklung von komplexen technologischen und sozia27 Campbell (FN 3); Fred H. Willhoite: Rank and reciprocity, in Elliott White (ed.): Sociobiology and Human Politics, Lexington 1981. 28 Martin L. Hoffman: Is altruism part of human nature?, in Journal of Personality and Social Psychology 40 (1980), S. 121 - 137. 29 Trivers (FN 19). 30 Vgl. Plato: Der Staat, 11 358 e - 367 e. 31 Campbell (FN 3); Hans Kummer: Analogs of morality among nonhuman primates, in Gunther S. Stent (ed.): Morality as a Biological Phenomenon, Berkeley 1979, S. 31 - 47.

Roger D. Masters

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len Systemen charakteristisch. Und selbst hochentwickelte Zivilisationen, die in der Vergangenheit bestanden, wie z. B. in Mesopotamien, Ägypten, China, Indien oder in dem Vorkolumbianischen Amerika, sind häufig wieder zerfallen. Die Soziobiologie hilft uns also, den Unterschied zwischen dem Sozialverhalten des Menschen und dem des Tieres zu verstehen. Die Theorie der "inclusive fitness" führt zu der Aussage, daß die wahrscheinlichen Kosten und Vorteile von verschiedenen Verhaltensweisen je nach ökologischer Situation und gesellschaftlicher Rolle, Erfahrung, Alter und Geschlecht des Einzelnen variieren werden. Der Mensch mit seiner Intelligenz kann viele, wenn nicht sogar alle Alternativen innerhalb eines einzigen Tages, ja sogar innerhalb einer einzigen Stunde, erforschen. überdies entsteht durch gemeinschaftsnützliches Verhalten oder Tugend bei Nicht-Verwandten eine neue Situation, in der Betrug, d. h. scheinbare Kooperation, die in Wahrheit Nepotismus ("eigennütziges Verhalten") ist, größere Vorteile bringt als Gegenseitigkeit dies allerdings nur unter der Voraussetzung, daß das von den anderen nicht bemerkt wird 32 • Der Mensch manipuliert also das ganze Repertoire sozialer Möglichkeiten durch eine doppelte Umwandlung derjenigen Kosten-NutzenRechnung, die bei Tieren beobachtet worden ist. Auf individueller Ebene wird unsere Einschätzung der zwischenmenschlichen Situation in ein subjektives "Motiv" umgeformt, normalerweise bewußt, manchmal jedoch auch durch Verdrängung oder Selbstbetrug. Diese psychologischen Reaktionen werden ferner durch sozio-kulturelle Institutionen geprägt, die vordergründig mit einem entsprechenden psychologischen "Motiv" assoziiert werden, in Wahrheit aber verschiedenen Weltanschauungen entspringen. Menschliche kulturelle Institutionen, die außerordentlich komplex und vielschichtig sind, bestimmen sich dadurch, welche Personen sie einbeziehen oder ausschließen und welches Verhalten sie von ihren Mitgliedern erwarten. Solche Institutionen finden sich auf verschiedenen Ebenen: der Familie, den kaufmännischen Unternehmen oder der Wirtschaft sowie in der Gemeinde oder im Staat. Sie transformieren Kategorien der Wechselbeziehung unter Tieren in komplexe Kultursysteme, gesteuert von individuell verschiedenen psychologischen Motivierungen 33 • Daß die Verhaltensforschung sich auf den Menschen beschränken kann, ist also höchst unwahrscheinlich, wenn nicht gar unmöglich34 • Trivers, The evolution (FN 19); Willhoite (FN 27). Roger D. Masters: Exit, voice and loyality in animal and human behavior, in Social Science Information 15 (1976), S. 78 - 85. 34 von Cranach et a1. (FN 15), besonders Kapitel 4; Stent (FN 14). 3! 33

Evolutionsbiologie, politische Theorie, Entstehung des Staates

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m. Die Kosten-Nutzen-Theorien der Kooperation: Vom "Dilemma des Gefangenen" zur "Tragedy of the Commons" Wir können jetzt besser den Zusammenhang zwischen der Theorie der "inc1usive fitness" und den traditionellen Sozialwissenschaften sehen. In den Sozialwissenschaften gibt es für die Erforschung des menschlichen Sozialverhaltens zwei traditionelle Modelle, nämlich Wirtschaftsmodelle, bei denen soziale Prozesse als Summe der von einzelnen Individuen auf grund von Kosten-Nutzen-Rechnungen gewählten Handlungsalternativen analysiert werden, und soziologische Ansätze, die ganze Systeme mit Charakteristika versehen, die nicht aus individuellen Entscheidungen abgeleitet werden können 3s • Ein ähnlich doppelter Ansatz ist auch in der Biologie zu verzeichnen86 • Daher ist es besonders interessant, das Verhältnis zwischen der Theorie der "inc1usive fitness" und den Wirtschaftsmodellen der Sozialwissenschaften zu untersuchen. Hier beginnt man am besten mit der Spieltheorie, genauer: mit dem Dilemma des Gefangenen. Die Spieltheorie ist in den Sozialwissenschaften weit verbreitet 37 , findet aber auch in der Biologie Anwendung, insbesondere zur Erläuterung der sozialen Kooperation unter Tieren38 • Betrachten wir also spieltheoretisch das folgende Beispiel: Zwei Männer, A und B, haben zusammen 20 Dollar gestohlen, die sie sich dann ehrlich geteilt haben. Beide sind erwischt worden und in getrennten Gefängniszellen untergebracht. Der Gefängnwwärter sagt: ohne ihre Aussage steht nicht genug Beweismaterial für einen Prozeß zur Verfügung, und man wird sie nach Entrichtung einer Buße von einem Dollar pro Mann (was für A und B einen Gewinn von je 9 Dollar bedeutet) entlassen. Wenn einer der beiden eine Aussage macht, nicht aber der andere, dann wird der, der aussagt (der "Verräter"), straffrei ausgehen (Reingewinn von 10 Dollar). Der andere hingegen, der schweigt (der "Dumme"), wird das gestohlene Geld zurückgeben müssen, und es wird ihm weiterhin entweder eine Gefängnisstra'fe von 10 Tagen oder eine Geldbuße von 10 Dollar auferlegt (Unkosten in Höhe von 10 Dollar). Wenn beide aussagen, dann verlieren beide ihre Beute und bekommen beide Gefängnisstrafen von 9 Tagen oder Geldbußen von 9 Dollar (Unkosten in Höhe von 9 Dollar pro Mann). Für A und B zusammen ist also letzteres Ergebnis das schlimmstmögliche, da das gesamte BeutegeId verloren geht und beide bestraft werden (Gefängnis oder GeldBrian Barry: Sociologists, economists and democracy, London 1970. Masters (FN 23, 10). 37 Marton A. Kaplan: System and Process in international politics, New York 1957, Teil IV; Robert Axelrod: Effective choice in the prisoner's dilemma, in Journal of Conflict Resolution 24 (1980), S. 3 - 25; ders.: More effective choice in the prisoner's dilemma, ebd. S. 379 - 403. 38 Axelrod (FN 20); Axelrod / Hamilton (FN 19). 35 38

Aussagen

Strategie des B

Schweigen

(Nepotismus)

A =-9 B =-9

(gegenseitiger Nutzen)

A = -10

B = +10

I

B = -10

B = +9

(gemeinschaftsnützliches (beidseitiger Schaden) Verhalten)

A = +10

A = +9

Aussagen

Aussagen

Strategie des B

Schweigen

B = -9 - 4,5 = -13,5

B = + 10 - 5 = +5

(gemeinschaftsnützliches (beidseitiger Schaden) Verhalten)

A = - 9 - 4,5 = -13,5 A = -10 + 5 = -5

(Nepotismus)

B = -10 +5 = -5

B = 9 + 4,5 = + 13,5

I

A =10 - 5 = +5

A = 9+4,5 = + 13,5

(gegenseitiger Nutzen)

Aussagen

Schweigen

Strategie des A

Strategie des A

Schweigen

2 b: Verwandte

2 a: Nicht-Verwandte

Abb.2: Dilemma des Gefangenen

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Evolutionsbiologie, politische Theorie, Entstehung des Staates

25

buße). Es ist jedoch das schlimmste Ergebnis für die beiden (kollektiv gesehen), das gewählt wird, wenn A und B ihre Entscheidung "rational" aufgrund einer Kosten-Nutzen-Rechnung treffen. Dies folgt aus der Tatsache, daß jeder der beiden versuchen muß, so viel wie möglich zu gewinnen (oder so wenig wie möglich zu verlieren), unabhängig von dem, was der andere tut. Wenn B schweigt oder wenn B aussagt, gewinnt A mehr (oder verliert weniger), wenn er selbst aussagt und nicht schweigt. B, der für sich entscheidet, macht dieselben Überlegungen. Abb. 2 a zeigt die Möglichkeiten für dieses Dilemma des Gefangenen. Es ist dabei zu beachten, daß dieses Spiel drei grundlegende Bedingungen hat: Erstens muß der Gewinn transitiv sein (z. B. ist + 10 > + 9 > - 9 > - 10); zweitens wählt jeder Gefangene eine Strategie, die seinen Gewinn maximiert (oder seinen Verlust minimiert); und drittens sind Kommunikation oder Verhaltenszwänge zwischen den beiden Gefangenen nicht erlaubt. Unter diesen Umständen handeln, wie die Spieltheoretiker sagen, sowohl A als auch B "rational", wenn sie ein Ergebnis wählen, bei dem beide verlieren, denn für beide dominiert die Strategie des "Aussagens" (des Überlaufens zum Feind) über die Strategie des "Schweigens" (Kooperation). Da Abb. 2 a dieselben grundlegenden Kategorien enthält wie Abb. 1, kann man das Dilemma des Gefangenen als einen Sonderfall von Hamiltons allgemeinerem Modell betrachten. Eine wichtige Konsequenz dieser Ähnlichkeit muß jedoch hervorgehoben werden. Diese Abbildungen zeigen uns die möglichen Ergebnisse, definiert als A's Gewinn. Im Dilemma des Gefangenen ist für den einen (A) Nepotismus ("Eigennutz"), was für den anderen (B) Tugend ist. Des einen Brot ist des andern Tod: ist es deshalb ein Wunder, daß die Motive anderer einem häufig suspekt erscheinen und daß wir die edlen Motive unseres eigenen HandeIns beteuern, selbst wenn oder gerade weil unser Handeln langfristig in unserem eigenen Interesse ist? Wie Trivers zeigt3 9 , scheint sich unsere Gattung auf Betrug zu spezialisieren, um unsere Partner zu "hintergehen", auf moralistische Aggression gegen die, die betrügen, und auf betrügerische Imitation von Folgsamkeit und Sittlichkeit, um der Bestrafung zu entgehen. Um die überraschenden Konsequenzen zu illustrieren, die sich aus der Verbindung von Spieltheorie und Soziobiologie ergeben, betrachten wir einmal die Veränderungen im Dilemma der beiden Gefangenen, welche sich zeigen, wenn die beiden Gefangenen Brüder oder Vater und Sohn wären. Da in diesen Fällen der Verwandtschaftskoeffizient 1f2 ist, muß A's Gewinn für jedes Kästchen in der Abb. nun neu bezeich39

Trivers (FN 19).

Roger D. Masters

26

net werden, so daß es die Hälfte von B's Gewinn enthält (die auch A zufällt). Wenn wir das Spiel nun neu berechnen (Abb. 2 b), wird klar, daß für jeden Gefangenen jetzt die Strategie des "Schweigens" dominiert, unabhängig von der Reaktion des anderen. Schweigen ist nun kein Wettbewerb, dessen Resultat beidseitiger Schaden wäre, sondern Kooperation und gegenseitiger Nutzen. Es erstaunt daher nicht, daß die Mafia eine sich auf "Familien" gründende Organisationsform hat, basierend auf einer Pseudoverwandtschaft oder sogar auf tatsächlichen Familienbanden, oder daß Staaten als Legitimation ihrer Herrschaft häufig Verwandtschaftssymbole benutzen wie "Vaterland", "Mutterland", "Brüderlichkeit". Wie dieses Beispiel zeigt, führt die Theorie der "inc1usive fitness" zur Feststellung, daß soziale Kooperation am wahrscheinlichsten ist, wenn die Partner gegenseitigen Nutzen erreichen können. Während Verwandte mit denselben Genen wahrscheinlich gemeinsame Interessen gegenüber Außenseitern haben (Nepotismus), können auch Nicht-Verwandte aus einer Kooperation Vorteile ziehen. Aber wie Axelrod und Hamilton zeigen 40 , illustriert das Dilemma des Gefangenen auch die natürlichen Grenzen einer Aufopferung für andere. Bei der Auswahl unter den verschiedenen Strategien ist es am günstigsten, gegenseitigen Schaden zu vermeiden, die Strategie des "wie du mir, so ich dir" - d. h. also, man reagiert auf den anderen "Spieler" oder das andere Lebewesen auf dieselbe Art und Weise, wie dieser in der Vorrunde reagierte. Gemeinschaftsnützliches (tugendhaftes) Verhalten hingegen kann nicht einfach als die "beste" Lösung für alle Fälle bezeichnet werden, denn eine solche Strategie kann von einem "Nassauer" durch "Betrug" ausgenutzt werden, der dann den Nutzen aus der Tugend der anderen zieht, ohne einen Teil der Kosten dafür zu tragen. Sowohl die Evolutionstheorie als auch die Spieltheorie können leicht beweisen, daß Lebewesen ihre "inclusive fitness" durch Nepotismus und gegenseitigen Nutzen maximieren. Man kann jedoch mit der "inc1usive fitness" auch "tugendhaftes" Handeln im Interesse der Gruppe erklären: Menschen opfern sich selbst, auch wenn "Gegenseitigkeit" nicht zu erwarten ist oder wenn sie außerhalb des zeitlichen Rahmens der zur Wahl stehenden Alternativen liegt. Die Spieltheorie kann die Ursprünge von derartigem Verhalten erläutern - einschließlich der wichtigen Rolle, welche die durch einen unpersönlichen und bürokratischen Staat auferlegten Beschränkungen spielen. Zu diesem Zweck braucht man nur das Dilemma des Gefangenen in eine Gruppen40

Axelrod / Hamilton (FN 19).

Evolutionsbiologie, politische Theorie, Entstehung des Staates

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situation umzuwandeln, die Hardin im Jahre 1968 als "Tragedy of the Commons" (Tragödie der Allmende) beschrieben hat. Hier steht ein Individuum im Interessengegensatz zu allen seinen Nachbarn: "Picture a pasture open to a11. It is to be expected that each herdsman will try to keep as many cattIe as possible on the commons ... As a rational being, each herdsman seeks to maximize his gain ... Adding together the component partial utilities, the rational herdsman concludes that the only sensible course to pursue is to add another animal to his herd. And another; and another ... But this is the conc1usion reached by each and every rational herdsman sharing the commons. Therein is the tragedy. Each man is locked into a system that compels him to increase his herd without limit - in a world that is limitedu." Hardin zeigt, daß diese Situation auf ein breites Spektrum von Phänomenen zutrifft, von der Erschöpfung unserer knappen Bodenschätze bis hin zur Verschrnutzung unserer Umwelt. Um zu illustrieren, wie die Spieltheorie und die Theorie der "inclusive fitness" miteinander verbunden werden können, betrachten wir einmal die "Tragedy of the Commons" als ein Spiel mit vielen Spielern, die unabhängig voneinander entscheiden, ob sie ihre Herde vergrößern wollen oder nicht. Da jeder weiß, daß seine Entscheidung die der anderen nicht beeinflußt, ist es durchaus möglich, daß verschiedene Schäfer sich für Strategien entscheiden, die in Konflikt miteinander stehen und die wir Strategie A und Strategie B nennen wollen. Nehmen wir an, daß letzten Endes nur die Kuh X von einem der Strategen (entweder von A oder von B, nicht aber von beiden) noch genügend Futter auf der Gemeindeweide finden kann. Die Größe der Unbekannten X ist jedoch nicht bekannt, d. h. niemand weiß, bei der wievielten Kuh der Futtervorrat auf der Weide erschöpft sein wird. Das Spiel hat zwei mögliche Ergebnisse: ein kurzfristiges, die Hinzufügung einer einzigen Kuh (Abb. 3 a), und ein längerfristiges (Abb. 3 b). Auf kurze Sicht wird jeder die Herde um eine Kuh vergrößern, und zwar aus demselben Grunde, aus dem die beiden Gefangenen in dem einfacheren Beispiel des Gefangenendilemmas aussagten: anders zu handeln wäre als gemeinschaftsnützliches (tugendhaftes) Verhalten nicht nötig, weil dabei ein Verlust erlitten wird, ohne daß ein Nutzen entsteht. Im Gegensatz zum Dilemma des Gefangenen ist diese Strategie jedoch kurzfristig von gegenseitigem Nutzen (Abb. 3 a); Verluste entstehen erst später. Wenn sich nämlich der Futtervorrat der Gemeindeweide nach längerer Zeit erschöpft (Abb. 3 b), dann wird der Schaden für alle Beteiligten 41 Garrett Hardin: The tragedy of the commons, in Science 162 (1968), S. 1243 - 1283, nachgedruckt in Herman E. Daly (ed.): Toward a Steady-State Economy, San Francisco 1980, S. 104.

eine Kuh mehr

B

Strategie

keine Kuh mehr

I

(allseitiger Nutzen)

B=+l

B=+l

(gemeinschaftsnützliches Verhalten)

A = +1

(Nepotismus)

A =-1

(allseitiger Schaden)

-1

B

B = -1 =

A = +1

A =-1

eine Kuh mehr

B

Strategie

I

x-l

x+ 1

B=x-1000

B=x+l

(allseitiger Nutzen)

A = x - 1000

A = x-l

(allseitiger Nutzen)

=

=

(Nepotismus)

B

B = x-l

=

(gemeinschaftsnützliches Verhalten)

keine Kuh mehr

A

A

eine Kuh mehr

x-l

keine Kuh mehr

Strategie A

Strategie A eine Kuh mehr

(die x te Kuh mehr)

(eine Kuh mehr)

keine Kuh mehr

3 b: Langfristige Überlegung

3 a: Kurzfristige Überlegung

Abb.3: Tragödie der Allmende

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Evolutionsbiologie, politische Theorie, Entstehung des Staates

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unermeßlich groß. Selbstbeschränkung (die Herde nicht zu vergrößern) bringt einen Verlust mit sich, insbesondere dann, wenn man sie mit der Strategie des Nepotismus oder des Eigennutzes vergleicht - aber das Risiko, daß jeder ein eigennütziges Ergebnis anstreben wird, läßt einen relativen Nutzen entstehen, wenn die Wahrscheinlichkeit groß genug ist, daß durch Selbstbeschränkung allgemeiner Schaden vermieden werden kann. Das Problem liegt jedoch darin, daß niemand weiß, welche Kuh die X sein wird; daher ist es ohne irgendeine Organisationsform unmöglich, sich auf das langfristige Spiel einzustellen: die Spieler berechnen weiterhin nur den unmittelbaren Nutzen, und die Tragödie scheint unvermeidlich. Ein möglicher Ausweg ist, die Spieler in zwei Gruppen aufzuteilen. Wenn diejenigen, die Strategie B gewählt haben, die Gruppe A dazu zwingen können, ihre Herde zu beschränken, während sie selbst ihre Herde vergrößern, dann kann die Gruppe B den Nutzen des Nepotismus daraus ziehen. Für die Verlierer hat die Tugend dennoch einen Lohn, da es vorteilhafter ist, zu etwas gezwungen zu werden, als gemeinsam Schaden zu erleiden. Indem sie ihre Herde nicht vergrößern, vermeiden die Strategen der Gruppe A eine Katastrophe - obwohl sie wissen, daß ihre Rivalen nicht unbedingt tugendhaft handeln. Und wenn die Gemeindeweide oder andere Gegenstände im Gemeinbesitz vergrößert werden können - z. B. durch gemeinsame Arbeit oder durch Eroberung - dann kann selbst die Gruppe mit der relativ schlechteren Strategie einen Nutzen aus der Erweiterung des kurzfristigen Spiels ziehen. Hobbes Urform des Staates ist Hardins "Tragedy of the Commons" ähnlich42 , denn man kann dem Dschungelkampf aller gegen alle nur mit Hilfe eines freiwillig akzeptierten Schiedsrichters oder Souveräns entrinnen, der kurzfristiges Selbstinteresse einschränkt. Mit anderen Worten, die Lösung von Hobbes kann als ein Spiel mit Spielern wie in Abb. 3 begriffen werden, in dem jeder A-Stratege eine Abmachung mit den anderen trifft, die Herrschaft eines B-Strategen zu akzeptieren, der als "Souverän" nicht an den "Sozialvertrag" gebunden ist. Obwohl ein solcher Souverän im Vergleich zum einzelnen Untertanen durchaus einen eigennützigen Vorteil erzielen kann, ist es vernünftig, ein Gemeinwesen zu bilden, denn das ermöglicht es den A-Strategen, die weitreichenden negativen Konsequenzen des Schadens aller ("war of all against all") zu vermeiden und gleichzeitig einen kurzfristigen gegenseitigen Nutzen zu wahren. 42 Siehe William Ophuls: Leviathan or oblivion?, in Herman E. Daly (ed.): Toward a Steady-State Economy, San Francisco 1972, S. 215 - 230.

30

Roger D. Masters

So gesehen können die Bürger nur dann aus dem politischen Gemeinwesen Nutzen ziehen, wenn sie das Risiko eingehen, daß ein Machthaber einen unverhältnismäßig großen Nutzen aus seiner Rolle als Hüter des Sozialvertrages zieht 43 • Wenn sie erst einmal eingerichtet sind, können Institutionen politischer Macht allen Mitgliedern einen erheblichen gemeinsamen Nutzen bringen, solange eine "Tragedy of the Commons" durch die allgemeine Einhaltung der Regeln vermieden wird. Daher kann es für rational denkende Individuen durchaus vernünftig sein, eine politische Gemeinschaft zu bilden, selbst wenn dies gelegentliche Opfer durch gemeinschaftsnützliches (tugendhaftes) Verhalten abverlangt, wie z. B. Steuer, Militärdienst oder im Verteidigungsfall sogar das eigene Leben 44 • Der Weg von den simplifizierenden spieltheoretischen Modellen zur präziseren Entscheidungstheorie 45 ist recht einfach und gradlinig. Dies deutet nicht nur darauf hin, daß die Unterscheidung der Wirtschaftswissenschaftler zwischen selektivem Nutzen und kollektiven Gütern auf der Evolutionsbiologie basiert, sondern es liefert auch die Erklärung für das Entstehen des Staates - und für dessen relative Zerbrechlichkeit und Desintegration46 • Zusammenarbeit kann in kleineren, aus Großfamilien gebildeten Gruppen leicht entstehen (s. Abb. 2 b) und kann sogar auf ein allgemein nutzbringendes Verhalten zwischen Nicht-Verwandten (s. Abb. 3 a) erweitert werden. Sobald jedoch das Kollektivgut eine Rolle spielt (wenn z. B. eine ökologische Grenze fast erreicht ist oder wenn sich Gruppen in Konkurrenz um nicht teilbare Güter befinden), dann erhöht das Risiko des gemeinsamen Schadens den Nutzen, den die geltenden Normen mit sich bringen; "Nassauer" können nur von einer Regierung, die Autorität hat, bestraft werden, und gut organisierte Gruppen haben häufig die Gelegenheit, schwächere oder weniger gut organisierte Gruppen zu überwältigen. Die Anthropologen streiten bereits seit langem über die Frage, ob der Staat durch Intra-Gruppen-Kooperation oder durch Inter-GruppenKonflikt entstanden ist 47 • Die gegenwärtige Forschung bestätigt die Hypothese, daß beides gleichzeitig zutreffen kann. Es ist sogar wahrscheinlich, daß beides zum Ausgleich des selektiven Nachteils notwendig war, der dadurch entsteht, daß gemeinnütziges Verhalten in einer Ge4S Howard Margolis: Selfishness, Altruism, and rationality, Cambridge/ Mass. 1982, Kap. 9. 44 Hirshleifer (FN 16). 45 Olson (FN 9). 48 Siehe den Beitrag von Campbell in diesem Band. 47 Ronald Cohen / Elman R. Service (eds.): Origins of the state, Philadelphia 1978.

Evolutionsbiologie, politische Theorie, Entstehung des Staates

31

sellschaft von Hunderttausenden von Nicht-Verwandten praktiziert wird. Und obwohl die soziale Kooperation einen erheblichen gemeinsamen Nutzen bewirken kann, was sich ja an der Bevölkerungsexplosion unserer Gattung in den vergangenen 10 000 Jahren gezeigt hat, so scheint die beste Erklärung für den Untergang früherer Zivilisationen in der zu weit getriebenen Ausbeutung ihrer Ressourcen zu liegen 48 • Hardin49 erinnert mit gutem Grund daran, daß der Staat als solcher noch keine Garantie gegen die "Tragedy of the Commons" darstellt.

IV. Die Theorie der "inclusive fitness" und die Staatsphilosophie Bei der Analyse sozialer Kooperation und der Institution des Staates überrascht es nicht, daß die Spieltheorie und ähnliche Modelle rationaler Entscheidungsprozesse so leicht mit der Theorie der "inclusive fitness" in Verbindung gebracht werden können. In beiden Ansätzen werden soziale Verhaltensweisen aus einer Kosten-Nutzen-Berechnung abgeleitet. Deshalb benutzen verschiedene Soziobiologen die Spieltheorie bei der Erläuterung ihres Konzeptes der natürlichen Auslese 50 • Kann man nun die neuere Evolutionstheorie auch mit den traditionellen Ansätzen in der Politikwissenschaft verbinden? In den Lehrgebäuden der westlichen Staatsphilosophie laufen die meisten Konzepte der "menschlichen Natur" und der Entstehung des "Staates" parallel zu den in Abb. 1 dargelegten Konzepten der Soziobiologie. Hobbes Beschreibung der Urform des Staates wurde bereits erwähnt: bei Hobbes ist der "Naturzustand des Menschen" vor allem durch Nepotismus oder Eigennutz gekennzeichnet, da eine Kooperation aufgrund einer "natural lust" im wesentlichen auf die Verwandten beschränkt ist. Daher degeneriert das Sozialleben bei Hobbes sehr schnell zu einem Schaden aller ("war of all against all"), es sei denn, daß die Individuen aus Gründen des gemeinsamen Nutzens dazu bewogen werden, der Bildung einer politischen Gemeinschaft oder eines Staates ("commonwealth") zuzustimmen ("social contract"). Hobbes leugnet also nicht nur, daß gemeinschaftsnützliches Verhalten oder Tugend natürliche Verhaltensweisen sind, sondern er ist auch nicht in der Lage, ein Selbstopfer als "naturrechtlich" zu begründen. Ein Individuum kann und wird, wenn es im Besitze seiner fünf Sinne ist, immer dann auf Marvin Harris: Cannibals and kings, New York 1977. Hardin (FN 41). 50 Maynard-Smith (FN 1); Trivers, The evolution (FN 19); Hirshleifer (FN 16). 48

48

Roger D. Masters

32

seine natürliche Unabhängigkeit pochen, wenn es um seine Sicherheit und um sein Eigeninteresse fürchtet 51 • Rousseau kritisiert Hobbes aus zwei verschiedenen Gründen, die beide klarer werden, wenn sie im Lichte der Evolutionsbiologie formuliert werden. Zunächst kritisiert Rousseau Hobbes Voraussetzung, daß die Familie - und damit ein kriegsähnlicher Naturzustand zwischen Familiengruppen - naturgegeben sei52 • Da asoziales oder rein egoistisches Verhalten bei einigen Gattungen ein mögliches Mittel zum Überleben ist, können nepotistische Institutionen, die sich auf die Fortsetzung der elterlichen Bande gründen, nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Wenn man jedoch die Familie als das Resultat einer früheren, sich von der Asozialität fortentwickelten Evolution betrachtet, dann muß zumindest als heuristisches Modell oder Hypothese angenommen werden, daß der ursprüngliche Naturzustand "friedlich" und "einsam" war. Nach Rousseau macht Hobbes also den Fehler, einen Zustand, der das Ergebnis einer historischen Veränderung ist, als "natürlich" anzusehen53 • Rousseaus zweite Kritik an Hobbes steht in direktem Gegensatz zu seiner ersten: nachdem er argumentiert, daß der ursprüngliche Zustand der Gattung weniger sozial war, als Hobbes angenommen hatte, sagt Rousseau zugleich, daß Kulturinstitutionen sozialer oder tugendhafter sein können als das Hobbessche Gemeinwesen. Rousseaus Contract Socialliest sich effektiv wie eine Denunzierung jeglicher Theorie, die wie die von Hobbes - soziale Kooperation auf einen gemeinsamen Nutzen beschränkt und so das mögliche Bestehen einer patriotischen Gemeinschaft verneint, für welche jeder Einzelne bereit wäre, sein Leben zu opfern, oder für die er andere tugendhafte Verhaltensweisen an den Tag legen würde. Während Hobbes die Logik der "Gegenseitigkeit" oder "Gemeinsamkeit" auf gemeinsame Institutionen beschränkt, die im privaten Selbstinteresse des Individuums liegen, sucht Rousseau eine Logik der Gegenseitigkeit ("contract social"), die verbindliche Verpflichtungen hervorrufen kann, welche dann das Kollektivinteresse der Gruppe zum Ausdruck bringen würden (volonte generale). Während Rousseaus Sozialvertrag einen vom alten Sparta und Rom symbolisierten Patriotismus voraussetzt, sucht Kant nach einem reinen Prinzip sozialer Verpflichtung, das frei ist von allen empirisch bestimmten oder emotionalen Begrenzungen54 • Obwohl Kant häufig als Leviathan, Teil I Kap. XIII f. Second Discourse, Teil l. 53 Siehe Roger D. Masters: The political philosophy of Rousseau, Princeton 1968, Kap. 3. 54 Kant: Metaphysical foundations of morals (ed. earl Friedrich), 1949, 51

52

S. 140 - 208.

Evolutions biologie, politische Theorie, Entstehung des Staates

33

hochabstrakter Metaphysiker gilt, sind seine Theorien doch eng mit der Naturwissenschaft und insbesondere der Biologie verbunden55 • Als Reaktion auf die vorgeblich "natürlichen" Begrenzungen der sozialen Kooperation, die sowohl von Hobbes als auch von Rousseau vertreten wurden, suchte Kant die moralische Verpflichtung als einen "reinen" Fall dessen zu begründen, was gemeinschaftsnützliches (oder tugendhaftes) Verhalten genannt wurde und in dem der Einzelne ohne jede Erwartung eines kurzfristigen oder langfristigen persönlichen Vorteils handelt. Trivers "reziproker Altruismus" enthält Elemente der Tugend, einer gemeinsam nützlichen Gegenseitigkeit und selbst eines gewissen Nepotismus. Kant dagegen gibt uns die Logik einer frei gewollten Tugend ohne irgend welche Beimischung von Eigeninteresse. Bei Hegel finden wir dann den hervorragenden Versuch, über die theoretischen Perspektiven von Hobbes, Rousseau und Kant hinauszugehen 56 • Auf die Gefahr hin, die Dinge zu sehr zu vereinfachen, könnte man sagen, daß die Hegeische Dialektik von "Recht", "Moral" und "sittlichem Leben" es ihm ermöglicht, von der Perspektive der KostenNutzen-Rechnung des Einzelnen ("Rechte" oder Ansprüche) zu einem Kantschen Verständnis von reiner Tugend als den Menschen auszeichnende Eigenschaft fortzuschreiten und von dort zur Interpretation menschlicher Institutionen als Sozialsysteme, die alle ihnen untergeordneten Ebenen integrieren ("das sittliche Leben"). Mit anderen Worten: die drei Momente von Hegels sittlichem Leben: Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat entsprechend dem Nepotismus, dem gemeinsamen Nutzen und dem gemeinschaftsnützlichen Verhalten und transformieren diese "natürlichen" Gegebenheiten in den menschlichen Bereich bewußten menschlichen Handeins. Wenn man bis ins Altertum zurückgehen wollte, könnte man ähnliche Ansichten bei den Vorsokratikern finden (deren individualistische Analyse zu einer der Hobbesschen Interpretation ähnlichen Theorie des Sozialvertrages führt), bei Plato (dessen Staat ein Modell der Gruppenselektion für gemeinschaftsnützliches Verhalten enthält, das entsteht, wenn sowohl die Familie als auch die Marktwirtschaft zerstört werden), und bei Aristoteles (der wie Hegel ein komplexes System des Ausgleichs zwischen den Institutionen auf den Ebenen der Familie, der Wirtschaft und der politischen Gemeinschaft entwickelt). Es finden sich zwar Unterschiede in der Terminologie, aber die Fragen, die die Soziobiologie aufwirft, sind im wesentlichen den traditionellen Fragen der westlichen Staatsphilosophie ähnlich. Die Analyse der "menschlichen 55

Johan Hjort: The human value of biology, CambridgejMass. 1938; Stent

S8

Hegel: Philosophy of right (ed. T. Knox), 1964.

(FN 31).

3 Recht und Ethik

Roger D. Masters Natur", die einst auf Beobachtung und Folgerung basierte, kann jetzt auch auf der wirtschaftlichen Grundlage der Evolutionsbiologie durchgeführt werden. Daraus folgt, daß die Beschreibungen der menschlichen Natur und der politischen Institutionen, die man bei Philosophen wie Hobbes, Rousseau oder Kant findet, nur halbwegs korrekte heuristische Modelle sind. Ein jedes dieser Modelle ist gültig als eine formale Beschreibung menschlicher Verhaltensweisen unter bestimmten Umständen; aber keines definiert die sich nicht verändernde Basis der menschlichen Natur. Das soll nicht heißen, daß die traditionelle Politikwissenschaft irrelevant oder nutzlos ist, nur weil die politischen Denker der Vergangenheit eine bestimmte Frage oder Erscheinung aus ihrer Sicht des Urbildes beschrieben haben. Verschiedene Theoretiker haben sich auf spezifische Situationen innerhalb der fünf Verhaltensweisen - Asozialität, Nepotismus, gegenseitiger Nutzen, gemeinschaftsnützliches Verhalten und gemeinsamer Schaden - konzentriert und haben ausführlich dargelegt, wie diese mit politischer Erfahrung in Verbindung gebracht werden können. Z. B. zeigt Hobbes, wie sich Nepotismus in einer Situation, die nur zu gegenseitigem Schaden führen kann, nur durch die Einrichtung eines von Menschen gebildeten Gemeinwesens zum gemeinsamen Nutzen wandeln kann. Rousseau erklärt, wie der Mensch sich aus einer sozialen Situation (dem Urstaat) zu einer Hobbesschen Situation gemeinsamen Schadens entwickelt haben könnte und wie die politische Gemeinschaft über die dem Allgemeinwohl dienenden Verträge von Hobbes hinausgehen und sich zu einer Gemeinschaft entwickeln kann, die von Patriotismus geprägt ist. Und Kant zeigt, wie selbst eine solche Form des gemeinschaftsnützlichen Verhaltens oder der Tugend nicht den reinen Anforderungen moralischer Verpflichtung entspricht, und zeigt damit den Grund des unvermeidlichen Konflikts zwischen Selbstinteresse und Gruppeninteresse auf. Wenn man die Staatsphilosophie so in die Terminologie der gegenwärtigen Biologie übersetzt, dann sieht man, daß die großen Denker des Abendlandes auch heute noch gelesen werden, weil sie zu wissenschaftlich relevanten Fragen Stellung nehmen, und nicht nur, weil es eine akademische Tradition ist.

V. Zusammenfassung: Die Evolutionsbiologie und der Naturalismus in Recltt und Ethik Die oben ausgeführten Verbindungen zwischen Biologie und Politikwissenschaft sollten aus den folgenden Gründen hergestellt werden: Erstens werden sowohl Qualität als auch Legitimation der Forschung

Evolutionsbiologie, politische Theorie, Entstehung des Staates

35

erheblich verbessert, wenn die verschiedenen Perspektiven auf einer Basis vereinigt werden können. Zweitens könnten Theorie und Ansätze wie die, die in der Evolutionsbiologie verwendet werden, bisher unbekannte oder unbewiesene Verhältnisse von großer praktischer Bedeutung in empirischen Untersuchungen über Politik und sozialen Wandel ans Tageslicht bringen. Drittens, und dies ist das wichtigste Argument, hat die Evolutionsbiologie bedeutende Auswirkungen auf die guten Sitten und auf unsere moralische Urteilsfähigkeit. Letzteres Argument wird umstritten sein, denn es wird uns immer wieder vorgehalten, es sei ein naturalistischer Trugschluß, biologische Ansätze mit Entscheidungsprozessen in Verbindung zu bringen. Aber im Gegensatz zu den traditionellen Ansichten der Biologie akzeptiert die Theorie der "inclusive fitness" Unterschiede in der Beurteilung als natürlich und unvermeidlich. Es sei daran erinnert, wie die Kategorien in Abb. 1 auch auf die verschiedenen Situationen in Abb. 2 a, 2 b, 3 a und 3 b angewandt werden konnten: da die Bestimmung eines Ergebnisses davon abhängt, wessen Nutzen berechnet wird, ist Tugend für A Nepotismus für B (und umgekehrt). Wenn die Theorie der "inclusive fitness" in politischen oder ethischen Fragen berücksichtigt wird, so bedeutet das nicht, daß die eine oder andere Lösung als "richtig" etikettiert wird. Vielmehr zeigt sie nicht nur die Gründe für die häufig so leidenschaftlichen Debatten über Recht und Unrecht auf, sondern auch die Umstände, unter denen die eine oder andere Schlußfolgerung möglich und korrekt ist57 • Wenn dieser Ansatz weiterentwickelt wird - und viele Forscher haben damit begonnen58 - , dann ergibt sich die Möglichkeit der Rückkehr zu etwas, was der politischen und ethischen Lehre des Aristoteles ähnlich ist 59 • Dann ist "Naturalismus" kein logischer Trugschluß, sondern er verspricht eine Rückkehr zu einer ethischen Tradition mit einer langen und ehrenvollen Geschichte. Dies bedeutet jedoch nicht eine Wiederaufnahme jener Naturrechtslehre, die die Geltung absoluter Normen, unabhängig von Zeit und Ort, behauptet. Der Naturalismus scheint vielmehr auf ein biologisches und kulturelles Äquivalent der Relativitätstheorie in der Physik hinzudeuten. Man könnte nämlich behaupten, daß die Soziobiologie zum Verständnis sowohl der "speziellen Relativität" (d. h. der Meinungsverschiedenheit von Individuen derselben Gesellschaft oder Kultur infolge ihrer unterschiedlichen Perspektiven in Fragen der Ethik) als auch zu jenem der "allgemeinen 57 z. B. Aristoteles: Politik I, 1255 a - b; 111, 1281 - 1282 b; IV, 1288 b; V, 1313 b - 1315 b; VII, 1323 a - 1325 b. 58 z. B. Stent (FN 31). 59 Roger D. Masters: Politics as a biological phenomenon, in Social Science Information 14 (1975), S. 7 - 63.

3*

36

Hager D. Masters

Relativität" beiträgt (d. h. der Unterschiede der Rechtsnormen und Bräuche in den jeweiligen Gesellschaften und Kulturen infolge ihrer Umwelt und Geschichte). Der Naturalismus könnte derartige Unterschiede erklären, ohne dabei in das andere Extrem, nämlich einen reinen "Relativismus" zu verfallen, da die Evolutionstheorie einen Maßstab zur Verfügung stellt, an dem menschliche Verhaltensweisen gemessen werden können. Um zu vermeiden, daß diese Ansicht als Rückkehr zu der veralteten Ansicht mißverstanden wird, daß "das, was ist, richtig ist", soll noch einmal daran erinnert werden, daß schon Aristoteles betont, die Natur sei ein wichtiges Kriterium der ethischen Beurteilung60 • Jedoch wäre es z. B. in der Medizin nicht akzeptabel zu sagen, daß ein Blinddarmdurchbruch zum "natürlichen Lauf der Dinge" gehöre und daß ein Mensch daher an Blinddarmentzündung sterben .sollte. Genauso wenig muß die Entdeckung unvermeidlicher Tendenzen im Prozeß des sozialen Wandels bedeuten, daß eine jede dieser Veränderungen "gut" und wünschenswert ist. Wo schlechtfundierte Biologie durch einen sog. "naturalistischen Trugschluß" verwirrt wird, da sollte klargestellt werden, auf welcher Grundlage ethische Werturteile zu fällen sind dies ist um so dringlicher, als wir in einem Zeitalter leben, das durch die Drohung eines Atomkrieges geprägt wird, durch Gentechnik und Terrorismus. Die Trennung von Sein und Sollen mag in ruhigen Zeiten nicht so schwierig und vernünftig wirken, aber sie ist, wie Leo Strauss es so treffend ausdrückte6 t, "retail sanity and wholesale madness". Dies sind jedoch komplexe und umstrittene Fragen. Sie sind hier nur aufgeworfen worden, um aufzuzeigen, daß ein evolutionärer Ansatz bei Untersuchungen über Politik und Ethik weitreichende Auswirkungen hat. Es mag ein intellektueller Luxus sein, die Naturwissenschaften mit den Sozialwissenschaften in Verbindung bringen zu wollen, und es wird vielleicht schwierig oder unmöglich sein, neue empirische Entdeckungen zu machen, die zu sozialen und politischen Veränderungen führen. Aber selbst wenn der evolutionäre Ansatz nur unsere moralischen oder politischen Entscheidungen erhellt, dann sollte das ein ausreichender Grund sein, die biologischen Grundlagen der politischen Theorie und des Staates zu erforschen. Wenn - wie hier angedeutet wurde - Gesetze und Regierungen nicht nur willkürliche Manifestationen des menschlichen Willens sind, dann täten wir gut daran, der Sokratischen Tradition zu folgen und nach den Gesetzmäßigkeiten zu suchen für das, was recht ist oder auch nur "der Natur entspricht". 10 11

Politik I, 1252 a - 1253 a; Ethik 11, 1103 a; V. 1134 b - 1135 a. Leo Strauss: Natural right and history, Chicago 1953, S. 4.

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Mehr Fragen als Antworten? Erkenntnistheoretischer Pessimismus mit Aufheiterungen

ANTHROPOLOGIE, RECHT UND GENETIK Von E. Adamson Hoebel

J. Wenn wir zur Frage Stellung nehmen, ob die Ordnung des menschlichen Sozialverhaltens in unserem Erbgut verankert ist, gehen wir von der Voraussetzung aus, daß der Mensch sich evolutionär entwickelt hat. Dabei stimmen wir mit Theodosius Dobzhansky überein, wenn er sagt, es stehe - von übertreibungen abgesehen - fest, daß viele Eigenarten in der ontologischen Entwicklung des Menschen nur verstanden werden können, wenn man annimmt, daß sie Spuren früherer Entwicklungsformen weit entfernter Vorfahren sind l . Diese Aussagen sind unbestritten und wurden schon vor hundert Jahren von Anthropologen akzeptiert, aber leider nur auf die Anatomie und gewisse physiologische Vorgänge angewandt. In den ersten Jahren nach Darwins Veröffentlichungen schufen westliche Anthropologen wie Tylor, Lubbock, Frazer, Westermark, Bachofen und Morgan theoretische Systeme zur Erklärung der sozialen und kulturellen Entwicklung. Sie versuchten, Entwicklungsstufen menschlicher Lebensweisen, wie sie z. B. bei der Paarung, der Sippschaft, dem Eigentum, dem Staat und in der Religion vorkommen, aufzuspüren. Sir Henry Maine versuchte dasselbe für die Evolution des Rechts, allerdings in bescheidenerem Rahmen. Jedoch wurden nie ernsthafte Versuche unternommen, menschliche Institutionen auf das spezifische Sozialverhalten innerhalb von Tiergruppen zurückzuführen. Es wurden lediglich Hypothesen in bezug auf prähistorische Formen der Paarung, der Sippschaft und der "Horden"-Organisation aufgestellt. Schon früh in diesem Jahrhundert, als die Ethnologie mehr und mehr empirisch wurde, traten Anthropologen, mit Ausnahme von Vertretern der prähistorischen Archäologie, den Theorien einer Kulturevolution mit Skepsis entgegen. In den Vereinigten Staaten erklärte Robert Lowie: "Es gibt keinen Königsweg zum Verständnis kultureller Phänomene"2 und bewies ausführlich in· seiner Arbeit über die Primitive 1 T. Dobzhansky: Mankind Evolving. The Evolution of the Human Species, 3. Aufl. 1951, S. 165. 2 R. H. Lowie: Primitive Society, 1920, S. 107.

