Die Ethik der Johannes-Apokalypse im Vergleich mit der des 4. Esra: Ein Beitrag Zum Verhältnis Von Apokalyptik Und Ethik [Reprint 2013 ed.] 3110161524, 9783110161526

Die Reihe Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft (BZNW) ist eine der ältesten undrenommierteste

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Die Ethik der Johannes-Apokalypse im Vergleich mit der des 4. Esra: Ein Beitrag Zum Verhältnis Von Apokalyptik Und Ethik [Reprint 2013 ed.]
 3110161524, 9783110161526

Table of contents :
Zur Einführung
A. Grundsätzliches
1. Begriffsklärung: Ethik, Ethos, ethisch
2. Methodische Erwägungen
B. Die Ethik der Johannes-Apokalypse
1. Voraussetzungen der Ethik
2. Darstellung und Analyse der Ethik
3. Zusammenfassung
C. Die Ethik des 4. Esra
1. Voraussetzungen der Ethik
2. Darstellung und Analyse der Ethik
3. Zusammenfassung
D. Die Ethik der Johannes-Apokalypse und die des 4 Esr im Vergleich
E. Abschließende Bündelung der Erträge
Anhang
Abkürzungen
Literaturverzeichnis
1. Quellen
2. Hilfsmittel
3. Sekundärliteratur

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Jüigen Kerner Die Ethik der Johannes-Apokalypse im Vergleich mit der des 4. Esra

W G DE

Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentüche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche

Herausgegeben von Erich Gräßer

Band 94

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1998

Jürgen Kerner

Die Ethik der Johannes-Apokalypse im Vergleich mit der des 4. Esra Ein Beitrag zum Verhältnis von Apokalyptik und Ethik

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1998

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Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnabme [Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche / Beihefte] Beihefte zur Zeitschrift fur die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche. — Berlin ; New York : de Gruyter Früher Schriftenreihe Reihe Beihefte zu: Zeitschrift fur die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche Bd. 94. Kerner, Jürgen: Die Ethik der Johannes-Apokalypse im Vergleich mit der des 4. Esra. - 1998 Kerner, Jürgen: Die Ethik der Johannes-Apokalypse im Vergleich mit der des 4. Esra : ein Beitrag zum Verhältnis von Apokalyptik und Ethik / Jürgen Kerner. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1998 (Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche ; Bd. 94) Zugl.: Mainz, Univ., Diss., 1995/96 ISBN 3-11-016152-4

ISSN 0171-6441 © Copyright 1998 by Walter de Gruyter GmbH & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Vorwort Die vorliegende Studie ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 1 9 9 5 / 9 6 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz angenommen wurde. Den Anstoß zur intensiveren Beschäftigung mit der Johannes-Apokalypse gab mir Herr Professor Dr. Dr. Otto Böcher. Mein Interesse an der Theologie der antik-jüdischen und urchristlichen Apokalyptik wurde von Herrn Professor Dr. Egon Brandenburger und Herrn Dr. Albrecht Scriba angeregt. Herr Professor Dr. Dr. Otto Böcher hat als der Betreuer meiner Dissertation die Bearbeitung des Themas begleitet und gefördert. Herrn Dr. Albrecht Scriba und Herrn Professor Dr. Günter Mayer verdanke ich wertvolle Anregungen und Anfragen, die zu mancher wesentlichen Verbesserung der Arbeit führten. Dem Letztgenannten danke ich ferner für die gewissenhafte Erstellung des Zweitgutachtens. Herrn Dr. Stefan Beyerle (Bonn) danke ich für manchen fachlichen Rat, dem Land Rheinland-Pfalz für die Gewährung eines Graduiertenstipendiums. Herrn Professor Dr. Dr. h.c. Erich Gräßer danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe „Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft". Zugleich gilt mein Dank dem Verlag und noch einmal Herrn Dr. Albrecht Scriba für seine ausdauernde Hilfe bei der Herstellung der Druckvorlage. Frankfurt a.M., im März 1998

Jürgen Kerner

Inhaltsverzeichnis Zur Einführung

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A. Grundsätzliches

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1. Begriffsklärung: Ethik, Ethos, ethisch 2. Methodische Erwägungen 1. Die Textbasis 2. Besondere methodische Einsichten und Fragestellungen 3. Zur Gliederung und Struktur der folgenden exegetischen Untersuchung

B. Die Ethik der Johannes-Apokalypse 1. Voraussetzungen der Ethik 1. Historische Voraussetzung: Die zeitgeschichtliche Einordnung der Apokalypse a) Abfassungszeit b) Verfasser c) Empfänger 2. Theologische Voraussetzung: Was macht die JohannesApokalypse zur Apokalypse? 2. Darstellung und Analyse der Ethik 1. Untersuchung der ethischen Motive a) Ethische Motive, die unmittelbar mit der Verfolgungssituation zusammenhängen 1. 'ϊπομονή 2. Λόγος του θεου und μαρτυρία Ίησοβ 3. Νικάω b) Ethische Motive aus dem Bereich des Dekalogs 1. Zum ersten Gebot 2. Zum zweiten Gebot 3. Zum dritten Gebot 4. Zum vierten Gebot Anhang (am Ende der Gebote eins bis vier): kultische Motive in der Apokalypse a) Lobgesang, Jubel und ähnliches b) Beten, bitten c) Opfer d) Gottesdienst 5. Zum fünften Gebot

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Inhaltsverzeichnis 6. Zum sechsten Gebot 7. Zum siebten Gebot 8. Zum achten Gebot 9. Zum neunten Gebot 10. Zum zehnten Gebot c) Ethische Motive aus dem Bereich des Sozialen 1. Reichtum und Armut 2. Allgemeine Kritik an sozialen Verhältnissen im Imperium Romanum a) Die soziale Wirklichkeit zur Zeit der Apokalypse b) Die Kritik des Apokalyptikers c) Die soziale „Utopie" des Apokalyptikers 3. Spezielle sozialethische Topoi a) Sklaverei b) Hochwertung der Frau? c) Hochwertung der Schöpfung d) Ethische Motive aus dem Bereich des Politischen . . . . 1. Die Situation zur Zeit der Abfassung der Apokalypse 2. Die in Bälde erwartete Situation 3. Die Bewältigung der erwarteten Situation a) Das Stiften von Vertrauen b) Die konkreten ethischen Weisungen des Johannes e) Ethische Motive, die nicht in die bisherigen Bereiche integrierbar sind 1. Tapferkeit 2. Tröstung 3. Demut 2. Darstellung und Analyse der ethischen Vorstellungen im Kontext wesentlicher Theologumena der Apokalypse . . . a) Ethik und alttestamentliche, antik-jüdische Gesetzestradition 1. Bewahrt die Apokalypse den Bezug zur Tora? . . . . 2. Rituelle Anweisungen und Vorstellungen sind teilweise relevant 3. Moralische Ge- und Verbote des Alten Testaments sind voll umfänglich relevant b) Ethik und Christologie 1. Christus, der Geber der Ethik der Apokalypse . . . . 2. Christus, das Vorbild der Ethik der Apokalypse . . . 3. Christus, der Grund der Ethik der Apokalypse . . . . 4. Christus, der eigentliche „Überwinder"? c) Ethik und Eschatologie 1. Präsentische und futurische Eschatologie der Apokalypse 2. Präsentische Eschatologie und Ethik in der Apokalypse

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Inhaltsverzeichnis 3. Transzendent-futurische Eschatologie und Ethik in der Apokalypse 4. Immanent-futurische Eschatologie und Ethik in der Apokalypse 3. Komplexe theologische Aspekte im Sachzusammenhang der Ethik der Apokalypse a) Sünde, Sündenvergebung und Umkehr 1. Der philologische Befund zu Sünde(n) 2. Der philologische Befund zu Sündenvergebung . . . 3. Der metaphorische Befund zu Sünde und Sündenvergebung 4. Umkehr b) Die Bedeutung der „Werke" 1. Der lexikalische Befund 2. Die inhaltliche Füllung von τό £ργον/τά εργα a) Die inhaltliche Füllung im allgemeinen b) Die inhaltliche Füllung im besonderen α) Die „ersten Werke" (2,5) β) Die Liebe als das hervorragende Werk? . . . . γ) „Das Werk"?

3. Glaube und Werke 4. Das Gericht nach den Werken c) Heilsindikativ und -imperativ 1. Einführung und exegetische Analyse 2. Abgrenzung gegenüber den Thesen anderer Exegeten 3. Zusammenfassung Generalskizze der Ethik der Apokalypse

C. Die Ethik des 4. Esra 1. Voraussetzungen der Ethik 1. Historische Voraussetzung: Einleitendes zum 4 Esr und seine zeitgeschichtliche Einordnung a) 4 Esr als Pseudepigraph in der antik-jüdischen Esratradition b) Abgrenzung und Gliederung des 4 Esr c) Der Text 1. Die Übersetzungen 2. Näheres zur lateinischen Übersetzung d) Abfassungszeit e) Die historische Situation f) Verfasser g) Abfassungsort h) Empfänger 2. Theologische Voraussetzung: Die Grundproblematik des 4 Esr

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Inhaltsverzeichnis 2. Darstellung und Analyse der Ethik 1. Untersuchung der ethischen Motive a) Gesetzesgehorsam b) Ethische Motive aus dem Bereich des Dekalogs 1. Zum ersten Gebot 2. Zum zweiten Gebot 3. Zum dritten Gebot 4. Zum vierten Gebot Anhang (am Ende der Gebote eins bis vier): kultische Motive im 4 Esr a) Lobgesang, Jubel und ähnliches b) Klagen, trauern c) Beten, bitten d) Fasten e) Opfer 5. Zum fünften Gebot 6. Zum sechsten Gebot 7. Zum siebten Gebot 8. Zum achten Gebot 9. Zum neunten Gebot 10. Zum zehnten Gebot c) Ethische Motive aus dem Bereich des Sozialen d) Ethische Motive aus dem Bereich des Politischen . . . ., 1. Die Situation zur Zeit der Abfassung des 4 Esr . . . . Exkurs: Das Weltgeschehen als Kampf im 4 Esr . . . 2. Die in Bälde erwartete Situation 3. Die Bewältigung der erwarteten Situation a) Das Stiften von Vertrauen b) Die konkreten ethischen Weisungen des 4 Esr . . e) Ethische Motive, die nicht in die bisherigen Bereiche integrierbar sind 1. Tapferkeit 2. Tröstung 3. Demut 4. Fleiß 5. Ermahnen, lehren, ordnen / zur Ordnung weisen . . a) Ermahnen b) Lehren c) Ordnen / zur Ordnung weisen 2. Darstellung und Analyse der ethischen Vorstellungen im Kontext wesentlicher Theologumena des 4 Esr a) Ethik und Messianologie 1. Das rechte Verhalten als Bedingung für die Teilhabe am messianischen Zwischenreich 2. Der messianische Erlöser als vorwiegend richtendstrafende, aber auch segnende Gestalt b) Ethik und Eschatologie 1. Präsentische Eschatologie im 4 Esr 2. Präsentische Eschatologie und Ethik im 4 Esr

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Inhaltsverzeichnis 3. Transzendent-futurische Eschatologie und Ethik im 4 Esr 4. Immanent-futurische Eschatologie und Ethik im 4 Esr a) Allgemeines b) Immanente Straf- bzw. Lohnankündigungen an die Leser 3. Komplexe theologische Aspekte im Sachzusammenhang der Ethik des 4 Esr a) Sünde, Sündenvergebung und Umkehr 1. Sünde 2. Sündenvergebung 3. Umkehr b) Die Bedeutung der „Werke" 1. Der lexikalische Befund 2. Die inhaltliche Füllung von „Werke" 3. Glaube und Werke 4. Das Gericht nach den Werken c) Heilsindikativ und -imperativ 3. Zusammenfassung Generalskizze der Ethik des 4 Esr

D. Die Ethik der Johannes-Apokalypse und die des 4 Esr im Vergleich Auswertung dieses Vergleichs

E. Abschließende Bündelung der Erträge

XI

255 258 258 258 260 260 260 264 266 268 268 269 270 272 273 276 284

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Anhang Abkürzungen

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Literaturverzeichnis 1. Quellen 2. Hilfsmittel 3. Sekundärliteratur

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Zur Einführung Die folgende Untersuchung soll zu zwei Fragestellungen einen Beitrag leisten: zu dem Thema Apokalyptik und Ethik und zu der Frage, ob die Johannes-Apokalypse eine Apokalypse sei. Letzteres mag den unbefangenen Leser befremden; in der neutestamentlichen Wissenschaft gibt es jedoch wenig Konsens darüber, was eine Schrift zu einer „Apokalypse" macht. Es darf also nicht verwundern, daß es „umstritten ist, ob die .Apokalypse' des Johannes selbst der Literaturgattung zuzuordnen ist, der sie den Namen gab"1. Die Frage nach dem Zusammenhang von Apokalyptik und Ethik ist in der bisherigen Forschung weitgehend einseitig beantwortet worden, wie beispielsweise W. Zager in seiner forschungsgeschichtlich orientierten Arbeit zu „Begriff und Wertung der Apokalyptik in der neutestamentlichen Forschung" (1989) gezeigt hat. Er kommt zu dem folgenden Ergebnis: „Anders als im angelsächsischen Raum ist man von Seiten der deutschsprachigen Exegeten oft dazu geneigt, Ethik und Apokalyptik gegeneinander auszuspielen" 2 . Dafür einige Beispiele: H.-D. Wendland hebt die „ethische" Eschatologie Jesu von einer „bloß apokalyptischen Eschatologie" 3 ab. Eine vergleichbare Unterscheidung nimmt W.G. Kümmel im Zusammenhang von Mt 25,31 ff. vor: Die Verkündigung Jesu habe „ihren Sinn nicht in apokalyptischer Offenbarung"; vielmehr gehe es in diesem Text um „die Belehrung darüber, was dem Menschen angesichts des bevorstehenden Gerichts zu tun not tut" 4 . Auch in der exegetischen Literatur zu Mk 13 ist immer wieder zu lesen, die Orientierung des Textes sei paränetisch, nicht aber apokalyptisch 5 : Die darin enthaltenen Mahnungen zur Wachsamkeit bringen nach R. Pesch „die antiapokalypti1 2 3 4

5

Taeger, Veröffentlichungen 62. Zager, Begriff 256; Hervorhebungen des Originals weggelassen. Wendland, Eschatologie 106; vgl. Zager, ebd. Kümmel, Verheißung 88 (Hervorhebungen von mir); vgl. Zager, ebd. 252f. Vgl. Brandenburger, Mk 13 11.

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Zur Einführung

sehe Art der Naherwartung des Evangelisten vollends an den Tag"6; J. Lambrecht urteilt, daß dem Redaktor Markus „die Paränese ... wichtiger war als alle apokalyptische Unterweisung . In seiner Gesamtdarstellung der Apokalyptik8 vertritt W. Schmithals die Auffassung, „daß im apokalyptischen Schrifttum jede konkrete Einzelparänese" fehle 9 . Grund dafür sei der „Geschichtsverlust der Apokalyptik"10: Angesichts des Endes des alten Äons habe sich der Apokalyptiker gegen die geschichtliche Welt entschieden, in diesem Punkt dem Gnostiker gleich; deshalb kennten beide für die bestehende Welt auch keine Verantwortung11. So kann Schmithals formulieren: „Apokalyptiker wie Gnostiker kennen keine Ethik. Ethik setzt eine heile Welt voraus, die erhalten, oder eine heilbare, die erneuert werden soll"12. - In Apk 22,10f. sieht Schmithals einen Beleg für seine These: Den Apokalyptiker bewege die Frage, was jetzt konkret ethisch zu tun sei, offensichtlich nicht; selbst eine Interimsethik für den letzten Rest der Weltzeit fehle13. Die mit diesen Beispielen belegte, nicht selten geäußerte Auffassung, in der Apokalyptik gebe es keine Ethik, war für C. Münchow Anlaß, dieser Frage mit „Ethik und Eschatologie. Ein Beitrag zum Verständnis der frühjüdischen Apokalyptik" (1981) eine ausführliche Studie zu widmen14. Nach seiner Untersuchung verschiedener antik-jüdischer Apokalypsen auf das Verhältnis von Ethik und Eschatologie hin15 arbeitet Münchow die in diesen (und anderen apokalyptischen) Schriften nach6 7 8

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15

Pesch, Naherwartungen 196; vgl. Brandenburger, ebd. mit Anm. 5. Lambrecht, Redaktion 287; vgl. Brandenburger, ebd. Walter Schmithals, Die Apokalyptik. Einführung und Deutung, Göttingen 1973. Ebd. 35. Ebd. 36 u.ö. Ebd. 35.81 ff. Ebd. 82. Vgl. ebd. 36. Im ersten Kapitel („Problemstellung und methodische Erwägungen") macht Münchow auf das kontrovers diskutierte Thema Apokalyptik und Ethik aufmerksam (vgl. ebd. 11-13); in den Thesen A. Schweitzers zur Unvereinbarkeit von Gesetz und Eschatologie und in denen von M. Dibelius zur Unvereinbarkeit von Naherwartung und Paränese sieht er Ursachen für die gegenwärtige Bestreitung des Vorhandenseins von Ethik in der Apokalyptik (vgl. ebd. 13). Analysiert werden: äthHen, Jub, TestMos, 4 Esr, syrBar.

Zur Einführung

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weisbaren „Gesichtspunkte der materialen Ethik"16 heraus. Mit der dabei gewonnenen „Zusammenstellung dessen, was in den Apokalypsen als erstrebenswertes bzw. abzulehnendes Verhalten gilt"17, mahnt er ausdrücklich zur Vorsicht gegenüber dem oben skizzierten Urteil von Schmithals 18 . Auch E. Brandenburger berührt in seiner Einführung zu „Markus 13 und die Apokalyptik" (1984) das Thema Ethik und Apokalyptik und wendet sich im Blick auf die Apokalyptik im allgemeinen sowie auf den apokalyptischen Text Mk 13 im besonderen dagegen, Apokalyptik und Ethik gegeneinander auszuspielen 19 . So wird in seiner exegetischen Untersuchung die Ethik (bzw. Paränese) von Mk 13 immer wieder thematisiert 20 und als integraler Bestandteil apokalyptischer Theologie begriffen 21 . Somit liegen zwei Arbeiten vor, in denen das Verhältnis von Ethik und Apokalyptik zueinander eingehender untersucht wird 22 . Da sich aber Münchow ausschließlich mit antik-jüdischen Texten befaßt und die Arbeit Brandenburgers auf Mk 13 beschränkt bleibt und dabei das Thema Apokalyptik und Ethik nicht im Zentrum steht, ist der mit Abstand längste apokalyptische Text des Neuen Testaments, die Johannes-Apokalypse, noch nicht auf diesen Zusammenhang hin befragt worden. Damit ist eine wesentliche Aufgabe dieser Untersuchung benannt.

16 17 18 19 20 21

22

Ebd. 134-137. Ebd. 134. Vgl. ebd. Siehe auch ebd. 13. Vgl. Brandenburger, Mk 13 lOf. V.a. ebd. 16-20.76-79.88-91.125-145.151-161. So ist es beispielsweise von der Form der drei paränetischen Einschübe V.5b-6.9-13.21-23 her nicht möglich, in ihnen eine antiapokalyptische Tendenz des Evangelisten auszumachen; sie werden nämlich in V. 23 unter einem Gattungsmerkmal des apokalyptisch überformten Testaments zusammengefaßt (vgl. ebd. 151 ff.). Die „spezielle Art der hier vorliegenden eschatologischen Paränese" darf nicht „von der apokalyptisch-testamentarischen Basis, die sie stützt, abgetrennt, ja alternativ dagegen ausgespielt" werden (ebd. 153). Weitere Untersuchungen dazu wären wünschenswert. In der gegenwärtigen Forschung gibt es zwar durchaus Arbeiten zu ethischen Themen in der apokalyptischen Literatur, aber die grundsätzliche Fragestellung dieser Problemanzeige wird kaum thematisiert; so z.B. Lampe, Apokalyptiker und Gnilka, Apokalyptik.