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Society, daß "die Sozialgeschichte eines bestimmten Volkes nicht mit Hilfe eines allgemeingültigen Entwicklungsschemas rekonstruiert werden kann, sondern nur unter Berücksichtigung seiner kulturellen Beziehungen zu benachbarten Völkern"3. Deduktive Erklärungen von Morgan und Frazer, die die Sororats- und Leviratsformen der Ehe als Überreste einer einst existierenden "Gruppenehe" ansahen, wurden von Lowie als "haltlose Vermutungen, die man fallen lassen kann", abgelehnt. Diese Eheformen seien eigenständige Institutionen, die nur in ihrem Zusammenhang zu sehen und als solche kaum besser zu verstehen seien, wenn man sie als Überreste einer Lebensweise ansehe, die man niemals beobachtet habe'. A. R. Radc1iffe-Brown bemerkte im Jahre 1940, "daß die Bezeichnung ,evolutioneller Anthropologe' in gewissen anthropologischen Kreisen fast als Beleidigung empfunden"5 würde, und Kluckhohn schrieb, daß empirische Vorsicht in der amerikanischen Anthropologie derartige Ausmaße angenommen habe, daß "der Vorschlag, etwas sei ,theoretisch', fast als unanständig angesehen"6 werde. Zwischen 1910 und 1930 beschränkte sich die amerikanische Anthropologie hauptsächlich auf ethnographische Studien und auf historische Rekonstruktionen der kulturellen Entwicklung von Indianergruppen an der Nordwestküste und in der Prärie. Mittlerweile entwickelte sich der britische Funktionalismus unter Führung von Bronislav Malinowski und Radc1iffe-Brown. Beide Forscher lehnten die Vorstellung einer Kulturevolution und die historische Rekonstruktion als unwissenschaftlich ab, weil diese "Theorien" sich hauptsächlich nur auf empirisch nicht zu dokumentierende Daten stützten. Malinowski verwarf beide Theorien als "unbrauchbare Anthropologie" und behauptete, die einzig "brauchbare" Anthropologie sei nur solche, die sich auf die empirische Beobachtung lebender Völker stützt und als solche mit Hilfe der funktionalen Analyse arbeitet, die allgemeine Gesetze durch die Beschreibung und Erforschung der inneren Abhängigkeiten von einzelnen Merkmalen der Kultur abzuleiten versucht7 • Malinowski lehnte jedoch die biophysikalische Grundlage der Kulturentwicklung nicht ab. Er erklärte vielmehr, daß "die psychologische Natur der gesellschaftlichen Wirklichkeit im individuellen Gehirn oder 3 Ebd. S. 185. , Ebd. 5 A. R. Radcliffe-Brown: Structure and Function in Primitive Society, 1940. 8 C. Kluckhohn: The Place of Theory in Anthropology (The Philosophy of Science Vol. 6), 1939, S. 333. 7 B. Malinowski: Useful and Useless Anthropology, in The New Republic No. 641 (Vol. 50,2), S. 109 - 111.

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Nervensystem festgestellt werden kann"8. "Die organischen Bedürfnisse der Menschheit bilden die grundsätzlichen Imperative für die Entwicklung der Kultur, indem sie jede Gesellschaft dazu zwingen, eine Anzahl organisierter Tätigkeiten auszuüben"9. Malinowski versteht hier unter "Bedürfnissen" z. B. die Ernährung, die sexuelle Fortpflanzung, Schutzmaßnahmen gegenüber äußeren Gefahren, körperliches Wohlbehagen - Bedürfnisse also, die in jeder menschlichen Kultur zu institutionalisiertem Antwortverhalten führen. Ferner schreibt er, daß "Religion und Magie sowie die Erhaltung einer Rechtsordnung oder wissenschaftlicher und mythologischer Systeme mit derart beständiger Regelmäßigkeit in jeder Kultur vorkommen, daß man annehmen muß, auch sie hätten ihren Ursprung in einigen tiefliegenden Trieben oder Imperativen"10. Leider machte Malinowski nie den Versuch, bestimmte physiologische Mechanismen mit bestimmten Formen kultureller Institutionen in Verbindung zu bringen. Er schrieb den letzteren vielmehr eine aus sich selbst stammende Wirkung zu, unabhängig von einer biologischen Grundlage, die angeblich ihre ursprüngliche Entwicklung verursachte. Ich werde später noch einmal auf die Imperative eines Überlebens der Gesellschaft (und des Individuums) zurückkommen. Ich habe hier Malinowski hauptsächlich deshalb zitiert, weil er der erste Sozialanthropologe war, der - wenn auch unklar - einen Kausalzusammenhang zwischen der genetisch bestimmten Physiologie von Individuen und den Gruppenorganisationen, Kulturformen und -institutionen feststelltell. Radcliffe-Brown hingegen lenkte die britische und zum Teil auch die amerikanische Anthropologie in eine andere Richtung. Er stützte sich hauptsächlich auf die frühe Durkheimsche Theorie, daß die soziale Realität äußerlich und sui generis sei und daß man Verhalten und Persönlichkeit als Ergebnis einer individuellen Internalisierung des Kollektivgewissens (d. h. der kulturellen Ordnung von Normen und Werten) aufzufassen habe. Er suchte daher nach Regelmäßigkeiten in der Sozialstruktur. Obwohl er sowohl die organische als auch die soziale Evolution anerkannte, interessierte er sich für keine von beiden, weil er glaubte, daß die Sozialanthropologie nur an Menschen und deren gegenseitigen Beziehungen interessiert sei und daß deren gemeinsame 8

Malinowski: Culture, in Encyclopaedia of the Social Sciences Bd. 4, 1937,

S. 631 - 645, 623. 9 Ebd. S. 627.

10 Ebd. 11 Der Leser wird gebeten, sich Ralph Piddingtons Kritik von Malinowskis Theorie der Triebe und Sozial systeme anzusehen, oder Ta1cott Parson: Malinowski and the Theory of Social Action, in: R. Firth (ed.): Man and Culture - An Evaluation of the Work of B. Malinowski.

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Interessen und Werte von vornherein durch ihre Gesellschaft (Kultur) bestimmt seien. Ferner sah er den Menschen in der Gruppe als zwei verschiedene Wesen: als Individuum und als Person. Als Individuum sah er den Menschen als einen biologischen Organismus, "als eine Anhäufung von unzähligen Molekülen, die in einer komplizierten Struktur geordnet sind, in der sich physiologische und psychologische Vorgänge und Veränderungen abspielen". Seiner Meinung nach "soll der Einzelmensch von Physiologen und Psychologen untersucht werden". Aber "der Mensch als Person ist ein Komplex von sozialen Beziehungen. Als solcher kann er nur unter Berücksichtigung seiner Sozialstruktur untersucht werden. Das ist die Aufgabe des Sozialanthropologen"12. Um mich hier kurz zu fassen: Sozial anthropologen hier und in England - mit Ausnahme derjenigen, die Malinowskis übertriebene Theorie der biogenetischen Bedürfnisse und "Triebe" als kulturerzeugenden Faktor akzeptieren - beschränken ihre Forschungen hauptsächlich auf die Sozialstruktur und die soziale Wirklichkeit. Entweder lehnen sie dogmatisch die mögliche Bedeutung der allgemein menschlichen genetischen Faktoren ab oder sie nehmen an, daß diese Frage von so untergeordneter Bedeutung für die Forschung ist, daß man lieber so wenig Zeit wie möglich damit verliert. Das ist natürlich eine rationale Entscheidung, die man respektieren kann. Die logischen Grundlagen für diese Haltung wurden kürzlich in dem Sammelband: Closed Systems and Open Minds. The Limits of Naivity in Social Anthropology (1964) von Max Gluckman veröffentlicht. In diesem Band werden Themen behandelt, die unser Grundproblem berühren: Können Aussagen und Ergebnisse aus dem Bereich der Sozialstruktur sinnvoll mit denen der Rechtssoziologie und Rechtsanthropologie verbunden werden? Gluckman und sein Mitarbeiter, der Ökonom Ely Devons, wollen den Forschungsbereich des Einzelnen begrenzen und Fragen, die über sein engeres Fachgebiet hinausreichen, als naiv abweisen. Sie zeigen fünf Ansätze auf, die allgemein für wissenschaftliche Formulierungen benutzt werden, nämlich: 1. Die Zusammenfassung von komplexen Tatsachen ohne Analyse.

2. Die Abgrenzung des eigenen Forschungsbereichs. 3. Die Zusammenfassung der Ergebnisse anderer Wissenschaften. 4. Die naive Aussage über Gesichtspunkte der Wirklichkeit, die noch nicht untersucht wurden. 5. Die Vereinfachung der Daten innerhalb eines Forschungsbereichs 13 • 12

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A. R. Radcliffe-Brown (N. 5), S. 193 f. Closed Systems and Open Minds, S. 17.

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Wir alle arbeiten in diesem Rahmen. Nur durch die Begrenzung unseres Forschungsbereichs können wir Spezialkenntnisse erwerben und empirische Resultate erlangen. Aber wir akzeptieren gewisse Tatsachen als gegeben. Wenn z. B. ein Anthropologe den tropischen Urwald als Habitat akzeptiert und nicht nach einer meteorologischen Erklärung dafür sucht, daß es in Spanien hauptsächlich im Flachland regnet, geht er "unhinterfragt" davon aus, daß es im Urwald ununterbrochen auf seine "Leute" regnet. Wenn wir versuchen, die Eiszeit zu verstehen, fassen wir Ergebnisse der atmosphärischen und astrologischen Physik zusammen. Zu oft identifizieren wir uns mit einem Wissenszweig, der außerhalb unserer Kompetenz liegt. Natürlich vereinfachen wir die Daten innerhalb unseres Forschungsbereichs. Jeder ethnographische Bericht ist mehr oder weniger eine abstrakte Formulierung der Lebensweise eines Stammes. Unser Problem ist in der folgenden Frage enthalten: Können wir weiterhin unsere geschlossenen Systeme aufrechterhalten, ohne die Entwicklung einer neuen Theorie für das Verständnis menschlichen Verhaltens zu gefährden; und wieviel Naivität läßt sich beim Einblick in fremde Wissensgebiete verkraften, ohne daß wir unsere eigenen Erkenntnisse durch "zweifelhafte Halbwahrheiten" verzerren? Die Soziobiologie hat einen schlechten Ruf (und wird, wie mir ein Teilnehmer dieser Konferenz in Monterey berichtete, von einer bekannten Schule der Psychologie vollkommen abgelehnt). Abgesehen von weitverbreiteten Gefühlen und Vorurteilen, die auf sozialpolitischen Argumenten beruhen, wird die Abneigung gegenüber der Soziobiologie damit begründet, daß sie sich weigert, ihren Bereich zu begrenzen, und unzählige Aussagen über Aspekte der Wirklichkeit macht, die außerhalb der Biologie und Ethologie von Insekten und niedrigen Tierarten liegen. Hinzu kommt, daß sie biologische Phänomene zu sehr vereinfacht. Lumsden und Wilson 14 versuchten in ihrer letzten Veröffentlichung, diesen Mangel zu beseitigen, indem sie genetische und kulturelle Einflüsse in Beziehung setzten. Einer unserer bekanntesten biologischen Anthropologen und Pionier der Primatenforschung, Sherwood Washburn15 , weist darauf hin, daß die moderne Genetik sich sehr von dem unterscheidet, was Wilson 18 im Jahre 1978 schrieb, und daß Soziobiologie nicht zu den komplexen Problemen der modernen Evolutionstheorie Stellung nimmt. Die Evolutionstheorie soll in den letzten zwanzig Jahren vollkommen von der molekularen Biologie umgestaltet Charles J. Lumsden / Edward O. Wilson: Genes, Mind and Culture, 1981. S. L. Washburn, Jr.: Human Biology and Social Sciences, in: E. A. Hoebel, R. L. Currier and Susan Kaiser (eds.): Crisis in Anthropology. A View from Spring Hill, im Erscheinen. 18 E. O. Wilson: On Human Nature, 1978. 14

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worden sein. Dobzhansky und andere Forscher schreiben, daß die jüngste Forschung "eine überwältigende Flut von genetischer Variabilität" zeigt und "daß dadurch die klassische Theorie einfach hinfällig geworden sei". Ferner meint er, "daß die Bestimmung der jeweiligen Bedeutung von Selektion, Veranlagung oder neutralen Fakten" das wichtigste ungelöste Problem in der Erkenntnis jener Mechanismen sei, die die biologische Evolution hervorrufen17. Chagnon und Irons, bemerkt Washburn, stützen sich in ihrer Veröffentlichung über Evolutionary Biology and Human Social Behavior (1979) "ausschließlich nur auf die synthetische Theorie der vierziger Jahre sowie die Theorie der 'inclusive fitness', während sie in ihrer Bibliographie von 78 Seiten fast keine Literaturnachweise der bedeutenden Entwicklungen der Evolutionstheorie bringen"18. Wir müssen hier allerdings vorsichtig sein, denn wenige Anthropologen, und das schließt mich ein, wissen etwas über die moderne wissenschaftliche Evolutionstheorie. Während Gunther Stent sich gründlich mit Sahlins polemischem Angriff auf die Soziobiologie auseinandersetzt1 9 , weist Melvin Konner (eine Autorität auf dem Gebiete der biologischen Anthropologie) Sahlins Kritik mit den Worten zurück: "Sein Verständnis der grundsätzlichen wissenschaftlichen Probleme ist so gering, daß eine Diskussion seiner Kritik unmöglich ist20 ." Wichtig ist, daß wir die durch unsere Naivität gezogenen Grenzen erkennen und danach handeln.

ß. Nun wollen wir das Recht als eine soziale Institution betrachten. Kann man es ohne weiteres mit einer Verhaltensforschung verbinden, die auf der Genetik aufbaut? Ich möchte dies mit der Einschränkung bejahen, sich der durch unsere Naivität gezogenen Grenzen bewußt zu sein. Auf dieser Basis ist das Thema für mich von Interesse, doch meine Erwartungen sind begrenzt. In den letzten 50 Jahren hat die Verhaltensforschung die vergleichende Rechtswissenschaft sehr viel weitergebracht. "Das Recht" wird von unserem Kollegen Paul Bohannan "als das am besten erforschte Spezial gebiet der Anthropologie" bezeichnet, in dem "der Umfang der T. Dobzhansky, et al.: Evolution, 1979, S. 156. Washburn (N. 15). 19 G. S. Stent (ed.): Morality as a Biological Phenomenon. The Presuppositions of Sociobiological Research, 1980, S. 4 - 10. 20 Melvin J. Konner: Human Behavioral Biology. Preparations for the Birth of a Paradigm in Anthropology, in: Crisis in Anthropology (N. 15). 17 18

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einschlägigen Literatur zwar gering, aber von hoher Qualität ist"21. Die Rechtsanthropologie baut auf empirischer Grundlage auf und wurde mit Hilfe sorgfältig ausgeführter wissenschaftlicher Forschungen in verschiedenen Stämmen Nord- und Zentralamerikas, Afrikas und Ozeaniens entwickelt, die teils eine einfache, teils eine komplexe Lebensweise und Sozialordnung haben. Um ihre Untersuchungen durchzuführen, bedienen sich die Rechtsanthropologen im allgemeinen der ease law-Methode, d. h. der Beobachtung und Protokollierung von Streit und Konflikt und wie diese Fälle von den Mitgliedern einer bestimmten Gruppe verstanden, behandelt und gelöst werden. Gleichzeitig hat die Rechtsanthropologie eine rege theoretische Diskussion ausgelöst. So wurde gefragt, wie das Recht am besten begrifflich erfaßt und identifiziert werden kann, inwieweit es ein reales Phänomen oder nur eine Erfindung des wissenschaftlichen Beobachters ist. Die Kriterien zur Identifizierung des Rechts im Hinblick auf Normen, Methoden zur Konfliktlösung, Sanktionen, Autorität und Rangordnung innerhalb einer Gruppe, in der die jeweilige Rechtsform angewendet werden kann, haben interne und nach außen reichende Wirkungen, die den Einfluß des Rechts verengen oder erweitern, je nach der Präferenz des Forschers. Es ist leider hier nicht möglich, eine ausführliche Beschreibung der Erhebungen und Ergebnisse der ethnologischen Rechtswissenschaft vorzunehmen - man würde zuviel wichtiges Material auslassen müssen. Trotzdem möchte ich eine knappe Zusammenfassung meiner eigenen Meinung wiedergeben und beschreiben, was die Rechtsanthropologie zur Natur des Rechts und seinen Funktionen in der menschlichen Gesellschaft beitragen kann und wie tief das Recht in der biologischen Natur des Menschen und der nicht-menschlichen Arten verwurzelt ist 22 . Zunächst einmal ist das Recht ein kulturelles Phänomen, das man nicht ohne seinen gesamten sozialen Kontext untersuchen kann. Es ist eine menschliche Erfindung, die als flexibler Mechanismus zum Zwecke der Lebensfähigkeit von Individuen, kleineren Gruppen und der Gesellschaft entwickelt wurde. Gerade der Blick auf die Sozialstruktur trägt dazu bei, das Verhalten zu normalisieren und Beziehungen zwischen Individuen und Gruppen (z. B. Familien, verzweigten Blutverwandtschaften, Interessengruppen und Klassen) zu regulieren. Auch wenn man das Recht als separates und spezifisches Phänomen untersucht, darf man nie seinen kulturellen Ursprung oder seine enge VerP. Bohannan: Social Anthropology, 1963, S. 284. Eine ausführliche Darlegung ist in Leopold Pospisils Artikel: E. Adamson Hoebel and the Anthropology of Law, enthalten (Lawand Society Review 7, 1973, S. 537 - 559). 11

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bindung mit anderen Aspekten des Wirtschafts- und Sozialsystems vergessen. Die charakteristischen Merkmale des Rechts sind: 1. Die Regelmäßigkeit. Das Recht besteht aus sozialen Normen, die als Verhaltensmuster für bestimmte Situationen festgelegt worden sind. Regelmäßigkeit ist selten absolut. Das Verhalten richtet sich nach dem allgemeinen Brauch, und die meisten Rechtssysteme versuchen, sich dem anzupassen. Die Regelmäßigkeit bringt auch einen weiteren Faktor mit sich, nämlich die Voraussagbarkeit. 2. Die Sanktion. Für alle sozialen Normen gibt es Sanktionen. Gehorsam hat positive Folgen (entweder in Form eines Gefühls innerer Befriedigung beim Einzelnen oder in Form einer Belohnung durch die Gesellschaft), Ungehorsam hat negative Folgen (entweder in Form eines schlechten Gewissens und damit eines negativen Gefühls beim Einzelnen oder in Form negativer Reaktionen der Gesellschaft). Rechtsnormen sind konkret und ihre übertretung hat konkrete Sanktionen zur Folge. Rechtsnormen können durch die Anwendung von körperlichen oder finanziellen Sanktionen (d. h. Rückerstattung oder Schadenersatz) erzwungen werden. Diese enge, auf den Zwang abstellende Definition wird jedoch nicht von allen Rechtsanthropologen akzeptiert.

3. Die rechtmäßige ("offizielle") Autorität. Das Recht kennzeichnet eine verbotene Handlung durch allgemein anerkannte Regeln sowie die eventuelle Folge eines Gerichtsverfahrens. Das Gerichtsverfahren wird vom Geschädigten, von Mitgliedern seiner Gruppe oder von offiziellen Amtsträgern (z. B. Häuptlingen, Oberhäuptlingen, Priestern, Richtern und Räten) eingeleitet, die das Interesse der Gruppe vertreten. "Due Process" bedeutet, daß das Prozeßverfahren von der Gruppe als korrekt und richtig akzeptiert wird und daß auch die Sanktionen als gerecht anerkannt werden. Selbstverständlich gibt es für den Rechtsanthropologen bestimmte Voraussetzungen für das überleben: diese sind biologisch und genetisch verankert, durch kulturelle Anpassung vom einzelnen menschlichen Organismus erworben sowie je nach Sozietät verschieden. Aber es bleibt doch fraglich, ob es genetische Schranken für die kulturbedingte Anpassungsfähigkeit gibt. Sicherlich beschränkt die Biologie das kulturelle Leistungsvermögen, ferner kontrolliert sie vieles im organischen Bereich des individuellen Verhaltens (z. B. neurologische, metabolische und reproduktive Funktionen). J. W. Bennett und Melvin Tumin, die sich hauptsächlich auf die Arbeiten von Malinowski und Talcott Parsons berufen, formulierten als sozial-anthropologische Kriterien für die überlebensfähigkeit einer Gruppe 23 : 23

J. W. Bennet / Melvin Tumin: Social Life. Structure and. Function, 1948.

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1. Die Gewährleistung der biologischen Funktionen der Gruppenmitglieder.

2. Die Sicherung des Wachstums der Gruppe durch neue Mitglieder. 3. Die Erziehung der neuen Mitglieder zu selbständigen erwachsenen Gruppenmitgliedern. 4. Gütererzeugung und Dienstleistungen, die für den Lebensunterhalt notwendig sind, sowie deren Verteilung. 5. Die Aufrechterhaltung der Ordnung innerhalb der Gruppe und gegenüber Außenstehenden. 6. Die Definition des "Lebens", die Aufrechterhaltung des Lebenswillens sowie die Erledigung von Aufgaben, die für das Weiterleben erforderlich sind. Punkt 5 der oben erwähnten Funktionen wird von rechtlichen Institutionen gesteuert. Das Recht hat zur Aufrechterhaltung der Ordnung die folgenden vier spezifischen Aufgaben: 1. Die Auswahl der Grundsätze für das Zusammenleben. Es muß festgelegt werden, welche Tätigkeiten erlaubt und welche verboten sind, so daß man wenigstens eine minimale Integration im Verhalten von Individuen und Gruppen innerhalb einer Gesellschaft erzielt.

2. Die Aggressionshemmung, das bedeutet, die nackte Gewalt zu zähmen und so zu lenken, daß sie die Gesellschaftsordnung aufrechterhält. Hierzu gehören die Zuteilung von Autorität und die Entscheidung, wer körperlichen Zwang als gesellschaftlich sanktioniertes Vorrecht anwenden darf und wie. 3. Die Lösung von Streitfällen; die Versöhnung nach Rechtsbrüchen, wenn etwas innerhalb konkreter Beziehungen als Rechtsbruch erklärt wird. 4. Die Normanpassung. Die explizite Neuformulierung von Beziehungen zwischen Individuen und Gruppen, wenn sich die Lebensbedingungen ändern. Der konkrete Inhalt primitiver Rechtsordnungen ist sehr unterschiedlich und richtet sich nach den vielfältigen Formen der Sozialstrukturen in der Welt. Aber auch diese sind nicht unbegrenzt. An allgemeinen Verhaltensnormen finde ich nur zwei Formen des Verhaltens, die beinahe universal sind und die in den Bereich des Rechts gehören: das Recht auf Leben und das Recht auf eine Frau. Mord innerhalb eines Stammes ist überall verboten und wird bestraft. Bestimmte Arten von Mord, wie z. B. der Kinder- und der Greisenmord bei den primitiven Eskimos, können aber vom Recht geduldet werden. Die Todesstrafe ist weitverbreitet, aber nicht universal, während wirtschaftliche Sanktio-

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nen (Schadenersatz) universal sind. Der Ehebruch, d. h. der geschlechtliche Verkehr mit dem Ehegatten eines anderen ohne Einwilligung des Betrogenen, scheint ebenfalls (mit wenigen Ausnahmen) überall bestraft zu werden. Das Recht schützt das Paarband. Interessanterweise ist das Tabu gegen Inzest, obwohl es sich sehr nach Verwandtschaftsinstitutionen in der Sozialstruktur richtet, keineswegs in jedem Rechtssystem enthalten. Die Komanche-Indianer z. B. konnten mir nicht von einem einzigen Fall berichten und konnten sich nicht vorstellen, wie sie in einem hypothetischen Fall reagieren würden, außer daß man die Schuldigen wahrscheinlich als "verrückt" (keshuant) bezeichnen würde. Verletzungen des Eigentums an materiellen und geistigen Dingen werden weitgehend, aber nicht überall, rechtlich bestraft. Die zunehmende Entwicklung komplexer Unterhaltssysteme (vom Jagen und Sammeln zur Hortikultur und zur Industrie) schafft mehr Rechtsnormen; diese Tendenz wird verstärkt durch die gleichzeitig wachsende Bevölkerung mit ihrem Hang zur Verstädterung und zur Vervielfältigung interner Strukturen und durch die Differenzierung und Zentralisierung der politischen Macht. Der Sozial evolutionismus ist bei den amerikanischen Anthropologen wieder in Mode gekommen. Ich selbst habe schon lange betont, daß er - im weiteren und engeren Sinne - auf das Recht zutrifft 24 • Ich glaube, daß die Theorie der biologischen und kulturellen Entwicklung richtig ist. Die Frage, wie weit die Sozialordnung bei den Menschen genetisch bestimmt ist, ist zwar noch unbeantwortet. Ich bleibe aber aufgeschlossen gegenüber der Suche nach epigenetischen Formen der vielfältigen Bildungen von rechtlichen Kulturgenen. Trotzdem dürfen wir in unseren jeweiligen Forschungsgebieten auf keinen Fall die der Naivität gezogenen Grenzen überschreiten. Schließlich möchte ich noch hervorheben, daß ich in meinen Arbeiten die Fragestellung Ethik und Recht stets vermieden habe. Anders Bohannan25 • Auch Radcliffe-Brown nahm damals in seinen Vorlesungen an der Universität Chicago über "A Natural Science 0/ Society" (1948) dazu Stellung. In seinen Schlußbemerkungen über die "strukturellen Prinzipien des Sozialsystems" behauptete er, daß "ein abstraktes Grundprinzip der Gerechtigkeit" das universelle Merkmal der sozialen Struktur sei. Für den Sozialanthropologen ist dies nicht eine Frage der Ethik (des "Sollens"), sondern er beschäftigt sich lediglich mit der Realität (dem "Sein"): er sucht ein grundlegendes Prinzip für die Entwicklung von Sozialstrukturen. Dieses zeigt sich in dem von Radcliffe24 Z. B. E. A. Hoebel: The Law of Primitive Man. A Study of Comparative Legal Dynamies, 1954, Kapitel 12: The Trend of Law. 25 Siehe P. Bohannan: Justice and Judgment Among the Tiv, 1957.

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Brown formulierten Prinzip der gerechten Strafe, auf das sich wiederum das Prinzip der ausgleichenden Belohnung für geleistete Dienste (Reziprozität) aufbaut, was wiederum einen starken Einfluß auf Rechtsformen und -handlungen ausübt. In seiner Kurzfassung, in der er diese Anschauung selbst als ein universales Strukturprinzip bezeichnete, schrieb Radcliffe-Brown: "Prinzipien unterscheiden sich nur nach den Maßstäben, die zur Bemessung dessen, was für recht gehalten wird, in verschiedenen Sozialsystemen angewandt werden ... Ich habe hier ein Prinzip vorgeschlagen, das Wertbestimmungen von Gütern, Diensten und Schäden auf ein Grundprinzip zurückführt ... , welches wahrscheinlich ein allgemeines Strukturprinzip ist, charakteristisch für alle menschlichen Sozietäten, ... in dem Sinne, daß es alle menschlichen Gruppen, die jemals existierten oder existieren werden, kennzeichnet 28 ." Diese Behauptung stützt sich nicht auf empirische Forschung. Ihr Thema wurde noch nie auf holistisch-kultureller Basis wissenschaftlich behandelt. Aber die Fragestellung ist entscheidend für unser Bestreben, Zusammenhänge zwischen Soziobiologie und Recht zu finden.

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N. 5, S. 140.

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DIE BEDEUTUNG DER SOZIOBIOLOGIE FüR DIE RECHTSWISSENSCHAFT

Einige Worte der Warnung Von Richard D. Schwartz Es wird berichtet, daß J. B. S. Haldane gefragt wurde, was er aufgrund seiner umfangreichen biologischen Kenntnisse über den Charakter Gottes sagen könne. Die Antwort des berühmten Biologen lautete: "Er muß eine ganz besondere Vorliebe für Käfer haben." Die Tatsache, daß 50 Ofo aller bekannten Arten Käfer sind, zeigt deutlich, daß diese Schlußfolgerung berechtigt ist. Als Anthropozentriker interessiert uns allerdings das Tierreich nur, soweit es für unsere eigene Art relevant erscheint. Was können wir für unsere eigenen menschlichen Bedürfnisse von der Biologie lernen? Als erst seit kurzem interessierter Amateur hoffe ich, von anderen zu lernen, wie die menschliche Gesellschaft von den potentiell relevanten Forschungsergebnissen der Soziobiologie profitieren könnte. Wenn ich jedoch meine ersten Eindrücke zu dieser Frage aufzeichnen soll, so reagiere ich als Rechtssoziologe mit Zurückhaltung. Die Aufgabe des Rechts, eine normative Ordnung zu schaffen und ihre Aufrechterhaltung zu garantieren, kann nicht der Naturwissenschaft überlassen werden. Wenn naturwissenschaftliche Erkenntnisse bei spezifischen Rechtsfragen und in der Formulierung spezifischer Gesetze eine Rolle spielen sollen, dann müssen sie eingehend geprüft werden und sich gegenüber den traditionellen Rechtsquellen als überlegen erweisen. Ich möchte annehmen, daß die Naturwissenschaft eher auf der Ebene allgemeiner Rechtsprinzipien als bei der Schaffung spezifischer Gesetze Beiträge leisten können wird. Es ist notwendigerweise Spekulation, wenn man sich fragt, welche Beiträge die interdisziplinäre Forschung in der Zukunft erbringen kann. Es hängt von dem betreffenden Fachgebiet ab, ob der künftige Nutzen im voraus abgeschätzt werden kann oder ob die Entwicklung abgewartet werden muß. Es ist nicht klar, ob wir zu diesem Zeitpunkt genug darüber wissen, inwieweit die Soziobiologie die Rechtswissenschaft wird beeinflussen können. Vielleicht ist es besser, zunächst die Frage nach der Aufnahmefähigkeit des Rechts aufzuwerfen. Was übernimmt das Recht von anderen Fachgebieten, und was verwirft es? Welche internen Vorgänge bei der

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Rechtsfindung spielen für die Relevanz der Biologie für die Rechtswissenschaft eine Rolle? Vielleicht können diese Fragen leichter beantwortet werden, wenn man den Ursprung des Rechts in Gesellschaften wie der unsrigen untersucht. Zu diesem Zweck werde ich mich unsystematisch auf einige richterliche Entscheidungen und auf rechtswissenschaftliche Prinzipien beziehen. Dadurch sollen Tendenzen unseres Rechtssystems zur Selektion illustriert, wenn auch nicht bewiesen werden. 1. Das Recht beschränkt den Spielraum, den es anderen Fachgebieten

bei Normfragen einräumt. 2. Das Recht versucht, sich bei der Schaffung von Rechtsnormen auf die Werturteile der Rechtssubjekte zu stützen, soweit derartige Werturteile bestehen. 3. Der Wissenschaft ist nicht unbedingt die eindeutige Empfehlung zu entnehmen, Gesetze sollten mit den vorherrschenden Sitten in Einklang stehen. Ich werde diese Behauptungen zunächst erläutern und dann die These aufstellen, daß der Beitrag der Soziobiologie zum Recht sich am besten auf die Wechsel wirkungen konzentrieren sollte, die einen normativen Konsens hervorbringen. Erkenntnisse mehrerer Fachgebiete deuten darauf hin, daß das Rechtsbewußtsein, das unserer Art vielleicht angeboren ist, zur Formulierung von Normen beiträgt. In offenen Gesellschaften, die zur Anornie und zum Normenkonflikt neigen, ist es besonders wichtig, daß die Möglichkeit besteht, einen Normenkonsens herbeizuführen. In ihrem Bemühen, derartige Möglichkeiten zu schaffen, kann die Rechtswissenschaft großen Nutzen aus den Erkenntnissen aller Wissenschaften ziehen, mithin auch der Soziobiologie.

I. Die Relevanz der Soziobiologie für die Rechtswissenschaft hängt nicht nur davon ab, inwieweit sie etwas zu einem bestimmten Gesetz beitragen kann, sondern auch davon, wer diesen Beitrag akzeptiert. Hier möchte ich auf den in der Rechtswissenschaft verbreiteten Widerstand gegen die Einbeziehung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse hinweisen. Dieser Widerstand basiert auf einer Reihe inakzeptabler Gründe wie z. B. Ignoranz und fachliche Engstirnigkeit. Häufig ist es schwierig, diese Gründe von anderen, eher gerechtfertigten Gründen zu unterscheiden, Gründen, aus denen die Rechtswissenschaft zögert, das geltende Recht den gegenwärtigen wissenschaftlichen Erkenntnissen anzupassen.

Die Bedeutung der Soziobiologie für die Rechtswissenschaft

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Ich denke hier besonders an die unklare Grenze zwischen Sein und Sollen und an die damit verbundene Frage, wer mitsprechen soll bei der Bestimmung des Sollens. Wenn man interdisziplinäre Beiträge zur Rechtsetzung genauer untersucht, so zeigt es sich, daß die Problematik Sein/Sollen häufig entsteht, nachdem die ursprüngliche Begeisterung über den in Aussicht stehenden Beitrag der Naturwissenschaft verflogen ist. Dies hat sich, einem bekannten Muster folgend, in verschiedenen Fällen wiederholt. Es beginnt damit, daß anerkannt wird, daß Erkenntnisse aus einem anderen Fach zur Lösung einer rechtlichen Frage Wertvolles beitragen können. Aufgrund dieser Prämisse werden grundlegende rechtliche Entscheidungen gefällt, die auf den Erkenntnissen des anderen Fachs basieren. Bei der Anwendung dieser grundlegenden Entscheidungen erwartet man, daß Experten aus dem anderen Fach für die konkreten Fälle relevante Informationen liefern. Wenn dies geschieht, stellt sich oft heraus, daß die Experten darüber uneins sind, welche Tatsachen für die betreffende Entscheidung relevant sind. Diese Meinungsverschiedenheiten reflektieren nicht nur die Vieldeutigkeit und Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnisse, sie deuten auch auf die Relevanz hin, die normative Fragen bei der Lösung des Problems haben 1 • Wenn Wissenschaftler in einem bestimmten Fall hinzugezogen werden, können weder die Rechtswissenschaft noch die Naturwissenschaft zuverlässig zwischen Tatsache und Werturteil unterscheiden, zwischen dem Sein und dem Sollen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die während der vergangenen drei Jahrzehnte erfolgte Hinzuziehung von Psychiatern im Circuit Court of Appeals in Washington (D. C.), die in Strafprozessen als Gutachter über die Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten auszusagen hatten. Das Ausmaß der mit Unzurechnungsfähigkeit begründeten Straffreiheit wurde bereits anderweitig ausführlich beschrieben2 und soll hier nicht weiter ausgeführt werden. Wichtig ist, daß Richter Bazelon im Fall Durham3 den traditionellen M'Naghten Test 4 durch den sogenannten product test ersetzte, weil er hoffte, daß damit psychiatrische Gutachten eher zugelassen und von größerer Bedeutung sein würden für die Frage, ob eine Handlung, die normalerweise ein Verbrechen ist, wegen Unzurechnungsfähigkeit straffrei bleibt. M'Naghten hatte Straffreiheit aufgrund von Unzurechnungsfähigkeit ursprünglich auf die Frage beschränkt, ob 1 Die gegenwärtige Kontroverse über die Abtreibung ist ein gutes Beispiel hierfür. Kann die Naturwissenschaft definitiv sagen, wann das menschliche Leben beginnt, oder ist die Frage im Grunde normativ und eignet sich daher nicht für eine naturwissenschaftliche Lösung? 2 z. B. Abraham S. Goldstein: The Insanity Defense, New Haven 1967. 3 Durham v. U. S. 214 F. 2d 862 (1954). 4 M'Naghten Daniel M'Naghten's Case 8 Eng. Rep. 718, 10 Cl. & Fin 200 (1843).

Richard D. Schwartz

der Angeklagte sich über Recht oder Unrecht seiner Handlung im klaren war oder, wenn dies der Fall war, ob er sich bewußt war, unrecht gehandelt zu haben. Durharn erweiterte diesen Test dahingehend, daß alle Fälle mit einbezogen wurden, in denen die betreffende Handlung während einer Geisteskrankheit oder Geistesgestörtheit geschah. Es zeigte sich in der Praxis, daß der Durharn Test die Anzahl von Freisprüchen aufgrund von Unzurechnungsfähigkeit erheblich erhöhte. Die Wahrsprüche der Jury wurden wesentlich von den Gutachten der Psychiater beeinflußt. Daher konnte die (stets vorhandene) Inkonsequenz in den Urteilssprüchen nun den jeweiligen gerichtsmedizinischen und psychiatrischen Gutachten zugeschrieben werden. Wenn man im St. Elisabeth-Stift während des Wochenendes zur Ansicht gelangte, daß Psychopathen in Wahrheit geisteskrank seien, dann änderte sich die Verurteilung vom Freitag zum Freispruch am Montagmorgen5 • Das Hauptproblem schien darin zu liegen, daß die grundlegenden normativen Werturteile nicht mehr von der "Jury", sondern von psychiatrischen Gutachtern gefällt wurden. In einer Reihe aufeinanderfolgender Fälle bemühte sich das Gericht, den Test spezifischer zu machen und einzuengen, so daß die "Jury" konkretere Richtlinien zur Verfügung hätte. Dies hatte den (manchmal ausdrücklich hervorgehobenen) Zweck zu verhindern, daß die Entscheidung über die Schuldfähigkeit des Angeklagten ausschließlich von Psychiatern getroffen wurde. Psychiater, die sich ja hauptsächlich mit Therapie befassen, neigen dazu, menschliches Handeln als schuldlos anzusehen. Sie bemühen sich, alles zu verstehen und zu vergeben, um möglichst vielen Menschen zu helfen. Dieser Standpunkt läßt sich nicht leicht mit dem des Rechts vereinbaren, welches, weil es Normen schaffen und vollstrecken muß, eine sittliche Verantwortung, d. h. den Begriff der Schuld festzustellen sucht. Schließlich revidierte das Gericht im Falle Brawner6 den Test, so daß die "Jury" wesentlich klarere Kriterien zur Verfügung hatte. Man hoffte, daß die "Jury" dadurch in die Lage versetzt würde, die Rechtsfrage der Verantwortlichkeit selbst zu entscheiden. Richter Bazelon stimmte in einer von der Mehrheit zum Teil abweichenden Urteilsbegründung seinen Kollegen bei der Widerrufung des Durharn Tests zu, betonte aber, daß das Gericht noch definitiver in der Begrenzung der Rolle des Psychiaters sein sollte.

5 Siehe Rosenfield, In re, 157 F. Supp. 18 (D. D. C. 1957). e Brawner, v. U. S. 471 F. 2d 969 (D. C. Cir. 1972).

Die Bedeutung der Soziobiologie für die Rechtswissenschaft

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11. In diesen Beispielen ist mehr im Spiel als nur ein Wettstreit zwischen einzelnen Experten. Man sieht hier, wie auf vielen anderen Gebieten auch, daß die Gerichte dazu neigen, die öffentliche Meinung zu berücksichtigen. In dem Beispiel der Verteidigung mit Geisteskrankheit brachten die Gerichte ihre Besorgnis zum Ausdruck, daß die Jury ihrer normativen Funktion beraubt werde. Gleiches geschieht durch die traditionelle Rücksichtnahme der Gerichte auf die Legislative sowie die Berücksichtigung einer sich ständig ändernden öffentlichen Meinung in Entscheidungen über die Verfassungsmäßigkeit. Einige Urteilsbegründungen zeigen besonders deutlich, welche Wichtigkeit die Gerichte der öffentlichen Meinung beimessen. In der ersten von zwei Entscheidungen über die Todesstrafe erläuterte Chief Justice Burger die vom Obersten Gerichtshof akzeptierte Interpretation des im achten "Amendment" enthaltenen Verbotes grausamer und ungewöhnlicher Bestrafung wie folgt: The Eighth Amendment prohibition cannot fairly be limited to those punishments thought excessively cruel and barbarous at the time of adoption of the Eighth Amendment. A punishment is inordinately cruel, in the sense that we must deal with it in these cases, chiefly as perceived by the society so characterizing it. The standard of extreme cruelty is not merely descriptive, but necessarily embodies a moral judgment. The standard itself remains the same, but its applicability must change as the basic mores of society7. Die Richter waren nicht darüber uneins, ob die öffentliche Meinung bei der Interpretation der Klausel "grausam und ungewöhnlich" eine Rolle spielt, sondern darüber, wie die öffentliche Meinung zu messen sei. Einige Richter waren der Meinung, daß die Legislative die öffentliche Meinung widerspiegelt (mit Ausnahme von Fällen, in denen "unambiguous and compelling evidence of legislative default"8 besteht. Andere meinten, daß durch Referenden und Meinungsumfragen erhobene Daten ebenfalls zu berücksichtigen seien (da diese wohl als besserer Maßstab angesehen werden). Justice Marshall war der Meinung, entscheidend sei, ob die öffentliche Meinung (vorausgesetzt, ihr standen dieselben Informationen zur Verfügung wie dem Gerichtshof) für die Abschaffung der Todesstrafe wäre oder nicht. Justice Brennan befürwortete den übergang zu einem übergeordneten Prinzip. Er erklärte die Todesstrafe für verfassungswidrig, weil sie nicht mit "the evolving standards of decency (übereinstimmt) which mark the progress of a maturing society", ein Kriterium, das erstmals von Chief 7 Furman v. Georgia, 408 U. S. 238 (1972) 382. 8 Ebd.384.

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Justice Warren in einer früheren Diskussion über das achte "Amendment" formuliert wurde9 • Der Maßstab der "decency" in diesem Fall be einfluß te den Begriff der Menschenwürde. Brennan war der Meinung, daß die Todesstrafe verfassungswidrig sei, weil unsere sittliche Entwicklung als Gesellschaft soweit fortgeschritten wäre, daß wir die Würde eines jeden Menschen respektieren müßten. In unserem Wertsystem neigten wir zu dem Glauben, daß "even the vilest criminal remains a human being possessed of common human dignity"lO. Wenn dies zutrifft, dann ist für Brennan die Vernichtung eines Menschen durch Exekution verfassungswidrig, grausam und ungewöhnlich. Jeder dieser Ansätze zeigt das Bemühen der Richter, das Recht im Hinblick auf gesellschaftliche Normen zu formen. Die Unterschiede werden bestimmt durch die Art und Weise, wie die normative Einstellung der Gesellschaft optimal ermittelt wird, ob sie bereits existiert oder ob sie potentiell existent ist, ob sie allgemein akzeptiert oder auf einen (besonders wichtigen) Teil der Bevölkerung beschränkt ist und ob sie aus einer allgemein akzeptierten Norm hervorgegangen ist und mit dieser übereinstimmt. Mit dem Beispiel der Todesstrafe habe ich Entscheidungen gewählt, in denen die Gerichte die öffentliche Meinung besonders stark berücksichtigt haben. Auf anderen Gebieten ist dies weniger deutlich oder gar nicht geschehen. Wir müßten mehr darüber wissen, wie die öffentliche Meinung in richterlichen Entscheidungen zum Ausdruck kommt. Mir will jedoch scheinen, daß die Berücksichtigung der öffentlichen Meinung (wie auch immer diese gemessen werden kann) eine systeminhärente Tendenz darstellt, die in den Gebieten besonders ausgeprägt ist, in denen die gesellschaftlichen Normen am stärksten sind. Es ist für unser Rechtssystem charakteristisch, daß es die in der Gesellschaft vorherrschenden Sitten und das Gesetz miteinander zu vereinbaren sucht. Die Theorie der repräsentativen Demokratie, die von Dahpl und anderen detailliert beschrieben wird, beruht auf der Prämisse, daß das Rechtssystem und die Regierung in unserer Gesellschaftsform die größte Unterstützung finden, wenn die Interessen und Werturteile der Bevölkerung die Formulierung der Gesetze beeinflussen. Daher beugen sich die Gerichte zumindest formell den Wünschen der Legislative, indem sie deren gesetzlichen Anordnungen Verfassungsmäßigkeit unterstellen (presumption of constitutionality). Wenn ein Gericht ein Gesetz für verfassungswidrig (in seiner Formulierung oder in seiner Anwendung) erklärt, dann sucht es seine Entscheidung • Trop v. Dulles, 356 U. S. 86 (1958) 101. 10 Furman (N. 7),273. 11 Robert Dahl: APreface to Democratic Theory, Chicago 1956.