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Zur Einführung

Die Notwendigkeit einer Analyse der Ethik des 4 Esr ergibt sich ebenfalls aus dem skizzierten allgemeinen Problem von Apokalyptik und Ethik sowie aus forschungsgeschichtlichem Grund. Es liegen zwar die Ausführungen Münchows vor, sie sind aber mit lediglich 20 Seiten nicht allzu umfangreich 23 . Eine gründliche Darstellung der Ethik des 4 Esr würde im Blick auf die Zuordnung von Apokalyptik und Ethik einen Erkenntnisfortschritt bringen und eine Lücke der Forschung füllen. Ein Vergleich beider Ethiken bietet sich ebenfalls mit dem Ziel des Erkenntnisfortschritts zum Thema Apokalyptik und Ethik an. Er liegt ferner auf Grund der gleichen Abfassungszeit, der in beiden Büchern ausgedrückten Befürchtung staatlicher Bedrängnisse gegen die angeschriebene Glaubensgemeinschaft und der allgemeinen Ähnlichkeiten beider Schriften (vgl. Luthers Vorrede auf die Johannes-Apokalypse 1522: „das ichs fast gleych bey myr achte dem Vierden buch Esras"24) sehr nahe. Außerdem formuliere ich hier als These, die durch die folgende Untersuchung erhärtet werden wird, daß der Vergleich beider Ethiken etwas zu dem Thema der Apokatyptizüät der Johannes-Apokalypse austrägt. Damit kommt die zweite oben genannte Fragestellung in den Blick. Für die Verneinung der in der neueren und neuesten Forschung umstrittenen Frage, ob die Johannes-Apokalypse eine Apokalypse sei, ließen sich unzählige Beispiele anführen. Hier werden pars pro toto nur drei kritische Stimmen zu Gehör gebracht. Nach H. Köster „paßt die Bezeichnung ,Apokalypse' auf dieses christliche Buch wenig"25. D. Georgi ist der Auffassung, die Johannes-Apokalypse wolle eine „Antiapokalypse"26 sein. M. Karrer, der die Johannes-Apokalypse als „Brief" oder „Rundbrief"27 bezeichnet, warnt explizit davor, sie als „Apokalypse im Zusammenhang der jüdisch-christlichen Apokalyptik"28 zu verstehen. Der Johannes-Apokalypse wird also häufig ihr Charakter als Apokalypse abgesprochen. In der Einleitung zu ihr werde 23

24 25 26 27 28

Vgl. Münchow, Ethik 76-95; die relative Kürze der Ausführungen zum 4 Esr ist durch die Vielzahl der bei Münchow untersuchten Apokalypsen bedingt. WA Dt. Bibel 7, 404. Ders., Einführung 684. Visionen 362. Vgl. ders., Joh-Offb 285.302f.304f. u.ö. Ebd. 304.

Zur Einführung

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ich vom Vergleichstext 4 Esr ausgehend zeigen, daß ihre Weltsicht und ihre theologische Grundkonzeption der Apokalyptik entsprechen. Um dies auch im Bereich der Ethik plausibel zu machen, folgt der Vergleich mit der Ethik des 4 Esr. Es wird sich wahrscheinlichmachen lassen, daß sich auch von der Ethik her die Johannes-Apokalypse als Apokalypse bezeichnen läßt.

Α. Grundsätzliches 1. Begriffsklärung: Ethik, Ethos, ethisch Obwohl im Neuen Testament durchaus ethische Argumentation und Begründung von Paränese bzw. Paraklese erfolgen können1, wird in keiner neutestamentlichen Schrift Ethik im Sinne einer methodisch überprüfbaren Sitten lehre entwickelt 2 ; dasselbe gilt für die Apokryphen und Pseudepigraphen zum Alten Testament, denen der 4 Esr zuzurechnen ist. Faßt man den Begriff „Ethik" jedoch weiter und definiert ihn - wie es für diese Arbeit hiermit geschieht - als „Bedenken des Handelns"3, kann man durchaus von neutestamentlicher Ethik und somit auch von der Ethik der Johannes-Apokalypse sprechen, ebenfalls von einer Ethik des 4 Esr. Dies gilt um so mehr, als sich die ethischen Aussagen der Johannes-Apokalypse und des 4 Esr als gründlich in die Theologie dieser Schriften eingebunden und von ihr getragen erweisen werden. Der Begriff „Ethos" wird in dieser Untersuchung im Sinne von „sittliche Einstellung"4 eines einzelnen oder einer Gemeinschaft verwendet, das Wort „ethisch" je nach Kontext als „zur Ethik / zum Ethos gehörig". Wie alle religiösen Texte des antiken Juden- und Christentums sind Johannes-Apokalypse und 4 Esr auf eine bestimmte Situation der Empfänger bezogen 5 , die für die Ethik dieser Schriften von entscheidender Bedeutung ist. Entsprechend 1

2

3 4 s

So zeigt beispielsweise Schnackenburg, Argumentationsmethoden 35f. im Zusammenhang der Barmherzigkeitsforderung Jesu Lk 6,36 und des Problems des Götzenopferfleisches 1 Kor 8 Formen ethischer Argumentation auf. Vgl. Schräge, Ethik 14. - Lohse, Ethik 9 weist darauf hin, daß das NT den Begriff der Ethik nicht kennt, „wohl aber die Aufgabe, über sittliche Lebensführung nachzudenken". Schräge, Ethik 14. Hauck/Schwinge, Fach- und Fremdwörterbuch 66. Vgl. Lohse, Ethik 10 zu den Schriften des Neuen Testaments; dasselbe gilt selbstverständlich auch für andere religiöse Texte des antiken Juden- und Christentums wie den 4 Esr.

Α. Grundsätzliches

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wird jeweils im Bereich der Voraussetzungen der Ethik eine zeitgeschichtliche Einordnung der Johannes-Apokalypse bzw. des 4 Esr vorgenommen.

2. Methodische Erwägungen 1. Die Textbasis Im Blick auf die Johannes-Apokalypse ist die Textbasis ein Problem. So beschränkt H.-D. Wendland die Darstellung ihrer Ethik auf den Text der Sendschreiben 6 , blendet also die Kap. 1 und 4-22 aus seiner Untersuchung weitgehend7 aus. Diese Vernachlässigung der außerhalb der Sendschreiben liegenden Partien, vor allem der des apokalyptischen Hauptteils 4,1-22,5, ist keine Seltenheit 8 . Möglicherweise sind Ethik und Paränese tatsächlich vorwiegend in den Sendschreiben zu finden. Es müssen aber auch diejenigen Textabschnitte untersucht werden, die zwar der Form nach nicht als paränetisch bezeichnet werden können, jedoch ebenso zur Klärung des Verständnisses der Ethik beitragen; deshalb muß der Text der JohannesApokalypse in seiner ganzen Breite der Analyse zugrunde liegen9. Dies ist um so mehr der Fall angesichts der Tatsache, daß sich Johannes in seinem ganzen Buch auf die Situation seiner Leser bezieht10 - und diese Situation wiederum für die Ethik von entscheidender Bedeutung ist (vgl. A.I.). Somit ist festzuhalten, daß Johannes-Apokalypse wie 4 Esr mit ihrem gesamten Text Grundlage dieser Untersuchung sind.

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Vgl. Wendland, Ethik 116-122, insbesondere die Überschrift über die gesamten Ausführungen zur Apk: „VII. Kapitel: Die Sendschreiben der Offenbarung des Johannes" (ebd. 116). Nur vereinzelt kommen Texte aus Apk 1; 4 - 2 2 zur Sprache, z.B. 20,4 im Zusammenhang des Chiliasmus; vgl. ebd. 121. Schräge und Schnackenburg bieten beispielsweise einen Abschnitt über die Ethik der Sendschreiben, berücksichtigen ansonsten aber hauptsächlich solche ethisch relevanten Texte, die für das Thema „Konflikt mit dem Staat" interessant sind. Vgl. Schräge, Ethik 330-347; Schnackenburg, Botschaft 2 257-270. Vgl. Münchow, Ethik 14f., der diese methodischen Einsichten zur Grundlage seiner Untersuchung macht.

8

Α. Grundsätzliches

2. Besondere methodische Einsichten und Fragestellungen Für die Untersuchungen zur Ethik der Johannes-Apokalypse und des 4 Esr sind im Rahmen der historisch-kritischen Arbeitsweise folgende methodische Einsichten und Fragestellungen von Bedeutung: a) Grundlegend ist eine bestimmte, zweiteilige, aus den Erkenntnissen R. Schnackenburgs und 0. Böchers gewonnene Methodik. Der erste Teil dieser basiert auf der Einsicht Schnackenburgs im Blick auf die Johannes-Apokalypse, daß Ethisches nicht nur in den visionären Texten zum Ausdruck kommen kann - etwa in der Form eines eingestreuten Lasterkatalogs oder Makarismus' sondern durch die Visionen und Bilder selbst11. Daraus leite ich folgenden methodischen Grundsatz ab: alles, was in Johannes-Apokalypse und 4 Esr in deren Visionen und sonstigen Texten an ethisch Positivem oder Negativem ausgesagt oder -gemalt wird, drückt deren ethische Empfehlungen oder Warnungen aus. Vor allem gibt das ethische Verhalten von positiv oder ideal dargestellten Personen und das in positiv oder ideal vorgestellten Situationen, Zuständen usw. vorfindliche ethisch relevante Material empfohlenes Verhalten wieder. Umgekehrt werden mit negativ dargestellten Personen, Situationen oder Zuständen - sofern sie im sachlichen Kontext von Ethischem erscheinen - Verhaltensweisen ausgedrückt, die es zu meiden gilt. In diesem Sinne sind „Positiv-Personen" etwa der Johannes der Apokalypse oder der Esra des 4 Esr, „Negativ-Personen" die Hure Babylon der Johannes-Apokalypse oder der Adler des 4 Esr. Der zweite Teil dieser Methodik basiert auf folgender Erkenntnis Böchers: „die Visionen von Apk 21f. beschreiben beides zugleich: eschatologische Zukunft und kirchliche Gegen10

11

Vgl. Karrer, Joh-Offb 282, der als ein Ergebnis des exegetischen Hauptteils seiner Arbeit festhält: „Es zeigte sich, daß die Apk durchgängig ... rezeptionsorientiert als impliziter Dialog des Apk-Autors mit seinen ins Auge gefaßten Adressaten gestaltet ist" (Hervorhebung von mir). So schreibt Schnackenburg, Botschaft 2 259: „Die sittliche Mahnrede ... durchdringt ... indirekt auch die Zukunftsvisionen durch die schroffe und abschreckende Zeichnung der im Taumel von Sünde und Lastern untergehenden Menschheit und der im maßlosen Machtrausch dem Gericht verfallenden Weltmächte" (Hervorhebung von mir).

2. Methodische Erwägungen

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wart"12. Von diesem Ineinander von futurischer Eschatologie und „präsentischer Ekklesiologie"13 in Apk 21f. ausgehend, leite ich folgenden zweiten, für den ganzen Text von JohannesApokalypse und 4 Esr gültigen methodischen Grundsatz ab: alles, was in Johannes-Apokalypse und 4 Esr über jenseitige Verhältnisse ausgesagt wird (und damit sind nicht nur futurisch-eschatologische, sondern auch in der Gegenwart des jeweiligen Verfassers jenseitig existente Dinge gemeint, in der Johannes-Apokalypse etwa der Lobgesang himmlischer Wesen [vgl. 4,8.11 u.ö.], im 4 Esr jenseitige Heilsgüter der Frommen [vgl. 8,52-541), kann in der Gegenwart der Adressaten je nach Sachzusammenhang ethische Relevanz haben14. b) Es ist zu ermitteln, wie in der Johannes-Apokalypse und im 4 Esr das Sünderverhalten dargestellt wird, und zu fragen, ob sich folgende von C. Münchow am 4 Esr gewonnene Erkenntnis auch an der Johannes-Apokalypse bewahrheitet: „Das Tun der Sünder ist die negative Entsprechung zum Tun der Gerechten. Ihr notwendiges Tun läßt sich aus dem abgelehnten ethischen Verhalten der Sünder erschließen"15. c) Der Gestaltungswille des jeweiligen Apokalyptikers im Blick auf das seiner Ethik zugrundeliegende „Material" ist zu erfragen: Wie und mit welchem Ziel verändert er traditionelle Formen (z.B. Lasterkataloge)? Auf welche Weise macht er der Paränese solche literarischen Gattungen dienstbar, die ihr dem Ursprung nach fremd sind16? d) Wie steht es um ethische Themen, die in anderen urchristlichen oder antik-jüdischen apokalyptischen Schriften zum Ausdruck kommen, in der Johannes-Apokalypse oder dem 4 Esr aber nicht? Welche Gründe lassen sich für solches Fehlen ausfindig machen17? 12 13 14

15 16 17

Böcher, Bürger 166. Ebd. 164 u.ö. So wird Apk 21,27; 22,15 zutreffend von Böcher, Mythos 168 folgendermaßen interpretiert: „die Zuweisung bestimmter Eigenschaften an die Gottesstadt, wie etwa ihre Freiheit von Unreinen, Zauberern und Lügnern ..., erhält paränetische Transparenz". Münchow, Ethik 92. Vgl. die entsprechende methodische Überlegung bei Münchow, Ethik 15 und seine diesbezüglichen Ergebnisse ebd. 118-121. Ferner wird die von Lampe im Zusammenhang der Ethik des Dan geäußerte Vermutung, unspektakuläre ethische Alltagshandlungen würden sich literarisch nicht niederschlagen, zu bedenken und im Zu-

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Α. Grundsätzliches

3. Zur Gliederung und Struktur der folgenden exegetischen Untersuchung In der gegenwärtigen exegetischen Literatur zur Ethik der Johannes-Apokalypse finden sich keine systematisch reflektierten Gliederungsprinzipien. Nicht selten folgt auf einleitende Betrachtungen die Darstellung der Ethik unter den beiden Überschriften „Die Sendschreiben" sowie „Der Konflikt mit dem Staat" 1 . Solche Gliederung, auf deren Begründung zudem in der Regel verzichtet wird, ist in dreifacher Hinsicht problematisch: Erstens werden die außerhalb der Sendschreiben liegenden 20 Kapitel der Johannes-Apokalypse zu wenig berücksichtigt (s.o.). Zweitens wechseln die Gliederungskategorien, denn zunächst wird anhand eines Textabschnitts gegliedert, dann aber nach einem Themenzusammenhang. Drittens erhält das Thema „Konflikt mit dem Staat" von vornherein ein erdrückendes Übergewicht über die anderen ethischen Themen, sei dies nun gerechtfertigt oder nicht. Angesichts dieser Aporien wird in der folgenden exegetischen Untersuchung zu Johannes-Apokalypse und 4 Esr ein einheitliches Gliederungsprinzip angewandt, das dem konsequenten Gang von der Textgrundlage zum theologischen „Überbau" entspricht: In einem ausführlichen, genau reflektierten Procedere (s.u.) werden zunächst die vorfindlichen ethischen Motive untersucht (B.2.1./C.2.1.), dann die ethischen Vorstellungen im Kontext wesentlicher Theologumena von Johannes-Apokalypse bzw. 4 Esr dargestellt und analysiert (B.2.2./C.2.2.); schließlich werden die damit zusammenhängenden, freilich auf höherer, systematischer Ebene gelegenen komplexen theologischen Aspekte im Sachzusammenhang der jeweiligen Ethik verhandelt (B.2.3./C.2.3.). Die an den Anfang gestellte textnahe Untersuchung B.2.1./ C.2.1. ist nach einem Dreischritt konzipiert, mit welchem Johannes-Apokalypse und 4 Esr folgendermaßen befragt werden: a) Was ist das dominante ethische Motiv? 1

So die Gliederung Schräges, vgl. ders., Ethik 330-347. Schnackenburg, Botschaft 2 wendet das gleiche Gliederungsprinzip an, fügt jedoch noch einen vierten Abschnitt hinzu, bei dem es sich um eine abschließende Betrachtung mit Reflexionen zur Gegenwartsrelevanz der Theologie der Apk handelt (vgl. ebd. 257-270).

3. Zur Gliederung und Struktur der Untersuchung

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b) Wie sieht die Ethik in ihrer großen Fläche aus? c) Welche ethischen Motive blieben nach dem Gang durch a) und b) unberücksichtigt? Dieses Schema steht denn auch hinter der Gliederung dieser Abschnitte: B./C.2.1.a) widmen sich dem dominanten ethischen Motiv der jeweiligen Apokalypse. B./C.2.1.b) bieten eine großflächige Betrachtung der jeweiligen Ethik, gegliedert nach dem Dekalog. B./C.2.1.c)-e) fragen nach den sonstigen ethischen Motiven, wobei der sozialen und politischen Ethik besondere Aufmerksamkeit zukommt. Die Stärke dieses Verfahrens ist die Mischung aus induktivem und deduktivem Vorgehen: An den Anfang B./C.2.1.a) wird das tatsächlich aus den Texten „herausragende" ethische Motiv gestellt, sodann B./C.2.1.b) anhand eines von außen an den Text angelegten Schemas, dem Dekalog, vorgegangen. Schließlich kommen B./C.2.1.c)-e) die Motive zur Sprache, die nicht durch dieses Schema erfaßt werden können und die nicht das dominante ethische Motiv des jeweiligen Textes darstellen. Ein an die Texte von Johannes-Apokalypse und 4 Esr angelegtes Schema - nämlich der Dekalog - findet sich somit nur in einem Teil der Abhandlungen von B./C.2.1.: Vorher und nachher werden die ethischen Motive dieser Texte ohne ein „Raster" herausgearbeitet. Wenn dadurch zwar nur weniger als ein Drittel der grundlegenden exegetischen Untersuchung von einem nicht textimmanenten Ordnungschema her strukturiert ist, so soll dessen Einsatz im folgenden dennoch reflektiert werden. Tatsächlich wird der Dekalog als Schema zur großflächigen Beschreibung ethischer Sachverhalte in christlichen und antik-jüdischen Texten des ersten Jahrhunderts n.Chr. verwendet. So zitieren alle drei Synoptikter in Mk 10,19 parr. verschiedene Dekaloggebote, die als Bezugsrahmen im Zusammenhang der Frage nach der sittlichen Vollkommenheit des „reichen Jünglings" fungieren. Noch konsequenter dient Philo der Dekalog als Ordnungsschema: In seiner ausführlichen Schrift SpecLeg wird der Dekalog als „Basis der Auslegung aller Gesetze überhaupt" 2 verwendet und dient zur Klassifizierung aller 613 Einzelgebote des Judentums 3 . Schließlich verwendet 2 3

Berger, Dekalog 404. Vgl. R.F. Collins, Commandments 386.

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Α. Grundsätzliches

sogar die Johannes-Apokalypse verschiedene Dekaloggebote in schematisierten Aufzählungen, ihren Lasterkatalogen nämlich (9,20f.; 21,8; 22,15). Der Dekalog findet im antiken Christen- und Judentum also durchaus als ein „Raster" Verwendung, das der Beschreibung ethischer Zusammenhänge dient. Ihn als Mittel zur Strukturierung bestimmter ethischer Motive von Johannes-Apokalypse und 4 Esr einzusetzen, ist deshalb legitim.

Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse 1. Voraussetzungen der Ethik 1. Historische Voraussetzung: Die zeitgeschichtliche Einordnung der Apokalypse a) Abfassungszeit Die meisten Exegeten rechnen damit, daß die Apokalypse am Ende der Regierungszeit Domitians, also ungefähr im Jahre 95 n. Chr., verfaßt wurde1. Gelegentlich werden sowohl ein früherer als auch ein späterer zeitlicher Ansatz erwogen. Für ersteres sind als Beispiele J. M. Ford und K. Berger zu nennen. Ford datiert die „Urapokalypse" Kap. 4-11 in die Zeit des Auftretens Johannes' des Täufers, den sie für den Verfasser dieses Textes hält, die Kap. 12-22, die sie als von einem Täuferschüler verfaßt ansieht, in die Zeit zwischen 60 und 70 n. Chr. und Kap. 1-3 als angebliches Werk eines christlichen Redaktors in die Zeit nach 60 n. Chr.2 - Berger sieht das sogenannte Vierkaiserjahr 68/69 als Abfassungszeit der ganzen Apokalypse an3. Doch sind gegen diese Auffassungen unter anderem die alten Argumente W. Boussets zu Felde zu führen, der gerade auch für den apokalyptischen Hauptteil des Buches gute Gründe für eine Datierung in die 90er Jahre des ersten Jahrhunderts nennt: Die Verarbeitung der Nerosage in Kap. 17 zeigt ein recht spätes Stadium ihrer Überlieferung, das auf die Zeit der Regierung Domitians hinweist4, und in 6,6 spielt der Ver-

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2 3

So z.B. Böcher in seinem Forschungsbericht: „An der Entstehung in den letzten Jahren Domitians, also etwa 95 n. Chr., sollte nicht mehr gezweifelt werden" (ders., Apk 41). Ausnahmslos datieren die deutschsprachigen Apk-Kommentatoren der letzten zehn Jahre ebenso, vgl. Giesen, Apk 10f.; U.B. Müller, Offb 40-42; Ritt, Offb 13; Roloff, Offb 16-20. Vgl. Rev. 50-56. Vgl. Theologiegeschichte 569-571.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

fasser der Apokalypse wahrscheinlich auf das Weinedikt Domitians des Jahres 92 n. Chr. an5. Aber auch im Blick auf die Sendschreiben legt sich eine Datierung in die Zeit des ausgehenden ersten Jahrhunderts nahe. So spricht 3,17 vom Reichtum der im Jahre 60 n. Chr. durch ein Erdbeben zerstörten Stadt Laodizea „in einer Weise, die den Wiederaufbau ohne fremde Hilfe bereits voraussetzt" 6 . Außerdem hat sich nach 2,8-11 die Gemeinde von Smyrna schon längere Zeit bewährt, die nach Pol 11,3 zur Zeit des Paulus noch gar nicht existierte 7 . Schließlich machen eine Vielzahl von Äußerungen der Kap. 2 und 3 zur theologiegeschichtlichen Situation eine späte Abfassungszeit sehr wahrscheinlich: Mit der Empfehlung des φαγεϊν είδωλόθυτα και πορνευσαι von 2,14.20 nehmen die als Gegner wahrgenommenen christlichen Libertinisten eine Position ein, die im Zusammenhang nachpaulinischer enthusiastischer Theologie gesehen werden kann8; außerdem wird die Vergangenheit aus der Sicht des Verfassers der Apokalypse als Zeit der πρώτη άγάπη idealisiert (2,4)9; ferner ist mit dem μνημόνευε ουν πώς εΐληφας και ηκουσας von 3,3 ein Traditionsgedanke ähnlich wie in den Pastoralbriefen ausgebildet10. - Jedoch ist im Blick auf die Datierung der Apokalypse eine Zeitgleichheit mit den Pastoralbriefen nicht wahrscheinlich, weshalb im folgenden die oben erwähnte Spätdatierung der Apokalypse zu diskutieren ist. H. Kraft datiert weite Teile der Apokalypse, mindestens aber die Kap. 13 und 17, auf die Zeit zwischen Juli 97 und Frühjahr 98", „was er aber nicht überzeugend begründen kann"12. Unter anderem ist seine Identifizierung der Zahl 666 mit Nerva