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mit Hilfe umfassenderer, in der Verfassung verankerter oder durch sie verkörperter Werte zu rechtfertigen, die tief verwurzelten Werturteilen der Gesellschaft über die Rechte von Einzelpersonen, Gesellschaftsgruppen, Organisationen oder Regierungen entsprechen 12 • III. Die Tendenz des Rechts, sich von der öffentlichen Meinung leiten zu lassen, bedeutet nicht, daß die vorherrschenden Sitten tatsächlich eine große Rolle in der Formulierung des Rechts spielen. Obwohl diese Beziehung in primitiven Gesellschaften bestimmend sein dürfte, wie Bohannan 13 in seinem Konzept der Doppelinstitutionalisierung andeutet, ist die öffentliche Meinung in urbanisierten Gesellschaften weit weniger wichtig, da derartige Gesellschaften normativ heterogen sind. Wie Dicey 14 in bezug auf das England des späten 19. Jahrhunderts aufzeigt, besteht zu vielen Fragen vielleicht überhaupt keine öffentliche Meinung, und wenn sie besteht, wird sie vielleicht nicht weitergeleitet oder, wenn sie weitergeleitet wird, wird sie vielleicht bei der Gestaltung der Gesetze nicht ernst genommen. Unsere heutige Situation ist sicher noch vielschichtiger als die im England des 19. Jahrhunderts. Der Rückgriff auf die Naturwissenschaften als Basis für normative Urteile zeigt vielleicht, daß wir eine Art Konsens brauchen, der uns in unserer pluralistischen, anomischen Gesellschaft fehlt. Ich bin jedoch skeptisch, ob die Wissenschaft langfristig und effektiv als Basis für konkrete Gesetze ausreicht. Ich halte es für wesentlich wahrscheinlicher, daß sie zu einem Glauben an einige allgemeine Prinzipien und Verfahrensweisen führen kann, die im Endeffekt vielleicht die Sitten und die Gesetze beeinflussen. Die Wissenschaften erscheinen recht ungeeignet zur Formulierung konkreter Rechtsnormen, da Recht einen hochgradig normativen Inhalt hat. Es bringt das zum Ausdruck, was allgemein als angemessenes Verhalten empfunden wird. Das gesellschaftliche Gefühl dafür, was an ge12 Es muß nicht darauf hingewieseen werden, daß die geltenden Sitten nicht die einzige Rechtsquelle sind. Nicht alle Sitten werden im Gesetz verkörpert, und nicht alle Gesetze reflektieren die geltenden Sitten. Ein wichtiger Faktor in der Formulierung des Rechts liegt in der Subkultur des Rechts, die großen Wert auf Prozeßordnung, Präzedenz, Kontinuierlichkeit und Prinzip legt. Wir müssen noch viele Gebiete des Rechts und der Gesellschaft untersuchen, um zu sehen, welche Wechselwirkungen zwischen der Subkultur des Rechts und den gesellschaftlichen Normen bestehen (und ob sie überhaupt bestehen, inwiefern sie miteinander harmonieren, in Konflikt miteinander stehen oder was die Subkultur anstelle dieser Normen ist). 13 Paul J. Bohannan: The differing realms of the law, in L. Nader (ed.): The Ethnography of Law, American Anthropologist 67 No. 6 (1965), S. 33 - 42. 14 A. V. Dicey: Lectures on the Relation Between Law and Public Opinion, London.

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messen ist, geht größtenteils aus Sozialisierung und Erfahrung hervor und nicht aus wissenschaftlicher Beobachtung. Wissenschaftliche Untersuchungen über eine Vielzahl menschlicher Gesellschaften zeigen vor allem die Mannigfaltigkeit der in der menschlichen Kultur vertretenen normativen Einstellungen. Wie Sumner bemerkt, "the mores can make anything right and prevent the condemnation of anything". Angesichts dieser Mannigfaltigkeit findet man universell gültige Prinzipien, wenn überhaupt, nur auf einer äußerst abstrakten Ebene. Zum Beispiel sieht man, daß alle Gesellschaften eine Art Familie haben (obwohl auch das in Frage gestellt worden ist), aber hier müssen wir einräumen, daß die Familie polygam sein kann, monogam oder polyandrisch; daß sie eine stabile Institution sein kann, die ein Leben lang dauert, oder daß sie überaus labil sein kann; daß sie strikt exklusiv sein kann oder aber häufige Seitensprünge toleriert, und so weiter. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Wie kann die Naturwissenschaft dann dem Recht durch Richtlinien weiterhelfen, z. B. in der Frage nach der Familienstruktur? Sie könnte 1. zur Nachsicht aufrufen, 2. technische (funktionelle) Daten zur Verfügung stellen oder 3. bei der Entdeckung gesellschaftlicher Normen behilflich sein. 1. Die erste Möglichkeit, die Soziobiologie zu nutzen, ist die Verstärkung der Norm der Toleranz. Angesichts der Vielfalt der menschlichen Gesellschaften und der Verhaltensweisen von Primaten könnten die Naturwissenschaftler dafür plädieren, daß Rechtsnormen, die Verhaltensweisen zu beschränken suchen, allgemein vermieden werden. Eine derartige Einstellung muß natürliche klare Grenzen aufzeigen. Das Recht muß die Freiheit des Einzelnen in den Fällen einschränken, in denen diese Freiheit zum Schaden anderer Individuen oder der Gesamtheit genutzt wird. Diese klassische Einstellung, die über J. S. Mill bis auf J ohn Locke zurückgeführt werden kann, liefert Ausgangspunkte für Versuche der Grenzziehung, aber keine Resultate. Welche Verhaltensweisen müssen eingeschränkt werden, um zu vermeiden, daß der Einzelne und die Gesellschaft zu Schaden kommen?

Das Recht muß sich häufig mit derartigen Fragen auseinandersetzen. Ein sehr interessantes Beispiel bildet die Polygamie. Diese Frage wurde durch die Glaubenslehre der Mormonen aufgeworfen, und der Oberste Gerichtshof bestätigte in einer frühen Entscheidung die heutige Auffassung, daß die Polygynie nicht durch die Religionsfreiheit geschützt sei, obwohl sie tief in einem religiösen Bekenntnis verwurzelt ist. In dieser Entscheidung bezog sich das Gericht auf die vorherrschenden Sitten:

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Polygamy has always been odious among the northern and western nations of Europe and, until the establishment of the Mormon Church, was almost exclusively a feature of the life of Asiatic and of African people15•

Später verurteilte das Gericht die Polygynie als "return to Barbarism"16 und ein "notorious example of promiscuity"17. Hier stützte sich der Gerichtshof auf die vorherrschenden Sitten und unterstützte den Willen der Legislative, diese Sitten gesetzlich durchzusetzen. Um die im ersten "Amendment" garantierte Religionsfreiheit außer Kraft zu setzen, war der Gerichtshof aufgrund eigener Entscheidungen gezwungen festzustellen, daß die Gesetzgebung einen wichtigen "weltlichen Zweck" verfolge. Ein solcher Zweck war das Bestreben, die Monogamie beizubehalten. Der Gerichtshof begründete die Rechtmäßigkeit dieses Zweckes vor allem durch den wiederholten Hinweis auf die monogamen Sitten dieser Gesellschaft, durch den Hinweis, daß die Monogamie im nordwesteuropäischen Kulturgebiet weitverbreitet sei, sowie durch (ethnozentrische) Verurteilung anderer Familienformen als barbarisch und fremdartig. Könnte nun von wissenschaftlicher Seite eingewandt werden, daß keine überzeugenden Gründe für die Erhaltung der Monogamie bestehen? Alle Gesellschaften haben Sitten, gleichgültig welcher Art. Und obwohl die Sitten der einzelnen Gesellschaften durchaus verschieden sind, bedeutet dies nicht, daß sich die Notwendigkeit eines bestimmten Wertesystems in einer Gesellschaft erübrigt. Das Überleben einer Sozietät kann durchaus vom Bestehen eines normativen Konsenses abhängig sein. Innerhalb weitgesteckter Grenzen ist das Bestehen einer Konvention vielleicht wichtiger als deren Umfang und Inhalt. Das Recht kann als ein Mittel betrachtet werden (vielleicht das wichtigste Mittel), durch das eine pluralistische Gesellschaft die notwendige normative Konvention etablieren und ausdrücken kann. Daher wäre ein Plädoyer der Wissenschaft für die Norm der Toleranz nicht unbedingt erfolgreich. 2. Wenn die Naturwissenschaft sich mit Rechtsnormen beschäftigt, die Ausdruck der geltenden Sitten sind, dann wäre es vielleicht besser, wenn sie die Nützlichkeit dieser Normen untersucht. Die Gerichte sind theoretisch auf derartige Streitfragen über die Funktion von Normen vorbereitet. Weltliche Zwecke, die eine Einschränkung der im ersten "Amendment" verankerten Garantien rechtfertigen, werden mit den erreichten Ergebnissen in Verbindung gebracht. Ein klar definierter Zweck mag zwar ausreichen, aber das Interesse der Gerichte erstreckt 15

18 17

Reynolds v. U. S., 98 U. S. 145 (1878). Church of Jesus Christ cf Latter Day Saints v. U. S. 1890,49. Cleveland v. U. S. 1946, 19.

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sich auch auf die Folgen. Wenn ein Gesetz das Gegenteil dessen, was es bezwecken will, erreicht, dann kann es das von der Vernunft gesteckte Ziel verfehlen. In seinen Entscheidungen zur Polygynie nahm der Gerichtshof sowohl zum Zweck als auch zu den Folgen Stellung. In der Urteilsbegründung im Falle Cleveland 18 verurteilte Justice Douglas die Polygynie nicht nur aus moralischen Gründen, sondern erwähnte auch "the sharp repercussions the (polygynous practices) have in the community". Es ist allerdings nicht klar, was er damit meinte. Ein erwägenswerter Gesichtspunkt ist die wirtschaftliche Bedeutung verschiedenartiger Familienstrukturen. Anthropologischer Funktionalismus bedeutet, daß die Folgen einer bestimmten Praxis im Lichte der Bedingungen zu sehen sind, unter denen diese Praxis stattfindet. Die Polygynie mag in einer Agrarwirtschaft wirtschaftliche Vorteile haben (besonders, wenn wesentlich mehr Frauen als Männer vorhanden sind), aber sie verliert ihre wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und bevölkerungsmäßigen Vorteilen in einer Industriegesellschaft. Dieser funktionelle Unterschied zwischen den einzelnen Gesellschaftsformen kann nicht nur durch entsprechende Beobachtungen bewiesen werden, sondern auch durch Untersuchungen der wirtschaftlichen Entwicklung. Diejenigen Gesellschaften, in denen eine rasch fortschreitende Modernisierung stattfindet, neigen zur Monogamie, und monogame Gesellschaften neigen eher zu einer Modernisierung19 • Auf dieser Grundlage könnte man argumentieren, daß die Polygynie für eine moderne oder sich modernisierende Gesellschaft nicht vorteilhaft ist. Würde eine derartige Analyse den Wissenschaftler auf jeden Fall dazu bewegen, für Gesetze zu plädieren, die die Polygynie verbieten? Selbst auf technischer Ebene kann diese Schlußfolgerung in Frage gestellt werden. Die Monogamie mag zwar für die Industrialisierung nützlich sein. Aber wie steht es mit der post-industriellen Gesellschaft? Ein weiterer Gesichtspunkt, der bei der Frage der Polygynie berücksichtigt werden muß, ist die Rolle der Religion. Auch hier ergibt eine funktionelle Analyse kein klares Bild. Die Soziobiologie kann uns vielleicht etwas zur Universalität religiöser Überzeugungen sagen, wie sie sich in den früheren Zeremonien der Sonnenanbetung oder in den protohominiden Begräbnisbräuchen zeigen. Wenn in jeder menschlichen Sozietät religiöse Überzeugungen auftreten, was bedeutet dies dann für eine die Polygynie bejahende Religion? Bedeutet es, daß 1. jede Gesellschaft einen einigenden religiösen Glauben braucht, der durch Siehe N. 17. William J. Goode Jr.: World Revolution and Family Patterns, New York 1963. 18

la

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gesellschaftliche und rechtliche Kontrollmechanismen gestützt werden sollte, oder daß 2. jedes Mitglied der Gesellschaft die Freiheit haben sollte, zusammen mit seinen Glaubensgenossen seine Religion auszuüben, solange sie nicht die Rechte der anderen beeinträchtigt? Je nachdem, wie die Antwort darauf ausfällt, kann auch die Religion für oder gegen die Polygynie in die Waagschale geworfen werden. 3. Die Naturwissenschaft kann auch auf eine dritte Weise zur Lösung von Fragen der Rechtspolitik beitragen: indem sie nämlich bei der Entwicklung und Formulierung von gesellschaftlichen Normen hilft. Vielleicht werden naturwissenschaftliche Beiträge am nutzbringendsten sein, wenn sie das Verständnis der Entstehung und Funktion von Normsystemen in Sozietäten fördern. Wir wissen, daß in lebensfähigen Gesellschaften immer ein minimaler normativer Konsens besteht. Wenn dies nicht der Fall ist, dann verliert die Gesellschaft ihre Stabilität und ihre Fähigkeit, diejenigen Funktionen auszuüben, die zu ihrem Zusammenhalt notwendig sind. Unter derartigen Umständen kann der Zusammenbruch der Gesellschaft Not und Elend zur Folge haben und den Erfolg eines Wideraufbaus in Frage stellen. Im allgemeinen bemüht sich jede Gesellschaft, durch vielfältige Mittel und Wege ein Gleichgewicht zu wahren, um Zusammenbruch, Anarchie oder Revolution zu vermeiden. Diese Faktoren könnten durch wissenschaftliche Erkenntnisse be einflußt werden, die uns helfen, die Minimalbedingungen normativer Ordnung zu erkennen. Gegenwärtig laufende Forschungsarbeiten in den Sozialwissenschaften, der Rechtswissenschaft und der Philosophie haben einige interessante Ansätze erarbeitet, die darauf hindeuten, daß nutzbringende empirische Untersuchungen im Bereich des Möglichen liegen. Ich glaube, daß die Soziobiologie hier eine wichtige Rolle spielen kann.

IV. Alle menschlichen Sozietäten (dies kann auch bei anderen Arten der Fall sein) haben Verhaltens regeln für die gesellschaftliche Interaktion. Gesellschaftliche Kontrollinstanzen übermitteln und erzwingen die Einhaltung der vorgeschriebenen Verhaltensweisen. Diese Verhaltensweisen werden ferner durch die Reziprozität verstärkt, die einen Teil der gesellschaftlichen Interaktion darstellt. Kontrollmechanismen und Reziprozität sind die beiden sich gegenseitig verstärkenden Mittel, die die normative Ordnung aufrechterhalten. In jeder menschlichen Sozietät wird dieser Verhaltenskodex - als Norm verbalisiert - dazu benutzt, das individuelle Verhalten zu leiten und zu werten, jedoch nicht immer in Form von Rechtsnormen. Wie

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bereits gesagt, haben diese Normen in jeder Gesellschaft einen anderen Inhalt. Sie haben aber anscheinend die folgenden gemeinsamen Charakteristika: 1. Sie entstehen aus der sozialen Interaktion und manifestieren sich

in ihr. 2. Ein Verstoß gegen diese Normen wird bestraft. 3. Sie bringen eine Belohnung für diejenigen, die sie befolgen. 4. Ein großer Teil der Bevölkerung befolgt sie, wenn nicht dem Inhalt so doch zumindest der Form nach. 5. Ihre Befolgung wird ferner durch den Glauben gefördert, daß sie gerecht sind.

Selbst eine flüchtige Durchsicht der anthropologischen Literatur macht dies klar. So können wir also annehmen, daß diese Charakteristika universell sind. Ich vermute, daß diese Regelmäßigkeiten für die Spezies Mensch artspezifisch sind und daß vielleicht auch andere Arten derartige Verhaltensregelmäßigkeiten zeigen. Der Kodex selbst mag, wie die Sprache, in jeder Sozietät inhaltlich variieren. Aber genau wie die Sprache, so könnten auch die Normen Charakteristika widerspiegeln, die artspezifisch sind. Wenn das der Fall ist, dann ist es wichtig für uns, die tiefere Struktur dieser Charakteristika zu verstehen. Wir können die Dinge vielleicht besser begreifen, wenn wir Forschungsergebnisse verschiedener Untersuchungen über das Rechtsbewußtsein zusammentragen. Piaget 20 sagt, daß Kindergruppen, nachdem sie ein gewisses Alter erreicht haben (7 - 9) und die Gelegenheit hatten, miteinander zu spielen, Regeln aufstellen. Bevor sie diese Altersstufe erreichten, glaubten sie, daß Regeln von einer außenstehenden, mächtigen, unerbittlichen Autoritätsfigur (Gott, Vater, Bürgermeister) kämen und daß die Autoritätsfigur die Regeln überwacht und deren übertretung bestraft. Diese "heteronome" Autoritätsorientierung verliert sich während des Reifeprozesses und wird durch eine "autonome" Orientierung ersetzt. Die Kinder erkennen, daß die Gruppe zu ihrem eigenen Vorteil Verhaltensregeln aufstellt und daß diese nach Belieben abgeändert werden können, zum größeren Vorteil für die Gruppe. Rawls betont, in möglichem Widerspruch zu Piaget, daß die Verhaltensregeln, wenn sie einmal akzeptiert worden sind, formuliert werden müssen, bevor man weiß, auf wen sie anwendbar sind, und daß sie nicht als fair angesehen werden können, wenn bekannt wird, daß sie zum 20

Jean Piaget: The Moral Judgment of the Child, New York 1965.

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Nutzen eines Einzelnen abgeändert werden können21 • Dies stimmt mit Len Fullers Behauptung überein, daß Warnung, Stabilität und faire Vollstreckung wesentliche Elemente sind in "the morality that makes law possible" . Der Begriff der Regelmäßigkeit bedeutet jedoch nicht Gleichheit. Piaget bemerkt, daß ein Kind, das in einem Kinderspiel viel gewinnt, eventuell einen Teil seines Gewinnes zurückgeben muß, damit das Spiel weitergehen kann, daß es jedoch nie seinen Gewinn völlig aufgeben muß. Barrington Moore stellt lange Überlegungen zu dem (für ihn) rätselhaften Phänomen an, daß Menschen einen sehr kleinen Anteil akzeptieren, ohne zu rebellieren. Er kommt letzten Endes zu folgendem Schluß: der Mensch lernt sogar, den Verlust als etwas normativ Gutes zu akzeptieren. Als ein Diener aus der Unterschicht ins Haus eines von der Universität heimgekehrten und von der Demokratie überzeugten jungen Brahmanen eingeladen wurde, lehnte er die Einladung höflich und bestimmt ab mit den Worten: "You may have given up your religion, young master, but we have not given up ours 22 ." In statischen Gesellschaften sind derartige Regeln häufig auch inhaltlich unveränderlich (vielleicht mehr, als bei Piaget anklingt), aber in offenen, sich schnell verändernden Sozietäten wie der unsrigen erhalten sie ständig neue normative Inhalte. Walster weist darauf hin, daß eine Spannung entsteht, wenn die Öffentlichkeit das Gefühl hat, daß ein unausgewogenes Verhältnis zwischen dem Wert dessen besteht, was eine Arbeit zum Allgemeinwohl beiträgt, und dem Entgelt, das für diese Arbeit bezahlt wird. Ihre Forschungsarbeit zeigt, daß diese Spannung auf zwei miteinander unvereinbare Arten gelöst werden kann: durch Erhöhung des Entgelts für die geleistete Arbeit oder durch Herabsetzung entweder der Arbeitsleistung oder des Arbeiters selbst. Diese Gedankengänge (und viele andere, ähnliche) deuten darauf hin, daß Forschung immer mehr zu unserem Verständnis der gesellschaftlichen Grundlagen von Verhaltensregeln beitragen wird. Ich hoffe, daß die Soziobiologie ihren wichtigsten Beitrag auf diesem Gebiet wird leisten können. Ein besseres Verständnis der Normenformulierung bedeutet nicht unbedingt konkrete und unmittelbare Auswirkungen auf Fragen der Rechtspolitik. In dem Beispiel der Familienstruktur ist das Verbot der Polygynie vielleicht so tief in unserer Gesellschaftsstruktur verwurzelt, daß eine Analyse nur die Stärke des Tabus und seine Unveränderlichkeit unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen bestätigen würde. Dennoch wäre es interessant zu John Rawls: A Theory of Justice, CambridgejMass. 1971, S. 11 - 17. Barrington Moore Jr.: Injustice: The Social Bases of Obedience and Revolt, White Plains 1978, S. 61. 11

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sehen, was wir entdecken würden, wenn z. B. sowohl Befürworter als auch Gegner der Polygynie (wir wollen hier neben der Polygynie auch die Polyandrie miteinbeziehen) überlegen könnten, welche Konsequenzen die Zulassung dieser Familienformen haben würde. Warum sollten wir eigentlich nicht andere Möglichkeiten diskutieren und versuchen, Modelle für Verhaltensvarianten zu entwickeln, die für die Allgemeinheit nützlich sind? Solche überlegungen sollten sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützen, nicht aber durch sie verdrängt werden. Auf vielen Gebieten scheint unsere Gesellschaft durch im Unterbewußtsein verankerte, normative Einstellungen belastet zu sein. Ich glaube, daß ein besseres Verständnis derartiger Einstellungen nicht nur im Interesse wissenschaftlicher Erkenntnis wünschenswert ist, sondern auch wegen des möglichen praktischen Nutzens. Wie immer in solchen Fällen, so besteht auch hier die Möglichkeit eines Mißbrauchs. Mir will jedoch scheinen, daß es sich lohnen würde, mit Hilfe von interdisziplinären Gesprächen einen normativen Konsens zu finden. Kann die Soziobiologie hierzu beitragen, indem sie diejenigen, denen die Verantwortung für die Formulierung des Rechts obliegt, lehrt, wie dieses Recht effektiver gestaltet werden kann? Ein besseres Verständnis der Rechtsentwicklung ist auch für die Aufrechterhaltung der Minimalbedingungen normativer Ordnung von großer Bedeutung. In offenen, heterogenen Gesellschaften wie der unsrigen findet man Anzeichen von Anomie auf allen Gebieten. Normative Vielfalt gibt dem Einzelnen zuweilen wertvolle Freiheit und der Gesellschaft Vielschichtigkeit. Wenn dIe Anomie jedoch eine gewisse Grenze (die wir bisher noch nicht definieren können) überschreitet, dann kann sie gegenseitiges Vertrauen, Legitimität und den Willen zerstören, den gesellschaftlichen Kodex zu befolgen und zu unterstützen. Offene Gesellschaften müssen ganz besonders um eine Kongruenz zwischen Recht und den Normen der Gesellschaft bemüht sein. Wo die beiden nicht übereinstimmen, wird das Recht als dem eigenen Interesse zuwiderlaufend oder gar als Mittel der Unterdrückung durch eine dominierende Gesellschaftsklasse angesehen. Wenn keine allgemeinen akzeptierten Normen bestehen, wird das Recht häufig nicht mit dem Rechtsbewußtsein des Einzelnen (oder der ganzen Gesellschaft) übereinstimmen. Ein solcher Zustand wird nicht unbedingt dadurch behoben, daß man sich jeweils bemüht, konkrete Rechtsentscheidungen wissenschaftlich zu fundieren. Die Soziobiologie kann hier mit anderen Disziplinen, die menschliches Verhalten erforschen, wesentlich effektiver zur Formulierung der Rechtspolitik beitragen, indem sie die normschaffenden Prozesse erklärt.

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Mit Hilfe derartiger Erkenntnisse kann die Rechtswissenschaft vielleicht bessere Voraussetzungen für einen normativen Zusammenhalt schaffen. Sie kann den Dialog zwischen den feindlichen Parteien fördern, so daß Streitigkeiten leichter gelöst werden können und die Normschaffung beschleunigt wird. Diese Möglichkeit wird durch die Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern illustriert23 • Die Rechtswissenschaft kann zu einer geordneten Auflösung bestehender Beziehungen beitragen, indern psychische Trauma auf ein Minimum reduziert und, wenn notwendig, soziale Unterstützungsmaßnahmen eingeleitet werden. Güterrechtliche Regelungen und Vereinbarungen über das Sorgerecht für die Kinder bei Ehescheidungen sind ein weiterer Beweis24 • Die Rechtswissenschaft kann das Forum bilden, auf dem latente Bräuche und Sitten kollektiv zum Ausdruck gebracht und untersucht werden. Das zeigt auch die Anwendung von "aggregatejury"-Entscheidungen, um die Vergewaltigung (because disproportionate, excessive, and random) für verfassungswidrig zu erklären25 • Diese Beispiele sollen lediglich auf die Aufgaben hinweisen, die der Rechtswissenschaft heute auf den Gebieten: Erleichterung der Streitschlichtung (durch Interaktion), Erhöhung beidseitiger Zufriedenheit nach Beilegung des Streites sowie Normenentwicklung gestellt sind. Hier kann und muß noch mehr getan werden. Soziobiologische Erkenntnisse, wie Streitigkeiten gelöst werden, wie Gegenseitigkeit entsteht und wie sich Normen entwickeln, sind willkommene und überaus notwendige Beiträge, um eine Übereinstimmung zwischen Recht und Sitten in einer offenen, stabilen Demokratie herbeizuführen.

23

Lon L. Fuller: Mediation -

(1971), S. 305.

its forms and functions, So. Calif. L. R. 44

24 Robert Mnookin / Lewis Kornhauser: Bargaining in the shadow of the law, Yale L. J. 88 (1979), S. 950 - 997. 25 Richard D. Schwartz: The Supreme Court and Capital Punishment, Law & Policy Q. 1 (1979), S. 285 - 335, 319 - 325.

5 Recht und EthIk

BIOLOGIE UND MENSCHLICHES VERHALTEN

Dispositionen, Grenzen, Zwänge? Von Hubert Markl Regeln schränken Verhalten ein. "Beschreibende Regeln" trennen wahrscheinlichere Verhaltenszustände von weniger wahrscheinlichen. "Vorschreibende Regeln" (Normen) unterscheiden zwischen erlaubten und verbotenen Verhaltensweisen. Wenn wir also von Verhaltensregeln sprechen, so können wir zweierlei damit meinen: Verhalten nach seiner Auftretenswahrscheinlichkeit abschätzen oder es nach seiner Wünschbarkeit oder Zulässigkeit bewerten. Normen oder Gesetze sind zu allererst gedankliche Konstrukte, nach denen verschiedene Verhaltensweisen eingeteilt und bewertet werden, Konstrukte, die dann ihren gesprochenen Ausdruck oder geschriebenen Niederschlag finden. Man kann sie daher nur mit beschränkter Zuverlässigkeit aus den gezeigten Verhaltensäußerungen eines Lebewesens rekonstruieren, solange wir keinen Zugang zu den geistigen Vorstellungen finden, die seine Verhaltensentscheidungen lenken. Soweit die Existenz solcher gedanklicher Vorstellungen bei nichtmenschlichen Lebewesen in Zweifel steht1 und soweit uns jedenfalls deren Eigenschaften unbekannt bleiben, erscheint es höchst schwierig, wenn nicht gar unmöglich, nach dem Vorhandensein normativer Verhaltensregeln bei Tieren und nach deren Fortentwicklung auf dem Wege vom Tier zum Menschen zu fragen. Jeder Versuch, diese Entwicklung verständlich zu machen, sollte von Anfang an sehr sorgfältig die verschiedenen Vorgänge in Betracht ziehen, durch die menschliches Verhalten im Lauf der Entwicklung gelenkt, geformt und eingeschränkt werden kann. Das Endergebnis - ein Verhaltensablauf - ist nämlich das Resultat eines vielstufigen Einengungsprozesses, durch den diese bestimmte Verhaltensweise aus der ganzen Fülle von Verhaltensmöglichkeiten eines Individuums ausgewählt wird. Im Laufe der Evolution von "niederen" zu "höheren" Lebensformen wurden die Stufen, auf denen solche einengenden und auswählenden Einflüsse ausgeübt werden können, zunehmend ver1

Dazu D. R. Griffin: The question of animal awareness, New York, 2. Aufl.

1981.

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mehrt. Wenn uns beim Menschen der Gipfel der Freiheit in den Verhaltenswahlmöglichkeiten beeindruckt, so bedeutet dies zugleich, daß sein Verhalten lebenslang mehr als bei jedem anderen bekannten Lebewesen beeinflußt, verändert und manipuliert werden kann. Parallel zu dieser scheinbar grenzenlosen Fähigkeit zur Veränderlichkeit seines Verhaltens, finden wir ihm allerdings eine zunehmende Fülle normativer Regulative auferlegt, die im Extrem so weit gehen können, daß sie der Entscheidungsfreiheit des Individuums fast keinerlei Spielraum mehr lassen und es so nicht weniger zum Sklaven normativer Zwänge machen, wie je ein Insekt Marionette an den Fäden eines genetischen Verhaltensprogrammes sein kann. Dies scheint mir der erste Punkt, der betont werden muß: die zunehmende Neigung zu normenkontrolliertem, von Regeln und von Gesetzen abhängigem Verhalten scheint klar mit dem fortschreitenden Abbau "natürlicherer" Steuerungsinstrumente des Verhaltens einherzugehen, wenn wir darunter jene verstehen wollen, wie wir sie typischerweise bei Tieren vertreten finden. Diese Feststellung ist selbstverständlich keineswegs neu 2 • Dennoch bedarf sie erneuter Betonung, wenn man versucht, die sogenannten biologischen Grundlagen normengelenkten menschlichen Verhaltens zu ergründen. Dieser Zusammenhang weist auf eine entscheidende Tatsache in der Evolution des Menschen als Regel-Macher ("man the rule-maker") hin: daß nämlich die schwierigen und keineswegs immer erfolgreichen Anstrengungen, menschliches Verhalten durch Normen zu disziplinieren - man denke nur an die unerschöpflichen Möglichkeiten, diesen Normen nicht zu folgen! - sicher erhebliche "Verhaltenskosten" verursachen und daher durch "Verhaltensgewinne" mehr als aufgewogen werden müssen, die sich aus Verhaltensflexibilität und Wahlfreiheit für den Menschen ergeben. Wenn man also darüber spekuliert, wie die "Natur des Menschen" sein moralisches und normenbestimmtes Verhalten beeinflußt und einschränkt, so könnte es recht gut sein, daß man die Sache genau von der falschen Seite betrachtet. Vom evolution ären Standpunkt scheint es nämlich viel wichtiger, zu verstehen, was die Anpassungsvorteile einer Daseinsform sind, die biologisch nur unzureichend bestimmt und daher in höchstem Maße gefährdet ist, da sie von Natur aus eigentlich schlecht angepaßt, aber dadurch gleichzeitig hochgradig anpassungsfähig und dabei allerdings auf die anpassende Hilfe durch Normen angewiesen ist. Die wichtigste Aufgabe der Humanethologie und Humansoziobiologie wäre es dann, die Ursachen der Befreiung des menschlichen Verhal2

Siehe z. B. J. T. Bonner: The evolution of culture in animals, Princeton

1980.

Biologie und menschliches Verhalten

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tens von angeborenen Programmen aufzuklären - im Vergleich zu seinen tierischen Verwandten - und nicht so sehr die, die letzten Spuren solcher biologischen Fesseln aufzuspüren. Es könnte also von vorneherein der falsche Ansatz sein, vor allem nach den biologischen Bestimmungsfaktoren normenabhängigen Verhaltens zu suchen, wenn es doch unser Hauptinteresse sein sollte, den bemerkenswerten Evolutionsprozeß verständlich zu machen, der ein von seiner ganzen "Natur" aus hilfloses Wesen der erzieherischen Gestaltung durch seine Mitmenschen ausliefert und damit zugleich weitgehend davon abhängig macht, daß seinen Vorfahren wirklich adaptive Verhaltensnormen eingefallen sind. Dieser Prozeß muß seine Kosten haben - an gesellschaftlichem Versagen, an Fehlanpassungen - die jedoch durch die Vorteile erzieherischer Formbarkeit übertroffen werden müssen, denn sonst wäre er unerklärlich. Aber selbst wenn wir es als unsere Aufgabe ansehen, nach den biologischen Einflußfaktoren auf normenbezogenes menschliches Verhalten zu suchen, bleibt ein methodisches Problem bestehen, das die Brauchbarkeit vergleichend-soziobiologischer Modelle zur Aufklärung der biologischen Grundlagen menschlichen Verhaltens ganz erheblich einschränken muß. Zu dessen Erläuterung muß etwas weiter ausgeholt werden. Wenn soziobiologische Argumente bezüglich der "biologischen Natur" des Menschen überhaupt einen Sinn haben sollen, dann müssen sie sich wohl auf genetisch bedingte Verhaltenszwänge oder spezifische Verhaltensdispositionen beziehen, d. h. auf vorgegebene Schranken und Pfade für die Verhaltensentwicklung des Neugeborenen, auf "epigenetische Regeln" im Sinne von Lumsden and Wilson 3 , die ihre Existenz wenn schon nicht direkt den Genen des betreffenden Individuums, dann doch jedenfalls deren Interaktion mit den äußeren Entwicklungsbedingungen während der pränatalen Ontogenese verdanken. Bei einem völlig lernunfähigen Organismus würde diese angeborene verhaltensbestimmende Mitgift des Neugeborenen dessen Verhaltensentfaltungsmöglichkeiten vollständig spezifizieren. Beim Menschen, um gleich auf das andere Extrem des Spektrums von Entwicklungsmöglichkeiten zu blicken, können wir hingegen zumindest theoretisch eine ganze Serie zum größten Teil zusätzlicher verhaltensbeschränkender und steuernder Einflüsse unterscheiden. Auch hier besteht die erste Programmstufe natürlich aus den Entwicklungsvorschriften, die in dem Genom der Zygote enthalten sind. Die zweite Stufe wird - wiederum wie in dem zuerst angenommenen 3 Ch. J. Lumsden / E. O. Wilson: Genes, mind and culture, the coevolutionary process, Cambridge/Mass. 1981.

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Fall - durch pränatale Umwelteinflüsse auf den sich entwickelnden Embryo repräsentiert. Nach der Geburt wird das Kind in einer dritten Stufe den Verhaltensmodifikationen unterworfen, die sich aus den kulturabhängig verschiedenartigen Prozessen sozialen und nichtsozialen Lernens ergeben. Auf dieser Ebene wird ein ungeheurer Reichtum an Information in Form von Auswahlregeln durch Nachahmungslernen, Konditionieren, kognitive Selbstgestaltung und formale Lehreinflüsse in das verhaltensbestimmende System des Kindes eingebaut, die alle zusammen bewirken, daß das Individuum an den Traditionen seiner Kultur teilhaben kann. Das bedeutet, daß - in den durch die genetische Konstitution und durch die pränatale Epigenese auferlegten Grenzen - Kulturtraditionen die Verhaltensmöglichkeiten des Einzelnen noch weiter einengen und kanalisieren, wobei jede Kultur ihre spezifische Auswahl aus der ganzen Fülle von Verhaltenspotenzen trifft, die einem menschlichen Neugeborenen theoretisch zur Verfügung stünden. Wenn wir uns diesen Prozeß näher besehen, so finden wir darüber hinaus, daß in der Regel nicht jedes Individuum das gesamte Spektrum an Informationen mitgeteilt erhält und erfährt, die einer bestimmten Kultur zur Verfügung stehen, sondern nur eine weiter eingeengte Auswahl entsprechend vorangegangenen Entwicklungsent~ scheidungen (die z. B. das Geschlecht des Individuums betreffen), entsprechend den Familienverhältnissen, dem sozialen Status, elterlichen Erziehungsvorlieben usw. usw. Während dieses ganzen langandauernden Formungsprozesses gibt es schließlich noch eine weitere Quelle der Verhaltensmodifikation, nämlich die ganz persönlichen Erfahrungen eines Individuums, die nicht kulturtypisch sind, sondern sich von denen anderer Mitglieder der gleichen Kultur unterscheiden. Schließlich kommen noch die ebenfalls ganz persönlichen und idiosynkratischen kognitiven Verarbeitungsprozesse und gedanklichen und emotionalen Schlußfolgerungen hinzu, die der einzelne Mensch aus der Summe all dieser erlebten Einflüsse und gemachten Erfahrungen zieht. Das heißt, daß die Individualisation des Menschen - als Träger bestimmter Verhaltenseigenschaften in einem kontinuierlichen (wenn auch nicht notwendig gleichförmigen) komplexen Interaktionsprozeß genetischer, foetaler, kultureller und persönlich-erfahrener Einflüsse stattfindet, deren Ergebnis eine einzigartige Person mit einer einzigartigen Kombination art-, kultur- und individualtypischer Verhaltensfähigkeiten, Verhaltensbeschränkungen und Verhaltensneigungen ist. Schließlich entscheidet das Individuum in jedem Moment seines Lebens, in dem es sich in einer gegebenen Situation auf eine bestimmte Verhaltensweise festzulegen hat - obwohl durch Gene, Ontogenie und

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vielfältige Lernprozesse darauf vorbereitet - doch je nach der für überlegungen verfügbaren Zeit wiederum nur auf der Grundlage einer beschränkten Auswahl all dieser gespeicherten Informationen und Entscheidungs regeln, gemäß seiner Augenblicksbeurteilung der verfügbaren Verhaltensoptionen und der mit verschiedenen von ihnen verbundenen Risiken und Vorteile, so wie sie sich eben dem Individuum im Entscheidungszwang darstellen. Alle diese die Verhaltensmöglichkeiten einengenden Vorgänge bedeuten Selektionsprozesse. Die spezifische genetische Entwicklungsanleitung entstand im Laufe der Evolution der Art durch natürliche Selektion (allerdings nicht, ohne zufälligen Einflüssen durch Rekombination von Genen bei der sexuellen Fortpflanzung, der das Individuum seine Entstehung verdankt, immer noch erheblichen Spielraum zu lassen!). Die meisten Inhalte der kulturellen Tradition stammen aus einer mehr oder weniger langen kulturellen Selektionsgeschichte. Die persönlichen Lernerfahrungen veranlassen ein Individuum, bestimmte Verhaltensalternativen zu wählen (und andere zu unterlassen). Und selbst in einer gegebenen Entscheidungssituation, selektiert der Handelnde wiederum aus einer Reihe von Aktionsmöglichkeiten jene, die ihm am meisten zu versprechen scheint. Letztlich und auf lange Sicht gesehen, sollten natürlich alle diese Selektionsprozesse - wie bei allen Lebewesen - auf Steigerung der reproduktiven, "darwinischen" Fitness hin gerichtet sein; wären sie es nicht, so könnte eine Organismenart im Wettbewerb mit konkurrierenden Arten auf Dauer nicht bestehen. Dies gibt dem Biologen allerdings nur scheinbar einen Generalschlüssel zum Verständnis des Verhaltens aller Lebewesen. Erstens deshalb nicht, weil Organismen nicht in jedem gegebenen Augenblick ihrer Geschichte und in jedem ihrer Merkmale und jeder ihrer Verhaltensäußerungen optimal adaptiert sein müssen. Sind sie dies nicht, so kann dies durchaus unschädlich sein, wenn es nämlich keine Konkurrenten gibt, die besser angepaßt sind. Gibt es solche, so kann eine weniger gut angepaßte Art dennoch oft lange durchhalten, ehe sie gänzlich verdrängt wird. Ändern sich in dieser Zeit die Lebensumstände, so mag sie sogar wieder Gelegenheit zu neuer Blüte bekommen, wenn sie sich nun erneut als günstiger angepaßt erweist. Das heißt, zusammengefaßt, daß die natürliche Evolution zwar ein Fitness optimierender Prozeß ist, daß Organismen jedoch deswegen noch lange nicht in allen ihren Merkmalen und allen ihren Handlungen zu jeder Zeit auf dem Höhepunkt möglicher Angepaßtheit zu stehen brauchen. Die Natur läßt eine Menge von Unvollkommenheiten zu, wenn diese sich nicht allzu dramatisch auswirken.

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Dazu kommt eine zweite Einschränkung, die sich aus unvermeidlichen Grenzen und Mängeln der in einer Entscheidungssituation verfügbaren Information ergeben. Selbst wenn nämlich die verschiedenen Selektionsprozesse theoretisch zu einem Verhaltensprogramm geführt hätten, das optimale Fitnessergebnisse liefern könnte, gilt doch für die meisten Entscheidungssituationen, daß die verschieden gegebenen Verhaltensmöglichkeiten vom Handelnden in der Eile wegen unzureichender überschaubarkeit zu erwartender Folgen gar nicht mit letzter Sicherheit im Hinblick auf ihre langfristigen Fitnesseffekte bewertet werden können. Deshalb müssen die verhaltensbestimmenden Instanzen jedes Individuums - sei es auf der Basis angeborener, tradierter oder durch persönliche Erfahrung erworbener Information - mit Zwischenzielen, Ersatzkriterien und Schätzverfahren ("Faustregeln") ausgestattet sein, mittels derer "über den Daumen gepeilt" schnelle Entscheidungen getroffen werden können. Zwar sollten auf lange Sicht keine Ersatzkriterien und -verfahren in Gebrauch bleiben, die der Optimierung darwinischer Fitness zuwiderlaufen. Da dies aber kürzerfristig auch unangepaßtes Verhalten (im Sinne reproduktiver Fitness) keineswegs ausschließt, ist eine solche Feststellung allerdings nur sehr begrenzt geeignet, zur Erklärung wirklich auftretenden Verhaltens von Individuen beizutragen. Was für den Durchschnitt einer Population noch durchaus als gültige Regel zutreffen mag - daß Verhalten fitness-optimierend selektiert wird - bestimmt eben deshalb noch lange nicht jedes Verhalten jedes Einzelmitglieds der Population in hinreichend zuverlässiger Weise, es sei denn als Wahrscheinlichkeitserwartung. Je stärker individualisiert jedoch die Mitglieder dieser Gemeinschaft in ihrem Verhalten werden - eine Entwicklung, die beim Menschen ihr Extrem erreichte - um so weniger kann ein Populationsmittel oder eine Durchschnittserwartung für den konkreten Einzelfall aussagen, um so unvorhersagbarer - d. h. freier - wird das Verhalten des Einzelnen. Tatsächlich wird selbst bei Tieren der Zusammenhang zwischen "Zwischenzielen" und letztlichem Fitnesserfolg häufig schwer durchschaubar, so daß es selbst dem wissenschaftlich geschulten Verhaltensforscher schwer fallen kann, den Anpassungswert (d. h. die positive Korrelation mit der darwinischen Fitness) bestimmter Verhaltenseigentümlichkeiten zu erkennen. So haben etwa viele soziobiologische Modelle zum Ziel, anscheinend unangepaßtes (z. B. "altruistisches") Verhalten als letztlich doch, wenn auch auf indirektem Wege, wieder förderlich für die genetische Gesamtfitness der Ausführenden zu entlarven4 • , Dazu H. Markl (ed.): Evolution of social behavior: hypotheses and empirical tests, Dahlem Konferenz, Weinheim 1980.