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Vgl. O f f b 134f. Ähnlich auch U.B. Müller, Offb 42: „Erst im letzten Jahrzehnt des 1. Jahrhunderts ist eine Entwicklung der N e r o s a g e denkbar, w i e sie Offb 13 und 17 kennen". Vgl. B o u s s e t , Offb 135. Frey, Erwägungen 412; ähnlich Kümmel, Einleitung 414. Vgl. Kümmel ebd.; ähnlich Frey, ebd. Vgl. U.B. Müller, T h e o l o g i e g e s c h i c h t e 25f. mit Anm. 33; siehe auch unten S. 21. Vgl. ebd. 16f. Vgl. ebd. 15f. - Weitere sehr gute Argumente für eine Datierung der Apokalypse in das ausgehende erste Jahrhunder bei Karrer, Joh-Offb 286-301.306f. mit Anm. 7 und 8. Vgl. Kraft, O f f b 10.93.221f. Taeger, Veröffentlichungen 58.

1. Die Voraussetzungen der Ethik

15

(vgl. Apk 13,18) alles andere als sicher, womit ein wichtiges Argument für seinen Zeitansatz hinfällig ist13. Weiterhin hält Kraft den Verfasser der Sendschreiben für den letzten Redaktor der Apokalypse und datiert, da die Sendschreiben eine ähnliche Gemeindesituation wie die Ignatianen wiederspiegelten, diese letzte Redaktion auf 98 - 114/15 (vielleicht 110) n. Chr.14 Aber auch dieser Beweisgang überzeugt nicht: Eine allzu starke Identifizierung der Gemeindeverhältnisse scheidet von vornherein aus, da nur drei der sieben in Apk 2f. genannten Gemeinden auch Empfänger von Briefen des Ignatius sind (nämlich: Ephesus, Smyrna, Philadelphia), und Kraft selbst hinsichtlich der Gemeinde von Smyrna unsicher ist15. Außerdem ist seine These problematisch, die Gemeinden der Sendschreiben hätten sich mit denselben Gegnern auseinanderzusetzen wie die des Ignatius16. Nicht nur, daß im Blick auf die Gegner der Ignatius-Briefe vieles unsicher ist17, die Argumentation Krafts steht und fällt mit seiner Interpretation des πορνευσαι Apk 2,14.20: Solange man es mit Kraft als Teil des Hendiadyoins φ α γ ε ΐ ν είδωλόθυτα και πορνευσαι versteht 18 und somit in den Sendschreiben - wie auch bei Ignatius - kei-

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Vgl. ebd. mit Anm.9 und ders., Apk 22, Anm.119. 151f. mit Anm. 138, sowie Böcher, Apk 87. Zur weiteren Kritik: Taeger, Veröffentlichungen 58 mit Anm. 9. Vgl. Kraft, Offb 49f.87-94, bes. 93f. Vgl. ebd. 92. Vgl. ebd. 87-93. Kraft teilt die Gegner in zwei Gruppen auf (vgl. ebd. 90f.), was angesichts der „kaum lösbaren Unklarheit über die Zahl der ... Häresien" (Karrer, Joh-Offb 292) problematisch ist: Handelt es sich um ein und dieselbe Gruppe, oder um zwei oder mehr verschiedene (zur Sache s. Schoedel, Ignatius 42f. [ebd. u. 44f.: Lit.])? Ist es angemessener, zunächst eine historische Festlegung in dieser Frage zu vermeiden „und mit (soziologisch nachweisbaren) unterschiedlichen Positionen zu rechnen" (Paulsen, Ign-Briefe 65)? - Ferner: Ist die These Meinholds zutreffend, daß den Gegnern der Ignatianen bei aller Verschiedenheit die ablehnende Haltung zum monarchischen Episkopat gemeinsam ist (vgl. ders, Schweigende Bischöfe 485)? Dann läge der Unterschied zu den Gegnern der von Joh angeschriebenen Gemeinden auf der Hand, spielt doch in der Kritik des Apokalyptikers das Thema des monarchischen Episkopats keine Rolle. Vgl. Kraft, Offb 65; siehe auch 69 und 74 („.Unzucht und Götzenopferessen' sind Synonyme"); πορνευσαι exegesiert Kraft also im übertragenen Sinne als Götzendienst.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

nen Vorwurf des Libertinismus ausmachen kann19, ist sein Schluß auf eine einheitliche Gegnerfront nachvollziehbar. Interpretiert man πορνευσαι jedoch als sexuelle Unzucht20, so ergibt sich (im Sinne Krafts) ein von den Ignatianen abweichendes Gegnerbild. Auch J.-W. Taeger erwägt, zum Teil unter Berufung auf Kraft, eine Datierung der Apokalypse nach 95 21 . An dem äußeren Zeugnis des Irenäus, die Apokalypse sei gegen Ende der Regierungszeit Domitians geschaut (Haer V 30,3), übt er vorsichtige Kritik 22 ; seines Erachtens konnte vielmehr die unter Trajan geübte Praxis (vgl. Plin[dJ]Ep X 96.97) „in Verbindung mit den Erinnerungen an die letzten Regierungsjahre Domitians Schlimmes für die Zukunft befürchten lassen" 23 . - Dem ist zu widersprechen: Selbst wer im Zeugnis des Irenäus keine Datierung der Apokalypse um 95 unmittelbar begründet sieht, kommt doch nicht umhin, die Aussage des Kirchenvaters wenigstens mittelbar als Bestätigung dieser Abfassungszeit zu werten 24 . Dies gilt umso mehr, wenn man wie Taeger kein einziges altkirchliches Zitat anführt oder diskutiert, das eine spätere Abfassungszeit der Apokalypse als ca. 95 nennt. - Daß der Apokalyptiker, wie Taeger meint, erst nach Jahren die Erinnerungen an das Ende der Regierungszeit Domitians benutzt haben soll, um seine Zukunftsbilder zu entwerfen 25 , erscheint konstruiert. Warum sollte er so weit zurückgegriffen haben, wo doch - wie Taeger selbst zu Recht annimmt - auch die unter Trajan geübte Praxis Schlimmes für die Zukunft befürchten ließ 26 ? Wahrscheinlicher ist, daß Johannes die nicht allzu weit zurückliegenden Ereignisse während der Spätzeit Domitians (insbesondere Erfahrungen mit dem von ihm forcierten Kaiserkult) literarisch verarbeitete - eine Interpretation, die vom überwältigenden inneren Zeugnis der Apokalypse her kaum ernstlich bestritten werden kann27.

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Vgl. ebd. 91.93. Genau diese Interpretation ist allerdings naheliegend, s.u. Anm. 61. Vgl. Taeger, Apk 2 0 - 2 2 . Vgl. ebd. 21 mit Anm. 117. Ebd. 22. So zu Recht Karrer, Joh-Offb 306f., der im Irenäus-Zitat keine (!) Angabe über die Abfassungszeit der Apk ausmachen kann. S.o. und Taeger, Apk 22. Vgl. ebd.

1. Die Voraussetzungen der Ethik

17

Somit sind dem Zeitansatz Taegers diejenigen Datierungen vorzuziehen, die das oben genannte Irenäus-Zitat und das Selbstzeugnis der Apokalypse angemessen würdigen und zum Ergebnis kommen: „Äußere wie innere Kriterien weisen übereinstimmend auf eine Entstehung des Werkes unter Domitian um die Mitte der 90er Jahre hin"28. b) Verfasser Aus Apk 1,9 geht hervor, daß Johannes, der Verfasser der Apokalypse29, auf der Sporadeninsel Patmos weilt30. Diese gebirgige, von Ephesus aus in einer Tagesreise erreichbare Insel31 dürfte der Abfassungsort der Apokalypse sein32. Daß Johannes den Grund seines Aufenthalts mit δια τον λόγον του θεου και την μαρτυρίαν Ίησου angibt, macht es sehr wahrscheinlich, daß er wegen seiner Verkündigungstätigkeit dorthin verbannt wurde33. Diese Interpretation wird durch die Par27

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Taeger selbst empfiehlt (ebd. 21) im Blick auf Apk 2,10.13 und Apk 13 eine Deutung „vor dem Hintergrund des unter Domitian intensivierten Kaiserkults". Karrer, Joh-Offb 306. Ganz ähnlich auch Strobel, Apk 187 und Böcher, Apk 41. Die Selbstbezeichnung des Verfassers als Joh ist orthonym, vgl. Kümmel, Einleitung 414f., Vielhauer, Geschichte 501 und neuerdings (mit guten Argumenten) Karrer, Joh-Offb 302f. mit Anm. 68. Er kann freilich nicht mit einem sonst bekannten Johannes identifiziert werden, auch nicht mit dem Verfasser des JohEv oder dem Zebedaiden Joh (vgl. Böcher, Apk 35, Kümmel, Einleitung 414-417 und Karrer, Joh-Offb 303 mit Anm. 69). Vgl. Roloff, Offb 39 und ders., Patmos 382. Vgl. Roloff, Offb 39. - Über die geographische Lage Patmos' und der sieben Gemeinden der Sendschreiben geben die Karten in Strobel, Apk 177 und Schüssler Fiorenza, Buch 7 Auskunft. Vgl. Roloff, Patmos 382; Vielhauer, Geschichte 502; Karrer, Joh-Offb 302. Da sich Joh des Vergangenheitstempus (έγενόμην) bedient, könnte er auf seinen Patmos-Aufenthalt zurückblicken und sich beim Niederschreiben der Apk dort vielleicht nicht mehr befinden (vgl. U.B. Müller, Offb 81); daher läßt sich eine Abfassung auf dem Festland Kleinasiens nicht ausschließen (vgl. Reicke, Patmos 1401). Vgl. Roloff, Offb 39; U.B. Müller, Offb 81. - Etwas vorsichtiger äußert sich Hemer, Letters 28: „The occassion of John's separation from his Asian churches must accordingly be regarded as uncertain, ... though judical condemnation to exile remains a very probable inference".