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Beim Menschen gibt es nun besonders viele Möglichkeiten, auf ganz verschiedenen indirekten Wegen zur Gesamtfitness beizutragen, außer dem klassischen, direkten, der darin besteht, möglichst viele eigene Kinder zu haben. Daher wird der Versuch, den Zusammenhang von Zwischenzielen - so wie sie vom Einzelnen als Zweck seines HandeIns rationalisiert und mitgeteilt werden - und biologischer Fitness nachzuweisen, oft eher zur übung in plausibler Spekulation, als daß er sich auf überzeugende Tatsachenbelege stützen könnte. Wenn man ausschließlich von der panglossischen überzeugung ausginge, daß alles, was ist, doch wohl allein durch seine Existenz den Nachweis erbracht hat, daß es für etwas gut, adaptiv, fitnesserhöhend und somit wohl durch natürliche Selektion hervorgebracht worden ist, dann würde ein findiger Kopf immer imstande sein, selbst das ausgefallenste Verhalten als langfristig auf geheimnisvolle und wunderbare Weise für die Gesamtfitness der Erbanlagen der Ausführenden vorteilhaft und somit im Umkehrschluß als biologisch bedingt zu erklären. Dies kann wenig befriedigen, zumal andererseits das Argument, der Mensch zeige Fehlanpassungen oder Anpassungsgrenzen seines Verhaltens, die er seiner biologischen Vergangenheit verdankt und die ihn daher weniger als optimal oder sogar gar nicht für die heutigen zivilisierten Lebensumstände geeignet machen, für den angeblichen Nachweis biologischer Wurzeln menschlichen Verhaltens immer wieder eine große Rolle spielt. Man muß betonen, daß ein Anpassungsnachteil eines Merkmals - im biologischen Sinne - nur dann als festgestellt gelten kann, wenn quantitativ nachgewiesen wird, daß die Gesamtfitness der Erbanlagen, die für die Ausprägung dieses Merkmals verantwortlich sind, kleiner als die konkurrierender Allele ist. Da, wie gesagt, die Wege zu indirektem Fitnessgewinn beim Menschen nur durch den Einfallsreichtum der Handelnden (oder der Untersucher?) begrenzt erscheinen, da zudem so manches angeblich nachteilige Merkmal oft dem direkten Fortpflanzungserfolg des Merkmalsträgers kaum Abbruch tut (besonders unter den Bedingungen moderner medizinischer Betreuung, die die "natürlichen" Bedingungen für den Zivilisationsmenschen sind, was leicht übersehen wird!), bleibt immer noch zu beweisen, ob es wirklich (von klar pathologischen Fällen abgesehen) biologisch bedingte arttypische Verhaltensmerkmale des Menschen gibt, die unter heutigen Lebensbedingungen Fehlanpassungen darstellen, also Ausdruck einer Last, die vom evolutiven Erbe des Menschen herrührt. Es scheint jedenfalls, als gäbe es häufig bessere Belege dafür, daß es sich um kulturelle Fehlanpassungen handelt - also für heutige Verhältnisse nicht mehr passende Traditionen - wo oft allzu schnell auf biologisch programmierte Anpassungsmängel geschlossen wird.

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Da es also selbst für den geübten Forscher oft so schwierig ist, den Zusammenhang zwischen Zwischenzielen des Verhaltens und ihren letztendlichen Fitnessfolgen sicher nachzuweisen, wieviel schwieriger muß die gleiche Aufgabe dann für den einzelnen, handelnden Menschen sein? Das kann bedeuten, daß diese Zwischenziele dann eben ohne daß es der Einzelne zu durchschauen braucht - durch genetische Selektion oder durch kulturelle Selektion oder durch beide - in der Vergangenheit sorgfältig so programmiert worden sein müssen, daß sie sich überwiegend biologisch vorteilhaft auswirken, also zu hoher Gesamtfitness der Gene führen. Diesem funktionalistischen Glaubensbekenntnis hängen sicher manche Biologen an5 , wenn sie annehmen, daß auch viele Besonderheiten des Verhaltens von Menschen verschiedener Kulturen ihren so selektierten Anpassungswert haben, während andererseits viele Sozialwissenschaftler6 eine solche Anschauungsweise für ziemlich ungeeignet halten, um die mannigfachen Unterschiede der menschlichen Gesellschaften dadurch zu erklären. Diese Lage der Dinge kann jedoch auch bedeuten, daß die darwinische Fitness des Einzelmenschen in der Kulturrevolution und insbesondere für den historischen Erfolg wettstreitender Kulturen eine so geringe Rolle spielte, daß die Zwischenziele des Alltagsverhaltens fast gar nicht nach Maßgabe ihres Beitrages zur biologisch-darwinischen Fitness kontrolliert und selektiert sind, daß sie also gar keine "Zwischenziele" im vorher erläuterten Sinne darstellen, sondern eigenständige kulturbedingte Zwecke, die um ihrer selbst willen verfolgt und nicht nach Maßgabe biologischer, sondern nach der selbständiger kultureller "Fitness"-standards beurteilt werden. Diese können zwar sicher im Durchschnitt nicht ganz und in jeder Hinsicht unabhängig von biologischen Randbedingungen sein - also z. B. sicher nicht ungestraft einer ganzen Gesellschaft den völligen und dauernden Verzicht auf Essen und Trinken oder Fortpflanzung zur Erlangung überirdischer Ziele vorschreiben - doch besagt diese Einschränkung doch nur etwas eher Banales. Entscheidend ist, daß in dieser Sicht der Maßstab der biologischen Fitness - nach dem allein eine soziobiologische Betrachtung des Menschen ihre Erklärungsmodelle ausrichten könnte - von einer Leitlinie, die spezifische Verhaltenseigentümlichkeiten erklären soll, zu einer Begrenzungslinie wird, die lediglich den Freiraum, innerhalb dessen sich Verhalten verwirklichen kann, von den aus biologischen Gründen unzulässigen oder unwahrscheinlichen Optionen abgrenzt. Welchen genauen Weg dann aber das Verhalten des Einzelnen oder Lumsden / Wilson (FN 3). z. B. Th. Luckmann: Personal identity as an evolutionary and historical problem, in M. von Cranach et al. (eds.): Human Ethology, Cambridge/Mass. 5

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einer Gemeinschaft in diesem Freiraum einschlägt, dies wäre durch die Beschreibung der biologischen Randbedingungen ganz und gar nicht hinreichend bestimmbar. Aus dieser Sicht ergäbe sich die erstaunliche Verhaltensfreiheit des Menschen als Ergebnis einer - biologisch angelegten - Verhaltensorganisation, in der biologisch bedingte Leistungsunterschiede zwischen Menschen einer Gesellschaft viel weniger wichtig sind 7 als solche, die von den nach der Geburt einsetzenden Formungs- und Selektionsprozessen herrühren. Die angeborene Mitgift würde in dieser Sicht zwar die Bühne bereitstellen, auf der allein sich die "Ausbildung" durch Kultur und Eigenerfahrung abspielen kann, aber dadurch keineswegs bestimmen, welches Stück auf dieser Bühne mit welchem Erfolg aufgeführt wird. Wenn also biologische Fitnessunterschiede wenig Einfluß auf die kulturellen Fitnessunterschiede zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft hätten und wenn diese kulturelle "Fitness" - die sich vor allem in der Fähigkeit ausweist, Erfindungen und Erfahrungen für sich und diese Gemeinschaft nutzbar zu machen - maßgeblich bestimmt, ob eine Gesellschaftsform besser als konkurrierende Gesellschaftsformen mit den Lebensherausforderungen fertig wird, wenn also verschiedene Kulturen (die "Pseudospezies") nicht nur wie biologische Arten in darwinischer Fitnesskonkurrenz stehen, sondern sich vor allem durch ihre Fruchtbarkeit in der Hervorbringung kultureller Errungenschaften bewähren müssen, so würden wir wohl kaum eine sehr genaue Isomorphie zwischen genetischer und kultureller Fitness zu finden erwarten. Unterstellt man, daß all dies gilt, so müßte der Erklärungswert soziobiologischer, also auf genetische Anpassungseffekte und darwinische Fitness bezogener Modelle von dem Zeitpunkt ab in der menschlichen Evolution immer geringer werden, von dem ab die kulturellen Fitnesswirkungen die biologischen Fitnesswirkungen überwogen. Natürlich muß gewährleistet bleiben, daß sich die Individuen und mit ihnen deren Gene erfolgreich fortpflanzen können. Ob sie das schaffen, wäre dann aber weniger durch die biologisch-genetisch gegebenen Eigenschaften dieser Individuen bestimmt, als vielmehr durch die Leistungen der Kultur, in die sie hineingeboren wurden, deren Produktions- und Traditionsvermögen an Kenntnissen, Ideen, Fertigkeiten, Gütern und ordnenden Regeln. Es braucht nicht betont zu werden, daß all diese Leistungen natürlich nur von Menschen erbracht und genützt werden könnten, die aufgrund ihrer biologisch-genetischen Anlagen dafür nicht zu unbegabt sind. Die genetische Konstitution muß die 7 Obwohl sie unstreitig existieren, vor allem in der Form der Grenzen maximal erreichbarer Leistungen.

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kulturelle Entfaltung zulassen, doch bestimmt sie nicht deren Formen und Wege. Was wir über das Zustandekommen der Verhaltensverschiedenheiten zwischen Menschen gleicher oder verschiedener Kultur wissen, spricht dafür, daß ein solches Modell die Wirklichkeit der menschlichen "Natur" richtiger erfaßt als eines, in dem biologisch-genetische Anlagen als das individuelle gesellschaftliche Verhalten der Menschen bis in präzise Details hinein maßgeblich bestimmend angesehen werden. Um die wirklichen Grenzen und Vorgaben zu erkunden, die die biologische Natur dem Verhalten des Menschen setzt, müßte man die Verhaltensentwicklung von Neugeborenen unter ganz verschiedenen kontrollierten Bedingungen verfolgen können. Die Aufzucht von Tieren unter kontrolliertem Erfahrungsentzug und unter Ersatz normaler durch künstlich vorgegebene Erfahrungen war die erfolgreichste Methode der Tierethologen, um herauszufinden, wann welche Verhaltensmodifikationen im Laufe der Entwicklung möglich und wann spezifische Erfahrungen für den normalen Fortgang der Entwicklung nötig sind. Mit großem Einfallsreichtum und Arbeitseinsatz haben sich Humanethologen bemüht, menschliches Verhalten auf ähnliche Weise dahingehend zu prüfen - ohne doch aus ethischen Gründen die Entwicklungsbedingungen ebenso beliebig manipulieren zu können indem sie z. B. sensorische Unterscheidungsleistungen, spontanes oder konditioniertes Verhalten, vor allem aber das Ausdrucksverhalten normaler Babies und solcher mit bestimmten angeborenen Behinderungen verglichen8 • Ohne die Bedeutung dieser wichtigen Untersuchungen zu unterschätzen, muß man doch sagen, daß sie ernüchternd oder besser erfreulich wenig über biologische Verhaltenszwänge des Menschen zutage gefördert haben. Zwar haben sie zweifelsfrei bewiesen, daß der neugeborene Mensch keineswegs eine tabula rasa ist, in die erst die Erfahrung die eigentlichen Verhaltenscharakterzüge eingraviert. Das Kind ist offenkundig - weit stärker, als man dies früher meist angenommen hatte - von Natur aus, d. h. durch seine biologischen Anlagen für wichtige Verhaltensleistungen vorbereitet: darauf, sich mit seiner sozialen Umwelt, vor allem mit seinen Betreuern auf vielfältige Weise zu verständigen, auf menschliche Sprache in besonderer Weise zu reagieren und sie selbst hervorzubringen; besonders aber vorbereitet darauf, aus seinen notwendigerweise sehr begrenzten Wahrnehmungen und Erfahrungen stufenweise eine innere Vorstellungswelt aufzubauen, wie Piaget dies so deutlich gezeigt hat9 • 8 I. Eibl-Eibesfeld: Der vorprogrammierte Mensch, Wien 1973; M. von Cranach et al. (eds.): Human Ethology, Cambridge/Mass. 1979. g M. Piatelli-Palmarini (ed.): Language and learning, London 1980.

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Aber hier setzen sogleich auch die Probleme aller dieser Untersuchungen ein. In dem Maße, wie das Kind durch aktive Interaktion mit der Außenwelt und deren Erkundung diese subjektive Vorstellungswelt aufbaut und indem es die Fähigkeit entwickelt, mit seinen begrifflichen Vorstellungen gedankliche und emotionale Operationen auszuführen, also "umzugehen", entzieht es sich mit zunehmendem Alter immer mehr dem Zugriff der ethologischen Untersuchungsmethoden, obwohl es doch immer interessanter würde, zu verstehen, wieviel an biologischen Programmen sich in seiner Verhaltensentfaltung auswirkt. Es handelt sich dabei nicht etwa darum, daß nur noch nicht die richtigen Methoden erfunden worden sind, um Natur- und Umwelteinflüsse sauber zu entwirren. Wenn wir überhaupt über wirkliche Menschen reden wollen, so müssen wir über sie als die Baumeister und Schöpfer ihrer eigenen Vorstellungswelt sprechen, die ein unauflösbares Gewebe aus Anlagen und Erfahrungen darstellt. Hier "Natur" oder "Angeborenes" und "Erfahrung" oder "Erworbenes" trennen zu wollen, wäre so sinnvoll, als wollte man fragen, ob die menschliche Art männlich oder weiblich sei. Das Muster des Gewebes und nicht die Herkunft der Fäden macht das Bild der Person aus. Deshalb verliert auch die Frage, wie angeborene Menschennatur normenbezogenes Verhalten des Menschen beeinflußt, fast jeden präzisen Sinn, da dieser Naturbeitrag zur Entfaltung solchen Verhaltens gar nicht losgelöst von der schrittweisen Auseinandersetzung mit Erfahrungen betrachtet werden kann. Viele Humanethologen und Soziobiologen werden sicher einer solchen Sichtweise widersprechen. Können wir denn nicht den Indizienbeweis für spezifisch angeborene Verhaltensdispositionen durch den Nachweis von Verhaltensuniversalien führen 10 ? Erlaubt uns nicht der Vergleich verschiedener Kulturen oder der mit unseren Primatenverwandten den Nachweis, daß gesellschaftliche Organisationsformen soziobiologischen Modellvorhersagen entsprechen l l ? Leider bringt all dies jedoch auch nicht die Lösung. Weder gilt, daß genetisch programmiertes Verhalten eine arttypische Universalie sein muß: die spieltheoretische Analyse der Verhaltensevolution hat uns gelehrt, die Adaptationsvorteile gemischter Strategien und verhaltensgenetischer Polymorphismen zu erkennen. Noch ist es im Umkehrschluß so, daß arttypisch-universales Verhalten genetisch programmiert zu sein braucht: das Studium der Entwicklung von Vogel gesängen hat zum Beispiel gezeigt, wie fest Lernprogramme eine ganze Population oder Art im Griff halten können. Noch würde der Nachweis, daß ein bestimmtes Verhalten oder eine 10 Etwa bei Kommunikationsritualen, siehe z. B. Eibl-Eibesfeld, Behavior Brain Science 2 (1979), S. 1 ff. U Siehe z. B. die Erklärung des Awunculates: R. D. Alexander: Darwinism and human affairs, Seattle 1979.

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Verhaltensorganisation die Gesamtfitness der Ausführenden fördert, also daß sie im biologischen Sinne adaptiv sind, irgendeinen Schluß auf die Ursachen dieser Verhaltensformen zulassen: wer würde denn behaupten wollen, daß Kulturtradition oder Individualerfahrung nur zu biologisch unangepaßtem Verhalten führen können? Die Möglichkeit der Phänokopie schwebt bedrohlich über jeder Schlußfolgerung von der biologischen Funktion eines Merkmals auf seine Ursachen. Es gibt keine Zweifel daran, daß Kultur Natur phänokopieren kann und daß individuelles Entdecken und Erfinden Kulturtradition phänokopieren kann12 , da ja all diese verhaltenssteuernden Mechanismen Selektionsprozesse nach Maßgabe funktioneller Zweckvorgaben bedeuten. Wenn wir dies zu Ende denken, so kommen wir sogar zu dem merkwürdigen Schluß, daß wir eine biologisch-genetisch programmierte Anpassung nur als Anpassungsmangel unter veränderten Umständen erkennen könnten. Aber selbst dies kann dann in die Irre führen, denn ich habe schon darauf hingewiesen, wie schwierig es sein kann, Anpassungsmängel im Verhalten des Menschen nachzuweisen, und überdies: genetisch-bedingte Fehlanpassungen können ja wiederum durch kulturtraditionsbedingte Fehlanpassungen phänokopiert werden! Aber selbst wenn wir annehmen, daß der Nachweis der Universalität oder des einem Evolutionsmodell entsprechenden Fitnessvorteils eines Verhaltens uns, wenn schon nicht einen schlüssigen Beweis, so doch wenigstens einen plausiblen Hinweis auf genetisches Erbe, vielleicht gar bis aus unserer Tiervergangenheit liefert, wäre das dann ein Stück "harter" vorhersagemächtiger Theorie menschlichen Verhaltens? Oder würden die Vorhersagen manchmal zu den Ergebnissen passen und manchmal nicht, also die Theorie nur wenig Voraussagewert haben? Ich fürchte, das Letztere trifft weitgehend zu. Zwar sollte man auf einen Populations durchschnitt bezogene, nur mit gewisser Wahrscheinlichkeit zutreffende Vorhersagen auch nicht unterschätzen, doch gilt gerade beim Menschen, daß dem Einzelindividuum, dessen konkretes Verhalten keineswegs vorhersagbar ist, auch für das Verhaltensgeschehen einer ganzen Menschengemeinschaft allergrößte Bedeutung zukommen kann, da es sie durch sein Denken, Reden und Handeln mitreißen kann. Dieser Verstärkereffekt kann die Wirkung freier, d. h. nicht vorhersagbarer Verhaltensäußerungen Einzelner so sehr multiplizieren, daß dadurch auch die Vorhersagbarkeit für den Durchschnitt größerer Populationen höchst unsicher wird. Was dann mitunter als "irrationales" Verhalten klassifiziert wird, ist häufig nur Ausdruck der grundlegenden schöpferischen Spontaneität und Selbstgestaltungsfähigkeit menschlichen Verhaltens, die immer wieder auf deterministische 12

H. Markl: Organismen als Entdecker, Heidelberg 1982.

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Modelle gegründete Vorhersagen scheitern lassen müssen. Ein nicht wenigstens in gewisser Hinsicht deterministisches Modell biologischer Verhaltensprogrammierung des Menschen wäre aber andererseits entweder eine contradictio in adjecto oder doch eine so "weiche" Theorie unseres Verhaltens, daß sie uns herzlich wenig zu sagen hätte. Es sieht so aus, daß wann immer jemand sogenannte Verhaltensuniversalien des Menschen aufdeckt, bald ein anderer kommt, der Ausnahmen von dieser Regel aufzeigen kann. Wir bewegen uns dann rasch von "universal" und "vorprogrammiert" zu "wahrscheinlich" und "disponiert". Wenn aber zum Beispiel die Aussage, Aggressivität sei eine menschliche Verhaltensuniversalie, nichts anderes bedeutet, als daß aggressives Verhalten unter bestimmten Bedingungen wahrscheinlich ist, so kann das schwerlich als große Erkenntnis gelten, denn dies ist ja von vornherein jedermann wohlbekannt. Was wirklich von Interesse an dieser universellen Aggressionsfähigkeit wäre, ist, zu verstehen, was verschiedene Leute unter gleichen oder die gleichen Leute unter verschiedenen Umständen so verschieden aggressiv macht. Während die Argumentation mit der menschlichen Natur also aussagt, daß etwas geschehen kann, möchten wir ja eigentlich verstehen, wann es geschieht und wann nicht und wie sein Auftreten verändert werden kann. Dies ist dann allerdings weniger eine Frage der vorprogrammierten Natur, die den Modifikationsbereich vorgibt, als eine der spezifischen Einflüsse von Erziehung, individueller Erfahrungen, erlebter Verhaltenserfolge usw., die bestimmen, wo das Verhalten einer Person in diesem Modifikationsrahmen zu liegen kommt. Die vergleichende Forschungsmethode von eh. Darwin und K. Lorenz ist unstreitig ein sehr nützliches Werkzeug, um Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Organismen aufzudecken, solange die Ursachen der verglichenen Merkmale grundsätzlich dieselben sind und solange wir historische Kontinuität der Merkmale annehmen (also konvergente Entwicklung ausschließen) können. Mit anderen Worten: solange wir die Merkmale als homolog ansehen können. Dies trifft für eine Unzahl genetisch ziemlich straff determinierter Merkmale von Pflanzen, Tieren und Menschen zu und dort ist die vergleichende Methode auch überwältigend erfolgreich. Die gleichen Bedingungen gelten auch für manche rein kulturtradierten Merkmale, weshalb die vergleichende Linguistik nicht minder erfolgreich Sprachverwandtschaften aufklären konnte. Wo wir es aber mit einem komplexen und variablen Gemisch ursächlicher Einflüsse zu tun haben, bei dem auch noch eine Verursachungsweise die andere ersetzen (phänokopieren) kann, da verliert die vergleichende Methode viel von ihrer Erklärungskraft.

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Man muß auch eine andere Falle bei der Anwendung der vergleichenden Forschungsmethode sorgfältig vermeiden: nämlich die sich allzu leicht einstellende Annahme, daß jene Merkmale, die verschiedenen Gruppen von Lebewesen gemeinsam (universal) zu eigen sind, irgendwie fundamentaler im Sinne von funktionell bedeutungsvoller seien, als jene, die erst neu erworben und daher weniger verbreitet (apomorph) sind. Das Gegenteil dürfte in der Regel der Fall sein, wenn es sich um Verhaltensanpassungen handelt. Die Universalien können nämlich geradesogut "altmodische" Überbleibsel von geringer Bedeutung für die Anpassung der Systeme an ihre jeweiligen Umweltnischen sein, die eben deshalb nicht wegselektioniert wurden, während die Spezialmerkmale von größter Bedeutung für Anpassungsleistungen und Konkurrenzerfolg sind. Die vergleichende Methode muß dagegen fast per dejinitionem dazu führen, Allgemeines überzubetonen und Spezifisches zu vernachlässigen. Wenn wir dies auf den Menschen beziehen: was ihn wirklich ausmacht in seinem Verhalten dürfte wohl schwerlich das sein, was er mit Tierverwandten gemeinsam hat; so kann uns gerade die vergleichende Methode und die aus ihr abgeleiteten Verhaltensmodelle am wenigsten über Herkunft und Eigenart dessen am Menschen sagen, was doch am erklärungsbedürftigsten ist, weil sich darin sein eigentliches Wesen verkörpert. Hier ist nicht der Platz, alle menschlichen Verhaltenscharakteristika daraufhin durchzugehen, ob sich biologische Programmierung mehr oder weniger plausibel in ihnen erkennen läßt. Es scheint schwierig, in all jenen Verhaltensweisen ausschlaggebende angeborene Determinanten zu erkennen, an deren Zustandekommen Denkvorgänge maßgeblich beteiligt sind. Denkvorgänge spielen andererseits sicher auf jeder Stufe der Evolution des Menschen als "Kulturtier" eine gar nicht zu überschätzende Rolle. Die Fähigkeit, abstrakte begriffliche Vorstellungen beginnend mit dem Begriff des eigenen "Selbst" - wie konkrete Dinge zu behandeln (zu "reifizieren") und sie je nach dem kulturellen Sozialisationshintergrund, eigenen Erfahrungen und Einsichten emotional zu bewerten, erzeugt eine Eigenwelt von Vorstellungen über Tatsachen und Zwecke, die zwar der realen Erfahrung verbunden ist, sich aber andererseits doch in solchem Ausmaß von der Außenwelt unabhängig machen kann, daß daraus eine individuell einzigartige subjektive Wirklichkeit wird. All dies scheint zu den fundamentalen Eigenschaften jedes menschlichen Wesens zu gehören und gleichzeitig zu jenen, die am wenigsten direkt im Detail durch die "biologische Natur" des Menschen gesteuert werden können, wenngleich diese natürlich die Grundlage der Entstehung dieser Fähigkeit ist. Sucht man sozusagen die biologische Grundausstattung an Dispositionen zu erfassen, die dieses kognitive System des Menschen in sol-

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chem Grade vorstrukturieren, daß wir erwarten können, prägende Spuren im menschlichen Verhalten ausgedrückt zu finden, so können wir dabei nach allem Gesagten bestenfalls plausible Annahmen, nur selten überzeugend belegbare Nachweise erwarten. Es scheint auch, daß tatsächlich recht wenige solcher Annahmen nötig sind, um diese biologischen Grundstrukturen des Verhaltens angemessen zu kennzeichnen. Grundlegend erscheint zunächst das dringende Bedürfnis jedes Menschen, eine Vorstellung der eigenen, personalen Identität zu bilden und ihre Integrität und Autonomie zu wahren, also über ein angemessenes Maß an Selbstkontrolle zu verfügen und dem zu starken Eindringen von Fremdkontrolle Widerstand zu leisten l3 ; diese Identität wird zugleich immer als die eines sexuellen Wesens geformt, als Mann, als Frau, selten sogar als Mischung aus beiden, aber offenbar normalerweise nie als asexuelles Neutrum. Auf einer nächsten Stufe scheint man eine "natürliche" Neigung zu erkennen, die soziale Umwelt immer in drei konzentrischen Kreisen um das Ego organisiert zu erleben. Einen ersten, den wir Verwandtschaftskreis nennen können, der oft, aber keineswegs immer die engeren biologischen Verwandten einschließt. Einen zweiten, den wir den Zugehörigkeitskreis nennen können, der aus der Menge vernetzter Verwandtschaftskreise besteht, deren Gesamtheit die Horde, den Stamm, das Volk, die Angehörigen der eigenen Kultur ausmachen (wobei sich in der Vorstellungs welt wie in der Realität ein Individuum gleichzeitig mehreren solchen - teils überlappenden, teils unabhängig voneinander definierten - Kreisen zugehörig fühlen kann). Schließlich, außerhalb von diesem Zugehörigkeitssystem: der Fremdkreis, die Anderen, die Außenstehenden. Gewiß, wen der Einzelne (oder eine bestimmte Gesellschaft) diesen drei Kreisen zuordnet, scheint - wenn man von den einfachsten Fakten der Genealogie absieht - keineswegs biologisch vorgegeben und in weiten Grenzen individuell wählbar und kulturell gestaltbar. Hingegen könnte die Bereitschaft, die soziale Welt in einem solchen dreikreisigen Grundmuster zu ordnen und die ausgeprägte Neigung, es durch kommunikative, vor allem sprachliche Kennzeichen zu markieren 14 , in der Tat zur grundlegenden Menschennatur gehören. Diese selbstzentrierte, dreikreisige Organisation würde man allerdings falsch verstehen, wenn man sie nur als ein reines Einteilungsschema begriffe. Sinn gibt es erst, wenn wir es mit der Disposition verbunden erkennen, die Angehörigen der Verwandtschafts-, Zugehörigkeits- und Fremdkreise in mannigfacher, mit Lebensnotwendigkeiten verknüpfter Weise unterschiedlich zu behandeln. Wie das im einzel13 14

Luckmann (FN 6). Dazu H. Markl: Aggression und Altruismus, Konstanz 1976.

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nen aussieht, ist wiederum von Kultur zu Kultur oft sehr verschieden. Dennoch legt die soziobiologische (evolutionsbiologische) Betrachtung nahe, von innen nach außen in diesem mehrstufigen Kreissystem parallel zu dem Gradienten abnehmender Vertrautheit einen Gradienten von hilfsbereiter Kooperation hin zu ablehnender Verweigerung zu erwarten. Das heißt, es mag durchaus Teil unserer Natur sein, zum Nepotismus zu neigen, also Verwandte oder im weiteren Sinne "Angehörige" zu begünstigen. Inzestvermeidung und Exogamie scheinen mit diesem Bereitschafts- und Vertrautheitsgradienten in einem mehrkreisigen Sozialsystem verknüpft, zwar wiederum nicht im Sinne einer strengen biologischen Vorgabe, aber doch als eine Folge biologisch angelegter sozialer Strukturprinzipien. Vielleicht muß diese Liste der minima biologica gar nicht viel länger gemacht werden, um die Grundzüge zu erfassen, innerhalb derer sich die kulturelle und individuelle VerhaItensvielfalt entwickeln kann. Alle diese vermuteten "natürlichen" Neigungen und Bereitschaften bedürfen sicher, um wirksam werden zu können, vielfältiger Interaktion mit vor allem sozialer Erfahrung. Man darf sie nicht als zwangsläufige Schienen, sondern muß sie als gebahnte Bereiche der VerhaItensentwicklung ansehen. Die "Natur" scheint die menschliche Verhaltensentwicklung eher durch Vorschläge als durch Vorschriften zu beeinflussen. So kann man daran zweifeln, ob die Vorstellung von Besitz - über das hinaus, was man augenblicklich gleichsam als eine Erweiterung der eigenen Identität unter Kontrolle hat - genauso in unserer Natur verankert ist, wie es für die eben aufgeführten Grundneigungen gelten könnte. Auch für die Vorstellungen reziproker Verpflichtungen und einer Verteilungsgerechtigkeit - ohne die keine menschliche Gesellschaft auskommt - mag dies gelten. Solche Grundzüge, so verbreitet sie immer sind, könnten gewiß auch kulturelle Phänokopien sein wenn es überhaupt je genetische Modelle dafür gab - oder Neuerfindungen, die das menschliche Sozialleben auf eine andere Stufe als das von Tieren stellte, indem es auf Vorstellungen von Zeit, von UrsacheWirkungs-Beziehungen, von Regeln des richtigen Benehmens, von Verpflichtungen zwischen einem selbst und anderen usw. beruht und nicht nur auf angeborenen oder angelernten Aktions- und ReaktionsProgrammen. Ob man im emotionalen Bereich beim Menschen mehr an "biologischer Grundausstattung" anzunehmen braucht, als die Fähigkeit, Gefühle der Unlust oder der Befriedigung in bezug auf die grundlegenden physiologischen Homöostasebedürfnisse des Körpers zu empfinden (zu denen beim Baby auch soziale Interaktionsbedürfnisse zu rechnen

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sind), und die Fähigkeit, sexuelle Bereitschaft zu entwickeln, scheint ebenfalls keineswegs sicher. Es könnte durchaus sein, daß alle weiteren Äußerungen des Fühlens und Wollens als Fortentwicklung dieser emotionalen Grundlagen unter dem Eindruck gemachter Erfahrungen zu verstehen sind. Dies Bild kann allerdings durchaus auch allzu sehr vereinfacht sein. Es mag durchaus zutreffen, daß man - für eine sparsame und zutreffende Beschreibung der menschlichen Verhaltenswirklichkeit - weitere basale Bereitschaften anzunehmen hat, etwa die zum Ruhen, die zum Erkunden, die zum Rangstreit und zur sozialen Machtausübung, die zur Partnerbindung, die zur Nachkommenfürsorge, die zur Kommunikation dessen, was man fühlt, weiß, kann (also zum Lehren), und die zum Lernen oder Nachahmen dessen, was andere Mitglieder der Gemeinschaft fühlen, wissen oder können, um nur solche aufzuzählen, die biologisch relativ naheliegend erscheinen. Was haben nun all diese kritischen Reflexionen im Hinblick auf natürliche Grundlagen normenbezogenen Verhaltens des Menschen zu besagen? Zunächst gibt es anscheinend kaum Hinweise auf biologische Determination spezifischer Inhalte von Verhaltensnormen. Dagegen finden wir bei Menschen offenbar immer eine ausgeprägte Neigung, Normen zu erfinden, zu erwarten, zu befolgen und durchzusetzen. Da Normen, wie eingangs erwähnt, Konstrukte der Vorstellung sind, können sie sich nur aus der gedanklichen Repräsentation der Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen dem Ich und den Anderen heraus entwickeln. Es scheint durchaus bestreitbar, ob die "Natur" zu diesem Normengestaltungsprozeß mehr beisteuern muß als ein Gehirn, das zu solchen gedanklichen und emotionalen Operationen fähig ist. Dennoch würde man erwarten, daß es Grenzen der beliebigen Gestaltbarkeit von Normen und normenbezogenem Verhalten des Menschen dort gibt, wo natürliche Dispositionen, wie sie im Vorgehenden erläutert wurden, mit einiger Wahrscheinlichkeit eine Rolle spielenlS • Daher sollten zum Beispiel die Bewertung personaler Integrität, Autonomie, Selbst- und Fremdkontrolle, die Bewertung der Begünstigung von Angehörigen, die Bewertung unterschiedlichen Verhaltens gegenüber Fremden und Mitgliedern des eigenen Zugehörigkeitskreises und die Bewertung von Geschlechtsbeziehungen "natürliche" Problembereiche und Reibungszonen für normenkontrolliertes Verhalten darstellen. Ob ähnliches für Verhalten gilt, das sich auf Rang- oder Besitz15 Dazu H. Markl: Evolution of morals? Morals of evolution?, in G. S. Stent (ed.): Morality as a biological phenomenon. Dahlem Konferenz, Weinheim

1978.

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ansprüche oder vertragsartige Verpflichtungen bezieht, scheint mir nicht ebenso überzeugend begründbar. über solche sehr vorsichtigen überlegungen hinaus sehe ich wenig, was eine evolutionsbiologische Perspektive zu einem besseren Verständnis normenbezogenen Verhaltens des Menschen beitragen könnte. Man muß zugeben, daß es wenig mehr ist, als aufmerksame Beobachtung und gesunder Menschenverstand sowieso nahelegen. Natürlich gibt es weitergehende, mehr oder weniger überzeugende Spekulationen zu diesen Fragen aus soziobiologischer Sicht. Es scheint mir jedoch nicht, als ob diese gegenüber anderen Erklärungshypothesen Beweiskraft voraushätten. Normenbezogenes Verhalten muß Wahlfreiheit beim Handelnden postulieren. Verhaltenswahlfreiheit setzt Denken voraus, eine gedankliche Vorstellung der Welt, in ihr möglicher Handlungswege und deren Folgen für einen selbst und Verhaltenspartner. Diese Tatsache - an der keine Betrachtung biologischer Grundlagen normenbezogenen Verhaltens vorbeikommt - muß den Erklärungswert soziobiologischer Erklärungsmodelle grundsätzlich einschränken, wenngleich diese durchaus ihren Beitrag zur Beantwortung der Frage leisten können, wie der denkfähige Mensch in der Evolution überhaupt entstehen konnte. Doch dies ist ein anderes Kapitel.

DRITTER TEIL

Chemie, Gehirn und Affen: Beiträge aus der Gehirnforschung und der Primatologie

NEUROGENE UND CHEMISCHE GRUNDLAGEN DES GLüCKSGEFüHLS Von Bartley G. Hoebel

I. Einleitung Gruter 1 und Danielli2 haben die These vertreten, daß möglicherweise gewisse opiumhaltige Stoffe im Gehirn - Endorphine - altruistisches und gesetzestreues Verhalten belohnen. Das ist eine interessante Vorstellung, denn das würde bedeuten, daß körpereigene (endogene) Opiate alle möglichen Arten der Befriedigung herbeiführen könnten, einschließlich der Befriedigung, die bei Essen, Trinken, Paarung, Betreuung der Nachkommen, Aggression, Verteidigung und anderen Formen verantwortungsbewußten Handelns des Einzelnen oder der Gruppe erlebt wird. Gehirnforscher und Psychophysiologen verfügen über eine ungewöhnlich klare und elegante Methode, die Richtigkeit dieser Theorien zu überprüfen: wenn der Opiat-Antagonist Naloxon, die Substanz, die die spezifische Wirkung von Opiaten unterdrückt, ein bestimmtes Verhalten hemmt, läßt sich daraus schließen, daß dieses Verhalten tatsächlich von endogenen Opiaten gesteuert wird. Naloxon hebt z. B. durch Morphin oder Akupunktur verursachte Schmerzlosigkeit auf und unterbindet morphiumbedingte Euphorie und Nahrungsaufnahme. Die Empfindungssysteme für Schmerz, Hunger und Lustgefühle enthalten offensichtlich Opiatrezeptoren. Nachweislich spielen endogene Opiate auch eine Rolle bei der Schmerzunterdrückung durch Plazebos und bei Schmerzerwartung nach entsprechender Ankündigung3 • Die Freisetzung von Opiaten im Körper kann demnach konditioniert sein. Die Reaktion auf eine Warnung ließe sich als Modellfall für Rechtsverhalten betrachten. das sich an das geltende Recht hält. Noch interessanter im Rahmen dieser Konferenz ist aber die Beobachtung, daß es für gewisse soziale Handlungsweisen angeborene che1 M. Gruter: Origins of legal behavior, Journal of Social and Biological Structures 2 (1979), S. 43 - 51. 2 J. S. Danielli: Altruism and the internal reward system, Journal of Social and Biological Structures 3 (1980), S. 87 - 94. 3 M. Fanselow: Naloxone attenuates rats preference for signaled shock, Physiological Psychology 7 (1979), S. 70 - 74.

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mische Belohnungsmechanismen gibt. Wenn Küken sich von Mutter und Geschwistern entfernen, geben sie Kummerlaute von sich. Das geschieht auch, wenn man sie "einsperrt" oder ihnen Naloxon verabreicht 4 • In dem entsprechenden Alter sind diese Zeichen von Kummer und Angst unverwechselbar. Gehorcht das Küken dem angeborenen Gesetz, sich nicht von der Mutter zu entfernen, wird es durch Opiate belohnt, widersetzt es sich aber diesem Gesetz, wird es durch Opiatentzugserscheinungen bestraft. Wenn einmal ein klares, einfaches Modell für uneigennütziges Verhalten an einem Versuchstier wie etwa der Ratte zur Verfügung steht, kann ich auch bei dieser Verhaltensweise die Rolle der körpereigenen Opiate untersuchen. Im Augenblick aber kann ich mehr über ihren Einfluß auf die Nahrungsaufnahme berichten. Als Hughes und andereS eine morphiumartige Substanz in der Struktur eines langen, der Hypophyse entnommenen Pro teins fanden, entdeckte man Opiate im Gehirn. Man nannte diese Substanz Endorphin (als Abkürzung für endogenes Morphin). Inzwischen wissen wir auch, daß die Ausgangssubstanz durch Enzyme gespalten wird. Durch diesen Spaltungsvorgang entsteht eine Reihe wichtiger Peptide, unter anderem Endorphin. Diese Peptide kontrollieren sowohl physiologische Abläufe als auch Schmerzempfindung. Die genetischen Codices eines Tieres für die Produktion der Ausgangssubstanz und der sie aufspaltenden Enzyme beeinflussen die Physiologie eines Tieres, seine Reaktion auf Schmerz und vielleicht auch gewisse charakteristische Verhaltensweisen. Es gibt Mäuse- und Rattenarten, die eine genetische Tendenz zu Fettleibigkeit haben. Nach den Mendelschen Gesetzen wird ein im voraus bestimmbarer Anteil der Nachkommen fett sein. Man hat festgestellt, daß die Hypophyse der fetten Tiere mehr Beta-Endorphin als die der mageren Tiere enthält6 • Wenn es sich nachweisen ließe, daß Endorphin die Futteraufnahme beeinflußt, hätten wir eine klare Verbindung zwischen Genetik, im Gehirn auftretenden Peptiden und einem lebenslang motivierten Verhaltensmuster. Ein derartiger Sprung von der Genetik zur Motivation ist ein wesentliches Thema dieser Konferenz.

, B. H. Herman / J. Panksepp: Ascending endorphin inhibition of distress vocalization, Science 211 (1981), S. 1060 - 1062. S J. Hughes et a1.: Identification of two related penta peptides from the brain with potent opiate agonist activity, Nature 258 (1975), S. 577 - 579. e D. L. Margules: Beta endorphin and endoloxene: Hormones of the autnomic nervous system for the conservation or expenditure of bodily resources, Neuroscience and Biobehavioral Review 3 (1979), S. 155 - 162.

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ß. Motivation Forscher in verschiedenen Labors haben Morphin und Beta-Endorphin in einen unmittelbar über der Hypophyse gelegenen Abschnitt des Hypothalamus injiziert, in dem Norepinephrin (Noradrenalin) bekanntlich zur Futteraufnahme führt. Sowohl Morphin als auch Beta-Endorphin veranlaßten die Tiere nach einer gewissen Zeit zur Nahrungsaufnahme. Injizierte man dagegen Naloxon, trat die entgegengesetzte Wirkung ein. Das beweist, daß sich in diesem Bereich des Gehirns Opiatrezeptoren für die Futteraufnahme befinden7 • Inzwischen hat man in Neuronen des Gehirns und des Rückenmarks auch kurze, opiumartige Peptide entdeckt. Diese aus einer Kette von Aminosäuren bestehenden kleinen Peptide werden von größeren Proteinen abgespalten, die im genetischen Apparat des Nervenzellkörpers gebildet werden. Die kurzen opiumartigen Peptide werden unmittelbar in die Nervensynapsen und nicht in den Blutkreislauf abgegeben. Sie ähneln deshalb mehr Neurotransmittern als Hormonen. Enkephalinneuronen im Rückenmark können ankommende Schmerzsignale unwirksam machen. Offenbar können bestimmte punktförmige Reize, wie etwa Nadelstiche in die Haut an den Aku-Punkten (Akupunktur), Enkephalin in verschiedenen Abschnitten des Rückenmarks freisetzen. Dort kann das Enkephalin den schmerzauslösenden Reiz sowie andere Schmerzempfindungen unterdrücken. Allgemeine Reize wie Streß oder Anstrengung können andererseits zur Abgabe von Endorphin in den Blutkreislauf führen. Da man im Hypothalamus ja schon Opiatrezeptoren für die Futteraufnahme gefunden hatte, ging man jetzt einen Schritt weiter und injizierte Enkephalin, um zu prüfen, ob Futteraufnahme allgemein durch eine Reaktion auf Endorphin im Blutkreislauf oder spezifisch aufgrund der Wirkung des Enkephalin ausgelöst wird. Wir stellten fest, daß Ratten durch Enkephalin ebenso zum Fressen veranlaßt wurden wie durch Norepinephrin und Beta-Endorphin. Die Wirkung läßt sich teilweise durch Naloxon aufheben. Überraschend ist, daß die enkephalinartige Verbindung, die wir verwendeten, sehr langsam wirkt. In den Hypothalamus injiziertes Norepinephrin kann innerhalb einer Minute Fressen auslösen, während die enkephalinähnliche Verbindung erst nach einer halben Stunde wirkt. Es sieht so aus, als würde Norepinephrin die jeweils auf einmal aufgenommene Futtermenge bestimmen, das langsamer wirkende Enkephalin dagegen eher den Drang zu fressen, die Freßgeschwindigkeit und andere langsamer ablaufende Zyklen. 7 D. J. Sanger: Endorphinergic mechanism in the control of food and water intake, Appetite 2 (1981).

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Wir essen, weil Nahrung gut schmeckt und weil wir uns nach einer Mahlzeit wohlfühlen. Für diese beiden befriedigenden Aspekte des Essens könnte es gut zwei getrennte Systeme geben. Belluzzi und Stein8 haben die Hypothese aufgestellt, daß Gehirnopiate die Befriedigung hervorrufen, die nach erfolgreicher Nahrungsaufnahme empfunden wird. Dieser Auffassung entsprechend könnten Opiate die chemische Grundlage für Wohlbehagen, das Ziel der Triebreduktion sein. Unsere Aufgabe ist es jetzt herauszufinden, welche neurochemischen Substanzen und welche Hirnsysteme "Trieb-Induktion", wie den Wunsch nach Nahrung, und welche "Trieb-Reduktion", wie das Sättigungsgefühl, hervorrufen. Es stellt sich natürlich auch die Frage, warum wir überhaupt aufhören zu essen. Etwas muß uns daran hindern, den ganzen Tag lang nur zu essen, so daß wir auch noch für andere Dinge wie etwa Geschlechtsverkehr, Spiel mit den Kindern, Wettbewerb mit anderen, künstlerisches Schaffen und alles mögliche mehr Zeit haben. Auch im Zusammenhang mit dieser Frage wurden wiederum von Drüsen abgesonderte Peptide zunächst im Blutkreislauf und dann in Gehirnneuronen gefunden. Man nimmt an, daß das Sättigungssignal von Peptiden, die in Drüsen des Darms abgesondert werden, gegeben wird. Diese Peptide fand man nicht nur im Blutkreislauf, sondern auch in Neuronen des Gehirns. Gehirnforscher vermuten, daß diese Peptide an Synapsen freigesetzt werden, um als Neurotransmitter zu wirken oder aber um das Ergebnis anderer, schneller wirkender Neurotransmitter zu modifizieren. Es sieht so aus, als hätte das ektoderm entwickelte Nervensystem diese Chemikalien in Neuronen aufgenommen, um die Futteraufnahme zu kontrollieren, und als würden die endodermen Organe dieselben Substanzen als Signale für Brennstoffvorrat und Verdauung verwenden. Im Darm erzeugte Peptide könnten möglicherweise aus dem Blutstrom austreten, in Gehirnsynapsen eindringen und eine modifizierende Wirkung zusammen mit Neurotransmittern ausüben. Das Ergebnis wäre ein neuraler Kreislauf für die Nahrungsaufnahme, der durch das gleiche Peptid aus einer der beiden Quellen, dem Gehirn oder dem Körper, gesteuert würde. Hier mag eine allgemeingültige Regel bestehen. Es scheint, als reguliere das gleiche Peptid alle Aspekte eines umfassenden Bedürfnisses, von der Modifizierung der Organe bis zur Modifizierung des Verhaltens. Für die Systeme der Nahrungsaufnahme muß der Beweis noch erbracht werden; die Erforschung der am Trinkvorgang beteiligten Systeme ist dagegen schon weiter fortgeschritten. 8 J. D. Belluzzi / L. Stein: Enkephalin may mediate euphoria and drivereduction reward, Nature 266 (1977), S. 556 - 558.

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Trinken ist lebensnotwendiger als Essen. Es kommt vor, daß Menschen, die in Hungerstreik treten, 40 Tage und Nächte überleben. Die Weigerung zu trinken wird dagegen von der Natur rascher bestraft. Fehlt dem Körper die notwendige Wassermenge, dann werden die chemischen Reaktionen infolge der nicht mehr im Gleichgewicht befindlichen Flüssigkeitskonzentrationen unterbrochen. Die Durchblutung versagt wegen zu geringer Blutmenge. Infolge mangelnder Verdunstung erreicht der Körper eine zu hohe Temperatur, und die Nahrung bleibt in der Kehle stecken. Die Regulierung der Wassermenge hängt von zwei Reizen ab: einmal von der osmotischen Konzentration der Körperflüssigkeit, vor allem von Osmorezeptoren im Hypothalamus signalisiert, und zum anderen von der Blutmenge, die von Rezeptoren in den Nieren gemessen wird. Im Falle einer zu niedrigen osmotischen Konzentration werden sofort mehrere Vorgänge ausgelöst: die Rezeptoren im Hypothalamus senden ein Hormon (ADH) aus, das die Nieren Wasser reabsorbieren läßt, das sonst als Urin ausgeschieden worden wäre. Dasselbe Hormon führt zur Verengung der Blutgefäße9 • Ein neurogenes Signal beschleunigt die Herztätigkeit, während gleichzeitig das Gehirn den Befehl erhält, Trinkreflexe zu aktivieren. Das dreifache Ergebnis ist gelber hochkonzentrierter Urin, erhöhter Blutdruck und "Durst". Das alles geschieht durch zu viel Salz im Körper im Verhältnis zur Flüssigkeitsmenge. Die Salzkonzentration muß etwa der im Meer entsprechen, aus dem sich das Leben entwickelt hat. Bemerkenswert bei diesen Vorgängen sind die physiologische Redundanz, die chemischen Regelkreise, das neurogene Zusammenspiel und die Rolle des Verhaltens bei der Homöostase. Schauen wir uns all das noch einmal an und achten dabei auf die Blutmenge und nicht auf die Konzentration. Nehmen wir an, ein Tier hat gekämpft und blutet jetzt. Die Niere sendet daraufhin vermittels eines Hormons (Angiotensin) eine Botschaft aus, welche die gleiche dreifache Wirkung wie das Hormon ADH hat: Wasser wird reabsorbiert, die Blutgefäße verengen sich und das sensomotorische System schaltet auf "trinken". In den meisten Fällen solcher Aktivierung wird nicht die Wahrnehmungsschwelle gesenkt, sondern vielmehr die Empfindlichkeit gegenüber einem bestimmten Reiz erhöht. Eine größere Anzahl von Neuronen werden tätig, und die motorischen Reaktionen sind ausgeprägter. Das mag von einem starken Gefühl begleitet sein, hier von einem unbezwingbaren Durst. Die Motivation, die wir Durst nennen, drückt sich in drei meßbaren Verhaltensvarianten aus. Man kann sie in Worte fassen und hat damit g R. Guillemin: Hypothalamic hormones: Releasing and inhibiting factors, in D. T. Krieger / J. C. Hughes (eds.): Neuroendocrinology, New York 1980.

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die sprachliche Variable. Tiere bringen sie durch Überwindung von Hindernissen zwischen sich und dem Wasser zum Ausdruck. Ratten z. B. laufen dabei schneller, ziehen ein größeres Gewicht oder pressen den Hebel einer Wasserpumpe häufiger. Das ist die Trieb-Motivationsoder Leistungsvariable. Und schließlich wiederholen die Tiere die gewinnbringende Leistung. Das ist die operationelle Definition von "positiver Verstärkung", die Belohnungsvariable. Die gleichen Regeln, die für Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme gelten, scheinen auch das komplexe soziale Verhalten, das wir Paarung nennen, zu bestimmen. Auch hier scheint ein neu entdecktes Peptid das schöne Zusammenspiel von Gehirn und Verhalten zu steuern. Im Grunde sollte ich sagen, zweier Gehirne und von zweiseitigem Verhalten, denn Paarung ist ja das Ergebnis des Zusammenspiels von Reizen und Reaktionen zweier Tiere, die als Einheit handeln. Ein in Zellen des Hypothalamus erzeugtes Hormon zur Freisetzung eines luteinisierenden Hormons (LHRH) führt zur Ausschüttung eines luteinisierenden Hormons (LH) der HypophyselO • LH ist das Hormon, das die Entwicklung des Eies sowie die Kopulation und Ovulation bewirkt. Es wird, nachdem Östrogen zur Werbung geführt hat und bevor Progesteron die Entwicklung des Embryos und die Brutpflege herbeiführt, in den Körper abgegeben. Ein Geschlechtshormon der Hypophyse paßt die Physiologie der Geschlechtsorgane jeweils den einzelnen Stadien des Fortpflanzungszyklus an. Jeder weiß, daß die primären Geschlechtsorgane sich während dieses Prozesses entwickeln. Stimmbänder und Körperbehaarung oder Federn nehmen Signalcharakter an. Weniger bekannt ist es aber, daß auch die Gehirnbezirke, in denen sexuelle Signale eintreffen, wachsen und daß die erogenen Zonen empfindlicher werden. Z. B. führt Östrogen zu einer Vergrößerung der erogenen Zonen, von denen bei Streicheln sensorische Nervenimpulse ausgehen. Östrogen bewirkt auch eine Stärkung des Rückgrats zur Erleichterung von Begattungsstellungen. Natürlich reichen sexuelle Organe, sexuelle Signale und sexuelle Empfindlichkeit zusammen mit Paarungsreflexen für den Vollzug der Paarung nicht aus, es werden darüber hinaus komplexe Verhaltensweisen aktiviert. LHRH ist erst kürzlich in langen Neuronen entdeckt worden, die vom Hypothalamus aus bis in alle an der Gestaltung des Sexualverhaltens beteiligten Zellkerne im Gehirn reichen. LHRH ist vermutlich sehr wichtig für den Ablauf des im Orgasmus gipfelnden Sexualverkehrs. Es veranlaßt die Hauptdrüse, große Mengen von LH abzusondern, und führt über die Reizung von Tausenden von Synapsen zwischen sensorischen und moto10 N. T. Adler (ed.): Neuroendocrinology of Reproduction: Physiology and Behavior, New York 1981.

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rischen Nerven sexuelle Erregung herbei. Es würde mich nicht wundern, wenn sich eines Tages herausstellte, daß ebendieses Hormon auch den lustbetonten Anreiz während des Geschlechtsverkehrs und die Befriedigung des Orgasmus herbeiführt. LHRH zeigt sowohl beim Mann als auch bei der Frau alle Merkmale eines "Triebpeptids"ll für Paarung und Fortpflanzung. Auch die Aggression ist lebenswichtig. Sie beginnt in dem Augenblick, wo eine Welpe um eine Zitze kämpfen muß, und entwickelt sich zum Kampf um Nahrung und Lebensraum. Der Zusammenhang zwischen Aggression und Nahrung ist bei fleischfressenden Tieren unverkennbar. Bisher ist es aber umstritten, ob aggressives und der Nahrungssuche dienendes Verhalten von zwei klar zu unterscheidenden Gehirnmechanismen ausgehen oder ob sie eher zwei Ausdrucksformen desselben Grundmechanismus sind. Wir haben Experimente durchgeführt, bei denen elektrische oder chemische Erregung des Gehirns von Ratten dazu führte, daß diese Ratten plötzlich Mäuse töten, obwohl sie das vorher noch nie getan hatten 12 • Sie hatten bis zu dem Zeitpunkt, wo wir ihren Hypothalamus erregten, noch nicht einmal das Töten einer Maus gesehen und brachten jetzt trotzdem selber Mäuse um. Das scheint mir darauf hinzuweisen, daß es für einige Formen der Aggression getrennte, angeborene Gehirnmechanismen gibt. Daneben spielen frühere Lernprozesse eine wichtige Rolle 13 • Vielleicht wird das Tötungsverhalten nur durch geeignete Reize aus der Umwelt oder durch die Stimulierung des Gehirns provoziert. Bei einem Experiment strebten Ratten auch dann danach, Mäuse zu töten, wenn man ihnen nie erlaubte, sie anschließend zu fressen. Der Akt des Tötens selbst war die Belohnung (im Sinne der Labor-Definition). Es gibt viele Reize, die Aggression auslösen, und sie sind so verschieden, daß sie unterschiedliche Aggressionsarten definieren, wie die auf Beutefang abzielende Aggression, die Aggression zwischen männlichen Tieren, die dem Schutz der Jungen dienende Aggression und die durch Schmerz verursachte Aggression 14 • Die Verbindung zwischen Geschlechtshormonen und Aggression tritt bei vielen Tierarten klar zutage. Man kann Aggression also nicht untersuchen, ohne die ihr zugrunde liegenden hormonellen Gegebenheiten zu berücksichtigen. Bisher hat man ein "Triebpeptid" für die Aggression noch nicht gefunden, 11

J. OIds: Drives and Reinforcements, New York 1977.

D. E. Smith et aI.: Lateral hypothalamic control of killing, Science 167 (1970), S. 900 - 901. 13 A. CooIs: in D. Benton / P. F. Brain (eds.): The Biology of Aggression, Leiden 1982. 14 L. Valzelli / I. Morgese (eds.): Aggression and Violence: A Psychobiological and Clinical Approach, Saint Vincent 1981. 12

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obwohl wir aufgrund der hier beschriebenen Erörterung von Nahrungsaufnahme, Durst und Paarung voraussagen können, daß es ein solches Peptid gibt. Das Auffinden eines spezifischen Aggressionspeptids würde endlich den Beweis erbringen, daß Aggression eine von der Nahrungsaufnahme und der Paarung unabhängige Verhaltensweise ist. Ein solches Peptid müßte ähnlich allgemeine Eigenschaften haben wie Angiotensin für den Durst, Cholozystokin für das Sättigungs gefühl und LHRH für die Paarung. Es müßte mehrere physiologische Abläufe und Verhaltenskomplexe steuern und eine aggressive Reaktion auf Kosten der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme oder der Paarung auslösen. In den letzten fünf Jahren ist es Wissenschaftlern gelungen, in diese Motivationsprozesse einzugreifen. Die neue Droge Captopril z. B. hemmt Angiotensin-Signale und führt dadurch zur Senkung des Blutdrucks. Jetzt können Menschen ihren Blutdruck auf chemischem Wege senken, um einem Herzanfall vorzubeugen. Unser Labor sucht nach einer Droge, um Hungergefühle physiologisch und verhaltensmäßig zu blockieren. Damit könnten Menschen, deren Körpergewicht und Eßgewohnheiten einem Leben in kalten Klimazonen oder einer bevorstehenden Hungersnot eher entsprechen als ihren tatsächlichen Lebensumständen, das für sie richtige Körpergewicht erreichen. Obwohl der Prozeß der Nahrungsaufnahme ähnlich abzulaufen scheint wie der des Trinkens, ist er komplizierter, weil er eine größere Zahl von Reizen einschließt. Die Nahrungsaufnahme kann von so unterschiedlichen Faktoren wie Geschmack, Füllegrad des Magens, Darminhalt, Glykogenvorrat in der Leber, Blutzucker, im Kreislauf vorhandenes Fett, Insulinspiegel und sogar Außentemperatur beeinflußt werden. Während es für Durst nur zwei richtige Reize, nämlich Blutmenge und Konzentration gibt, existieren für den Hunger vermutlich ein Dutzend Reize. Noch faszinierender aber ist die Paarung, denn dabei müssen entscheidende Reize in der richtigen Abfolge von zwei Individuen beantwortet werden. Die neu entdeckten Peptide liefern die fehlende Verbindung zwischen den klassischen Hormonen und dem Verhalten. Eine der neuen Hoffnungen der Arzneimittelindustrie ist die Manipulation der Enzyme, die Peptide erzeugen oder spalten. Ein zweites Ziel ist die Manipulation der enzymproduzierenden Gene. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß jedes motivierte Verhalten aus einer Reihe von Untersystemen besteht, die innerhalb weniger Tage durch genetisch entwickelte spezifische Nervenstrukturen aktiviert, in wenigen Stunden von Hormonen bereitgestellt, in Minuten

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von Peptiden erregt und in einem Bruchteil einer Sekunde durch Sinnessignale oder elektrische Erregung ausgelöst werden können. Der nächste Schritt unserer Analyse muß über die Motivation, über "Reflexe", "Aktivierung", "Triebe" und "Anreize" hinausgehen, die nur Verhaltenstendenzen bewirken. Diese Tendenzen zu bestimmten Verhaltensweisen stehen im Mittelpunkt der Soziobiologie. Um aber Recht und Rechtsverhalten verstehen zu können, müssen wir darüber hinaus diejenigen Gehirnsysteme untersuchen, die für Belohnung und Bestrafung zuständig sind.

111. Erregung Verschiedene Motivationssysteme wetteifern miteinander, die Aufmerksamkeit des Tieres zu wecken und seine Reaktionsmechanismen zu aktivieren. überlagert wird diese Dynamik durch einen Prozeß, durch den die Reihenfolge der jeweils vorrangig wichtigen Handlungen unter dem Einfluß des parasympathischen und sympathischen Nervensystems verändert wird. Ist das parasympathische System ruhig, ist die Atmung am wichtigsten. Ihr folgt, jeweils weniger wichtig, Temperaturregelung, Flüssigkeitsaufnahme, Nahrungsaufnahme und Paarung. In Ausnahmezuständen, in denen das sympathische System die Steuerung übernimmt, haben dagegen Flucht oder Kampf den absoluten Vorrang, Sexualverhalten kann vor die Nahrungsaufnahme treten, und Nahrung wird wiederum unabhängig vom Energiebedarf aufgenommen. An Flüssigkeitsaufnahme ist das Tier am allerwenigsten interessiert. Es mag sogar seiner Körpertemperatur gegenüber gleichgültig sein oder eine Minute lang vergessen zu atmen. Adrenalin und Noradrenalin, die von der Nebenniere abgesondert werden, sind die physiologischen Signale, die unseren Körper auf Notmaßnahmen vorbereiten. Im Gehirn werden die gleichen Chemikalien von Neuronen, die die oben besprochenen Motivationssysteme regulieren, freigesetzt. Das retikuläre Aktivierungssystem im Hinterhirn enthält ein Netz weitverzweigter Neuronen, die den größten Teil des Gehirns regulieren. Diese Neuro-Hormone veranlassen uns, unsere Aufmerksamkeit jeweils auf etwas Bestimmtes zu richten. Darüber hinaus hemmen sie diejenigen Handlungen, die aufgeschoben werden können. Z. B. wurden einige der Nervenbahnen für die Hemmung der Nahrungsaufnahme identifiziert1 5 • Es ist interessant, daß diese Hormone im Hypothalamus sowohl die Systeme für die Aufnahme von Nahrung als auch die Systeme für die Nicht-Aufnahme von Nahrung hemmen. Man 15 B. G. Hoebel/ S. F. Leibowitz: Brain monoamines in the modulation of self-stimulation, feeding and body weight, in H. Weiner et al. (eds.): Brain, Behavior and Bodily Disease, New York 1981.

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gewinnt den Eindruck, als hätten diese Hormone sich entwickelt, um Umfang und Qualität einer Mahlzeit im entspannten parasympathischen Zustand zu kontrollieren und bei Auftreten eines Ausnahmezustandes den gesamten Vorgang zu blockieren. Offensichtlich hemmen bestimmte Neuronen die Nahrungsaufnahme nach einer Mahlzeit, wenn Impulse aus den Eingeweiden Fülle in Magen oder Darm signalisieren. Andere adrenergische Neuronen hemmen vielleicht das Paarungsverhalten nach der Kopulation. Dabei ist zu beachten, daß dieselben adrenergischen Synapsen sowohl Futteraufnahme als auch Paarung unterbinden, wenn in einer Notlage Adrenalin von der Nebenniere in den Blutkreislauf abgegeben wird und sich in diese Synapsen hinein ausbreitet. Die Theorie, daß Futteraufnahme und Paarung durch das Einsickern von Adrenalin in den Hypothalamus unterbunden werden kann, ist unbewiesen, aber glaubwürdig. Merkwürdig ist, daß Futteraufnahme und sexuelles Werben normalerweise einen entspannten Zustand voraussetzen, während die Ejakulation einer vom sympathischen Nervensystem hervorgerufenen Erregung bedarf. Damit treten Nahrungsaufnahme und sexuelles Werben im gleichen physiologischen Zustand auf, während die Ejakulation in einem Zustand erfolgt, der auch bei einigen Formen der Aggression besteht. Beim Tier und sogar beim Menschen kann in der Reaktion auf einen Erregungszustand eine gewisse Verwirrung auftreten. Wenn man eine Person durch Einspritzung von Adrenalin in Erregung versetzt, ohne daß natürliche innere Anhaltspunkte das Verhalten steuern können, stützen sich die Reaktionen hauptsächlich auf Umweltreize. Die Person reagiert also, je nach den sozialen Umständen, verstimmt oder froh, mit Mordlust oder ekstatisch. Hierin liegt die Möglichkeit, eine Gruppe erregter Tiere zu einer Reaktion zu veranlassen, die einen Zusammenhalt der Gruppe gewährleistet. Eine unerwartete Notlage, wie etwa ein Erdbeben, versetzt alle Betroffenen in einen Zustand, der vom sympathischen System bestimmt wird. Diejenigen, die das Problem als erste sehen oder zu sehen glauben, lösen einen Gefühlszustand aus, der sich bald in einer Kettenreaktion auf alle überträgt. In alarmierenden Situationen werden Nahrungsaufnahme und Werbung eingestellt. Ob jemand dann einen Orgasmus hat, einen Mord begeht, lacht oder weint, hängt von den inneren Faktoren wie etwa von Peptiden ab, die entsprechende Verhaltensweisen vorbereiten. Ohne solche Vorbereitungen spielen wirkliche oder eingebildete Umweltreize eine größere Rolle. Zu solchen Reizen gehört auch das Recht. Innere Faktoren haben eine eigene "Gesetzmäßigkeit". In irgendeiner Weise verbindet das Gehirn beide Systeme und trifft seine Entscheidungen.

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IV. Aktivierung Auf Motivation und Erregung folgt Aktivierung. Man sagt, daß an Parkinsonismus leidende bettlägerige Patienten ihre Muskeln nur dann aktivieren könnten, wenn im Krankenhaus ein Feuer ausbräche. Eine solche lebensgefährliche Situation könnte sie derart aktivieren, daß sie aus dem Krankenhaus herauslaufen, dann aber sofort danach auf der Straße wieder zusammenbrechen. Der größte Durchbruch der modernen Psychopharmakologie war die Entdeckung, daß an Parkinsonismus leidende Patienten L-DOPA brauchen, um die Mittlersubstanz Dopamin zu erzeugen. Die Zellkörper des dopaminergischen Systems befinden sich im Mittelhirn. Die Neuriten reichen durch den Hypothalamus bis in das Vorderhirn. Ein Teil dieses Dopamin-Systems ist unerläßlich, um eine Bewegung auszulösen. Ohne Dop.amin würden wir nur dasitzen und träumen.

v.

Phantasie

Es gibt im Hinterhirn recht primitive, Serotonin enthaltende Neuronen, die in alle Richtungen des Gehirns hinein ausstrahlen, ähnlich wie das zuvor besprochene adrenergische Erregungssystem. Seit einigen Jahren ist es möglich, die Tätigkeit dieser phylogenetisch alten Zellen bei Katzen in wachem Zustand aufzuzeichnen. Je schneller diese Neuronen tätig sind, um so wacher, aktiver und angespannter wird die Katze. Im Schlafzustand geht diese Tätigkeit allmählich zurück. Wenn sie ganz zum Erliegen kommt, entspannen sich die Rückenmuskeln, der Kopf neigt sich und Träume setzen ein. Die Phantasie läuft auf hohen Touren. Vielleicht werden daher manche Entdeckungen im Schlaf gemacht. Im aktiven Zustand hemmt ein Teil dieses Serotonin-Systems ganz offensichtlich die Einbildungskraft. Stattdessen scheint es das Tier zur Konzentration auf ein bestimmtes Problem und auf schnelle motorische Reaktion zu veranlassen. Wenn diese Bereitschaft nicht besteht, kann das Tier entweder an Muskeltonus verlieren und zu träumen beginnen oder seinen Muskeltonus beibehalten und halluzinieren. Die normale Kreativität und Phantasie im alltäglichen Leben setzt wahrscheinlich einen Zustand zwischen diesen beiden Extremen voraus, bei dem ein mittlerer Muskeltonus besteht und sich die Phantasie frei entfalten kann. Beim halluzinierenden Schizophrenen nimmt dies extreme Formen an; der LSD-Süchtige ist vom Extrem begeistert, und der Peyote-Kult benutzt diesen Zustand für seinen Kult. Im Zustand des Schwankens kann der Fluß der Vorstellungen durch innere und äußere Reize beeinflußt werden. Das Klingeln des Weckers kann uns an das Telefon erinnern, Regen an Urin, Grillen können sich wie vorbeifah7 Recht und Ethik

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rende Züge anhören und Adler werden zu Göttern. Freud schien zu glauben, daß Träume ihn näher an die Gesetze der Soziobiologie unbeeinflußt von den Erfahrungen des späteren Lebens - heranführten. Ich kenne keinen Beweis dafür, daß es sich bei Träumen um die Darstellung des Innersten oder Kindlichen handelt, ebensowenig einen Beweis dafür, daß sie den Sozialisierungsprozeß und die Kultur darstellen. Aber eines ist ziemlich klar: wenn die Serotoninzellen verstummen, können unterdrückte Gedanken aufleben. Mit anderen Worten: Ohne die Tätigkeit der Serotonin enthaltenden Neuronen verbinden sich die Gedanken eines Lebewesens, sei es Katze oder Mensch, in loser, freier Form. Sie kommen leichter ins Bewußtsein. Welche funktionale Bedeutung dieser Vorgang hat, wissen wir nicht. Wird damit eine Regenerierung der chemischen Substanzen für Erregung, Aktivierung oder Belohn1:lng ermöglicht, begünstigt dieser Zustand neues Lernen? Führt er zur Knüpfung neuer Assoziationen? Oder ist es eine Begleiterscheinung des uralten Bedürfnisses, uns ruhig zu verhalten, wenn unsere Abwehrmechanismen am schwächsten sind?

VI. Künstliche Stimulierung von angeborenem Verhalten Soziobiologen behaupten, daß es im Gehirn genetisch vorprogrammierte Eigenschaften gibt. Wenn das zutrifft, könnte man durch elektrische Stimulierung Verhaltensweisen hervorrufen, die das Tier nie gelernt hat. Ich würde eine so kühne Formulierung nicht gebrauchen, wenn wir das Experiment nicht schon gemacht hätten. Brugger und Hess 16 haben schon vor vielen Jahren nachgewiesen, daß eine Reizung des Hypothalamus bei Katzen gieriges Fressen auslöst. Flynn17 hat gezeigt, daß Katzen während der Stimulierung ihres Hypothalamus Ratten töten. Es zeigte sich in seinen Experimenten ebenfalls, daß die Schnauze der Katze durch die Reizung empfindlicher wurde und daß der Bereich, dessen Berührung ein Zuschnappen auslöste, sich vergrößerte. Wie schon erwähnt, haben wir festgestellt, daß die Reizung des Hypothalamus auch solche Ratten zum Töten von Mäusen veranlassen kann, die vorher noch nie das Töten einer Maus auch nur gesehen hatten. In den Hypothalamus injizierte chemische Substanzen führten zum gleichen Ergebnis, während andere Drogen, deren Ziel die Blockierung endogener neurochemischer Stoffe ist, das zum Töten von Mäusen führende Verhalten hemmt l8 • Offensichtlich haben nicht-tötende Tiere eine 18 W. R. Hess: in J. R. Hughes (ed.): Functional Organization of the Diencephalon, New York 1957. 17 Siehe D. B. Adams et al.: A symposium in honor of Professor John P. Flynn, Aggressive Behavior 7 (1981). 18 Siehe Smith et al. (FN 12).

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latente Neigung zum Töten, und Tötungsverhalten bei Ratten kann durch Drogen unterbunden werden. Die Neigung zu töten ist übrigens bei den einzelnen Arten unterschiedlich groß und kann durch Reize der Umwelt, wie Platzmangel und Wettstreit um Futter, beeinflußt werden19 • Obwohl eine Reizung des Gehirns verschiedene wesentliche Verhaltensweisen hervorrufen kann, scheint ihre größte Wirkung in allgemeiner Erregung und Aktivierung zu bestehen. Welches spezifische Verhalten dann auftritt, hängt zum großen Teil vom physiologischen Zustand des Tieres 20 und von den Umwelt reizen ab 21 • Reizbedingte Futteraufnahme kann durch einen vollen Magen oder das Fehlen eßbarer Dinge im Käfig unterbunden werden. In diesen Fällen wird das unter Reizung stehende Tier eine Weile suchen, dann wahrscheinlich Wasser trinken oder kopulieren, Holz zernagen oder Futterkugeln zusammentragen oder auch in einem Tretrad herumlaufen, je nachdem, was gerade verfügbar ist. Wir haben Motivation bereits unter dem Aspekt einer angeborenen und angelernten Verlagerung von Hormonen, Peptiden und Katecholaminen im chemischen Haushalt des Tieres erörtert. Wir haben gesehen, daß diese chemischen Verlagerungen die nervliche Entwicklung und nervliche Aktivierung beeinflussen. Dieser Aspekt ist relativ neu, denn er setzt wissenschaftliche Verfahren zur Messung der einschlägigen chemischen Substanzen in den relevanten Gehirnbereichen voraus. Früher hat man Motivation ausschließlich unter dem Aspekt des Reizentzugs oder des Verhaltens definiert. Verhaltensbiologen wie Dethier22 glaubten, daß eine zielgerichtete Tätigkeit - wie der Flug einer Fliege gegen den Wind - schon ausreichte, um diese Tätigkeit als "motiviert" zu bezeichnen. Verhaltensbiologen wie Teitelbaum23 bestanden darauf, im Erlernen einer willkürlich gewählten Tätigkeit (d. h. in operationalern Verhalten) den Schlüssel zu einer erfolgreichen Definition der Motivation zu sehen. Beide Seiten haben ihren Standpunkt verteidigt, und es kam noch nicht zu einem Konsens. Enthält der Trieb eine ange18 M. Karli: Brain mechanism underlying aggression behavior, in Trends in Neuroscience (im Erscheinen). 20 B. G. Hoebel: Brain-stimulation reward and aversion in relation to behavior, in A. Wsuquier / E. T. Rolls (eds.): Brain-Stimulation Reward, Amsterdam 1976; ders.: Hypothalamic self-stimulation and stimulation-escape in relation to feeding and mating, Federation Proceedings 38 (1979), S. 2454 bis 2461. Z1 E. S. Valenstein: Brain Control: A Critical Examination of Brain Stimulation and Psychosurgery, New York 1973. 22 V. G. Dethier: Feeding and drinking behavior of invertebrates, in Handbook of Physiology: Alimentary Canal, 1970, Kap. 6, S. 79. 23 P. Teitelbaum: Physiological Psychology, New York 1969.



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borene Richtungskomponente, oder ist er eine zielgerichtete Tätigkeit, die von der Umwelt aktiviert wird? Olds24 war einer der ersten, der Triebe auf Peptide zurückführte und sie damit im wesentlichen chemisch definierte. Der jüngste Durchbruch in der Gehirnforschung war die Entdeckung von Peptide in Katecholamin-Neuronen. Kann es Zufall sein, daß ein Peptid aus dem Darm in den Nerven des Dopamin-Aktivierungs systems gefunden worden ist? Wir arbeiten im Augenblick daran zu untersuchen, ob Teile des Dopamin-Systems einen Code für verschiedene Verhaltensweisen wie Futteraufnahme enthalten. Ein solcher Code ist vielleicht nicht nur in der anatomischen Struktur, sondern auch im doppelten Transmitter-System enthalten. Der eine Transmitter könnte die Aktivierung übernehmen und der andere einen bestimmten Trieb oder ein Motiv auslösen. Auf diese Weise könnte z. B. im Kreislauf für die Futteraufnahme eine Hemmung durch nervliche Tätigkeit, bei der Cholezystokinin freigesetzt wird, oder durch chemische Substanzen im Blutkreislauf bewirkt werden, die Cholezystokinin-Rezeptoren beeinflussen. Dies ist zwar hypothetisch, würde aber erklären, wie es dazu kommt, daß ein Tier im aktivierten Zustand sowohl zum Fressen als auch zur Paarung oder zur Aggression veranlaßt werden kann. Diese Annahme deutet auch darauf hin, daß der genetische Code für die Erzeugung bestimmter chemischer Substanzen, die der Triebkontrolle dienen, in gewisser Weise auch der Verhaltenscode des Tieres ist. Die Zeit und damit weitere Forschungen werden uns zeigen, ob der chemische Code genügend Einzelheiten enthält, um in irgendeiner Weise dem Rechtskodex und dem Moralkodex zu entsprechen. Aufgrund unserer Erkenntnisse über die Futteraufnahme möchte ich behaupten, daß Peptide im Detail die Regeln der Motivation bestimmen. Wir haben gesehen, daß es zwei Peptide für verschiedene Arten von Durst und auch Peptide für die Sättigung gibt. Vieles deutet darauf hin, daß es vielleicht verschiedene Peptide für verschiedene Arten von Hunger gibt, insbesondere für das Verlangen nach Salz, Zucker, Fett und Protein. Wir wissen auch, daß verschiedene Hormone sexuelles Werben, Paarung, Nestbau und Betreuung der Jungen hervorrufen, wobei es mindestens für einige dieser Tätigkeiten auch Peptide gibt. Diese Gegebenheiten legen den logischen, wenn auch noch unbewiesenen Schluß nahe, daß es verschiedene chemische Substanzen für die verschiedenen Formen der Aggression gibt. Allerdings weist nichts darauf hin, daß Peptide in der Lage sind, durch angeborene Codices Rechtsnormen zu schaffen, so detailliert wie das Inzest-Tabu oder so komplex wie Regeln für einen fairen Wettkampf.

u Olds (FN 11).

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Nehmen wir an, ein Tier ist aufgrund des Motivationssystems zum Handeln bereit, es ist erregt, arbeitswillig und wach genug, um sich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen, dann besteht der nächste Schritt für das Tier darin, aus Erfahrung zu lernen.

VII. Lernen Beim klassischen Konditionieren wird ein Reiz durch einen anderen ersetzt; beim instrumentalen Konditionieren führt eine Reaktion zu einer anderen. Beim klassischen Konditionieren wählt der Versuchsleiter mehr oder weniger willkürlich einen neutralen Reiz, der durch Einübung die Kraft erhält, eine relativ bestimmte Reaktion hervorzurufen. Unter sozialpolitischen Aspekten ist es amüsant, daß Rußland vorrangig diesen Ansatz zu verfolgen scheint. Amerika ist vor allem am instrumentalen Konditionieren, d. h. an der Einübung der Reaktion statt an der Einübung des Reizes interessiert. Der Versuchsleiter wählt für diesen Lernprozeß eine Reaktion, die im Rahmen der Möglichkeiten des Tieres liegt und seinem Grad an Motivation, Erregung, Aktivierung und Intelligenz entspricht. Die Forschung deutet darauf hin, daß kurzfristige "Belohnung" für Lernen durch Katecholamin gewährt wird, während der Anreiz zum Lernen von Dopamin ausgeht 25 und Norepinephrin das Erinnern an erfolgreiches Verhalten prägt 26 • Langfristige Befriedigung ist wahrscheinlich ein Zustand, der der Wirkung von Opiaten entspricht und durch die körpereigenen Opiate im Gehirn hervorgerufen wird. Man hat nachgewiesen, daß diese chemischen Substanzen für jede der genannten Funktionen notwendig sind. Allerdings sind sie allein nicht ausreichend, da erlerntes Verhalten das Ergebnis der Interaktion vieler nervlicher Prozesse ist. Wegen ihrer Notwendigkeit können wir sie aber doch für die Erörterung der Funktionen, denen sie dienen, heranziehen. In dieser Erörterung hat sich ein subtiler, aber bemerkenswerter Prozeß vollzogen: ich habe versucht, Ihnen die Gehirnchemie, wie wir sie kennen, darzustellen und anschließend Begriffe damit zu verknüpfen, die den chemischen Prozessen zu entsprechen scheinen. Wir dürfen natürlich nicht der Gefahr erliegen, chemische Substanzen zu suchen, um mit ihnen Begriffe aus Psychologie und Verhaltensforschung zu belegen. Das Ziel ist vielmehr, wichtige chemische Stoffe und Kreisläufe zu finden und dann zu entscheiden, welche Begriffe ihnen entsprechen. 25 G. J. Mogenson / C. Y. Yim: Electrophysiological and neuropharmacological-behavioral studies of the nucleus accumbens, in R. B. Chronister / J. F. DeFrance (eds.): The Neurobiology of the Nucleus Accumbens, Brunswick

1980. 28

Beluzzi / Stein (FN 8).

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Einige unserer klassischen Begriffe finden vielleicht auf chemischer Ebene oder auf der Ebene einfacher Kreisläufe keine Erklärung, weil sie möglicherweise das Ergebnis komplexerer Systeme sind. Wir versuchen gewissermaßen, den jeweils einfachsten neuro chemischen Ausdruck für noch zu bezeichnende Aspekte operativen Verhaltens zu finden. Diese neurochernischen und neuroanatomischen Funktionen werden sich dann als die inneren Regeln für absichtliches Verhalten herausstellen, die Regeln, die bestimmen, was wir lernen. Für Juristen ist diese Information nicht notwendig; denn um Verhalten zu kontrollieren, muß man die Gesetzmäßigkeiten von Reiz und Reaktion, nicht aber die Gesetzmäßigkeiten der Gehirnfunktionen kennen. Für diejenigen aber, die wissen möchten, wie Gesetzmäßigkeiten sich aus Gehirnfunktionen ableiten, ist diese Information sehr aufschlußreich. Wie entsteht "Belohnung" - d. h. positive Verstärkung - durch die Verkettung vieler sensomotorischer Reflexe im motivierten, erregten, aktivierten Tier? Teitelbaum27 fiel vor kurzem auf, daß scheinbar komplizierte Handlungen, wie Zugehen auf einen Hebel, Orientierung, Herabdrücken des Hebels, Aufnahme des als Belohnung erhaltenen Futters, aus einer Vielzahl kleinster Handlungsteile bestehen, von denen jedes durch Reize aus der Umwelt ausgelöst wird. Der Boden löst eine Bewegung in einem Fuß aus, dieser die Bewegung im anderen, der Geruch veranlaßt eine Drehung des Kopfes, diese eine Bewegung der Augen; diese wieder führt zu einer Bewegung der Schnauzhaare und damit der Reizung des Mauls; das Maul stimuliert die Zunge, die Kiefer, die Schluckbewegung, und all das in Form einer wunderbaren Reflexkette, die zur Aufnahme von Futter in den Magen führt. Wenn einer dieser Schritte unterbrochen wird, kann die gesamte Reflexkette zerbrechen. Die absichtliche Handlung wird unter dem Mikroskop des Verhaltensforschers zu "reinen Reflexen", jeder spontane, freiwillige Handlungsschritt hat seinen Ursprung in einem Reiz. So wie ein Ballett - Ausdruck höchster athletischer Kontrolle und tiefer Gefühle auf eine Partitur und eine Bewegungsskizze reduziert werden kann, kann auch jedes geschickte Verhalten als Folge von Reflexen gesehen werden. Was wir verstehen möchten, ist, aus welcher Quelle die Energie stammt, die die einzelnen Glieder der Kette miteinander verbindet. Die einfachste Vermutung bestünde darin, daß jedes Glied der Kette, sobald es geschmiedet ist, zu einem anderen Glied führt, und daß kein Teil des Gehirns die ganze Kette zu kennen braucht. Andererseits sind wir normalerweise der Ansicht, daß irgendwo im Gehirn eine Zielvorstellung besteht. Zum Glück haben wir für jedes dieser Phänomene Z1 P. Teitelbaum: What is the zero-condition of motivated behavior, in B. G. Hoebel / D. Novin (eds.): Neural Basis of Feeding and Reward, Brunswick (im Erscheinen).

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notwendige neurochernische Substanzen und neurale Kreisläufe. Wir besitzen Glied für Glied, Schritt für Schritt eine wirksame Katecholamin-Belohnung, die die einzelnen Akte zu einem operationalen Verhalten verbinden, und das große Finale des Opium-Rausches, das den Erfolg im Sinne des Lustprinzips darstellen kann. Nehmen wir einmal an, daß die eingangs besprochenen homöostatischen Mechanismen sich für spezifische Triebe, wie die bereits genannten, der Hormone und Peptide bedienen und daß diese chemisch definierten Triebe zweierlei Funktionen erfüllen: sie vergrößern die Menge an Opium, die für Verhalten wie Fressen, Paarung, Aggression und anderes zur Verfügung steht, und sie bereiten aufgrund des natürlichen Ablaufs der Umweltreize angemessene Reflexe als Reaktionen in der richtigen Reihenfolge vor. Wenn sich die Umwelt verändert, verändert sich auch das Verhalten des Tieres in fast willkürlicher Art, bis das Belohnungssystem wiederum eine erfolgreiche Handlung mit der nächsten verbindet. Das Programm der verstärkten Synapsen, mit dem die Nervenimpulse von einem Reflex zum nächsten geleitet werden, führt das Tier dann immer wieder durch den gleichen Handlungsablauf. Bei jedem Durchlauf, so nehme ich an, wird Opium abgegeben. Die Wirkung muß Minuten, Stunden oder sogar Tage andauern. Jeder Bissen Futter, jede genitale Reizung, jedes getötete Beutetier setzt hypothetisch mehr Opiat frei, bis die Toleranzschwelle erreicht wird oder Gegenwirkstoffe sich durchsetzen (Opiat-Rezeptor-Hemmer). Wenn einer der notwendigen chemischen Prozesse gehemmt oder ausgeschaltet wird, hört das Verhalten auf. Ein Triebpeptid wie Angiotensin nimmt vielleicht ab und ruft deshalb keinen Durst mehr hervor. Ein Sättigungspeptid wie Cholezystokinin unterbindet vielleicht die Nahrungsaufnahme, adrenergische Erregung setzt möglicherweise aus und das Tier wird träge. Wenn Opiat-Sättigung einsetzt, ist es Zeit, ein neues Verhalten auszuprobieren, für das noch eine Belohnung möglich ist. Ein Tier, in dem keines dieser elementaren Verhaltensweisen mehr ausreichend belohnt wird, ist in einer schlimmen Lage. Es gerät in einen Zustand, der dem des Opiumentzugs ähnelt. In diesem Zustand können Tiere vor Hunger oder vor Kummer krank werden oder an Durst sterben - und was die Aggression betrifft, so ist der Drang, einen anderen zu übertreffen, nur allzu gut bekannt. Wenn es sich dabei wirklich um Entzugssymptome handelt, können Heroin oder Morphin sie heilen. Entsprechende Experimente sind noch nicht durchgeführt worden, aber der Handel mit Opiaten läßt diese Idee einigermaßen glaubwürdig erscheinen. Ein Teil dieser Prozesse kann durch das Einführen von Elektroden oder Kanülen ins Gehirn verkürzt werden. Wir können Tiere künstlich

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zum Fressen, zur Paarung oder zum Töten veranlassen. Wir können auch fast jede Verhaltenssequenz elektrisch oder chemisch belohnen. Alle Säugetiere und auch einige unserer entfernteren Verwandten können lernen, ihr Gehirn selbst elektrisch zu stimulieren. Ratten, Katzen, Hunde, Delphine, Affen und Menschen scheinen alle mit größtem Vergnügen einen Schalter zu betätigen, um einen mit einer Elektrode in einem geeigneten Gehirnabschnitt verbundenen Stimulator einzuschalten. In unseren Labors untersuchen wir Selbststimulierung an Ratten. Sie üben die Stimulierung bis zu 3000mal in der Stunde aus. Dieses heute sehr bekannte Phänomen wurde 1954 von Glds und Milner entdeckt. In den folgenden 20 Jahren konnte man nachweisen, daß die durch Selbststimulierung künstlich herbeigeführte Belohnung der natürlichen Belohnung für Fressen und Paarung ähneJt28. Vor einiger Zeit hat man Ratten beigebracht, ihr Gehirn chemisch statt elektrisch zu stimulieren. Damit können wir den chemischen Code für die Belohnung im Gehirn entziffern. Wie erwartet handelt es sich bei den Substanzen, die die Tiere selbst in ihr Gehirn injizieren, um Drogen, die Menschen süchtig machen können. Ratten drücken auf einen Hebel, um durch Hohlnadeln, die in sorgfältig ausgewählte Bezirke des Gehirns eingeführt wurden, sich selbst Morphin oder Amphetamin 29 einzuspritzen. Bald werden wir in der Lage sein, die Nervenbahnen und die neurochernischen Substanzen zu beschreiben, die bei der Belohnung eine wichtige Rolle spielen. Skinner30 nannte einen Reiz, der die Frequenz der vorausgegangenen Reaktion erhöht, Verstärker-Reiz. Beispiele hierfür sind schmackhafte Nahrung, sexuell erregende und schmerzvolle Reize. Eine Reaktion, der ein Verstärker-Reiz folgt, verursacht diesen Reiz. Berührung mit Feuer verursacht Schmerz; die Einnahme von Morphin verursacht das Aufhören des Schmerzes. Auf diese Weise lernen Tiere, vorsichtig mit dem Feuer umzugehen, und sie lernen, Morphin zu nehmen. In ähnlicher Weise sind einige Reaktionen sozial gesehen schmerzlich, andere lohnend; dadurch lernt das Tier, sich sozialen Gepflogenheiten anzupassen. E. A. HoebePl hat daraus den Schluß gezogen, daß eine der vier Hauptfunktionen des Rechts darin besteht, "als Folge veränderter Lebensbedingungen die Beziehungen zwischen Einzelnen und Gruppen neu zu definieren. Das Ziel ist die Erhaltung der Anpassungsfähigkeit" . Also begünstigt das Recht Lernprozesse. Hoebel (FN 20). B. G. Hoebel / D. Novin (eds.): Neural Basis of Feeding and Reward, Brunswick (im Erscheinen). 30 B. F. Skinner: The Behavior of Organisms, New York 1938. 31 E. A. Hoebel: The Law of Primitive Man, Cambridge/Mass. 1954. 28

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Es gibt eine sehr sichere Methode, mit der sich feststellen läßt, ob es sich bei einem Reiz um einen Verstärker-Reiz handelt: wenn der Versuchsleiter beliebig eine Reaktion herausgreifen kann und ein Tier durch einfaches Präsentieren des Reizes veranlassen kann, diese Reaktion zu erlernen, dann ist dieser Reiz ein Verstärker-Reiz. Mit anderen Worten: wenn das Tier sein Verhalten ändert, wenn es lernt, haben wir einen Verstärker-Reiz vor uns. Ähnlich können wir, wenn wir feststellen, daß zwei Tiere oder eine Gruppe von Tieren ihr Verhalten ändern, vielleicht auch einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Verhalten der Gruppe und einem Reiz finden, der dieses Verhalten verstärkt. Folgen wir der Analyse von E. A. Hoebel und suchen wir nach dem Recht. Ich möchte Hoebels Beschreibung der Funktion des Rechts in meinem eigenen Skinner-J argon formulieren und sagen, daß das Recht als Verstärker-Reiz wirkt. Auf diese Weise dient es der "Erhaltung der Anpassungsfähigkeit" . Die Verstärkerfunktion des Rechts ist im gleichen begrifflichen Zusammenhang zu sehen wie Futter oder Sex als Verstärker. Wenn ich also die neurogene Grundlage für die Belohnung in Form von Futter oder sexueller Betätigung finden kann, habe ich damit auch die neurogene Grundlage für die Belohnung durch das Recht gefunden. B. F. Skinner kann, experimentell vorgehend, eine Gesetzmäßigkeit für die Reaktion-Reiz-Beziehung aufstellen und anschließend versuchen, einer Taube diese Reaktion beizubringen. E. A. Hoebel, der Anthropologe, geht umgekehrt vor: er kann das Verhalten primitiver Stämme beobachten und aus diesem Verhalten die Funktionen ihres Rechts ableiten. Beide unterstreichen zwei Tatsachen: Einzelne oder Gruppen halten häufig zufällige Reaktion-Reiz-Beziehungen fälschlicherweise für eine Beziehung zwischen Ursache und Wirkung. Skinner nennt dies abergläubisches Verhalten, Hoebel nennt es magisch-religiösen Glauben an übernatürliche Geister. Ferner zeigen beide, daß Einzelne oder Gruppen in ihrem Verhalten gewisse Regelmäßigkeiten aufweisen. Wenn es für Skinners Tauben einen Ursache-WirkungZusammenhang gibt, dann lernen die Tiere das Verhalten nicht nur, sondern alle Tauben reagieren fast gleich. Eine "Belohnung nach unterschiedlich langen Zeitabschnitten" führt zu einem genormten Verhaltensmuster 32 • Skinner sieht aber keinen Grund, dafür ein angeborenes Gesetz anzunehmen, sondern erklärt stattdessen, ein Tier könne lernen, daß Wirkungen auf Ursachen folgen. In ähnlicher Weise nimmt Hoebel an, daß die Rechtsnormen einer Gruppe rationale, erworbene Lösungen als Reaktion auf Situationen darstellen, in denen es um Rechtsfragen ging. Wenn die Rechtsfragen im Sinne bestimmter Nor32 Das Verhalten ist im Grunde ein rationaler Versuch, die größtmögliche Belohnung zu erzielen.