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

allelen 6,9; 20,4 bestätigt, die beide Male den Grund für eine Gewaltmaßnahme an Christen im Festhalten am Wort Gottes sehen 34 . Gegen die Christen gab es zur Zeit der Apokalypse zwar keine zentral gesteuerten staatlichen Maßnahmen35, aber das Christsein konnte - sogar abgesehen vom Kaiserkult - als Verbrechen angesehen und mit jeder Kategorie von Strafe (bis hin zur Todesstrafe) geahndet werden36. Zu dieser generellen Gefährdung der Christen trat diejenige durch den Kaiserkult unter Domitian hinzu: Selbst wenn dessen Christenfeindschaft nicht übertrieben werden darf37, wird man mit einem regional begrenzten Vorgehen gegen offene oder passive Gegner des Kaiserkults rechnen müssen38. Immerhin ließ sich Domitian den offiziellen Titel „Dominus ac deus noster" beilegen (SuetDom 13), und man errichtete in Ephesus zu seiner göttlichen Verehrung einen Tempel39 und damit „ein neues großes und die Christen provozierendes Zentrum"40 des Kaiserkults. - So ist es gut vorstellbar, daß Johannes wegen seiner dezidierten Stellungnahme gegen den Herrscherkult „als Stifter öffentlicher Unruhe durch die Behörden von Ephesus nach Patmos abgeschoben worden ist"41. 34 35 36

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Vgl. U.B. Müller, Offb 81. Vgl. Roloff, Offb 39. Vgl. K.M. Fischer, Urchristentum 165f.; Freudenberger, Christenverfolgungen 24f. - Mit Sicherheit war zumindest ein Teil des von Plin(dJ)Ep X 96 beschriebenen und von ihm auch schon angewandten (!) Verfahrens z.Z. der Apk in Kraft: Er fragt (ca. 112 n. Chr.) bei Trajan an, was mit jenen geschehen soll, die vor zwanzig Jahren dem Glauben abgeschworen haben. „Das setzt voraus, daß schon zur Zeit Domitians die Möglichkeit bestanden hat, sich durch ein Opfer vor dem Kaiserbild Straffreiheit zu sichern" (K.M. Fischer, ebd. 167). Deshalb mag Wengst, Pax Romana 149 Recht haben: „(D)as von Plinius angewandte Verfahren war schon bewährt und sicher bereits zur Zeit Domitians geübt". Vgl. Wickert, Kleinasien 253; Berger, Theologiegeschichte 570. Vgl. ebd. und Christ, Herrscherauffassung 19. - Im Falle des Antipas, der gem. Apk 2,13 als „treuer Zeuge" Christi sterben mußte, ist eine Hinrichtung wegen Verweigerung des Opfers vor der Kaiserstatue gut vorstellbar, s.u. S. 24 mit Anm. 93. Vgl. Miltner, Ephesos 39. Der dafür geleistete Aufwand „übertraf das bis dahin Übliche weit" (ebd.). Auch das Kultbild, das Bildnis des Kaisers, überragte mit seiner „fast genau vierfache(n) Lebensgröße" alles bisher Übliche und Gewohnte (ebd.). Christ, Herrscherauffassung 19.

1. Die Voraussetzungen der Ethik

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c) Empfänger Ist somit die historische Situation des Absenders der Apokalypse bestimmt, ist nun die der Empfänger näherhin zu analysieren. Es handelt sich um die christlichen Gemeinden in Ephesus, Smyrna, Pergamon, Thyatira, Sardes, Philadelphia und Laodizea (vgl. Apk 1,11 und die Sendschreiben Kap. 2f.), die Johannes offenbar gut kennt42; wahrscheinlich hat er bereits eine längere Zeit in ihnen allen oder in einigen von ihnen als Wanderprediger bzw. -prophet gewirkt43. Nach der in der Apokalypse genannten Abfolge bilden diese Orte einen Kreis, der von Ephesus ausgeht und wieder dorthin zurückführt 44 . Deshalb läßt sich der Übermittlungsvorgang der Apokalypse, der in 1,11 zum Ausdruck kommt, als der eines Rundschreibens bestimmen: Unter einer Vielzahl von Adressaten wird es jeweils weiter übermittelt und soll in seinem vollen originalen Umfang von jedem von ihnen rezipiert werden4S. Nach dieser Bestimmung des Übermittlungsvorganges wird im folgenden die Situation der sieben Gemeinden46 zur Zeit der Abfassung der Apokalypse skizzenhaft beleuchtet: Ephesus stellte zu jener Zeit im Blick auf Verkehr, Wirtschaft und Kultur das Zentrum47 und damit die faktische Hauptstadt der Provinz Asia dar, obwohl Pergamon die offizielle Residenz des römischen Statthalters war48. Der in die

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Roloff, Offb 39. Die Sendschreiben verraten eine genaue Kenntnis der einzelnen Gemeinden, vgl. Kümmel, Einleitung 415; Schnackenburg, Botschaft 2 263. Vgl. U.B. Müller, Theologiegeschichte 49; Schnackenburg, Botschaft 2 260. Vgl. Roloff, Offb 41; ähnlich Karrer, Joh-Offb 302. Zur Topographie s. Anm 31. Vgl. Karrer, ebd., der allerdings von einem Rundbrief spricht. Die Apk kann aber trotz ihrer unleugbaren brieflichen Elemente nicht als eigentlicher Brief betrachtet werden, s.u. B.1.2. Zu den Orten dieser christlichen Gemeinden s. neben der im folgenden genannten Literatur auch Bürchner, Ephesos 2773-2822; ders., Smyrna 727-765; Zschietzschmann, Pergamon 1235-1263; Keil, Thyateira 657-659; Bürchner, Sardeis 2475-2478; Keil, Philadelpheia 2091-2093; Rüge, Laodikeia 722-724. Vgl. Roloff, Offb 48. Vgl. U.B. Müller, Offb 100.109.

20

Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

archaische Zeit zurückreichende Bau des Artemistempels zählte zu den Weltwundern der Antike49. Außerdem wurde die Stadt früh zu einer der wichtigsten Hochburgen des Kaiserkults im Osten des römischen Reiches: Augustus hatte schon 29 v. Chr. den Ephesern gestattet, Julius Cäsar ein Heiligtum zu weihen50; von dem unter Domitian errichteten Tempel war bereits die Rede (s.o. S. 18 mit Anm. 39f.). - Führend war Ephesus auch im christlichen Kult: Dadurch, daß die Stadt das Zentrum der paulinischen Mission warsi - Paulus wirkte dort über zwei Jahre lang52 - , spielte die ephesinische Gemeinde von Anfang an eine führende Rolle im kleinasiatischen Christentum53. Die Bedeutung der Gemeinde zeigt sich weiterhin daran, daß das Schreiben eines Paulusschülers mit Ephesus in Verbindung gebracht wird (vgl. Eph 1,1)54; auch könnten die (deuteropaulinischen) Pastoralbriefe hier abgefaßt worden sein55. Ferner kommt die große Bedeutung der ephesinischen Christengemeinde dadurch zum Ausdruck, daß wie Johannes auch Ignatius sie an erster Stelle nennt56 und IgnEph der längste unter den Ignatianen ist57. Die Situation dieser Gemeinde zur Zeit der Apokalypse stellt sich nach Apk 2 folgendermaßen dar58: Die ephesinischen Christen hatten, anders als andere Gemeinden der Region59, eine bestimmte christlich-libertinistische Lehre abge-

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Vgl. Stockmeier, Ephesus 551. Vgl. Roloff, Offb 48. Vgl. Kraft, Offb 54. Vgl. Kümmel, Einleitung 219; Vielhauer, Geschichte 80. Vgl. Kraft, Offb 54. Vgl. U.B. Müller, Offb 100. Zur textkritischen Problematik von Eph 1,1 vgl. Metzger, Commentary 601. U.B. Müller, ebd., hält die Abfassung der Past in Ephesus für wahrscheinlich. Seiner Meinung nach „weisen die fiktiven Angaben (der Past) betont auf Ephesus (1 Tim 1,3; 2 Tim 1,18)" (ebd.). Vgl. Kraft, Offb 54. Vgl. J.A. Fischer, Väter 119. Im folgenden werden alle Aussagen von Apk 2 über die christlichen Irrlehrer zusammengenommen, da die Anhänger der „Lehre Bileams" und die Nikolaiten identisch waren, und „Isebel" mit ihnen wohl in engstem Zusammenhang stand (vgl. U.B. Müller, Offb 96-98; ähnlich Roloff, Offb 49). So etwa Pergamon und Thyatira, vgl. Apk 2,14f.20ff. (In Thyatira treten die Irrlehrer jedoch nicht als Nikolaiten, sondern als Anhänger der „Isebel" auf.)

1. Die Voraussetzungen der Ethik

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wehrt, die „Nikolaiten" 6 0 . D i e s e e m p f a h l e n φ α γ ε ΐ ν ε ί δ ω λ ό θ υ τ α κ α ι π ο ρ ν ε υ σ α ι 6 1 , a l s o V e r s t ö ß e g e g e n ähnliche Forder u n g e n w i e die d e s A p o s t e l d e k r e t s , die das Z u s a m m e n l e b e n von Juden- und H e i d e n c h r i s t e n in den Gemeinden e r m ö g l i c h e n s o l l t e n " . D i e s e s Miteinander j e d o c h ist Johannes s e h r wichtig 6 3 , w e s h a l b er g e g e n die Nikolaiten Front macht und die Abw e h r d i e s e r Gruppe durch die Gemeinde in E p h e s u s lobt (V. 2.6). - Vermutlich handelte e s s i c h bei den Nikolaiten um Vertreter einer r a t i o n a l - h e l l e n i s t i s c h e n Position, für die j e d e s Ritualgebot g r u n d s ä t z l i c h Z e i c h e n einer unvernünftigen und a b e r g l ä u b i s c h e n Einstellung war 6 4 . D i e s kann als Weiterführung einer A u f f a s s u n g v e r s t a n d e n w e r d e n , w i e s i e die „Starken" in Korinth v e r t r e t e n hatten 6 5 ; e s ist gut vorstellbar, daß die Nikolaiten (wie auch die anderen christlich-libertinistis c h e n Lehrer von von Apk 2) „nicht g a n z unabhängig von den N a c h w i r k u n g e n paulinischer Theologie" 6 6 w a r e n .