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men geklärt sind, bestimmen diese Normen unweigerlich das allgemeine Rechtsverhalten der Gruppe S3 • Nicht der Vorgang der Rechtsschöpfung ist entscheidend, sondern das Ergebnis. Es brauchen keine Reflexe, keine angeborenen Gegebenheiten, keine motorischen Programme durchgespielt zu werden. Interessant ist die Funktion, die das Verhalten ausübt. Diese Funktion besteht darin, den belohnenden Reiz hervorzurufen, d. h. eine Rechtsregel zu finden. Der reine Behaviorist wählt immer eine Reaktion aus, die das Tier dann lernen muß, wobei der Behaviorist selbst relativ wenig über Verhaltensziele lernt. Der Sozialwissenschaftler, der kulturelle Zusammenhänge erforscht, versucht herauszufinden, welche Handlungsweisen Menschen ausüben, und schließt daraus, was sie als lohnend empfinden. Das Aufsehen, das der Behaviorist Skinner erregte, wurde durch den Nachweis verursacht, daß eine Regel (eingeplanter VerstärkerReiz) Ratten und Tauben zu rationalem Verhalten veranlaßte. Der Reiz der Forschungsarbeiten des Anthropologen Hoebel liegt in der Entdeckung, daß verschiedene Kulturen ähnliche Ziele haben. Die Reaktionstopographie mag sich zwar zwischen den einzelnen Kulturen jeweils stark unterscheiden, zum Teil mögen sonderbare und abergläubische Reaktionen bestehen, aber wenn diese Reaktionen ihre Aufgabe als Rechtsregeln erfüllen, drückt sich in ihnen Zielgerichtetheit aus. Hoebel weist allgemeine Ziele nach: so wie Nahrung, Geschlechtsverkehr und Töten für die meisten Ratten eine Belohnung darstellen, sind Regelungen über Nahrungsverteilung, Frauenraub oder Mord offenbar wesentlich für die Rechtsordnung. Vielleicht wird die Einhaltung dieser "gerechten" Ordnung zum Teil durch körpereigene Opiate belohnt. Der Weg zur Schaffung von Rechtsregeln ist wahrscheinlich nicht angeboren; daß aber Regeln als solche als Verstärker-Reize dienen, kann auf angeborene Mechanismen zurückzuführen sein. Es ist nur ein kleiner Schritt vom Essen zum Füttern von Babies und von dort zur Speisung von Flüchtlingen. Und es sind wieder nur kleine Schritte, die vom Sex zur Erotik und von dort zur Liebe führen oder von einer durch Opiate verstärkten Verbindung zu sozialem Altruismus. Kleine Schritte führen vom Töten von Mäusen zum Töten von Menschen und von dort zum Töten von Völkern; und es sind schließlich noch kleinere Schritte, die von neurochernischen Belohnungen zur Drogensucht führen. Die Wege, die das Verhalten auf der Suche nach Belohnung einschlägt, sind so vielfältig wie die, welche das Wasser findet, das einen Berghang herabrieselt. Die "Schwerkraft", die in der Anthropologie als Zielgerichtetheit erscheint, ist vielleicht ein genetisch programmierter GehirnKreislauf, in dem bei der Einhaltung von Rechtsnormen chemische Substanzen zur Belohnung freigesetzt werden. 33

E. A. Hoebel (FN 31), S. 287.

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Wenn wir - nach dieser Theorie - eine Regel, irgendeine Regel auswählen und sie befolgen, vergleicht das Gehirn vermutlich dieses Regel-Modell mit dem tatsächlichen Verhalten. Bei Übereinstimmung gibt das Gehirn Opiat ab. Soweit könnte das Ganze einem angeborenen Programm entsprechen. Woher aber kommen die Regel-Modelle? Einige der neurogenen Kreisläufe, wie die für grundlegende Reflex-Regeln, könnten angeboren, andere, wie die für das Waschen der eigenen Nahrung oder Altruismus, könnten erlernt sein. Wieder andere Regeln könnten jedesmal neu, anregend und ganz anders sein, wie die Sanktionen farbenprächtiger Geisterwesen. Nachdem irgendeine dieser Regeln als Modell für Verhalten im Gehirn vorhanden ist, würde eine Wahl zwischen Übereinstimmung und Nichtübereinstimmung über die Freisetzung von Opiat entscheiden. Übereinstimmung würde Zufriedenheit hervorrufen, Nichtübereinstimmung würde vielleicht zu "kognitiver Dissonanz" führen, die den wiederholten Versuch hervorbringen würde, das Verhalten dem kognitiven Modell oder das Modell dem Verhalten anzupassen Meine Freunde von der Sozialpsychologie nennen das Änderung der Haltung. Als Physiopsychologe schlage ich schlicht folgendes vor: wenn Gruter und Danielli in ihrer Annahme recht haben, daß Opiate bei rechtgemäßem Verhalten eine Rolle spielen, dann enthält dieser Mechanismus wahrscheinlich die zuvor besprochenen Elemente: 1. Hormone zur Programmierung von Zellentwicklung und zur Veränderung sensorischer Empfindlichkeit und motorischer Fähigkeiten. 2. "Trieb-Peptide" zur Schaffung von Verhaltenstendenzen, im Einklang mit physiologischen Bedürfnissen nach Wasser, Energie und hormoneller Regulierung. 3. Katecholamine wie Norepinephrin und Dopamin zur Erregung und Aktivierung. 4. Monoamine wie Serotonin für Phantasie und Träumen. 5. Einen Mechanismus zur Messung der Übereinstimmung oder mangelnden Übereinstimmung, um einen Vergleich zwischen Verhaltensregeln und tatsächlichem Verhalten zu ermöglichen. 6. Chemische Belohnungen zur Verstärkung einer entweder durch Aberglauben oder Logik herbeigeführten Übereinstimmung und 7. eine chemische Bestrafung, falls die Übereinstimmung nicht zustandekommt. Der oben beschriebene Mechanismus ist weitgehend genetisch. Gene erzeugen Proteine, Fette, Kohlehydrate, Neurotransmitter, Hormone, Enzyme, um Peptide abzuspalten, Monoamine, Opiate und vielleicht auch Opiat-Antagonisten. Das Gehirn entwickelt theoretisch ein Diagramm, in dem Lustgefühl dadurch erzeugt wird, daß Verhaltensweisen mit inneren Modellen für Verhaltensweisen verglichen werden. Hier liegt vielleicht der Schlüssel für die Freisetzung von Opiaten. Auf

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diese Weise brauchen Gene nur relativ wenig spezifische Gesetze zu programmieren, solange ein allgemeines Gesetz besteht: "Gleiche dein Verhalten deinem Verhaltensmodell an, und wenn es nicht gelingt, verändere entweder das Verhalten oder das Modell." Die Übereinstimmung mit dem Modell ist das Gesetz der Gesetze. Übereinstimmung mit dem Modell auf der Grundlage von homöostatischem Hedonismus, dem Lustprinzip, ist für den genetischen Code eine relativ leichte Aufgabe. Das soziobiologische Vergnügen beginnt da, wo wir uns dem Recht zuwenden. Dabei entdecken wir die evolutionären, neurogenen und sozialen Grundsätze, nach denen Menschen ihre Beziehungen infolge veränderter Lebensbedingungen neu definieren. Das Unheil beginnt da, wo wir künstliche Süßstoffe, Aphrodisiaka, ritualisierte Formen der Aggression, Amphetamine und exogene Opiate benutzen und mit Hilfe fiktiver Erklärungen die Umgehung konformistischen Verhaltens rechtfertigen. Ich hoffe und glaube, daß weitere Erkenntnisse über den homöostatischen Hedonismus, die Selbst-Stimulierung und Selbst-Injizierung mehr Glück als Unglück bringen werden.

VIII. Zusammenfassung Opiate im Gehirn können Verhalten belohnen. Andere, nicht opiumhaltige Peptide in Gehirn und Darm können sensorische und motorische Nervensysteme so beeinflussen, daß ein bestimmtes Verhaltensrepertoire wie Essen, Trinken, Paarung oder Aggression bevorzugt belohnt wird. Eine andere Gruppe neurochemischer Substanzen moduliert die Erregung des Tieres und seine Bereitschaft zur Betätigung. Die neurochemischen Einflüsse bestimmen verschiedene Aspekte der Motivation, nämlich Belohnung, Antrieb, Erregung und Aktivierung. Die chemischen Substanzen werden durch ein angeborenes genetisches System produziert, das lediglich für die Produktion als solche vorprogrammiert ist. Deren Beschaffenheit wird durch Vorgänge im Gehirn, im übrigen Teil des Körpers und in der äußeren Umgebung beeinflußt. Wir haben diese Zusammenhänge untersucht, indem wir Tieren die Möglichkeit gaben, mittels elektrischer Selbststimulierung und Selbstinjizierung von Drogen ihr Gehirn selbst zu beherrschen. Zum Beispiel injizieren Ratten sich selbst Amphetamin oder Morphin in lokalisierte Gehirnbereiche. Dies zeigt, daß spezifische Gehirnkreisläufe und Neurochemikalien natürliche Belohnungen (wie Nahrung und sexuelle Reize) als Verhaltens-Verstärker vermitteln. Wir gingen von der These aus, daß man einem Tier neuro chemische Belohnungen für ein Verhalten gewähren kann, das seiner Erfahrung nach zu einem erfolgreichen Verhaltenskodex gehört, und leiteten

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daraus verallgemeinernd die Theorie ab, daß die gleichen chemischen Substanzen und dieselben neurogenen Kreisläufe auch beim Rechts-verhalten eine Rolle spielen. Anschließend verglichen wir dieses neurologisch-behavioristische Modell mit B. F. Skinners rein behavioristischer Analyse des Verstärker-Reizes und mit E. A. Hoebels anthropologischer Analyse der Funktion des Rechts. Dadurch wurde eine gedankliche Verbindung zwischen der Funktion der Belohnungsmechanismen im Gehirn und der Funktion des Rechts in einer Gesellschaft hergestellt.

DIE DREI DIMENSIONEN DER ENTWICKLUNG DES GEHIRNS UND DES RECHTS Von Paul D. MacLean Irgendwie ist das Leben von uns allen - wie das der Bürger von Großbritannien - von einer ungeschriebenen Verfassung geregelt, deren Ursprung wir im menschlichen Gehirn suchen müssen. Die Beweisführung meiner These von der dreidimensionalen Entwicklung des Gehirns und des Rechts baut auf Gehirnforschungen auf, die allgemein verständlich sind. Da ich dieses unermeßliche Thema jedoch hier nur anreißen kann, werde ich hauptsächlich die Wurzeln des Machtwillens im Gehirn näher beleuchten, weil im Grunde genommen das Recht auf Erscheinungsformen kollektiver Macht und deren kollektiver Anwendung aufbaut. Zum Schluß werde ich zwei Kommentare zur Funktion von evolutionär jüngeren Teilen des Gehirns abgeben, die sich auf wichtige Rechtsaspekte beziehen. Der erste Kommentar wird sich auf Gehirnmechanismen beziehen, die zur Konzeptualisierung der Souveränität des Rechts (dessen oberster Macht) dienen und damit eine Achtung vor dem Recht bewirken, ohne die ein Rechtssystem nicht existieren könnte. Der zweite Kommentar wird sich auf diejenigen Teile des Gehirns beziehen, die erst eine humane Rechtsanwendung und Gnadenpraxis ermöglicht haben.

I. Das Triun-Gehirn Ein Vergleich von Gehirnen heutiger auf dem Lande lebender Wirbeltiere mit fossilen Funden zeigt, daß sich das menschliche Gehirn zu seiner vollen Größe unter Beibehaltung anatomischer und chemischer Merkmale entwickelt hat, die abstammungsmäßig eine Beziehung zu Reptilien und zu Säugetieren zeigen (Abbildung 1). Auf diese Weise kam es zu einer Hierarchie von drei Gehirnen, vereint in einem, dem Triun-Gehirn1 • Wie wir sehen werden, trennt uns ein Zeitraum von mehr als 10 Millionen Menschenaltern von unseren reptil artigen Vorfahren. Was die oben erwähnte ungeschriebene Verfassung betrifft, 1 Vgl. P. D. MacLean: A triune concept of the brain and behavior, in T. Boag / D. Campbell (eds.): The Hincks Memorial Lectures, Toronto 1973,

S. 6 - 66.

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möchte ich betonen, daß die beiden evolutionär älteren Gehirnteile noch keine neurogene Fähigkeit zu verbaler Kommunikation haben. Wie einer von Chaucers Figuren gerne sagte: "Quid iuris est?" Was ist das Recht? Wenn man es zu seinen frühesten Ursprüngen zurückverfolgt, finden wir das ungeschriebene Recht des Meeres, das in einer späteren Epoche das nasse Element verläßt und sich als das Recht des Landes fortentwickelt. Für unsere Zwecke wird es ausreichen, die Geschichte des Rechts am Beispiel unserer reptil artigen Vorfahren aufzuzeigen, die vor mehr als 2~O Millionen Jahren lebten. Wir werden unsere Schlußfolgerungen auf Erkenntnisse abstützen müssen, die auf Fossilfunden und auf Ergebnissen der neurologischen Verhaltensforschung über heute lebende Reptilien beruhen, die einem anderen Reptilienstamm angehören als dem, von dem wir abstammen. Zunächst wollen wir uns diesen ältesten Teil des Triun-Gehirns ansehen, und dann wollen wir unsere Aufmerksamkeit auf die bei den anderen Teile lenken, die die psychologischen Funktionen des paleo- und neomammalischen Gehirns enthalten.

11. Das Protoreptilgehim Die Entwicklungen der letzten Jahre auf dem Gebiete der Histochernie machten es möglich, die sich entsprechenden Teile des Vorderhirns von Reptilien, Vögeln und Säugetieren zu identifizieren. Eine Cholinesterasefärbung kann Ganglienstrukturen farblich herausheben, die das Protoreptilgehirn in diesen drei Tiergattungen darstellen. In der klinischen Neurologie werden diese Strukturen zu den Basalganglien gerechnet. Da es keinen Ausdruck gibt, der allgemein Ganglien im Telenzephalon bezeichnet, werde ich sie einfach im folgenden kurz R-Komplex 2 nennen. Bei Reptilien und Vögeln findet man den größten Teil des R-Komplexes im Paleostriatum, das unterhalb der dorsalen medullaren Lamina liegt. Bei den Säugetieren besteht dieser Komplex aus dem Olfactostriaturn (einschließlich dem tuberculum olfactorium und nucIeus accumbens), dem Corpus striatum (einschließlich dem nucIeus caudatus und putamen), dem Globus pallidus und der diese Teile umgebenden grauen Substanz. In den letzten 15 Jahren hat man erkannt, daß Teile des R-Komplexes reich an Dopamin und Opiatrezeptoren sind. Dopamin ist eine Nervenflüssigkeit, die in baumartig verzweigten Nervenfasern enthalten ist, die von Zellen in der Substantia nigra des Mittelhirns aufsteigen. Wenn diese Verbindungen, aus welchem Grund auch immer Z MacLean ebd. sowie ders.: The brain's generation gap: Some human implications, in Zygon Journal of Religious Sciences 8 (1973), S. 113 - 127.

Die Entwicklung des Gehirns und des Rechts

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(Alter, Krankheit, experimentelle Manipulation) erkranken oder verkümmern, wird der Organismus beinahe immobilisiert. Schon seit langem haben Neurologen aufgrund von Störungen im motorischen System bei Patienten mit organischen Krankheiten im Bereich des R-Komplexes behauptet, daß dieser Komplex Teil des motorischen Systems ist, das vom Motorkortex des Neokortex kontrolliert wird. Trotz der Erkenntnis, daß die Zerstörung weiter Teile des R-Komplexes keinen offensichtlichen Bewegungsausfall bewirkt, ist diese Ansicht weit verbreitet. Auch elektrische Stimulierung in weiten Teilen des R-Komplexes bewirkt keine motorische Reaktion. Diese Überlegungen haben uns vor einigen Jahren dazu bewogen, in unserem Labor die Funktionen des R-Komplexes unter einem neuen Gesichtspunkt zu erforschen. Früher war es üblich, neurologische Verhaltensforschungen an Tieren anzustellen, die isoliert in Käfigen gehalten und psychologischen Tests unterzogen wurden, wobei sie in künstlichen Apparaten oder unter manipulierten leblosen Objekten lebten. Das Ziel unserer Arbeit war festzustellen, ob sich vielleicht bei Experimenten an Tieren, die unter halb natürlichen Bedingungen leben und mit anderen Tieren Kontakt haben, R-Komplex-Funktionen zeigen, die sonst nicht auftreten würden.

III. Reptilien-Verhalten Wie auf anderen Gebieten der Wissenschaft, so hängt der Fortschritt auch in der neurologischen Verhaltensforschung zum Teil vom Erkennen der Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Dingen ab. Im letzten Juni hielten wir eine Konferenz über säugetier artige Reptilien ab, in der Hoffnung, auf diese Weise die paläobiologische Forschung anzuregen, was wiederum zu einer Bereicherung unserer Kenntnisse über die Ähnlichkeiten und Unterschiede der physischen Erscheinungen und des Verhaltens - verglichen mit existierenden Reptilien und Säugetieren - führen würde. Die säugetierartigen Reptilien, auch als "therapsids" bekannt, sind für den Menschen von großem Interesse, da sie bis zu den Anfängen unserer Entwicklung zurückdatieren. Schon lange vor den Dinosauriern haben sie auf der Erde gelebt, als es nur einen riesigen Kontinent gab, der heute unter dem Namen Pangaea bekannt ist. Aufgrund ihrer Gliederknochen, Körperhaltung, Kopfform, Gebiß, Kiefergelenk und anderen Merkmale nehmen wir an, daß sich die am höchsten entwickelten Formen der "therapsids" den Säugetieren sehr ähnlich waren3 • S A. S. Romer: Vertebrate Paleontology, Chicago 1966; E. H. Colbert: Evolution of the Vertebrates. New York 1969.

8 Recht und Ethik

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Hier ergeben sich einige Fragen, die vielleicht von der paläobiologischen Forschung beantwortet werden können: Haben die "therapsids" Eier gelegt? Gibt es fossiles Beweismaterial, daß ihre Jungen nach der Geburt in ihrer Nähe blieben? Waren sie zu audiovokaler Kommunikation fähig, oder waren sie stumm wie die meisten heute lebenden Eidechsen? Wird eine genaue Untersuchung der Muskelansätze Aufschlüsse darüber geben, ob die "therapsids" kommunikatives Imponierverhalten zeigten oder nicht? Wie war die Morphologie des Gehirns der höchst entwickelten "therapsids" (soweit "cranial endocasts" uns darüber Aufschluß geben können)? Leider fehlen uns für Vergleichszwecke heute lebende Reptilien, die mit Säugetieren gemeinsame Vorfahren haben. Eine Art der Stammreptilien hatte entsprechende Eidechseneigenschaften, um den Namen Varonosaurus4 zu erhalten. Die heutigen Waraneidechsen, wie z. B. der Komodowaran5 , gehören zu dieser Gattung. Unter den heute lebenden Reptilien weisen Eidechsen wahrscheinlich die größte Ähnlichkeit zu "therapsids" auf.

IV. Analyse des Reptilverhaltens Die Analyse des Verhaltens der Eidechsen zeigt mehr als 25 Verhaltensformen, die auch für Säugetiere charakteristisch sind 6 • Der obere Teil der Aufstellung in Tabelle 1 umfaßt Verhaltensformen, die in erster Linie der Selbsterhaltung oder der Erhaltung einer sozialen Gruppe dienen, während der untere Teil Verhaltensweisen aufführt, wie sie in sozialen Gruppen und bei der Fortpflanzung beobachtet werden. Wie an späterer Stelle noch besprochen wird, sind die ersten drei Verhaltensfaktoren, die sich auf Ortswahl und die Errichtung eines Territoriums und dessen Beherrschung beziehen, für unser gegenwärtiges Thema von besonderem Interesse. 1. Das Verhaltensprofil

Die Gesamtheit aller Verhaltensbausteine stellt das Verhaltensprofil oder Ethogramm eines Tieres dar. Abgesehen vom verbalen Verhalten werden bei Menschen und anderen auf dem Lande lebenden Wirbeltieren zwei Hauptaspekte des Verhaltensprofils unterschieden. Zur Romer und Colbert ebd. W. Auffenberg: Social and feeding behavior in Varanus Komodensis, in N. Greenberg / P. D. MacLean (eds.): The Behavior and Neurology of Lizards, Washington 1978, S. 301 - 331. • P. D. MacLean: On the evolution of three mentalities, Man-Environment Systems 5 (1975), S. 213 - 224. 4

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Die Entwicklung des Gehirns und des Rechts

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Veranschaulichung könnten die beiden Aspekte mit den Umrissen von zwei aus der Ferne betrachteten Bergketten verglichen werden. In einer Bergkette sieht man deutlich die Bergspitzen unterschiedlicher Höhe, welche den Handlungsablauf der täglichen Hauptroutine und der Subroutine eines Tieres symbolisieren. In der zweiten Bergkette sieht man vier hohe und vier niedrigere Bergkuppen, die den vier Hauptverhaltensmustern entsprechen, die auch als "Impanierverhalten" bezeichnet werden und die der pro-semantischen (vor-sprachlichen) Kommunikation dienen. "Pro-semantisch" bedeutet rudimentäre Zeichengebung und bezeichnet jedes in der Kommunikation nicht-verbal übermittelte Signal, welches stimmlicher, körperlicher oder chemischer Natur sein kann 7 • Bei den Eidechsen werden die vier Hauptarten des kommunikativen Imponierverhaltens als 1. Kennzeichnung, 2. Herausforderung, 3. Werbeverhalten und 4. Gehorsamsbezeugung bezeichnet. In unserem Labor überprüfen wir die Hypothese, daß der R-Komplex eine grundlegende Rolle spielt bei der Lenkung der täglichen Hauptund Nebenroutine wie auch bei den verschiedenen Arten des Imponierverhaltens. Im folgenden möchte ich im Hinblick auf unser Thema kurz die vier Hauptarten des Imponierverhaltens beschreiben und dann unsere Untersuchungsergebnisse hinsichtlich des Herausforderungsverhaltens zusammenfassen.

2. Die vier Haupt/armen des Imponierverhaltens Die Anolis-Eidechse dient zur Veranschaulichung der vier Hauptformen des Imponierverhaltens, die in unterschiedlichem Ausmaß dynamische und statische Modifikatoren einschließen: (1) "Kennzeichnung". Sie besteht aus einem drei- bis fünfmaligen Nicken und Hochziehen des Kopfes in Verbindung mit einer kurzen Verweildauer während des Aufblähens des hochroten Halses, welches nach dem zweiten Kopfnicken erfolgt. Die Kennzeichnung zeigt eine Art Behauptungswillen, sowohl in nicht-sozialen wie in sozialen Situationen. Dieses Verhalten scheint dem Einzelnen eine gewisse Identität innerhalb seiner Gruppe einzubringen. (2) Herausforderung. Sie kann entweder auf die Objekte in der näheren Umgebung oder auf solche in größerer Entfernung gerichtet sein und wird hauptsächlich von territorialen Männchen angewandt, und zwar (a) bei der Errichtung des Territoriums, (b) bei Ringkämpfen innerhalb einer sozialen Gruppe und (c) zur Abwehr von Eindringlingen. Das Herausforderungsverhalten besteht aus dynamischen Kompo7



Ebd.

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nenten des Kennzeichnungsverhaltens in Verbindung mit einer Anzahl statischer Modifikatoren, die das Tier größer erscheinen lassen. (3) Werbeverhalten. Es beginnt mit "Kennzeichnung", gefolgt durch wiederholtes Kopfnicken und ein Annähern an das Weibchen mit tänzelnder Bewegung. (4) Gehorsamsbezeugung. Sie besteht bei Anolis-Eidechsen aus vier kurzen Auf- und Abbewegungen des Kopfes und erfolgt von Eidechsen beiderlei Geschlechts und jeden Alters.

v.

Neurobiologische Erkenntnisse

Auch bei Vögeln und Säugetieren gibt es Variationen dieser vier Hauptformen des Imponierverhaltens. Ich möchte nun die Ergebnisse unserer neurobiologischen Untersuchungen zusammenfassen, die wir bezüglich des Herausforderungsverhaltens bei Eidechsen und Affen durchgeführt haben. Zunächst untersuchten wir Eidechsen und haben uns dabei auf die Herausforderung der territorialen Männchen konzentriert, da diese am leichtesten zu manipulieren und quantifizieren sind. Mittels einer experimentellen Methode, die den Wärmehaushalt des Körpers nicht verändert, stellten wir fest, daß Verletzungen des RKomplexes, nicht jedoch anderer Teile der Gehirn-Hemisphäre, das Herausforderungsverhalten bei territorialen Männchen auslöschen8 • In einer 1961 begonnenen Versuchsreihe habe ich die Rolle der verschiedenen Gehirnstrukturen im Imponierverhalten der Totenkopfäffchen untersucht. Sowohl beim Herausforderungs- wie auch beim Werbeverhalten gibt der aggressive Affe Laute von sich, streckt einen Oberschenkel aus und wendet seinen erigierten Penis dem anderen Tier zu. Das Kennzeichnungsverhalten einer Unterart dieser Affen schließt auch die Merkmale des Herausforderungs- und Werbeverhaltens ein. Dieses Verhalten kann als eine Art des Grüßens verwendet werden, und interessanterweise benutzen Affen dieser bestimmten Unterart dieses Verhalten auch gegenüber ihrem eigenen Spiegelbild. Wir bezeichnen diese Affen, die ihrem eigenen Spiegelbild gegenüber Imponierverhalten zeigen, als "gotisch", da sich ein weißer Fleck über ihren Augen wie ein gotischer Bogen verjüngt. Die Affen derjenigen Unterart, die dies nicht tun, bezeichnen wir als "romanisch", da der unterhalb der Augenpartie liegende Teil des Flecks einem runden römischen Bogen gleicht. 8 N. Greenberg et al.: Role of the paleostriatum in species-typical display behavior of the lizard, Brain Research 172 (1979), S. 229 - 241.

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Da der Spiegelbildtest eine Steuerung verschiedener Variablen zuläßt, habe ich diesen Test dazu verwendet herauszufinden, welche Gehirnteile mit dieser Art der Kommunikation in Zusammenhang stehen. Ich habe bei Experimenten an mehr als 120 Affen festgestellt, daß am mittleren ("pallidalen") Segment des R-Komplexes die Nervensysteme zusammenlaufen, die an dem für erwachsene Totenkopfäffchen typischen "Spiegelbild-Imponierverhalten" beteiligt sind. Die in diesem Bereich9 oder in den von dort ausgehenden Bahnen 10 durchgeführten Elektrokoagulationen schalten dieses Verhalten entweder ganz oder teilweise aus.

VI. Stellungnahme zu den neurobiologischen Befunden Die Resultate dieser Experimente zeigen, daß der R-Komplex bei so unterschiedlichen Tieren wie Eidechsen und Affen eine wichtige Rolle beim Imponierverhalten in sozialer Kommunikation spielt. Sie beweisen auch indirekt, daß der R-Komplex wesentlich beim Erkennen der Artgenossen untereinander beteiligt ist, indem diese dasselbe Verhaltensrepertoire haben und bestimmte Verhaltensformen zeigen. Eine Art wird bekanntlich durch die Ausübung gleicher Verhaltensweisen (ich verwende dafür den Begriff "Isopraxis") identifiziert. Isopraxis ist eine von sechs wichtigen auf Gegenseitigkeit beruhenden Verhaltensformen, die bei Reptilien, Vögeln und Säugetieren beobachtet werden. Ohne ins Detail zu gehen, möchte ich nur darauf hinweisen, daß diese Verhaltensformen sich beim Menschen in der Ausführung täglicher Routinen und Subroutinen finden: im Verhalten beim Umgang mit Artgenossen direkt oder mittels schriftlicher oder bildlicher Kommunikation, durch Festhalten an gewissen Gepflogenheiten gesellschaftlicher oder wissenschaftlicher Art, durch Handlungen, die kompulsiven Charakter zeigen, durch Tradition sowohl im Rechtsleben als auch bei anderen Gelegenheiten, in Zeremonien und in vielen Verhaltensformen, die den Zweck haben, andere irrezuführen. Ich erwähne diese Neigungen deshalb, weil oft die Ansicht vertreten wird, jede Form menschlichen Verhaltens sei erlernt. So hat ein Anthropologe behauptet: "Es ist eindeutig erwiesen, daß alles, was Menschen tun, von anderen Menschen erlernt werden mußll." Wenn dies 9 P. D. MacLean: Effects of lesions of globus pallidus on species-typical display behavior of squirrel monkeys, Brain Research 1949 (1978), S. 175 - 196. 10 P. D. MacLean: Role of transhypothalamic pathways in social communication, in P. Morgane / J. Panksepp: Handbook of the Hypothalamus, vol. 3, New York 1981, S. 259 - 287. 11 A. Montagu: The Biosocial Nature of Man, New York 1956.

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zuträfe, könnte man fragen, warum die Menschen trotz ihres hohen Intelligenzgrades und kulturell erlernten Verhaltens weiterhin all die Dinge tun, die auch Tiere tun. Betrachten wir z. B. das auf nahe Objekte gerichtete Herausforderungsverhalten. Hier müßten dann einige tierische Merkmale vom Menschen übernommen worden sein. Sie sind jedoch so unauffällig, daß sie sogar von einem erfahrenen Ethologen übersehen wurden. Beim auf die nahe Umgebung gerichteten Imponierverhalten der Lacertilia-Eidechsen richten sich diese auf allen Vieren auf und präsentieren sich von der Seite, indem sie sich in einer steifen, abgehackten Weise voranbewegen, was aussieht, als ob sie die Balance verlieren würden. Einige Nagetiere zeigen sich ähnliches seitliches Imponierverhalten, doch vollzieht sich dieses bei ihnen so rasch, daß es vom Beobachter leicht übersehen werden kann. Daß das Herausforderungsverhalten von zwei erwachsenen rivalisierenden Gorillas Merkmale der Lacertilia-Eidechse aufweist, wurde mir erst dann bewußt, als ich anläßlich eines unserer Laborseminare Dian Fossey das Imponierverhalten von zwei ranghohen Gorilla-Männchen imitieren sah. Als sie deren seitliches Präsentieren und deren steifen ungeschickten Gang nachahmte, dachte man sofort an das auf die Nähe gerichtete Imponierverhalten gewisser Eidechsen. Im Falle von Schimpansen hat Jane Gooda1l12 das Imponierverhalten eines auf zwei Beinen stolzierenden Schimpansen beschrieben, das dem Imponierverhalten der Gorillas ähnlich zu sein scheint. Ihre Beschreibung erinnert an die Haltung und die Bewegungen eines japanischen Ringkämpfers. In all den obigen Beispielen scheint der gespreizt, abgehackte Gang ein wiederholtes Betonen des Kommunikationsinhaltes zum Ausdruck zu bringen, was an den Paradeschritt einer Militärparade und deren Ähnlichkeit in der Präsentation von der Seite mit dem "Schrägstellungsgang" eines Komodowarans erinnert13 • Das seitliche Drohen und der gespreizte, abgehackte Gang sind bei verschiedenen Tierarten so ungeheuer ähnlich, daß es beinahe so scheint, als wäre das Herausforderungsverhalten wie ein "genetisches Paket" auf dem Stammbaum der Säugetiere von Stufe zu Stufe weitergereicht worden. Die ausführliche Behandlung des Herausforderungsverhaltens könnte den Eindruck erwecken, daß dieses Verhalten wichtiger als andere Verhaltensformen ist. Dem könnte man jedoch entgegenhalten, daß das Unterwürfigkeitsverhalten viel wichtiger ist, da ohne dieses niemand überleben kann. Wie Ethologen14 gezeigt haben, dient Unterwür1% J. Goodall: The behavior of free-living chimpanzees in the Gombe Stream, Animal Behavior I (1968), S. 161 - 311. 13 Auffenberg (FN 5). 14 K. Lorenz: On Aggression, New York 1966.

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figkeitsverhalten dazu, den Zorn eines Angreifers zu mildern, der andernfalls den Schwächeren töten würde.

1. Die Macht/rage Die zuvor besprochenen Verhaltensformen stehen im Zusammenhang mit der Frage: Was ist Macht? Was ist ihr Ursprung? Wie wird Macht benutzt? Biologisch gesehen, finden wir Machtausübung in erster Linie im Zusammenhang mit dem Territorium eines Tieres und im Paarungs- und Fortpflanzungsverhalten. Einigen Veröffentlichungen zufolge gibt es nach wie vor noch heftige Diskussionen darüber, ob der Mensch territorial eingestellt ist oder nicht. Streng ethologisch gesehen, bezieht sich Territorialität auf die von einem Lebewesen demonstrierte Entschlossenheit, ein bestimmtes Stück Land zu verteidigen. Die Diskussion über das Territorium wird leichter überschaubar, wenn sie sich auf den Herrschaftsbereich des Tieres konzentriert, der neben dem Territorium auch eine Heimstätte und einen grob umrissenen Tätigkeitsbereich umfaßt. Herrschaftsbereich bedeutet praktisch Zufluchtsstätte, Jagdgebiet und Paarungs- und Brutplatz. Auf Grundprinzipien reduziert, stellt er einen Raum dar, der sowohl für die Selbsterhaltung eines Organismus als auch für die Erhaltung der Art nötig ist. In seiner bekannten Arbeit über das Leben der Vögel ist Eliot Howard15 zu dem Schluß gekommen, daß bei vielen Vogel arten das Männchen zuerst seine Fähigkeit, ein gewisses Gebiet zu erwerben und zu verteidigen, unter Beweis stellen muß, bevor es vom Weibchen akzeptiert wird. Ob eine bestimmte Tierart territorial ist oder nicht, mag von der verfügbaren Nahrung abhängen. Ungeachtet dessen und sogar wenn der Bedarf an Nahrung eine Wand er-Existenz erfordert: Tiere haben nun einmal einen nicht genau abgezirkelten Herrschaftsbereich, und gleich einem Wanderzirkus - folgt ihr Heim und ihr Territorium ihnen auf der Wanderschaft. Kleinere Affen wie der rote Brüllaffe sowie Menschenaffen wie Schimpansen oder Gorillas können sich auf einen Herrschaftsbereich16 beschränken, in dem ein beweglicher sozialer Raum (ein "gedanklicher Raum"17) besteht, den andere Tiere nicht betreten dürfen. Für gewöhnlich überwachen strikt territoriale Tiere ihr Territorium, während diejenigen mit einem beweglichen Territorium ihren Herrschaftsbereich überwachen 18 . E. Howard: An Introduction to the Study of Bird Behavior, London 1920. Goodall (FN 12); D. Fossey: The behavior of the mountain gorilla, doctoral dissertation, University of Cambridge, 1976. 17 J. B. Calhoun: Space and the strategy of life, in A. H. Esser: Behavior and Environment, New York 1971, S. 329 - 387. 18 J. Goodall et al. in D. A. Hamburg / E. R. McGown: The Great Apes, Menlo Park 1979, S. 13 - 54. 15

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Bei Tieren, die nicht strikt territorial sind, können zur Paarungszeit Territorien künstlich geschaffen werden. Der ugandische Wasserbock z. B. kehrt zu den Brutstätten zurück, wo er um "leks" kämpfen und sie behalten muß, um die Aufmerksamkeit des Weibchens auf sich zu lenken und Gelegenheit zur Paarung zu bekommen19 • Dafür gibt es in der Welt des Menschen vielleicht ein Gegenstück in den saisonbedingten Sportveranstaltungen, die auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene stattfinden. 2. Der Machtwille Das Streben nach Territorium ist nur eine Manifestation des Machtkampfes, der überall in der Natur auftritt. Wo liegt der Ursprung des Machtstrebens? Warum findet es bei einigen Individuen stärkeren Ausdruck als bei anderen? Es ist bekannt, daß in Nietzsches Philosophie der Machtwille der entscheidende Antrieb ist. Der Gedanke des Machtwillens und des übermenschen war ein integrierender Bestandteil der von Nietzsche im August 1881 veröffentlichten Arbeit über die Lehre von der ewigen Wiederkehr 20 • Er glaubte, daß der Machtwille die grundlegende Lebenskraft des gesamten Universums sei. "So hat es mich das Leben gelehrt21 ." Bei Nietzsches übermenschen finden wir Parallelen zu Aristoteles' "Menschen mit großer Seele", dem es zusteht, da er den anderen Menschen weit überlegen ist, andere Menschen zu verachten22 • In ähnlicher Weise hat Nietzsches übermensch das drakonische Recht, andere Menschen rücksichtslos zu behandeln. Ein Interpret seines Werkes behauptet: "Was aus der Macht hervorgeht, ist gut, was aus Schwäche entsteht, ist schlecht23 ." In der Welt der Tiere wird der Machtwille kaum dramatischeren Ausdruck finden als im Verhalten einiger Eidechsen. Beobachtet man zwei Regenbogeneidechsen in ihren strahlenden Farben im Kampf um Vorherrschaft, fühlt man sich in die Zeit von König Arthur zurückversetzt. Wurde in einem Wettstreit einmal der Fehdehandschuh geworfen, tritt als Antwort auf die Herausforderung der wilde, unnachgiebige Kampf. Zweimal konnten wir dominierende Regenbogeneidechsen beobachten, die als Verlierer gedemütigt wurden. Sie verloren ihre ma18 H. K. Buechner: Territorial behavior in Uganda kob, Science 133 (1961), S. 698 - 699. 20 F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, 1888. 21 The Portable Nietzsche, translated by W. Kaufmann, New York 1968, S. 191- 259.

Aristoteles: Nikomachische Ethik. E. Forster-Nietzsche: Introduction, The Philosophy of Nietzsche, New York 1954, S. XXI. ft

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jestätischen Farben, verfielen in Depression und starben zwei Wochen später. Man kann den Machtwillen als einen biologischen Vorgang beschreiben, doch ist es nicht leicht, ihn zu erklären. Wir haben in unserem Labor ein großes Auffangterrarium für eintreffende Lieferungen von Anolis-Eidechsen. In dieser Umgebung kommt es unweigerlich vor, daß einige Eidechsen versuchen, über die anderen Tiere, die alle auf einem der beiden Zweige sitzen, höheren Rang zu erlangen. Ähnlich wie Oberfeldwebel schroff ihre Befehle erteilen, ist auch eine Eidechse im allgemeinen fähig, nachdem sie die Herrschaft über einen Zweig erlangt hat, bei den anderen Tieren durch wiederholtes Demonstrieren ihres besonderen Kennzeichnungsverhaltens Ordnung und Disziplin aufrechtzuerhalten. Man kann beobachten, daß als Antwort auf diese Demonstration die anderen Eidechsen durch einstimmiges Nicken ihre Zustimmung zum Ausdruck bringen.

3. Kennzeichnung des Territoriums Wie allgemein von Haustieren wie Hunde und Katzen bekannt ist, kennzeichnen Tiere mit einem ausgeprägten Geruchsapparat ihr Territorium durch Urin. Die damit verbundene Nachricht heißt: "Bleibe meinem Gebiet fern." Andererseits haben wir gerade gesehen, daß ein vorwiegend visuelles Tier wie das Totenkopfäffchen während des Imponiergehabes seinen Penis aufrichtet. Wickler hat Pavianstämme und grüne Affen beschrieben, die mit gespreizten Beinen und teilweise aufgerichtetem Penis Wache halten, während die anderen Tiere Nahrung aufnehmen oder ruhen24 • Er sieht diese Schaustellung als eine "optische Markierung" von Grenzen an, die andere Tiere am Eindringen hindern soll. Auch in der Mythologie begegnen wir dem aufgerichteten Phallus, dem die magische Macht des Beschützens zugeschrieben wird. In primitiven Kulturen verschiedener Teile der Welt werden als "Hauswächter" steinerne Denkmäler verwendet, die einen aufgerichteten Phallus zeigen, um territoriale Grenzen zu markieren. Es scheint, als ob von makrosmatischen Tieren ein visuelles, urogenitales Symbol anstelle von geruchsbedingten urinalen Gebietsbegrenzungen verwendet wird 25 • Die Verwendung von Symbolen erlaubt dem Menschen den Schutz eines unbegrenzten "gedanklichen Raumes". Zusätzlich zu unserer privaten und häuslichen Sphäre, die wir besitzen und schützen möchten, schließen wir in diesen Kreis die Stadt, die Provinz, Länder 24 W. Wickler: Socio-sexual singnales and their intraspecific imitation among primates, in M. Desmond (ed.): Primate Ethology, London 1967, S. 69 -147. 26 MacLean (FN 1).

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und Staaten, küstennahe Gebiete und in jüngster Zeit auch den Weltraum ein. In diese Aufzählung können wir auch den Raum einbeziehen, den wir Schulen, Kirchen, Klubs und ähnlichen Organisationen zuweisen. Angestellte der Buchhaltung eines Betriebes suchen tunlichst, sich aus dem Gebiet der Verkaufsabteilung herauszuhalten. Freunde, die im gleichen Beruf tätig sind, vermeiden Konkurrenzkonfrontationen. Viele Wissenschaftler haben den Ruf, bestimmte Forschungsterritorien zu errichten und sie mit ihrer ganzen Kraft zu verteidigen. Wäre dem Menschen nicht ein gewisser Grad von territorialem Verlangen angeboren, wäre erstaunlich, daß das Recht sich so ausführlich mit "unbefugtem Betreten" oder "Einbruch" befaßt und daß in jedem modernen Kulturkreis Rechtsnormen und Registereinrichtungen entwickelt wurden, um Fragen des Grundbesitzes zu regeln. Wenn das gesamte Verhalten des Menschen erlernt ist, dann haben die Menschen auch sehr "natürlich" gelernt, "territorial zu sein". A. H. Esser hat in seiner Anstalt lebende, geistig schwer behinderte Knaben mit Lernschwierigkeiten beschrieben, die in einer neuen Umgebung Miniterritorien errichten und sie nach einem Jahr der Trennung wieder neu beanspruchen26 • 4. Macht und Größe

Bei den Eidechsen erwirbt das größere Tier meist die Beute. Eidechsen haben eine ganz eigene Art, ein größeres Tier zu erkennen. Ein Komodowaran wird sofort einen herannahenden Fremden einschätzen und ihm aus dem Weg gehen, wenn er größer ist27 • Evans hat jedoch gezeigt, daß Größe nicht der einzige Faktor ist 28 • Die territoriale Eidechse scheint auf ihrem Territorium einem Eindringling gegenüber die überhand zu haben. Es gibt andere Faktoren, die nicht Macht und Größe per se ausmachen. Wenn man daran denkt, was im politischen Geschehen vorgeht, ist es wahrscheinlich das Imponiergehabe, das für den Gewinn in einem Wettstreit entscheidend ist29 • Wie Desmond Morris in seiner Erörterung der "typical intensity" bemerkt hat, veranlaßt wahrscheinlich die Zahl der Klingelrufe des Telefons und nicht die Lautstärke des Läutens den Teilnehmer, das Telefon abzuheben30 • Wie wir 2B A. H. Esser: Dominance hierarchy and clinical course of psychiatrically hospitalized boys, in Child Development 39 (1968), S. 147 - 157; ders.: Cottage fourteen: Dominance and territoriality in a group of institutionalized boys, in Small Group Behavior 4 (1973), S. 130 - 146. 27 Auffenberg (FN 5). 28 L. T. Evans: A study of a social hierarchy in the lizard, in Journal of Genetic Psychology 48 (1936), S. 88 - 111. 29 R. D. Masters in H. Cavanna: The Future of the Welf are State (im Druck). 30 D. Morris: "Typical Intensity" and its relations to the problem of ritualisation, in Behavior XII (1957), S. 1 - 12.

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Menschen gut wissen, mag es auch andere Modifikationen wie z. B. Farbe, verschiedenartige Kleidung und großes Gefolge geben, die die mangelnde Größe des Einzelnen kompensieren können. Ethologen haben darüber berichtet, daß ritualisiertes aggressives Verhalten und dessen passives Gegenstück - Gehorsamsbezeugungen - es in den meisten Umständen ermöglichen, die Rechte des Einzelnen zu wahren und unnötigen, manchmal tödlichen Konflikt zu vermeiden. In unserem Land und auch in anderen Teilen der Welt wird derzeit viel darüber diskutiert, ob und inwieweit es wünschenswert ist, Polizeibeamte zur Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung im Inland und Militärgewalt zur Erhaltung des internationalen Friedens einzusetzen. Nachdem wir uns mit einigen der primitiven Ursprünge der Macht beschäftigt haben, werden wir als nächstes kurz die beiden anderen wichtigen evolutionären Formationen des Gehirns betrachten und zeigen, wie sie die kollektive Macht des Rechts beeinflussen. Dabei werden wir auf das grundlegende Rechtsprinzip der Bindung an den Präzedenzfall zu sprechen kommen.

VII. Das Paleomammalien-Gehirn (limbismes System) Während der Entwicklung von Reptilien zu Säugetieren gab es drei wichtige Verhaltens änderungen, und zwar die Entwicklung 1. des Säugens, 2. der Brutpflege und 3. des Spiels 31 • Arbeiten über säugetierartige Reptilien, die an früherer Stelle erwähnt wurden, tragen vielleicht dazu bei, die übergangsveränderungen zu dem typischen Säugetierverhalten besser zu verstehen. Man könnte im wesentlichen sagen, daß sich die Entwicklungsgeschichte der Säugetiere in der Entwicklung der Familie zeigt. Die Fürsorge für die Familie, nicht nur zum Zeitpunkt der Geburt, sondern auch, wie beim Menschen, über einen längeren Zeitraum, führt zur Ausbildung eines Verantwortlichkeitsgefühls und des Gewissens. Viele Arten heutiger Eidechsen fressen ihre Jungen. Werden weitere paläontologische Forschungen aufzeigen, ob die säugetier artigen Reptilien mit ihren Jungen zusammenlebten oder ob sie diese auffraßen, falls sie sich nicht sofort nach der Geburt auf Bäume in Sicherheit brachten, wie dies heute noch bei den Jungen des Komodowarans der Fall ist? Mit der Entwicklung der Säugetiere scheint das früheste Gesetz entstanden zu sein: "Du sollst nicht essen Dein Fleisch und Blut oder anderes Fleisch von Deiner Art." Das spätere Gebot: "Du sollst nicht töten" ist dann aus diesem ersten entstanden. 31 P. D. MacLean: A Mind of Three Minds: Educating the triune Brain, in Yearbook of the National Society for the Study of Education 77 (1978), S. 308 - 342.

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Bei der Entwicklung der Säugetiere wurden Vokalisation und Gehör von entscheidender Bedeutung zur Aufrechterhaltung der Beziehung zwischen Eltern und Jungen. Vermutlich trug vokale Kommunikation zur Kontaktbildung unter den Frühformen der Säugetiere bei, die noch auf dem dunklen Waldesboden lebten. Der sogenannte "Isolierungsruf" ist vermutlich die grundlegendste Lautverständigung unter Säugetieren und diente dazu, den Kontakt zwischen Mutter und Jungen und innerhalb der Gruppe aufrechtzuerhalten. Die meisten alten Cortices von frühen Säugetieren werden beim großen limbischen Lappen gefunden, der bei allen bekannten Säugetiergehirnen den gemeinsamen Nenner darstellt. 1952 schlug ich die Bezeichnung Limbalsystem für diesen Kortex und die Strukturen des Gehirnstammes vor, mit dem er vornehmlich verbunden ist 32 • In den vergangenen 40 Jahren wurde bewiesen, daß über das limbische System Gefühle vermittelt werden, die das zur Selbsterhaltung und Arterhaltung erforderliche Verhalten bestimmen. Einer großen Metropole vergleichbar, teilen sich die Nervenzellen des limbischen Systems in drei Hauptbereiche. Zwei der Bereiche stehen eng mit dem Geruchsapparat in Verbindung. Die Gruppe der Nervenzellen im ersten Bereich ist wesentlich am Selbsterhaltungsverhalten wie Nahrungsaufnahme, Kampf und Selbstschutz beteiligt33 , während die Gruppe im zweiten Bereich für das Sexualverhalten und sexualbezogenes Sozialverhalten wichtig ist 34 • Bei Reptilien gibt es kein Gegenstück zum dritten Bereich, der bei Primaten große Dimensionen annimmt und dessen Entwicklung im menschlichen Gehirn am weitesten fortgeschritten ist. Man bedachte, daß die Hauptverbindungslinie für diesen Bereich den Geruchsapparat umgeht. Wir haben beobachtet, daß Hamster, denen man zum Zeitpunkt der Geburt den gesamten Neocortex entfernt hatte, zu allen Formen des hamstertypischen Verhaltens, einschließlich Paarung und Aufzucht von Jungen, fähig sind 35 • Wenn man ihnen jedoch den limbischen Cortex dieses dritten Bereiches entfernt, zeigen sich Mängel im mütterlichen Verhalten. Darüber hinaus entwickeln derartige Tiere kein Spielverhalten - ein Merkmal der Säugetiere, das entscheidend für die Harmonie in der unmittelbaren Umgebung und später in den sozialen Beziehungen ist. Es war, als ob diese Tiere einen Rückschritt zum rep32 P. D. MacLean: Some psychiatrie implications of physiological studies on frontotemporal portion of limbie system, in Electroenceph. Clin. Neurophysio1. 4 (1952), S. 407 - 418. 33 Ebd. 34 MacLean (FN 1). 35 Murphy et a1.: Species-typieal behavior of hamsters deprived from birth of the neocortex, in Science 213 (1981), S. 459 - 461.

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tilartigen Zustand gemacht hätten. Bei der Entwicklung dieser dritten großen Unterteilung des limbischen Systems erkennen wir die Ursprünge des Verantwortungsbewußtseins anderen Mitgliedern derselben Art gegenüber - ein Gefühl der Verantwortung, das so wesentlich für die gerechte und gütige Rechtspflege einer Porcia ist. Die klinische Untersuchung der limbischen Epilepsie bietet den besten Beweis dafür, daß das limbische System grundlegend für gefühlsmäßige Erfahrung und deren Ausdruck verantwortlich ist. Während des Beginns von epileptischen Anfällen ist das Gehirn des Patienten voll reger Gefühle, die VOn extremer Angst bis zur Ekstase reichen. Es ist bezeichnend, daß ein derartiger Anfall Gefühle auslöst, die denen ähnlich sind, welche im Glauben und in der Äußerung von Weltanschauungen zum Ausdruck kommen. Danach erlöschen sozusagen die Lichter im limbischen System, und in solchen Zeiträumen kann ein Individuum, je nach Beschaffenheit des Neocortex, sehr kompliziertes Verhalten zeigen, kann sich jedoch später an nichts erinnern. Solche Kranken verhalten sich wie körperlose Gespenster. Das zeigt, daß wir ohne unser primitives limbisches System kein echtes Gefühl für die Realität unserer Existenz entwickeln würden sowie keinen Glauben oder keine überzeugung davon hätten, was wahr und wichtig ist. Das hat weitreichende Auswirkungen nicht nur auf die Epistemologie, sondern auch auf das Recht.

VIII. Das Neomammalien-Gehirn Aufgrund der bisherigen überprüfungen würden der R-Komplex und das limbische System an sich als ausreichend erscheinen, dem Typischen am Tier Ausdruck zu verleihen. Damit darf jedoch nicht die Bedeutung des Neocortex herabgesetzt werden, der in höheren Säugetieren ständig weiter ausgebildet wurde und beim Menschen seine höchste Entwicklungsstufe erreicht hat. Kein Faktum wird in der Neurologie als unumstößlicher betrachtet als die Notwendigkeit des Neocortex für Sprache und Sprechvermögen sowie der Umstand, daß wir ihm unsere grenzenlose Mannigfaltigkeit von Denk- und Ausdrucksformen verdanken.

IX. Das Zusammenwirken der drei Gehirnteile Einleitend zu einigen abschließenden Bemerkungen möchte ich die soeben getroffenen Feststellungen dahin ergänzen, daß für rechtliche oder rechtsrelevante Fragen der phylogenetisch jüngste Teil des Gehirns unbedingt erforderlich ist, so z. B. für rationale Erklärungen oder

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Rechtfertigungen und für sprachliche Verständigung. Die protoreptilartigen Teile unseres Gehirns können dies nicht leisten. Betrachten wir nun aber den Begriff des Präzedenzfalles. Bei der Beobachtung von Reptilien stellt man fest, daß sie der Routine, dem bereits Erprobten und dem Ritual unterworfen sind. Das bereits Erprobte nachzuahmen hat oft überlebenswert. Wenn z. B. eine bestimmte Felsspalte einmal als Zufluchtsort vor einem Raubtier gedient hat, dann kann dies auch ein zweites Mal nützlich sein. Hediger hat zahlreiche Beispiele für die Bedeutung des Präzedenzfalles bei Tieren und Menschen geliefert - mit der Quintessenz, daß ein Umstand, wenn er sich einmal als positiv erwiesen hat, auch späterhin von Nutzen sein kann 36 • Für jemanden, der nicht Jurist ist, mag es unklar erscheinen, warum ein bestimmter Fall nicht individuell entschieden wird. Stattdessen wird eine Unmenge an Zeit und Geld für die Erforschung von Präzedenzfällen investiert. Warum sollte man erst den Fall einer Person, die vor Jahren an einem entfernten Ort lebte, darlegen um zu beweisen, daß im eigenen Fall in einer bestimmten Weise entschieden werden muß? Juristen werden erklären, daß "das Recht" unparteiisch sein muß, um allen Parteien gegenüber möglichst fair zu sein. Dies, so behaupten sie, wird am besten dadurch gewährleistet, daß man versucht, einen ähnlichen Fall zu finden, der vielleicht von einem besonders namhaften Richter oder von einem der obersten Gerichtshöfe entschieden wurde. Je größer die Autorität, um so größer sei das Gewicht des Urteils. Sie erwähnen jedoch nicht, daß der mit dem jeweiligen Fall betraute Richter sich sicherer in seinem Urteil fühlt, wenn er weiß, daß eine in einem ähnlichen Fall ergangene Entscheidung einer Berufung standgehalten hat. Betrachten wir nun als nächstes, wie der Neocortex mit dem limbischen Teil unseres Gehirns bei der Konzeptualisierung des Rechts zusammenarbeitet. John Adams sagte bei den Arbeiten an der Verfassung von Massachusetts, daß wir "vom Recht und nicht von Männern regiert werden". Es wäre besser gewesen, hätte er "von Männern und von Frauen" gesagt. Ich nenne dies Konzeptualisierung, weil das Recht hier sozusagen durch die Einschaltung einer höheren Macht zum Leben erweckt wird. An früherer Stelle wurde erwähnt, daß das limbische System für unsere Gefühlsregungen in Zusammenhang mit Glauben und Weltanschauung verantwortlich ist. Dieser primitive Verstand ohne die Fähigkeit des Lesens, Schreibens oder Sprechens - scheint nicht nur dafür verantwortlich zu sein, die Beschaffenheit und Ange38 H. Hediger: The Psychology and Behavior of Animals in Zoos and Circuses, London 1955.

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messenheit der Nahrung, des Partners und dergleichen zu beurteilen, sondern bewirkt auch ein Gefühl der überzeugung und des Glaubens, das wir unseren Gedanken und Theorien unabhängig davon beimessen, ob sie wahr oder falsch sind. In ähnlicher Weise muß ferner angenommen werden, daß diese Gehirnteile auch eine wesentliche Rolle beim Glauben an die Souveränität (oberste Macht) des Rechts spielt. Ohne eine derartige Konzeptualisierung könnte das Recht kaum die gewaltige überzeugende Kraft haben, die in der Lage ist, eine Gesellschaftsordnung aufrechtzuerhalten und diese Funktion auszuüben, ohne daß man sich im allgemeinen dessen bewußt ist. Schließlich eine letzte Bemerkung. Für Problemlösungen von Situationen, die in der Außenwelt auftreten, hat die Natur den Neocortex in der Weise konzipiert, daß er Signale in erster Linie von den Augen, Ohren und Körperwänden empfängt. Auf die Außenwelt gerichtet, entwickelt der Neocortex zuerst ein kalt berechnendes riesiges computerartiges Gebilde. Es ist die Art von Computer, der in der Lage ist, auf grausamste Weise Mitmenschen zu töten. Beispiele dafür brachten Kriege und Verbrechen gegen die Menschheit bis in unsere jüngste Vergangenheit. Als ob die Natur schon vor langer Zeit vorausgeahnt hätte, daß sich ein schreckliches Monstrum entwickelte, begann sie doch, jenen Teil des Neocortex - die präfrontale Zone - zu vergrößern, was Gefühle der Anteilnahme an der Wohlfahrt aller Lebewesen ermöglichte. Wenn man die Entwicklung des Neanderthalers zum Cro-Magnon Menschen verfolgt, erkennt man, wie sich die menschliche Stirn von einer niedrigen zu einer großen Höhe entwickelt hat. Unterhalb der höheren Stirn liegt der präfrontale Kortex. Der präfrontale Kortex scheint der einzige Neocortex zu sein, der noch immer in die innere Welt schaut. Es ist bezeichnend, daß er Verbindungen mit der dritten großen Unterteilung des limbischen Systems herstellt, das für die elterliche Fürsorge und das Spiel verhalten zuständig ist. Es gibt klinische Beweise dafür, daß der präfrontale Kortex durch seinen "Einblick" sozusagen das richtige Gefühl bekommt, das zur Identifizierung mit einem anderen Individuum erforderlich ist. Genau diese neue Entwicklung ermöglicht die Einsicht, die erforderlich ist, um für die Bedürfnisse anderer genau so wie für die eigenen zu planen und unser Wissen zur Milderung des Leides aller zu benutzen. Und wir müssen annehmen, daß diese neue Entwicklung Shakespeares Porcia37 zu folgenden Worten inspirierte:

37

Kaufmann von Venedig, Akt IV, Szene 1.

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Paul D. MacLean "Die Art der Gnade weiß von keinem Zwang. Sie träufelt wie des Himmels milder Regen Zur Erde unter ihr; zwiefach gesegnet: Suchst du um Recht schon an, erwäge dies: Daß nach dem Lauf des Rechtes unser keiner Zum Heile käm'; wir beten all' um Gnade, Und dies Gebet muß uns der Gnade Taten Auch üben lehren."

ORDNUNG OHNE FORMELLES RECHT Von J ane Goodall In allen menschlichen Gruppen bestehen bestimmte überlieferte Verhaltensregeln, deren Mißachtung bestraft werden kann. Diese Regeln werden von Generation zu Generation weitergegeben, und viele Vorschriften oder Gesetze, auf denen die Gesellschaft basiert, entstanden durch derartige traditionelle Verhaltensmuster. Auch bei nicht-menschlichen Tieren gibt es Regeln, die das Verhalten innerhalb ihrer sozialen Gruppen regeln. Bei Vögeln und niederen Säugetieren sind sie gewöhnlich sehr rigide und weitestgehend vorhersagbar. Sie entsprechen oft den Reiz-Reaktionsmodellen der klassischen Ethologie, die das Werbeverhalten und den Wettbewerb um Männchen oder Weibchen, die Zuteilung von Territorien oder die Erziehung der Jungen bestimmen. Mit evolutionär zunehmender Komplexität des Gehirns finden wir, daß der Lernprozeß während der Lebensdauer des Individuums eine zunehmend wichtige Rolle beim Erwerb des Erwachsenenverhaltens spielt. Wenn Verhalten größtenteils "instinktiv" ist, besteht kein Grund, es durch Regeln oder "Gesetze" von außen zu lenken - diese sind den Tieren angeboren und garantieren ihre überlebenschance. Da der Einzelne aber immer mehr für die Struktur seiner Gesellschaft verantwortlich wurde, wurde die Regelung seiner Aktivitäten durch äußere Maßnahmen immer notwendiger. Schimpansen sind dem Menschen am nächsten verwandt. Dies wurde biochemisch bewiesen, z. B. anhand der Zusammensetzung der Blutproteine und der Anzahl und Form der Chromosomen. Besonders die Struktur und die neurologischen Eigenheiten des Schimpansengehirns sind dem menschlichen Gehirn ähnlicher als dem irgendeines anderen Lebewesens. Schimpansen leben 40 bis 50 Jahre, und die Kindheitsund Entwicklungsperiode beansprucht einen langen Zeitraum. Erst im Alter von 14 oder 16 Jahren ist ein Individuum sozial voll entwickelt. Deshalb ist es von Interesse festzustellen, auf welche Art und Weise Ordnung (ohne formelles Recht) in der Schimpansengesellschaft aufrechterhalten wird, und dabei nach Faktoren zu suchen, die zum Verständnis der biologischen Basis menschlichen Rechtsverhaltens beitragen können. 9 Recht und Ethik

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I. Allgemeines zur sozialen Ordnung Schimpansen leben in Gemeinschaften, deren Größe schwankt. In Gombe· leben zwischen 30 und 60 Individuen zusammen, Kinder eingeschlossen. Schimpansen, die eine Gemeinschaft bilden, kennen sich gegenseitig und können als friedlicher Verband umherziehen, obwohl sie nicht als gesellschaftlich zusammenhängende Einheit auftreten. Die Individuen formieren sich zu ständig sich verändernden, zeitlich begrenzten Verbänden. Die einzige Einheit, die über einen längeren Zeitraum stabil bleibt, ist die einer Mutter mit ihren abhängigen Jungen (bis zu acht Jahren). Die Bindungen zwischen Müttern und ihren erwachsenen Nachkommen und Bindungen unter Geschwistern sind stark und können ein Leben lang bestehen. Paare nicht verwandter erwachsener Männchen können ebenfalls sehr starke Verbindungen zur gegenseitigen Unterstützung eingehen, die über Jahre andauern. Erwachsene Männchen sind den Weibchen und den Jungen rangmäßig überlegen. Die Männchen selbst haben eine Rangordnung, so daß gewöhnlich ein Männchen als Alpha-Männchen an der Spitze der Gruppe steht. Die Rangordnung bleibt natürlich meistens nicht über längere Zeiträume stabil, da einzelne Individuen älter und schwächer werden und andere stärker und aggressiver. Jedoch wenn das Alpha-Männchen eine sichere Position hat, wird die soziale Ordnung innerhalb der Gemeinschaft aufrechterhalten, und relativ wenig Aggressionen kommen auf. Die meiste Zeit kennt jedes Individuum seinen Status, und Zwistigkeiten können durch bloße Drohgebärden ohne Austragung physischer Kämpfe geschlichtet werden. Bei den Weibchen herrscht eine nicht so eindeutige Rangordnung. Es gibt fast immer ein ranghöchstes Weibchen und eine Anzahl offensichtlich ranghoher Weibchen sowie eine Anzahl rangniederer Weibchen. Die Weibchen verbringen weitaus weniger Zeit in Gesellschaft anderer Weibchen, als es die Männchen tun. Außerdem wechselt ihr Status ständig im Zusammenhang mit der Zyklusphase und der An- oder Abwesenheit erwachsener Nachkommen, die ihnen Unterstützung geben können.

• Siehe zum folgenden Goodall, J. van Lawick: In the Shadow of Man, London / Boston 1971; dies.: Chimpanzees of the Gombe National Park, in Eibl-Eibesfeldt: Hominisation und Verhalten, Stuttgart 1975, S. 74 - 136; dies.: Infant killing and eannibalism in free-living chimpanzees, in Folia PrimatoZogiea 28, 1977, S. 259 - 282; dies.: Life and death at Gombe, in National Geographie Magazine, Mai 1979.

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11. Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung Die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung hängt von dem reichen Repertoire an Stellungen, Gebärden und Vokalisationen ab. Eine sehr wichtige Sequenz ist "Aggression, Unterwerfung und Beruhigung". Nach einem aggressiven Zwischenfall kann sich das Opfer dem Angreifer nähern, z. B. durch Ausstrecken der Hand oder durch Ducken, Wimmern und Geschrei. Der Angreifer streckt dem Bittsteller dann gewöhnlich die Hand entgegen, berührt ihn, küßt oder umarmt ihn. Dies dient zur Beruhigung des letzteren. Diese Verhaltensweise ermöglicht den Schimpansen entspannte und freundschaftliche Beziehungen, auch wenn in der Gemeinschaft plötzlich Gewalttätigkeit ausbrechen kann. Dieser Ablauf weist auch auf die Bedeutung physischer Kontakte im geselligen Leben des Schimpansen hin. Furchterregende Gebärden mehr noch als körperlich ausgetragene Kämpfe dienen der Bereinigung von Zwistigkeiten. Besonders eindrücklich ist hier das männliche "Imponierverhalten", wo das Männchen herumtobt und Zweige und Steine herumwirft, Büsche oder Äste schwenkt und dabei weit wütender aussieht, als es in Wirklichkeit ist. Es ist ein großartiges Beispiel für das, was wir "Bluff" nennen. In der Schimpansengesellschaft gilt beinahe immer das Prinzip: "Macht ist Recht", und der Rangniedere eines Paares ist immer derjenige, der sich versöhnend gebärden muß, wie auch immer der Sachverhalt liegen mag. Die Beteiligten sind dann wieder in der Lage, eine entspannte Beziehung fortzuführen, zumindest nach außen hin. Der Unterlegene mag in der Tat nicht so gelassen sein, wie es den Anschein hat: "Die ranghöhere Fifi und die rangniedrigere Gilka streiten sich um Futter. Fifi greift Gilka an, die laut schreit, sich zurückzieht, dann ihre Hand ausstreckt, welche Fifi berührt. Beide setzen das Fressen fort. Plötzlich schreit Gilka, stürzt sich auf Fifi und schlägt sie. Dies geschieht gleichzeitig mit dem Erscheinen von Gilkas älterem Bruder, der mit gesträubten Haaren dasteht. Jetzt ist es Fifi, die sich schreiend zurückzieht. " Vorfälle dieser Art, wo der Stärkere eines Verwandten- oder Freundespaares den Schwächeren beschützt, kommen häufig vor. Aber beschützen starke Schimpansen immer den Schwächeren, unabhängig von den sozialen Bindungen? Erwachsene Männchen beschützen im allgemeinen alle Jungtiere (und erziehen sie eventuell auch): "Das Kind Freud belästigt einen männlichen Pavian, indem es ihn mutwillig mit dem Fuß tritt. Der Pavian verliert die Geduld, zieht

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Freud von dem Ast und beißt ihn. Da Freud schreit, stürmt das junge Schimpansenmännchen Goblin herbei und schlägt den Angreifer. Freud setzt bald wieder die Belästigung gegen den Pavian fort. Gleich danach ergreift Goblin Freud, gibt ihm einen kräftigen Klaps und geht fort. Freud geht gekränkt zu seiner Mutter!" Da es keine permanenten Bindungen unter nichtverwandten erwachsenen Paaren von Männchen und Weibchen gibt, kann theoretisch jedes Männchen jedes Weibchen schwängern, so daß die allgemein beschützende Haltung von erwachsenen Männchen gegenüber Jungtieren mit einer Vater-Kind-Beziehung verglichen werden kann. Diese Art der Beziehung braucht sich nicht auf die Jungtiere anderer Gemeinschaften zu erstrecken. Dreimal griffen Gruppen von erwachsenen Männchen die Weibchen aus benachbarten Gesellschaftsgruppen, die sich nahe der territorialen Grenzen begegneten, an und ergriffen, töteten und fraßen einen Teil ihrer Kinder. Manchmal schlägt aber sogar innerhalb der Gemeinschaft die schützende Haltung eines Männchens einem Kind gegenüber um. Wenn ein Junges einem Männchen während des Imponierverhaltens in den Weg gerät, kann es als "Display"-Objekt benutzt werden; es wird erfaßt, umhergeschleudert und -geworfen. Junge heranwachsende Weibchen können zeitweilig oder für immer zu einer Nachbargemeinschaft überwechseln. Anfangs laufen diese jungen Weibchen dabei Gefahr, von ansässigen Weibchen verfolgt zu werden, und bleiben zum Schutze dicht bei den großen Männchen: "Ein junges Männchen, Figan, zieht mit einem übergewechselten Weibchen, Sparrow, umher. Figans Mutter und Schwester schließen sich ihnen an und beginnen, Sparrow zu bedrohen und sie zu jagen, so daß sie schreiend flüchtet. Figan, der nicht die Mitglieder seiner eigenen Familie angreifen will, stellt sich energisch zwischen die streitenden Weibchen und beendet dadurch den Streit." Manchmal will ein ranghöheres Männchen einen Kampf zwischen einem rangniederen Männchen und einem Weibchen be enden. Dies soll jedoch nicht immer der "Rettung" des Opfers dienen: sein Imponiergehabe zielt vielmehr darauf, seinen Rang erneut gegenüber dem Angreifer geltend zu machen. Auch gibt es Zeiten, wo ein Männchen sich in einen solchen Angriff gegen ein weibliches Opfer einschaltet. Bis zu vier Männchen können sich einem Angriff dieser Art anschließen. All dies weist darauf hin, daß das Gefühl für Ritterlichkeit bei unseren Verwandten, den Schimpansen, nicht sehr weit entwickelt ist.

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111. Die Entwicklung persönlicher Bindungen innerhalb der Gesellschaft Das Schimpansenkind wird mit einem Repertoire von ererbten, artspezifischen Verhaltensmustern geboren. Aber Experimente, die in Gefangenschaft ausgeführt wurden, bei denen die Kinder während der ersten Monate ihres Lebens in sozialer Isolation aufgezogen wurden, weisen darauf hin, daß sie in sozialer Umgebung lernen müssen, wann und wie sie diese Verständigungssignale anzuwenden haben. In der Wildnis wird das Verhalten des Kindes anfangs durch die Mutter beeinflußt. Sie hindert es daran, nachteilige Dinge zu tun, kann es physisch von schwierigen Situationen fernhalten; sie kann mit dem Kind spielen oder sein Fell entlausen, um seine Aufmerksamkeit zeitweise abzulenken. Wenn das Kind älter wird, wird unangemessenes Verhalten von der Mutter bestraft, z. B. mit leichten Bissen. Wenn das Junge dann in Wutanfälle ausbricht, fällt die Bestrafung härter aus aber sie wird es auch wieder beruhigen, indem sie es in die Arme schließt. Von dem Augenblick an, wo es die schützende Nähe der Mutter verläßt, fängt das Junge an zu lernen, was es in seiner Gemeinschaft tun kann und was nicht. Es lernt dies vornehmlich, indem es verschiedene Alternativen ausprobiert, oder durch Beobachtung und Nachahmung anderer. Es lernt schnell, daß andere nicht so tolerant sind wie die eigene Mutter. Beim Spiel mit Altersgenossen wird es herausfinden, daß es stärker ist als einige andere der Gruppe. Bereits dann aber muß es lernen, sich zurückzuhalten, wenn die Mutter des Spielgefährten ranghöher ist als seine eigene Mutter. Es lernt auch, daß es sich den meisten erwachsenen Männchen nähern kann, wenn diese entspannt sind, daß es aber von ihnen nicht toleriert wird, wenn sie erregt sind. Und es findet heraus, daß das Verhalten, das einige Erwachsene akzeptieren, bei anderen feindliche Reaktionen auslöst. Wenn es älter wird, werden härtere Lektionen erteilt. Die Heranwachsenden lernen, daß sie während des Fressens auf der Hut sein und Abstand von anderen halten müssen - sogar von ihrer eigenen Mutter - , um Aggressionen zu vermeiden. Einige Junge reagieren anfangs auf Tadel mit Wutausbrüchen, aber allmählich passen sie sich der neuen Lage an und zeigen ein angemessenes gehorsames Verhalten, wie es erforderlich ist, um in ihrer Gemeinschaft akzeptiert zu werden. Während der Adoleszenz müssen von den Männchen einige der schwersten Lektionen gelernt werden. Für die Weibchen ist die Adoleszenz hingegen nicht allzu schwierig. Obwohl sie ihre Mütter während des Östrus verlassen (und sich eventuell in Nachbargemeinschaften

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begeben), kommen sie gewöhnlich wieder zurück. Das meiste, was sie wissen müssen, um sich angemessen als Erwachsene benehmen zu können, können sie innerhalb ihrer Familie lernen. Die Weibchen lernen gehorsames Verhalten während der Kindheit und werden sich auch weiterhin für den Rest ihres Lebens - zumindest gegenüber den Männchen - gehorsam verhalten. Das junge Männchen jedoch muß seine Familie verlassen, um die wichtigsten männlichen Tätigkeiten wie das Jagen nach Fleisch, das Patrouillieren entlang der territorialen Grenzen, das Abwehren von überfällen der Nachbarn und das Anwerben jüngerer Weibchen zu erlernen. Das junge Männchen beobachtet von später Kindheit an mit zunehmender Faszination die erwachsenen Männchen. Seine ersten Streifzüge von der Mutter weg unternimmt es beinahe immer in Begleitung eines oder mehrerer erwachsener Männchen. Zur gleichen Zeit, in der seine Faszination für die Männchen zunimmt, nimmt auch die Angst vor ihnen zu. Es setzt sich immer mehr ihren Drohungen und Angriffen aus; außerdem ist es der ideale "Sündenbock", an dem die erwachsenen Männchen ihre Aggressionen auslassen. Mit dem Heranwachsen wird das Männchen physisch stärker. Während der Pubertät steigt der Testosteronspiegel seines Blutes erheblich an, und dies führt zu einer entsprechend starken Steigerung seines aggressiven Verhaltens. Anfangs richten sich die Aggressionen gegen die Weibchen seiner Gemeinschaft. Der junge Schimpanse zeigt ihnen gegenüber immer wieder Drohverhalten (vorausgesetzt, die großen Männchen sind nicht anwesend), bis er schließlich ranghöher als alle Weibchen ist (im Alter von 13 bis 15 Jahren). Die einzige dauerhafte Bindung des heranwachsenden Männchens ist die zu seiner Mutter. Es versucht nicht, sie zu beherrschen, und es zeigt ihr gegenüber weiterhin Respekt. Immer wieder, wenn es eine Zeit mit den erwachsenen Männchen verbracht hat, besonders nach Zeiten sozialer Spannung, verläßt das heranwachsende Männchen die Gruppe und sucht seine Mutter und Familie auf. Wenn schließlich das junge Männchen zwischen 14 und 15 Jahre alt ist, beginnt es, sich selbst in der Rangordnung der erwachsenen Männchen einen Platz zu verschaffen. Wie macht es das? In den meisten menschlichen Gesellschaften gibt es eine Art Einführungsritual, um die Tatsache hervorzuheben, daß ein junger Mann "mündig" wird und das Recht hat, Mitglied der Welt der Männer zu werden. Das Schimpansenmännchen wird jedoch nicht automatisch als Erwachsener behandelt, nur weil es das entsprechende Körpergewicht erreicht hat und sich die starken Eckzähne des reifen Männchens entwickelt haben. Es muß sich

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völlig auf seine eigene Stärke oder Intelligenz beim übergang zum Erwachsensein verlassen - wenn ihm nicht ein älterer Bruder während dieser schwierigen Zeit behilflich ist. Zunächst benutzt es aggressives Angriffsverhalten dem rangniedrigsten erwachsenen Männchen gegenüber. Je häufiger und eindrucksvoller das Imponiergehabe des jungen Männchens ist, desto schneller wird es in der Rangordnung der Älteren aufsteigen. Es ist vermutlich die gelegentliche Nichtbeachtung eines älteren Männchens, wenn ein fast erwachsenes Männchen sein Imponiergehabe zeigt (bei dem die Hemmungen bis zu einem gewissen Grade verlorengehen), das dem jungen Schimpansen das Selbstvertrauen gibt, sein Angriffsverhalten gegen seine früheren Helden zu richten. Der Kampf ist nicht leicht, und junge Männchen können bei den Versuchen, ihre soziale Position zu bessern, sehr schwer verwundet werden. Die Folge kann sein, daß sie sogar an Rang verlieren und für einige weitere Jahre in rangniederen Positionen bleiben müssen. Der übergang von der Adoleszenz zum Erwachsensein ist für die Weibchen leichter als für die Männchen. Wenn das Weibchen etwa 10 Jahre alt ist, wird es geschlechtsreif, und die Männchen, die sich mit ihm zum ersten Mal paaren, erkennen es als reifen Fortpflanzungspartner an. Ein oder zwei Jahre später gebärt es ein Kind. Diese beiden Ereignisse treten ohne irgendein Zutun der Weibchen ein, und sie sind für die anderen Schimpansen das Zeichen ihrer nunmehr eingetretenen Fortpflanzungsfähigkeit.

IV. Inzestverbot In Gombe wurde kein ausgewachsenes Männchen beobachtet, das sich mit der Mutter paarte. Auch die Paarung unter Geschwistern ist sehr selten, wenn sie überhaupt vorkommt, und drei Viertel der jungen Weibchen versuchten energisch, das werbende Gehabe ihrer älteren Brüder abzuwehren. Wie erwähnt, neigen die jungen Weibchen dazu, sich mit Männchen aus benachbarten Gruppen während des Östrus zu paaren, auch wenn sie anschließend wieder in ihre angestammte Gemeinschaft zurückkehren. Ihre ersten Kinder sind wahrscheinlich anderswo gezeugt worden. Junge Weibchen neigen auch dazu, das Werben alter Männchen abzuwehren, und dies schafft einen Mechanismus, durch den sie inzestuöse Verhältnisse mit ihren Vätern vermeiden.

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V. Der Begriff des Besitzes Es gibt drei Hauptarten von Besitz: (1) Die entwicklungsgeschichtlich älteste Art von Besitz ist zweifellos das Innehaben bestimmter Gebiete oder Territorien. Einige Arten haben bestimmte Territorien, die von einzelnen den anderen gegenüber verteidigt werden, auch gegen ein Mitglied des anderen Geschlechts (die Paarungszeit ausgenommen); andere halten ein gemeinsames Territorium für die Familie oder für eine größere soziale Gruppe. Arten, die über weite Gebiete wandern - Jäger oder Nomaden - wählen meist ein Areal innerhalb des gesamten Gebietes zum Territorium aus, das sich von Zeit zu Zeit ändert und das ihnen Schutz vor Artgenossen gibt, mit denen sie sich das Gebiet teilen. (2) Ein Individuum kann "Besitzverhalten" gegenüber einem anderen Individuum oder Individuen derselben Gattung zeigen. Ein Männchen kann einen männlichen Rivalen bekämpfen und besiegen, um in den Besitz eines Weibchens zu gelangen. Beide, Männchen und Weibchen, können Besitz-Verhalten gegenüber ihren Nachkommen zeigen, solange diese von ihnen abhängig sind. Diese Art von Besitz ist im Tierreich offensichtlich weitverbreitet. (3) Schließlich gibt es Besitzobjekte, die gefunden, gesammelt oder angefertigt werden. Der Wintervorrat einer Maus, ein Nest, das zum Schlafen oder Brüten gebaut wird, ein Gegenstand, der als Werkzeug benutzt wird, Kleidung, eine Viehherde oder ein Hund. In allen drei Fällen kann man nicht von Besitz sprechen, wenn der "Besitzer" nicht bereit ist zu verteidigen, was ihm gehört, oder wenigstens Angst oder Trauer zeigt, wenn er von einem stärkeren Rivalen beraubt wird. Es gibt Gründe, aus denen er bereit ist, seinen Besitz mit anderen zu teilen, aber wir müssen den Beweis haben, daß er zumindest in bestimmten Situationen diesen Besitz verteidigt oder zu verteidigen versucht. Es gibt natürlich auch gemeinsamen Besitz, so bei einem Rudel von Löwen, das seine Konkurrenten von ihrer Beute vertreibt, oder bei den Eltern, die gemeinsam um das Leben ihrer Nachkommen kämpfen. Lassen Sie uns kurz diese drei Arten von Besitz in der Schimpansengesellschaft diskutieren: (1) Schimpansen sind territorial: Erwachsene Männchen patrouillieren entlang ihrer Grenzen, jagen Fremde weg oder töten sie sogar. Die in Gombe in erster Linie untersuchte Gruppe teilte sich im Jahre 1972: über einen Zeitraum von vier Jahren griffen die Männchen der größeren nördlichen Gruppe systematisch die Individuen der südlichen

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Splittergruppe an. Die gesamte Splittergruppe wurde schließlich eliminiert, und die siegreichen Männchen und ihre Weibchen und Jungen hatten wieder Zugang zu dem Gebiet, das sie nach der Teilung verloren hatten. (2) Männliche Schimpansen und erwachsene Weibchen gehen keine dauerhaften Paarbindungen ein. In einigen Situationen kann ein sich im Östrus befindendes Weibchen mit einer Gruppe von Männchen umherziehen und sich mit allen paaren, ohne daß Konkurrenzkämpfe beobachtet werden. Zu anderen Zeiten kann das ranghöchste Männchen in einer solchen Gruppe Besitzverhalten gegenüber einem sich im Östrus befindenden Weibchen zeigen und dann versuchen, die anderen Männchen daran zu hindern, sich mit "seinem" Weibchen zu paaren. Wenn jedoch eine Ablenkung eintritt, werden die anderen Männchen in der Gruppe sofort die Gelegenheit wahrnehmen, sich schnell mit dem Weibchen zu paaren. Wenn das Männchen dies bemerkt, greift er das sich paarende Paar an und überfällt einen der beiden - gewöhnlich das Weibchen, denn wenn es zum Kampf mit dem Männchen kommt, kann das Weibchen von einem dritten Männchen begattet werden. Die erfolgreichste Fortpflanzungsstrategie für einen männlichen Schimpansen ist, mit einem Weibchen eine feste Bindung einzugehen, die es ihm ermöglicht, das Weibchen aus dem Gemeinschaftsgebiet zu führen und somit zu versuchen, es während des Östrus von anderen Männchen fernzuhalten. Wenn das Weibchen während des Beginns der Bindung versuchen sollte, von ihm zu fliehen, kann er es ziemlich heftig angreifen. Schimpansenmütter zeigen gegenüber ihren Kindern Besitzverhalten, und dieser Besitz wird ihnen von den anderen nicht streitig gemacht. Die anderen Gruppenmitglieder können ein Neugeborenes anstarren, aber selten wagen sie es, es während der ersten Wochen zu berühren. Ältere Geschwister - gewöhnlich die ersten nach der Mutter, die das Kind berühren dürfen - werden auch Besitzverhalten dem neuen Familienmitglied gegenüber zeigen und andere Junge, die mit ihm spielen wollen, verjagen. Wenn dies nicht möglich ist, wird das ältere Kind am Spiel teilnehmen und unbemerkt den Platz des kleinen Kindes einnehmen, um so den unerwünschten Kontakt zu verhindern. Wenn ein Kind stirbt, wird die Mutter im allgemeinen ihr Besitzverhalten gegenüber dem Körper für weitere drei bis vier Tage beibehalten - bis die Verwesung einsetzt. Zwar behandelt sie die Leiche weitgehend anders als ein lebendes Baby - sie hängt sie über ihre Schultern, läßt sie zu Boden fallen u. a. - sie trägt sie aber mit sich herum und wird auch anderen nicht gestatten, sie ihr zu entreißen.