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Der Name „Nikolaiten" dürfte (in Anlehnung an den Bileam des AT, vgl. Apk 2,14: Βαλαάμ) bildlich gemeint sein, da Joh auch „Isebel" und andere Namen symbolisch gebraucht (vgl. H. Zimmermann, Christus 191; zu Isebel s.u. S. 25, Anm. 103). Außerdem werden die Irrlehrer des Jud, deren Lehre der der Nikolaiten von Apk 2 ähnelt, nicht als Nikolaiten bezeichnet, sondern - vergleichbar mit Apk 2,14 - mit Bileam in Verbindung gebracht (vgl. Jud 11); dies spricht dafür, in dem Namen „Nikolaiten" eine eigenständige Bildung des Apokalyptikers in Anlehnung an den Bileam des AT zu sehen. Vgl. 2,14 und 20. Bei φαγεΐν είδωλόθυτα handelt es sich ganz konkret um „den Genuß von den Göttern geweihtem Fleisch" (U.B. Müller, Offb 112), bei πορνευσαι in erster Linie um Formen „freizügigen Geschlechtsverkehrs" (ebd. 113, ähnlich 97), z.B. den Gang zu einer Prostituierten, in zweiter Linie um ein Bild für den Abfall von Gott (vgl. ebd. 113). Doch siehe dazu die Exegese in B.2.1.a), B.2.1.b) und B.2.2.a). Vgl. Böcher, Aposteldekret 333f.; U.B. Müller, Offb 97f. Anders gesagt: Eine Freigabe von Götzenopferfleisch-Essen und Unzucht könnte zu einer Gemeindespaltung führen. - Freilich steht noch anderes auf dem Spiel als das friedliche Miteinander von Heiden- und Judenchristen in den kleinasiatischen Gemeinden; dazu s.u. S. 23-26 die Ausführungen zu Pergamon und Thyatira. Vgl. Heiligenthal, Nikolaiten 137, der überzeugend darlegt, wie wenig zwingend es ist, die christlich-libertinistischen Lehrer von Apk 2 mit der Gnosis in Verbindung zu bringen (vgl. ebd. passim). Vgl. ebd. 137 und U.B. Müller, Theologiegeschichte 25f. U.B. Müller, Theologiegeschichte 26. Ähnlich auch Berger, Theologiegeschichte 538.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

Neben dem Lob für die Abweisung der christlich-libertinistischen Lehrer (V. 2.6) und für die Standhaftigkeit in Zeiten äußerer Bedrängnis von Seiten der Juden oder Heiden, unter der die ephesinische Gemeinde wegen ihres christlichen Bekenntnisses zu leiden hatte 67 (V. 3), erhält sie auch Tadel, denn sie hat die „erste Liebe" verlassen (V. 4f.)· Somit wird den Christen vorgeworfen, „nicht mehr in derselben Weise zu Gott und seinem Christus zu stehen, wie am Anfang" 68 ; damit geht das Nachlassen der Liebe der Gläubigen untereinander einher 69 . Das etwa 120 km nördlich von Ephesus gelegene 70 Smyrna, die nach Ephesus bedeutendste Ortschaft Kleinasiens 71 , war eine blühende Handelsstadt 72 . Gleichwohl war die dortige christliche Gemeinde in materieller Hinsicht arm (Apk 2,9)73. In VitPol 2 wird die Gründung der Gemeinde auf Paulus zurückgeführt, was aber unwahrscheinlich ist 74 . Ferner ist unklar, ob Polykarp zur Zeit der Abfassung der Apokalypse bereits eine verantwortliche Stellung in der Gemeinde innehatte; denn die Angabe MartPol 9,3, er habe vor seinem Märtyrertod dem Herrn 86 Jahre lang gedient, ist historisch unsicher 75 . Zur Geschichte der Gemeinde nach ca. 95 n. Chr. ist anzumerken, daß Ignatius sie in seinem Brief sehr lobt (vgl. IgnSm 1,1; 9,2 u.ö.), gleichzeitig aber vor doketischen Irrlehren warnt (vgl. IgnSm 2; 3,1-4,2 u.ö.); diese spielten zur Zeit des Johannes freilich noch keine Rolle 76 . 67

68 69 70 71 72 73 74 75 76

Das τό δνομά μου wird innerhalb der Sendschreiben ähnlich in V. 13 (Martyrium des Antipas, möglicherweise von staatlichen Behörden ausgegangen, s.u. S. 24 mit Anm. 93) und in 3,8 (Bedrängnis der Gemeinde in Philadelphia seitens der Juden, s.u. S. 27-29) verwendet. Es kann also nicht entschieden werden, ob die Christen in Ephesus von Heiden oder Juden bedrängt worden sind. Fest steht nur (wie Bousset, Offb 205 hervorhebt), daß die Pression in der Vergangenheit stattfand (έβάστασας). Giesen, Apk 40. Vgl. Giesen, Apk 40; Roloff, Offb 49. Vgl. Kraft, Offb 59. Vgl. J.A. Fischer, Väter 119. Vgl. Roloff, Offb 51. Vgl. Schulz, Ethik 552. Vgl. Kraft, Offb 59. Vgl. U.B. Müller, Offb 105. Dies ist richtig erkannt ebd. 106. - Damit ist noch ein weiteres Argument gegen die These Krafts von der Gleichheit der Gegner der

1. Die Voraussetzungen der Ethik

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Die Stadt besaß eine zahl- und einflußreiche Judenschaft 7 7 . Anders als die Christen am Ende des ersten Jahrhunderts besaßen die Juden bestimmte kultische Privilegien, wie beispielsweise die Erlaubnis zur Nichtteilnahme an der römischen Staatsreligion und den jeweiligen Lokalkulten 78 - und damit auch die Freiheit vom Kaiserkult 79 . Nach Apk 2,9 wird die christliche Gemeinde Smyrnas von der Judenschaft heftig bedrängt 80 . Wahrscheinlich versuchten die Juden, mit bestimmten Anschuldigungen die heidnische Bevölkerung und die Behörden gegen die Christen aufzubringen 81 ; dies wird durch den Bericht der Act (vgl. Act 13,45.50; 14,2 u.ö.) und durch spätere Zeugnisse bestätigt (vgl. JustDial 17,1; 96,2; MartPol 12f.)82. Pergamon, die ehemalige Hauptstadt des Attalidenreiches, war mit diesem 133 v. Chr. an Rom gekommen 83 . Zur Zeit der Apokalypse war Pergamon die offizielle Residenz des römischen Statthalters in der Provinz Asia 84 . Trotz der Konkurrenz von Ephesus konnte es seinen Rang und sein Ansehen erhalten, wofür seine Funktion als universales religiöses Zentrum maßgeblich war 85 . Auf einer Bergterrasse stand der monumentale Zeus-Altar aus der Zeit um 180 v. Chr. 86 , in unmittelbarer Nachbarschaft der Stadt das mächtige Heiligtum des Asklepios; es erlebte zu jener Zeit einen großen Aufschwung und zog Scharen von Heilung suchenden Kranken an 87 . Auch den Kaiserkult pflegte man in Pergamon reichlich, wurde doch schon 29 v. Chr. ein Heiligtum für den Divus Augustus und die Dea Roma errichtet 8 8 . Diese Stadt mit ihren imposanten Sakralbauten bildete den Lebensraum der Christen, aber auch die Provokation für ihr religiöses Empfinden 89 , weshalb Johan-

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82 83 84 85 86 87 88

Sendschreiben und derjenigen der Ignatianen gegeben, s.o. S. 15f. mit Anm. 17. Vgl. Kraft, Offb 59. Vgl. Freudenberger, Christenverfolgungen 24. Vgl. Schulz, Ethik 545. Vgl. Roloff, Offb 52. Diese Interpretation liegt von ή βλασφημία („Verleumdung") her nahe, vgl. U.B. Müller, Offb 107. Vgl. ebd. Vgl. Kraft, Offb 63. Vgl. U.B. Müller, Offb 109. Vgl. Roloff, Offb 53. Vgl. Woschitz, Erneuerung 197. Vgl. Roloff, Offb 53. Vgl. U.B. Müller, Offb 110; Roloff, Offb 54.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

nes mit „Thron des Satans" (Apk 2,13) vielleicht „Pergamon insgesamt als Hochburg heidnischer Religiosität" 90 meint. Wenn dem Neuen Testament auch keine Nachrichten über die Entstehung der Gemeinde in Pergamon zu entnehmen sind91, so gibt Apk 2 doch Auskunft über ihre Situation um 95 n. Chr.: Johannes lobt ihre Glaubenstreue, die sie in der Vergangenheit bei äußerer Anfeindung unter Beweis gestellt hatte (V. 13)92. Antipas, ein Mitglied der Gemeinde, erlitt dabei den Märtyrertod, und dies möglicherweise im Zusammenhang einer behördlichen Maßnahme zur Durchsetzung des Kaiserkults 93 . - V. 14f. kommt Johannes auf gemeindeinterne Probleme zu sprechen: Anders als in Ephesus, wo sie abgewiesen wurden (s.o. S. 17), gehören die Nikolaiten in Pergamon der Gemeinde an; darum wird die ganze Gemeinde zur Umkehr aufgefordert (V. 16)94. Diese ist aus verschiedenen Gründen auch dringend geboten: Erstens, weil eine Freigabe des φ α γειν είδωλόθυτα και πορνευσαι die Juden- und Heidenchristen der Gemeinde entzweien würde 95 , und zweitens, weil die Praktizierung des Götzenopferfleisch-Essens auf Verleugnung des christlichen Glaubens vor den staatlichen Behörden hinausliefe. Denn im Blick auf Plin(dJ)Ep X 96.97 ist davon auszugehen, daß auch zur Zeit der Apokalypse „Christen bei ihrer 89 90

91 92 93

94 95

Vgl. Woschitz, Erneuerung 198. Roloff, Offb 54; ähnlich Giesen, Apk 43. Dies ist freilich nicht sicher, und andere Deutungen - etwa auf den Zeus-Altar (vgl. Böcher, Israel 53) oder auf den Kaiserkult und seinen Tempel (vgl. Hemer, Letters 87; U.B. Müller, Offb 110) - bleiben denkbar. Vgl. U.B. Müller, Offb 110. Vgl. Roloff, Offb 54; U.B. Müller, Offb UOf. S.o. S. 18 mit Anm. 38. - Man kann an Antipas' Verweigerung des Opfers vor der Kaiserstatue denken; von den Aussagen des oben (Anm. 36) erwähnten Christenbriefs des Plinius her ist diese Deutung gut vorstellbar. Sie wird auch von Klauck, Sendschreiben 163 vertreten: Antipas „hatte eine Anzeige provoziert. Im Gerichtsverfahren verweigerte er das Opfer vor Götter- und Kaiserbild, er bekannte sich weiter zu Jesus als seinem Herrn, anstatt ihn, wie es Plinius forderte, zu verfluchen. Das kostete ihn das Leben". - Dagagen vermutet Rissi, Hure 53, daß Antipas „durch fanatische Anhänger des Asklepioskults" umgebracht worden sei. Reicht aber das bloße Vorhandensein des Asklepioskults in Pergamon aus, bei seinen Anhängern erstens Mordabsichten und zweitens den konkreten Mord an Antipas auszumachen? Vgl. Kraft, Offb 65. S.o. das zu Ephesus Gesagte (S. 19-22).