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(3) Zu den Dingen, die gefunden, gesammelt oder hergestellt werden, gehören Schlafplätze oder Nester, die jede Nacht gebaut werden (um deren Besitzanspruch sehr selten gestritten wird), Nahrungsmittel (einschließlich Fleisch), die aufgelesen oder gesammelt werden, Gegenstände wie Werkzeuge und Gegenstände, die als Spielzeug benutzt werden. Diese Dinge sind Besitzobjekte von zeitlich begrenzter Dauer. Ein Nest kann etwa für zwölf Stunden besetzt werden, und das Fressen einer Portion Fleisch kann fünf Stunden oder mehr dauern, die anderen Dinge werden jedoch gewöhnlich eher nach Minuten als nach Stunden wieder aufgegeben. Das ist nicht überraschend, da die betreffenden Dinge entweder Nahrungsmittel sind, die gefressen werden, oder Zweige, Blätter oder Früchte, die leicht gefunden werden können, wann immer sie gebraucht werden. Es ist bemerkenswert, daß das "Spielzeug", das am längsten als Besitz verteidigt wurde, aus Resten eines Kissens bestand, das der junge Figan eines Morgens aus meinem Zelt genommen hatte; es war noch am darauffolgenden Nachmittag nach vielen Raufereien mit Spielgefährten in seinem Besitz. Kissen findet man selten im Gombe-Territorium. Um den Besitz von einigen der aufgeführten Dinge kann sehr heiß gestritten werden - besonders um Fleisch. Fleisch ist weniger leicht zu erwerben als die gewöhnlichere Pflanzen- und Früchtekost der Schimpansen, und die getötete Beute ist selten groß genug, um alle diejenigen zu sättigen, die beim Verzehr anwesend sind. Unmittelbar nach der Tötung herrscht große Aufregung unter den Anwesenden, die versuchen, einen Teil zu ergattern. Nach der Aufteilung nehmen diejenigen, die einen Teil erhalten haben, ihren Anteil mit sich, um ihn zu fressen. Diejenigen, die nicht erfolgreich waren, sammeln sich um die Glücklichen und betteln. Sie strecken ihre Hände aus, um das Fleisch zu berühren, bitten gleichsam um Erlaubnis, sich ein Stück wegnehmen oder mit dem Besitzer fressen zu dürfen. Oder sie halten ihre Hände auf, wobei die Handfläche nach oben zeigt. Der Erfolg oder Mißerfolg eines bettelnden Individuums hängt von einer Reihe von Faktoren ab: die beteiligten Individuen, die Art der Beziehung zwischen Besitzer und Bettelndem oder die Größe des vorhandenen Fleisches sowie der Hunger des Besitzers. Fleisch wird nicht nur durch Betteln erworben. Zuweilen wird ein Männchen, ohne zu zögern, die Beute dem Weibchen oder einem Jungen wegnehmen. Auch kann er sie durch beharrliches Betteln von einem Besitzer erhalten, der normalerweise in der Rangordnung unter ihm steht. Dies bedeutet nicht, daß er des anderen "Recht" auf das Fleisch anerkennt. Es weist eher darauf hin, daß das ranghöhere Männchen weiß, daß der andere eine solche Beute nicht leicht abtreten wird:

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Fleisch ist des Kampfes wert, und der Besitzer wird es wahrscheinlich fest an sich halten und sich darüberkauern. Außerdem konzentriert sich der Besitzer, der gewöhnlich unterwürfiges Verhalten gegenüber dem Bettelnden zeigt, auf das Fressen und gibt ihm vielleicht keine beschwichtigenden Zeichen, auf die der andere wartet: Dies könnte in dem Bettelnden Gefühle der Angst hervorrufen. Es ist interessant zu sehen, daß ein Schimpanse erkennt, ob ein Gegenstand ihm oder einem anderen gehört, auch wenn der Gegenstand räumlich von seinem "Besitzer" getrennt ist. Das zeigt sich sehr deutlich während des Termitenfressens (wenn die Schimpansen Grashalme in die Gänge der Termitennester schieben, um dann die sich daran anklammernden Insekten mit ihren Lippen aufzunehmen). Ein fressendes Tier muß von Zeit zu Zeit seinen Platz verlassen, um neue Werkzeuge zu holen. In dieser Zeit kann sich ein rangmäßig niedrigeres Tier dorthin begeben und seinen eigenen Halm in den vorübergehend freien Gang einschieben. Aber er wird dabei wiederholt nach dem "wirklichen" Besitzer sehen und sich schnellstens wieder wegbewegen, wenn der andere zurückkommt. Wenn ein Schimpanse dasitzt und Bananen frißt, die er gesammelt hat, wird er die Schalen wegwerfen. Ein rangmäßig Niedrigerer wird, sehr vorsichtig, seine Hand nach den Schalen ausstrecken und dabei aufmerksam das Gesicht des "Besitzers" verfolgen. Nur wenn er keine Zeichen von Drohung erkennt, wird er schließlich die Schalen nehmen. Ein Spielzeug, besonders ein wertvolles Spielzeug wie ein Stück Stoff, kann von einem Jungen, das gerade frißt, beiseite gelegt werden. Nach einer Weile wird ein anderes Junges zu dem begehrten Gegenstand kriechen, wird aber den Besitzer nicht aus den Augen lassen. In solchen Situationen ist sich der Besitzer voll bewußt, was vor sich geht, und er wird sofort losrennen, um das Spielzeug zurückzuholen, auch wenn es außer Blickweite ist. Eine Mutter, Passion, fraß einmal Treiberameisen. Sie wurde gebissen, ließ ihren langen, geschälten Stock fallen und zog sich zurück, um die beißenden Ameisen zu entfernen. Ihre erwachsene Tochter, Pom, warf einen Blick auf die Mutter, wechselte dann ihr eigenes Werkzeug aus, das kürzer war als das zur Erde gefallene. Sofort streckte Passion die Hand danach aus und berührte "ihren" Stock, Pom übergab ihn ihr und nahm wieder ihren eigenen. Im Jahre 1975 ergriff Passion, beobachtet von ihrer heranwachsenden Tochter Pom, das neugeborene Kind des Weibchens Gilka aus derselben Gruppe, tötete und fraß es. Sie teilte sich das Fleisch mit ihrer Familie. Im darauffolgenden Jahr brachte Gilka wieder ein Kind zur Welt. Passion und Pom, die wie ein Team arbeiteten, griffen Gilka an, ergriffen das Baby und fraßen es. Pom war es, die das Opfer tötete -

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sie biß es in die Stirn, wie es ihre Mutter ein Jahr zuvor getan hatte. Zwei Monate später wurden Passion und Pom beobachtet, wie sie gemeinsam ein anderes Weibchen, Melissa, angriffen. Nach einem hefti gen Kampf konnten Mutter und Tochter das neugeborene Kind ergre:fen, das sie dann auffraßen. Mitte 1977 bis Anfang 1978 wurden dreI weitere Tötungsversuche beobachtet, die aber fehlschlugen. Danach wurden keine weiteren Vorfälle dieser Art mehr beobachtet. Dieses Verhalten könnte man mehr als jedes andere in Gombe beobachtete Verhalten im menschlichen Sinne als kriminell betrachten. Wie war die Reaktion der anderen Mitglieder der Gemeinschaft? Wurde irgendeine Art Bestrafung für Passion und Pom beobachtet? Es ist wichtig festzustellen, daß alle beobachteten Angriffe von Mutter und Tochter stattfanden, als außer den Opfern und deren Familien keine Schimpansen anwesend waren. Inwieweit andere Mitglieder der Gemeinschaft etwas über die Tötungen wußten, ist nicht klar. Eine Mutter, Melissa, wurde mit ihrem gerade durch Biß in die Stirn getöteten Baby gefunden. Sie war mit einer Anzahl von Männchen zusammen, und wir vermuten, daß dieses Baby eines der Opfer von Passion war, daß aber das Erscheinen eines männlichen Schimpansen (alarmiert durch Melissas Schreie) Passion am Verzehr des Babies gehindert hatte. Wenn das so ist, kannten die Männchen wahrscheinlich Passions Verhalten. Gilka und Melissa, die beide mindestens je ein Kind an Passion und Pom verloren hatten, fürchteten sich, wenn sich die Mörderinnen ihren später geborenen Babies näherten. Wenn erwachsene Männchen in der Nähe waren, reagierten diese schnell auf die Schreie der bedrohten Mütter. Zweimal bedrohten sie die Mörderinnen, und einmal griffen sie Passion an. Fünf verschiedene Mütter waren von den beobachteten Morden und Mordversuchen betroffen. Zwei von ihnen (eine davon Melissa) schienen sehr schnell ihre anfängliche Furcht vor den Mörderinnen zu verlieren. Eine behielt über ein Jahr ihre Angst vor Passion, nachdem man ihr Kind zu töten versucht hatte, und eine andere, Gilka, fürchtete sich in den restlichen drei Jahren, die sie noch lebte, stets vor Passion. Das Verhalten der fünften Mutter, Miff, ist von besonderem Interesse. Ihre erste beobachtete Begegnung mit Passion fand statt, als ihr Kind eine Woche alt war. Miff schrie sofort laut auf und rannte von Passion weg, bis sie zwei erwachsenen Männchen begegnete. Dann schlugen ihre Schreie um in ein wildes Drohgeheul. Miff kehrte um und rannte zurück zu Passion. Die beiden Männchen folgten ihr, und als sie ankamen, bedrohten sie Passion und Pom, die flüchteten. Zu dieser Zeit war sich Miff der mörderischen Absichten von Passion deutlich bewußt. Drei Wochen später startete Passion einen neuen Versuch, Miffs Baby zu

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ergreifen. Pom, die hochträchtig war, half jedoch nicht, und Passion war durch ihr eigenes, vier Monate altes Kind behindert. Miff konnte ihr Baby während eines sehr heftigen Kampfes erfolgreich verteidigen. Drei Monate danach wurde eine weitere Begegnung zwischen Miff und Passion beobachtet. Miffs kleiner Sohn sah die Mörder zuerst: er gab Angstschreie von sich, und die ganze Familie rannte schreiend weg. Als sie auf ein erwachsenes Männchen stießen, kehrte Miff wieder um und führte ihn zu Passion: das Männchen bedrohte Passion, und sie zog sich mit ihrer Familie zurück. Die Angst, die Miff und ihre Familie vor Passion und Pom hatten, dauerte unvermindert die nächsten zwei Jahre an. Obwohl hieraus deutlich hervorgeht, daß erwachsene Männchen, wenn vorhanden, sofort auf Hilferufe von bedrohten Müttern reagieren, wurden dennoch nur mäßige Formen der Aggression als Antwort auf das Mordverhalten von Passion und Pom beobachtet. Einige der Betroffenen scheinen sogar schnell ihren Haß gegen die bösartigen Weibchen vergessen zu haben.

VI. Zusammenfassung In einer Schimpansengesellschaft besteht eine Ordnung - eine Ordnung, die ohne "Gesetze" oder formelles Recht im menschlichen Sinne aufrechterhalten wird. Weil viele Verhaltensmuster der Schimpansen einigen der unsrigen ähnlich sind, können wir Verhaltensregeln erkennen, die denen ähnlich sind, die zu Normen geführt haben, die "Recht und Ordnung" in der menschlichen Gesellschaft aufrechterhalten sollen. Ein besseres Verständnis der evolutionären Faktoren, die menschliches Sozialverhalten geformt haben, dürfte darüber Aufschluß geben, warum einige menschliche Gesetze weithin akzeptiert werden, während andere schwieriger durchsetzbar sind. Dies ist ein ergiebiges Feld für zukünftige Forschung. Diese kann aber nur sinnvoll ausgeführt werden, wenn dabei Juristen mit Forschern, die das Verhalten von Schimpansen beobachten, zusammenarbeiten.

DIE TÖTUNG VON ARTGENOSSEN BEI NICHTMENSCHLICHEN PRIMATEN Von J unichiro Itani

I. Einleitung Angust und Thomment, Poirier 2 , Hrdy 3 und Goodall' haben über Kindesrnord bei nichtmenschlichen Primaten aufgrund ihrer eigenen Beobachtungen berichtet. Die vorliegende Arbeit behandelt nicht nur den Kindesrnord, sondern auch weitere Formen der Tötung von Artgenossen vom evolutionären Standpunkt aus mit Bezug auf die Phylogenie und Sozialstruktur der Spezies, bei der solche Ereignisse beobachtet wurden. Die Tötung von Artgenossen ist in der menschlichen Gesellschaft eine alltägliche Erscheinung. Neuere Beobachtungen zeigen, daß sich diese Verhaltensweise aber auch bei nichtmenschlichen Primaten findet. Allerdings trifft dies nicht auf die gesamte Primatenordnung zu. Denn obwohl die Prosimier noch nicht vollständig untersucht worden sind, wurde von ihrem Verhalten in der Wildnis keine Tötung von Artgenossen berichtet. Auch bei den Ceboiden gibt es nur einen Bericht über Kindesmord unter Brüllaffen5 • Deshalb beschränkt sich dieses Phänomen praktisch nur auf Cercopithecine und Pongide. Es scheint, daß die Tötung von Artgenossen nur in phylogenetisch fortgeschrittenen Arten auftritt. Dies gibt Grund zur Annahme, daß dieses Phänomen mit entwickelteren Gehirnen und komplexeren Sozialstrukturen zusammenhängt.

1 W. Angust / D. Thommen: New data and a discussion of infant killing in old world monkeys and apes, Folia Primatol. 27 (1977), S. 198 - 229. t F. E. Poirie: Colobinae aggression: A review, in R. L. Holloway (ed.): Primate Aggression, Territory and Xenophobia, New York 1974, S. 123 - 157. a B. H. Hrdy: Infanticide among animals, in Ethology and Sociobiology 1 (1979), S. 13 - 40. , J. Goodall: Infant killing and cannibalism in free-living chimpanzees, in Folia Primatol. 28 (1977), S. 259 - 282. S N. ColIias / C. H. Southwick: A field study of population density and social organization in howling monkeys, in Proc. Amer. Philosoph. Soc. 96 (1952), S. 143 - 156.

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11. Faktoren bei der Tötung von Artgenossen 1. Gesellschaftliche Grundeinheit Alle Menschenaffen leben in Gesellschaftsgruppen beiderlei Geschlechts, mit Ausnahme des Orang-Utan. Vom Orang-Utan wurde keine Tötung von Artgenossen berichtet. Die Cercopithecine bilden matrilineare Gesellschaftsgruppen mit Ausnahme einer Gattung, die später erwähnt wird, während die Verbände der Pongide nicht matrilinear sind 6 • Bei den ersteren wechseln die Männchen zwischen den Gruppen, bei den letzteren beide Geschlechter oder wenigstens die Weibchen. Alle Gibbonarten bestehen aus Paar-Gruppen, von denen keine Tötung von Artgenossen berichtet wird. Wie man kürzlich feststellte, sind in der Gattung der Cercopithecine die Mentawai-Languren die einzigen, die auch als Paare in Gruppen leben7 • Auch hier wurde keine Tötung von Artgenossen beobachtet. Die Arten, deren Gesellschaft aus Paaren besteht, können von der Diskussion ausgeschlossen werden. Deshalb sind Gegenstand dieser Arbeit nur Gesellschaften von Cercopithecinen und Pongiden, die nicht aus Paaren zusammengesetzt sind. Es handelt sich hierbei um Gruppen von 10 bis 100 Tieren mit einem oder mehreren Männchen. An ihnen soll gezeigt werden, daß in den Gruppen oder zwischen einer Gruppe und einem Individuum, das nicht zur Gruppe gehört, viele soziale Veränderungen auftreten können, zu denen auch das Töten von Artgenossen gehört.

2. Intoleranz unter den Männchen Konflikte unter Männchen werden gewöhnlich dadurch vermieden daß zwischen den Individuen Distanz eingehalten und somit direkter Kontakt unterbunden wird. Ein anderes Mittel ist die Rangordnung unter den Männchen. Konflikte werden auch durch die Autorität von ranghöheren Individuen8 und durch interindividuelle Anerkennung der Rangordnung vermieden. Diese Mechanismen zur Vermeidung von Konflikten sind jedoch nicht vollkommen. Beispiele, die zum Zusammenbruch der Gruppe führten, sind nicht selten. Intoleranz unter den Männchen steht in Beziehung zur Rangordnung und dem Besitz von Weibchen. Alleinlebende männliche Orang-Utans bewahren größeren • J. Itani: Social structure of African great apes, in J. Repod. Fert., Suppl.

28 (1980), S. 33 - 41. 7 K. Watanabe: Variations in group composition and population density of the two sympatric Mentawaian leaf-monkeys, in Primates 22 (1981), S. 145 bis 160. 8 H. Kummer: Primate Societies: Group Techniques of Ecological Adaptation, Chicago 1971.

Die Tötung von Artgenossen bei nichtmenschlichen Primaten

145

Abstand untereinander9 und können in gewissem Sinne als Vagabunden betrachtet werden, die den Besitz auf ein Weibchen, der oft Konflikte verursacht, aufgegeben haben.

3. Männliches, der Paarung vorausgehendes Aggressionsverhalten Dieses Verhalten wird gewöhnlich in Gruppen mit mehreren Männchen wie bei den Makaken10 beobachtet. Es soll die sexuelle Beziehung zwischen einem bestimmten Männchen und einem bestimmten Weibchen herbeiführen. Das Aggressionsverhalten gegenüber dem Weibchen soll ihre sexuelle Bereitschaft hervorrufen und intensivieren. Fälle, bei denen vor der Werbung auftretendes Aggressionsverhalten zu Kindesrnord führte, werden häufig bei Cercopithecinen und Gorillas beobachtet. Obwohl man nicht weiß, ob das Töten absichtlich geschieht, so scheinen die Männchen doch zu wissen, daß der Verlust des Kindes physiologische Veränderungen bei den säugenden Weibchen zur Folge hat, die die sexuelle Bereitschaft wiederherstellen.

4. Tendenz zur Vermeidung von Inzest Je höher die Primatenart, desto weniger finden wir im allgemeinen Inzest. Obwohl die analytischen Daten für die meisten Arten noch nicht ausreichen, zeigt die Arbeit von Takahatel l deutlich diese Tendenz bei japanischen Affen an. Bei 54 Verwandten ersten und zweiten Grades in einer Gruppe japanischer Affen wurde überhaupt keine Paarung beobachtet. Die halbgeschlossene Struktur von Gruppen, die ein selektives überwechseln des Individuums zu anderen Gruppen erlauben, kann auch als Vermeidung von Inzest interpretiert werden; denn das überwechseln von Männchen oder Weibchen von ihrem Geburtsverband zu einem anderen verhindert das Auftreten von Inzest innerhalb der Gruppe. Wenn auf diese Weise Inzest innerhalb der Gruppen vermieden wird, könnte ein drittes Phänomen hinzukommen, nämlich die Eliminierung von Individuen, die durch Inzest auf die Welt kamen. In Gruppen mit einem Männchen besteht die Möglichkeit des VaterTochter-Inzests. Nicht alle, aber einige Kindesrnorde, die gewöhnlich in Gruppen mit einem Männchen beobachtet wurden, eliminierten unbestritten Individuen, die aus einem Vater-Tochter-Inzest geboren 8 J. MacKinnon: The behavior and ecology of wild orangutans, Pongo pygmaeus, in Anim. Behav. 22 (1974), S. 3 - 74. 10 J. Itani: Japanese monkeys in Takasakiyama, in K. Imanishi (ed.): Nihon Dobutsu-ki, Bd. 2, Tokyo 1954; C. H. Southwick / M. A. Beg / M. R. Siddiqi: Rhesus monkeys in North India, in I. DeVore (ed.): Primate Behavior, New York 1965. 11 Im Druck.

10 Recht und Ethik

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wurden. Ob oder wie die Tiere diesen Zusammenhang erkennen oder was ein solches Verhalten auslöst, ist jedoch unbekannt.

5. Populationsdichte Yoshiba12 , der Hanuman-Langure (Presbytis entellus) untersuchte, verglich ökologisch und soziologisch eine Population aus Gruppen mit einem Männchen in Südwestindien mit einer Population aus Gruppen mit mehreren Männchen13 in Nordindien. Der Hauptfaktor, der den Unterschied des Gruppenmusters bewirken sollte, war die Populationsdichte von 87 -136 Tieren/qkm im Südwesten gegenüber 2,7 Tieren/qkm im Norden. Kindesrnord wurde im Südwesten beobachtet. Rudran14, der zwei Unterarten von Presbytis senex in Ceylon untersuchte, berichtete, daß in der P. s. senex-Population mit einer Dichte von 215 Tieren/qkm häufiger das Männchen in den Gruppen von einem anderen verdrängt wurde und daß die Kindersterblichkeit hoch war. In der P. s. monticola-Population mit einer Dichte von 92,6 Tieren/qkm wurde das Männchen relativ weniger häufig verdrängt und auch die Kindersterblichkeit war geringer. Es ist unbestritten, daß eine hohe Populationsdichte die sozialen Beziehungen erschwert. Es scheint jedoch wahrscheinlicher, daß sie zur Intoleranz von Männchen und dadurch zur Gruppenstruktur mit einem Männchen führt, in der Kindesrnord unvermeidlich ist.

6. Entwicklungszyklus der Gruppen In einigen Arten wird der Entwicklungszyklus der Gruppen an der Größe und Zusammensetzung einer einzelnen Gruppe erkannt1 5 • Bei den Hanuman-Langur-Gruppen mit einem Männchen wird der Zeitraum, in dem ein Männchen von dem nächsten - vom Geburts- über das Wachstums- und Reifestadium gerechnet - verdrängt wird, auf drei Jahre geschätzt1 6 • Sugiyama17 schätzte den Zyklus der Gruppenverjüngung auf 4,5 bis 5 Jahre. Die Größe und Zusammensetzung einer 12 K. Yoshiba: Local and intertroop variability in ecology and social behavior of common Indian langurs, in P. C. Jay (ed.): Primates, Studies in Adaptation and Variability, New York 1968. 13 P. C. Jay: The common langur of North India, in I. DeVore (ed.): Primate Behavior, New York 1965. 14 R. Rudran: Adult male replacement in one-male troops of purple-faced langurs and its effect on population structure, Folia Primatol. 19 (1973),

S. 166 -192.

J. Itani (N. 6). S. B. Hrdy: Male-male competition and infanticide among the langurs of Abu, Folia Primatol. 22 (1974), S. 19 - 58. 11 Y. Sugiyama: On the social change of Hanuman langurs in their natural condition, Primates 6 (1965), S. 381 - 429. 1G

11

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Gruppe zeigt die Entwicklungsstufen dieser Art an und signalisiert an Männchen außerhalb der Gruppe, ob die Gruppe für die Verdrängung des Männchen bereit ist. Für Männchen außerhalb der Gruppe muß das Reifestadium die Verdrängung des Männchens bedeuten, die Kindesmord nach sich zieht.

7. Identität des Opfers Die Identität des Opfers ist von Fall zu Fall verschieden. Bei der Intoleranz unter den Männchen sind die Opfer Männchen, beim männlichen vor der Paarung auftretenden Aggressionsverhalten sind es Weibchen oder deren Kinder. Wenn Geschlecht und Alter ethologische Bedeutung haben, wie in diesen Fällen, können der Silberrücken des Gorillamännchens, die vergrößerten Geschlechtsteile der weiblichen Schimpansen und Makaken, die Muttergestalt mit einem Kind oder die Körperbehaarung von Neugeborenen auslösende Momente für das Töten sein. Nicht nur diese physischen Eigenschaften, sondern auch die Gruppenzugehörigkeit oder die persönliche Situation eines jeden Individuums müssen unterschieden werden und können auslösendes Moment sein, ebenso die unmittelbare Nähe. Außerdem können die Bekanntheit oder Unbekanntheit oder die persönliche Sympathie ausschlaggebende Faktoren sein. Ein bestimmtes Individuum könnte auch durch Idiosynkrasie zum Opfer werden. Charakter, Gesichtsausdruck, Verhalten und Stimmlaute müssen ebenfalls in Erwägung gezogen werden. Die Untersuchung von Persönlichkeit und Identität des Opfers sind ein wichtiges Thema bei der Analyse der Tötungsdaten. 8. Kannibalismus

Obwohl selten, kommt die Tötung von Artgenossen auch in Form von Kannibalismus vor. Es ist hier fraglich, ob der Schwerpunkt eines solchen Ereignisses im Töten oder im Fressen des Opfers liegt. In dem von Suzukps beobachteten Fall, wo das Opfer, ein Schimpansenkind, noch lebte, während eines seiner Beine gefressen wurde, scheint Kannibalismus im Vordergrund zu stehen. Es ist jedoch nicht leicht festzustellen, welches die Absicht war - zu töten oder zu fressen. Ich vertrete hier den Standpunkt, daß das Töten der erste und das Fressen der zweite Beweggrund war. Obwohl bis jetzt noch nicht genügend Daten für diese Annahme vorhanden sind, hängt das Auftreten von Kannibalismus stark mit den Ernährungsgewohnheiten der Gattung zusammen. Diese Ernährungsgewohnheiten unterteilen sich bei höheren Primaten in eine allgemeine Ernährung (unspezifisch und allesfressend) und in 18 A. Suzuki: Carnovority and cannibalism observed among forest-living chimpanzees, J. Anthrop. Soc. Nippon 79 (1971), S. 30 - 48.

10·

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eine spezielle Ernährung (aus bestimmtem Futter wie Blättern bestehendp9. Kannibalismus wurde bis jetzt von Rotschwanzaffen (Cercopithecus ascanius) und Schimpansen (Pan troglodytes) berichtet. Bei den Rotschwanzaffen trat Kannibalismus nach der Kindestötung als Folge einer Verdrängung des Männchens einer Gruppe mit einem Männchen auf. Mehr als zehn ähnliche Fälle von Kindesrnord nach der Verdrängung des Männchens wurden von drei Arten der Presbytis berichtet. In keinem Fall wurde jedoch Kannibalismus beobachtet. Hier ist wichtig, daß die Presbytis-Arten besondere Ernährungsgewohnheiten haben. Obwohl Kannibalismus als extremer Ausdruck einer allesumfassenden Ernährung angesehen werden kann, sollte auch die Möglichkeit eines besonderen Appetits in Betracht gezogen werden. Ferner wurden von Schimpansen und Gorillas zweifellos abweichende Fälle berichtet, die aber in die Kategorie individueller Pathologie eingereiht werden müssen.

111. Erscheinungsformen der Tötung von Artgenossen Bis heute wurde das Töten von Artgenossen bei 13 Gattungen in 9 Generationen wildlebender nichtmenschlicher Primaten beobachtet. Es ist bemerkenswert, daß bei all diesen Gattungen Kindesrnord vorkam. Deshalb ist es zweckmäßig, eine Einteilung in Fälle mit Kindesrnord und solche ohne Kindesrnord vorzunehmen.

1. Kindesmord über zehn Fälle spielten sich in den zwei Arten von Presbytis und zwei Fälle bei den Rotschwanzaffen nach Verdrängung des Männchens einer Gruppe mit einem Männchen ab. Sie sind alle identisch: das Männchen wurde durch ein Männchen von außerhalb verdrängt, das dann die Nachkommen, die von den Weibchen der Gruppe gesäugt wurden, umbrachte. Die Weibchen wurden brünstig, parrten sich mit dem neuen Männchen und brachten in etwa einem Jahr wieder Kinder zur Welt 20 • Bei P. cristata vertrieb nach einem Wechsel der Rangordnung in einer Gruppe mit mehreren Männchen der neue Anführer die anderen Männchen, um eine Gruppe mit einem Männchen zu bilden, wobei 19 J. Itani: Generalized diet and specialized diet On the food habit of animals and man, in Nippon Seikatsu Gakkai (ed.): Shoku no Seikatsu no Bunka, Tokyo 1979, S. 9 - 34. 20 Sugiyama (N. 17); S. M. Mohnot: Some aspects of social changes and infant-killing in the Hanuman langur in Western India, Mammalia 35 (1971), S. 175 - 198; M. B. Parthasarathy / H. Rahman: Infant killing and dominance assertion among the Hanuman langur, Abstract Book, 5th Congr. Int. Primatol. Soc., Nagoya 1974; Rudran (N. 14); Hrdy (N. 16); T. T. Strusaker: Infanticide and social organization in the redtail monkey in the Kibale Forest, Uganda, Z. Tierpsychol. 45 (1977), S. 75 - 84.

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es zum Kindesrnord kam21 • Die beiden Fälle bei den Rotschwanzaffen wurden von Kannibalismus begleitet22 • Die Erhaltung der matrilinearen Gruppe mit einem Männchen scheint ein Verdrängen von Männchen erforderlich zu machen, das von Kindesrnord begleitet wird. Diese Art von Kindesrnord steht offensichtlich mit der Zusammensetzung der Gruppe in Beziehung. Bei dieser Gruppenart ist die Verdrängung des Männchens das Resultat der Intoleranz unter den Männchen, und vor der Paarung auftretendes Aggressionsverhalten endet mit Kindesrnord. Hier eliminiert die soziale Veränderung Individuen, die als Folge von Inzest geboren wurden, und steht auch mit der örtlichen Populationsdichte und der Entwicklung der Gesellschaftsgruppe in Zusammenhang. Bei Colobus gereza23 und bei Theropithecus gelada24 scheint dieselbe Art von Kindesrnord vorzukommen. Gleiches wurde auch von Macaca sylvana 25 berichtet. Die Gruppe mit einem Männchen ist bei Papio hamadryas eine Infrastruktur von deren Grundgesellschaftsform. Wenn einmal eine Gruppe mit einem Männchen gebildet wurde, wird normalerweise das Männchen dieser Gruppe nicht verdrängt. Kummer26 entfernte in einem Versuch das Männchen und beobachtete, daß ein Männchen aus einer anderen Gruppe die Gruppe übernahm und daß anschließend Kindesrnord auftrat. Ähnliche Phänomene wurden von vielen Gruppen in Gefangenschaft berichtet27 • Man nimmt an, daß solche Veränderungen auch nach dem Tod eines Gruppenmännchens in der Wildnis auftreten. Bei den japanischen Affen, die aus Gruppen mit mehreren Männchen bestehen, wurde Kindesrnord in zwei Gruppen berichtet. In einem Fall näherte sich ein Einzelgänger der Shiga-A-Gruppe und griff von Juni bis November neun von elf der in diesem Jahr neugeborenen Kinder an. Zwei Kinder wurden getötet und drei verletzt2B • Die Angriffsserie ist außergewöhnlich, da sie außerhalb der Paarungszeit geschah. Dieser 21 E. Brotoisworo: The Lutung in Pananjung-Pangandaran Nature Reserve: Social adaptation to space, im Druck. 22 Strusacker (N. 20). 23 J. F. Oates: The social life of a black-and-white monkey, Z. Tierpsychol. 45 (1978), S. 1 - 60. 24 Nieuergelt, zit. in Angust / Thommen (N. 1). 25 F. D. Burton: The integration of biology and behavior in the socialization of Macaca sylvana of GibraItar, in F. E. Poirir (ed.): Primate Socialization, New York 1972, S. 29 - 62. 26 H. Kummer: Social Organization of Hamadryas Baboons, Chicago 1968. 27 Angust / Thommen (N. 1). 28 E. E. Tokida: Infanticide by "Kabo" in 1970, The Nihonzaru 2 (1976), S. 124 - 128.

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Einzelgänger gesellte sich im Dezember desselben Jahres zur Gruppe und beging keinen Kindesrnord mehr, bis er fünf Jahre später zur C-Gruppe zog. Der zweite Fall wurde in Hakone beobachtet. Eine Mutter und ihr Kind, die sich außerhalb ihrer Gruppe befanden, wurden von einem Einzelgänger angegriffen, der das Kind an sich riß und es auffraß29. In beiden Fällen ging es nicht um Intragruppenphänomene. Sie können also nicht als Intoleranz unter Männchen gewertet werden. Sie sind wahrscheinlich auf ein der Paarung vorhergehendes Aggressionsverhalten zurückzuführen, obwohl sie außerhalb der Paarungszeit auftraten. Verglichen mit anderen Gattungen war zur Beobachtung dieser Fälle eine extrem lange Beobachtungszeit erforderlich. Obwohl es schwierig ist, diese Fälle zu verallgemeinern, zeigen sie doch, daß es auch in Gesellschaften aus Gruppen mit mehreren Männchen zu Tötungen kommen kann, die den Tötungsfällen in Gesellschaften aus Gruppen mit einem Männchen ähnlich sind. FosseySO berichtete über Gorillas, daß innerhalb einer Beobachtungszeit von 13 Jahren 6 von 38 Kindern Opfer von Kindesrnord wurden. Diese Kindesrnorde traten bei der Verdrängung eines Männchens auf oder bei antagonistischen Zusammenstößen zweier Gruppen oder vor der Entführung eines Weibchens durch ein Männchen von außerhalb. Fossey nimmt an, daß diese Kindesrnorde zur übertragung der Gene notwendig sind, um einen gesunden Grad der Aufzucht aufrechtzuerhalten. Obwohl in der Sozialstruktur ein fundamentaler Unterschied zwischen den matrilinearen Gruppen mit einem Männchen bei den Cercopithecinen und der nichtmatrilinearen Gruppe der Gorillas besteht, ist es bemerkenswert, daß ihre gemeinsame Gruppenstruktur als Gruppe mit einem Männchen von Kindesrnord begleitet wird. Bei den Schimpansen haben sich die Fälle von Kindesrnord auf 12 erhöht. Zu dem ersten im Budongo Forest von Suzukis1 beobachteten Fall kamen 7 Fälle von Gombe 32 und 4 Fälle von Mahaless hinzu. 9 Fälle waren von Kannibalismus begleitet. Redaktion der Zeitschrift The Nihonzaru, 1974. D. Fossey: Development of the mountain gorilla, in D. A. Hamburg / E. R. MeCown (eds.): The Great Apes, California 1979, S. 139 - 192; ders.: The imperial mountain gorilla, National Geographie Magazine 1981, S. 501 - 523. 31 Suzuki (N. 18). S! J. D. Bygott: Cannibalism among wild chimpanzees, Nature 238 (1972), S. 410 - 411; Goodall (N. 4); Goodall u. a.: Intereommunity interaetions in the chimpanzee population of the Gombe National Park, in Hamburg / MeCown (eds.): The Great Apes, California 1979, S. 13 - 53. 33 T. Nishida u. a.: Predatory behavior among wild chimpanzees of the Mahale Mountains, Primates 20 (1979), S. 1 - 20; ders.: On inter-unit-group aggression and intragroup eannibalism among wild chimpanzees, Human !8 30

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Kawanaka 34 berichtete ausführlich über einen Fall von Kindesmord, den er beobachtet hatte, und verfolgte genau die persönliche Lebensgeschichte der Mutter des Opfers - eine wichtige Methode, solche Daten zu analysieren. Er verglich auch 12 Fälle von Kannibalismus. Alle Opfer waren im Kindesalter - d. h. in diesem Fall bis zu drei Jahre alt 35 • Unter ihnen waren die 4 Fälle aus Gombe, bei denen ein Weibchen Kinder tötete 36 , die eben geboren waren. Das Geschlecht der Opfer war in 7 Fällen männlich, in 3 Fällen weiblich und in 2 Fällen unbekannt. Läßt man die Fälle aus Gombe außer Betracht, waren es 5 männliche, 1 weibliches und 2 unbekannte Opfer, was darauf schließen läßt, daß besonders männliche Kinder getötet werden. Dies mag ein Grund für das ungleiche Verhältnis von Männchen zu Weibchen in der Schimpansengruppe sein (weniger Männchen). Die Zusammenhänge der Fälle sind mannigfaltig und schwierig zu kategorisieren. Mit Ausnahme der 4 Kannibalismus-Fälle in Gombe, die als Intragruppenphänomen betrachtet werden können, scheint es jedoch unbestritten, daß alle Fälle im Zusammenhang mit dem komplizierten Gruppenwechsel der Weibchen stehen. In den anderen drei Fällen von Gombe37 wurden die Kinder von fremden Weibchen getötet. Danach wurden diese Weibchen Mitglieder der Eroberergruppe. Alle vier Fälle von Mahale hatten ihren besonderen Kontext. Kawanake 38 führte aus, daß diese Fälle, bei denen der Zeitraum zwischen der Immigration des Weibchens und dem vorangegangenen Kindesrnord 2 bis 5 Jahre betrug, nicht als Intergruppenphänomen betrachtet werden können, wie Nishida et a1. 39 meinten. Die Kannibalismus-Fälle von Gombe unterscheiden sich von denen der Gorillas oder Cercopithecine, und es sollte darauf hingewiesen werden, daß in diesen Fällen immer nur dieselben Weibchen (Passion und ihre Tochter Pom) beteiligt waren. Von einer Gruppe Gorillas verschwand ein Kind. Knochensplitter wurden in den Exkrementen eines bestimmten Weibchens derselben Gruppe gefunden, was auf Ethology Newsletter 31 (1980), S. 21- 24; K. Norikoshi: Cannibalism of chimpanzees, Monkey 22 (1978), S. 6 - 13; Norikoshi / T. Kitahara: An anthropological study on cannibalism of wild chimpanzees, J. Anthrop. Soc. Nippon 78 (1979), S. 191; K. Kawanaka: Infantrieide and cannibalism in chimpanzees, Afr. Stud. Monogr. 1 (1981), S. 69 - 99. U Kawanaka (N. 33). 35 T. Nishida: The soeial group of wild chimpanzees in the Mahali Mountains, Primates 9 (1968), S. 167 - 224. 3e Fälle der Kategorie b) bei Goodall (N. 4). 37 Fälle der Kategorie a) bei Goodall ebd. 38 N.33. 3. Nishida (N. 33); Kawanaka (N. 33).

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Kannibalismus schließen läßt40 • Dieser indirekte Beweis von Kannibalismus und die Fälle von Passion waren wahrscheinlich ähnlicher Art, nämlich Kindesrnord zum Zwecke von Kannibalismus.

2. Tötung Erwachsener In der Regel vermeiden es Männchen, andere Männchen zu töten. Sogar bei den Makaken, die aus Gruppen mit mehreren Männchen bestehen, die sich innerhalb der Gruppe schwere Kämpfe liefern und Verletzungen zufügen können, kommt es selten zu Tötungen. Zwischen Männchen einer Gruppe und alleinstehenden Männchen kann die Aggression jedoch weitaus stärker sein, so daß Tötungen nicht ausgeschlossen sind 41 • Aggressionen zwischen Gruppen mit einem Männchen und reinen Männchengruppen von Presbytis sollen sehr heftig sein. Viele Forscher haben berichtet, daß die Männchen manchmal schwer verletzt sind. Rudran42 schloß daraus, daß der Tod eines jungen erwachsenen Männchens auf eine Kampfhandlung zwischen einer Gruppe mit einem Männchen und einer vorwiegend männlichen Gruppe zurückzuführen sei. Der Kampf kann als ein Ringen um die Position des Männchens einer Gruppe mit einem Männchen betrachtet werden. Unter Schimpansen endet die Intoleranz unter den Männchen verschiedener Gruppen manchmal tödlich. Der von Goodall et a1. 43 berichtete Fall, in dem drei Männchen der Kahama-Gruppe nacheinander von den Männchen der Kasakela-Gruppe getötet wurden, zeigt, daß die Männchen innerhalb einer Gruppe fest zusammenhalten und gegenüber den Männchen von anderen Gruppen, zu deren Verband sie nicht gehören, erbarmungslos sind. In der Schimpansenpopulation bei Mahale verschwanden sechs erwachsene und ein heranwachsendes Männchen von der K-Gruppe zwischen 1969 und 1979. Da ein Wechsel der Männchen in andere Gruppen weder von Gombe noch von Mahale berichtet wurde, können sie möglicherweise von den Männchen der M-Gruppe getötet worden sein44 • Zwischen den Nachbargruppen besteht eine Rangordnung45. Wenn das Gleichgewicht der Rangordnung ins Schwanken gerät, nehmen die Zusammenstöße zwischen den Gruppen zu. Die Fälle von Gombe und Mahale stimmen hierin überein. Seit 1979 lebt nur noch Fossey (N. 30), 1981. " Itani (N. 10).

40 42

N.14.

Goodall u. a. (N. 32). Nishida (33), 1980; Itani (6). 45 Nishida / Kawanaka: Inter-unit-group relationship among wild chimpanzees of the MahaIi Mountains, Kyoto Univ. Afr. Stud. 7 (1972), S. 131 - 169; Nishida (N. 33), 1980. 4S

44

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ein altes Männchen in der K-Gruppe, aber die Gruppe hat sich noch nicht aufgelöst. Diese Zusammenstöße unterscheiden sich von denen, wo wie bei Presbytis um die Position des Männchens in der Gruppe mit einem Männchen gekämpft wird. Vielleicht sind diese Tötungen unvermeidlich, verwurzelt in der Sozialstruktur; es sind Phänomene, die sehr schwer zu interpretieren sind. Wenn eine Schimpansengruppe durch den Austausch von Weibchen mit Nachbargruppen aufrechterhalten wird, kann die Tötung zum Untergang einer Nachbargruppe führen, die die Quelle neuer Weibchen ist. Oder greifen sie an, um eine geschwächte Gruppe zu eliminieren, die ihnen sowieso nicht als ergiebige Quelle für Weibchen dienen kann? Goodall et a1. 46 berichteten, daß die Männchen der KasakelaGruppe den Grenzbereich zur Kahama-Gruppe durchstreiften. Auch bei Mahale wurde ein ähnliches Verhalten beobachtet. Obwohl die Zusammenstöße von M- und K-Gruppen, die Nishida und ich beobachteten, nicht tödlich verliefen, hatten sie doch die Atmosphäre eines Kriegsgeplänkels. Ihr Verhalten war nahezu strategisch. In ihrer eigenartig abwartenden Haltung sahen die Tiere aus, als ob sie auf die günstigste Gelegenheit warteten, um mit der anderen Gruppe zu sammenzustoßen47 • Die Tötung von Gorillamännchen ist nicht direkt beobachtet worden, aber bei ihnen müssen dennoch ähnliche Zusammenstöße vorkommen, die zur Tötung führen können48 • Zusammenstöße mit Tötungsabsicht zwischen einer Gruppe und einem Individuum oder einer Gruppe und einer anderen Gruppe sind jedoch bei Schimpansen ungewöhnlich. Daß ein erwachsenes Männchen ein erwachsenes Weibchen tötete, wurde aus Gombe zweimal von Schimpansen und einmal von Gorillas berichtet. Solche Fälle sind selten. Bei dem vor der Paarung auftretenden Aggressionsverhalten werden oft nicht die Weibchen, sondern die Kinder die Opfer. In einem der Schimpansenfälle beobachtete man, wie die Männchen der Kahama-Gruppe um die Leiche eines sehr alten Weibchens standen, und man folgerte daraus, daß auch sie ein Opfer der Aggression unter Schimpansen wurde 49 • Dieses Weibchen war wahrscheinlich eine Fremde, und ihr Tod kann nicht im Zusammenhang mit einer Intragruppenaktion gesehen werden. Da das Opfer sehr alt war, kann der Tod auch nicht auf vor der Paarung auftretendes AggressionsGoodall u. a. (N. 32). J. Itani: Evolution of primate social structure, J. Human Evol. 6 (1977), S. 235 - 243; ders.: Savannah Woodland of Champanzees, Tokyo 1977. 48 W. Baumgartel: Up among Mountain Gorilla, New York 1976. 4. Wrangham, zit. bei Goodall u. a. (N. 32). 48 47

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verhalten zurückgeführt werden. In einem anderen Fall griffen die Männchen der Kasakela-Gruppe ein Weibchen der Kahama-Gruppe an. Es starb vier Tage späterso. Dies war eine Intergruppenaktion. Der Gorillafall war eine Intragruppenaktion, der ein hinterhältiger Balanceakt zwischen dem älteren, weißrückigen Männchen und seinem erwachsenen Sohn zugrunde lag. Der Sohn tötete ein altes Weibchen, das für eine lange Zeit die Partnerin seines Vaters gewesen warS1 • Keiner dieser Fälle, in denen Erwachsene die Opfer waren, wurde von Kannibalismus begleitet. Kannibalismus unter nichtmenschlichen Primaten beschränkt sich auf das Fressen von Kindern.

IV. Diskussion Aus Vorstehendem wurde deutlich, daß es nicht leicht ist, eine Theorie aufzustellen, die die Tötung von Artgenossen unter den Primaten erklärt. Viele Forscher haben versucht, diesen Sachverhalt mit der geschlechtlichen Auslese oder mit egoistischen Verhaltensstrategien zur Steigerung des individuellen Fortpflanzungserfolges zu erklärens2 . Es ist jedoch schwierig, damit das Töten eines Weibchens durch ein Männchen oder die Tötung innerhalb derselben Gruppe zu erklären53 • Bei Kindesrnord, der nach Verdrängung eines Männchens stattfand wie bei den Presbytis, wird das Männchen, das nach dem Sieg die Führung übernimmt, in 3 bis 4 Jahren seinerseits verdrängt. Der neue Anführer wird einige Kinder, die sein Vorgänger gezeugt hatte, töten. Wie erklärt man sich diesen gleichbleibenden Fortpflanzungsmechanismus? Die bisherigen Theorien bieten nur eine unzureichende Erklärung, wenn nicht die Gewinner auch die Gewinner bleiben und der Sieger bei der Fortpflanzung Gewinne erzielt. Bei einigen Fällen reichen die Daten nicht aus, und wir müssen für eine detaillierte Analyse auf weitere Berichte warten, die die persönliche Lebensgeschichte der beteiligten Individuen enthalten. Wenn man nur den Fällen als solchen Beachtung schenkt und das Wesen der einzelnen Gruppe außer acht läßt, ist das bedauerlich. Der Schlüssel für die Erklärung liegt nicht in den dramatischen Ereignissen, sondern im "normalen" Gruppenleben. Die Lösung des Problems kann nur in der Erforschung der unter II geschilderten Faktoren gefunden werden. Goodall u. a. ebd. Fossey (N. 30), 1981. 52 S. B. Hrdy (N. 16); B. H. Hrdy (N. 3); Angust / Thommen (N. 1); Strusaker (N. 20); Fossey (N. 30), 1981; Nishida: Aggressiveness of chimpanzees, Monkey 23 (1979), S. 24; ders. (N. 33). 53 Goodall (N. 4). 50 51

selten kein

Cercopithenice Erwachsenes Männchen Erwachsenes Weibchen kein kein

selten kein

Erwachsenes Weibchen

üblich kein

üblich selten

Kind

Cercopithecine

Cercopithecine

Pongide

Pan troglodytes Gorilla gorilla? Papio ursinus&G Presbytis senex

kein

Pongide

IntergruppenfälZe

Opfer

Erwachsenes Männchen kein

IntragruppenfälZe

kein

Pan troglodytes

kein

Erwachsenes Weibchen Gorilla gorilla

Pan troglodytes Gorilla gorilla Cercopithecus ascanius Macaca fuscata Macaca sylvana? Papio hamadryas Papio ursinusu Presbytis entellus Presbytis senex Theropithecus gelada

Kind Pan troglodytes Gorilla gorilla Presbytis cristata

Tafel 2: Identität des Opfers und Gruppenkontext beim Töten von Artgenossen unter nichtmenschlichen Primaten

üblich kein

Erwachsenes Männchen

Opfer

Pongide Erwachsenes Männchen Erwachsenes Weibchen

Angreifer

Tafel 1: Angreifer und Opfer beim Tßten von Artgenossen unter nichtmenschlichen Primaten

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