1. Die Voraussetzungen der Ethik

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Verhaftung zum Götzenopferfleischgenuß als Zeichen ihres Abfalls aufgefordert wurden" 96 . Mit seinem Verbot des φαγειυ είδωλόθυτα geht es Johannes also wesentlich darum, daß die Adressaten ihre christliche Identität wahren. Die Stadt Thyatira, in der vor allem Kaufleute und Handwerker lebten, lag an einer großen Straße, die von Pergamon über Sardes und Philadelphia nach Laodizea führte 97 . Besonders blühte in Thyatira das Textilhandwerk, wofür die von dort stammende Purpurhändlerin Lydia (Act 16,14) ein typisches Beispiel ist 98 . - Die Stadt war wegen der Zahl ihrer Gilden bekannt. Wollte man am gesellschaftlichen und ökonomischen Leben teilnehmen, so mußte man diesen oder anderen privaten Vereinen angehören. Die Gilden, Zünfte usw. pflegten Feiern zu veranstalten, die immer auch religiösen Charakter hatten und etwa bei einem Tempel, im Tempelrestaurant, stattfanden; bei solchen festlichen Mahlzeiten konnte auch Opferfleisch gespeist werden 99 . In Thyatira gab es zur Zeit der Apokalypse eine jüdische Bevölkerungsgruppe 100 , jedoch läßt das Sendschreiben Apk 2,18-29 nichts von Konflikten zwischen christlicher Gemeinde und Judenschaft erkennen 101 . Es ist vielmehr von innergemeindlichen Schwierigkeiten die Rede: Die Christen der späteren „Hauptstadt des Montanismus"102 werden von der Prophetin „Isebel"103 dazu angeleitet, πορνευσαι και φ α γ ε ί ν είδωλόθυτα, d.h. sexuell ausschweifend zu leben und besagtes 96

97 98 99 100

101 102 103

Schräge, Ethik 339, der dies jedoch nur als Möglichkeit nennt. - Zum Thema der gesellschaftlichen Ächtung derer, die das φ α γ ε ΐ ν είδωλόθυτα verweigerten, s.u. das zu Thyatira Gesagte. Vgl. Lohse, Offb 29. Vgl. Ritt, Offb 29. Vgl. U.B. Müller, Offb 116.118.98. Vgl. Roloff, Offb 56, der darauf hinweist, daß die Purpurhändlerin Lydia (Act 16,14) eine Proselytin war. Vgl. ebd. Kraft, Offb 68. Richtig bemerkt Hemer, Letters 128: „The identity of ,Jezebel' is unknown. We must presume she was an influential member of the church". Ihr Name dürfte symbolisch sein (vgl. U.B. Müller, Offb 118; zur symbolischen Bezeichnung „Nikolaiten" s.o. S. 21, Anm. 60); die Frau war wohl „über die Grenzen Thyatiras hinaus bekannt, so daß es genug war, von der ,Isebel' zu sprechen, ,die sich Prophetin nennt'" (Kraft, Offb 70). Das Prophetin-Sein wird ihr in V. 20 übrigens nicht abgesprochen, wohl aber der Inhalt ihrer Verkündigung als Irrlehre qualifiziert; vgl. Schräge, Ethik 339 und Roloff, Offb 57.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

Opferfleisch zu essen104 (V. 20). „Isebel" propagiert also dieselbe christlich-libertinistische Lehre wie die Nikolaiten in Ephesus und Pergamon, und sie hat in Thyatira Erfolg 10S . Würden die Christen das φ α γ ε ΐ ν είδωλόθυτα praktizieren, so könnten sie im öffentlichen Leben wirtschaftliche Nachteile und soziale Ächtung vermeiden 106 . Im Rahmen behördlicher Maßnahmen wäre es ihnen außerdem möglich, durch den Verzehr des bei der Verhaftung gereichten Götzenopferfleisches weiteren Pressionen zu entgehen 107 . Johannes lehnt eine solche Praxis, die auf die Verleugnung des christlichen Glaubens hinausliefe und überdies Konflikte zwischen Heiden- und Judenchristen in der Gemeinde heraufbeschwören würde 108 , ab und droht Gericht über die Anhänger der „Isebel" an (V. 22. 23a)109. Sardes galt in römischer Zeit als Stadt mit großer Vergangenheit; ihre „history and legend had become proverbial" 110 , war sie doch einst die Hauptstadt des reichen Lyderkönigs Krösus 111 . Sie hatte durch das Erdbeben von 17 n. Chr. schwer gelitten, war unter Tiberius aber wieder aufgebaut worden 112 . Sardes war als Handelsplatz für Wollwaren bekannt; vielleicht stehen die weißen Gewänder Apk 3,4f. damit in Zusammenhang113. Über die Entstehung der christlichen Gemeinde in Sardes wissen wir nichts114. In den Augen des Johannes befindet sie sich in einem äußerst bedenklichen Zustand, wie aus dem Sendschreiben Apk 3,1-6 klar ersichtlich ist: Nach außen hin 104

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Mit είδωλόθυτα ist im Sendschreiben an die Gemeinde in Thyatira zunächst einmal dieses, bei den oben erwähnten Zusammenkünften gereichte Fleisch o.a. gemeint, vgl. U.B. Müller, Offb 118.98. - Zu πορνεΰσαι s.o. Anm. 61. Joh beanstandet, daß „Isebel" geduldet wird (V. 20). Die Gemeinde scheint der Bewegung recht unkritisch Raum gegeben zu haben (vgl. Roloff, Offb 57), jedenfalls sind die Anhänger der „Isebel" aus ihr noch nicht ausgeschieden (vgl. Kraft, Offb 69). Vgl. Ritt, Offb 30. S.o. das zu Pergamon Gesagte (S. 23-25). S.o. das zu Ephesus Gesagte (S. 19-22). Vgl. U.B. Müller, Offb 119. Hemer, Letters 150. Vgl. U.B. Müller, Offb 122; Lohse, Offb 31. Vgl. Kraft, Offb 74. Vgl. U.B. Müller, Offb 122f.; Kraft, Offb 74f. Vgl. Roloff, Offb 59.

1. Die Voraussetzungen der Ethik

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steht sie in dem Ruf, lebendig zu sein, in Wirklichkeit aber ist sie „tot" (V. l) n s . Scharf getadelt wird, daß sich das erforderliche Maß an Werken vor Gottes Richtstuhl als nicht erfüllt erweist (V. 2)116. Von V. 4 her wird deutlich, was damit gemeint ist117: die Getadelten, der bei weitem größte Teil der Gemeinde118, έμόλυναν τά Ιμάτια αυτών. Diese Menschen ließen es also an Werken fehlen, die dem Heilsstand in Christus entsprechen; so befleckten sie ihr Gewand, das ein Bild der durch Christus empfangenen Reinheit und Heiligkeit ist119. Konkret wird Johannes hierbei vor allem sexuelle Freizügigkeit und Ausschweifungen im Blick haben, denn die Formulierung erinnert an 14,4 und Jud 23120. - Die Gemeinde wird eindringlich aufgefordert, Buße zu tun; ist sie dazu nicht bereit, droht Gericht (V 2f.)121. Umgekehrt wird den wenigen, die sich von den Abtrünnigen nicht haben mitreißen lassen, Heil angekündigt (V 4)122. Die kleine Stadt Philadelphia, ungefähr 40 km südöstlich von Sardes123 und in der Nähe eines vulkanischen Gebietes gelegen, wurde mehrfach durch Erdbeben (17 und 23 n. Chr.) sehr in Mitleidenschaft gezogen124. Sie besaß Kaisertempel zu Ehren des Tiberius, Caligula und Vespasian125. Über das Judentum Philadelphias ist weniger bekannt als über jenes aus Smyrna, Ephesus oder Sardes; immerhin wird das Vorhandensein einer Synagoge durch eine Inschrift aus dem dritten Jahrhundert n. Chr. angezeigt126. Es ist nicht bekannt, wann die Christengemeinde gegründet wurde127. Ignatius lobt sie (Phld inscr.)128, warnt aber vor christlich-libertinistischen Lehrern 115

Vgl. Kraft, Offb 75f. Vgl. Lohse, Offb 32. Zum Thema „Werke" s.u. B.2.3.b). 117 Vgl. Ritt, Offb 32. lie N u r δλίγα ονόματα, „eine .mehrwertige Minderzahl' gegenüber der .minderwertigen Mehrzahl"' (Woschitz, Erneuerung 221), sind vom Tadel ausgenommen. 119 Vgl. Roloff, Offb 59f. 120 Vgl. U.B. Müller, Offb 123.125-127. 121 Vgl. Lohse, Offb 32; Ritt, Offb 31f. 122 Vgl. U.B. Müller, Offb 126. 123 Vgl. Kraft, Offb 78. 124 Vgl. Woschitz, Erneuerung 227. 125 Vgl. ebd. 126 Vgl. U.B. Müller, Offb 128. 127 Vgl. Kraft, Offb 78. 128 Vgl. Woschitz, Erneuerung 227. 116

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

mit judaisierenden Tendenzen 129 . Aus den montanistischen Streitigkeiten wissen wir von einer Prophetin namens Ammia130. Das Bild, das Apk 3,7-13 von der Gemeinde in Philadelphia zeichnet, ist ein überaus positives; sogar auf den sonst üblichen Umkehrruf wird verzichtet 131 . Die Christen haben sich in äußeren Anfeindungen bewährt, die wohl - ähnlich wie in Smyrna - von den Juden132 hervorgerufen wurden (V. 7-9) 133 . Hier wie dort bringen die Verleumdungen der Juden wahrscheinlich die Gemeindeglieder bei staatlichen Behörden in Mißkredit134. Deshalb spricht Johannes ihnen den Judennamen, den er in Ehren hält, auch im Schreiben an die Gemeinde in Philadelphia ab (V. 9, vgl. 2,9)13S. Den Christen in Philadelphia verheißt er Bewahrung in endzeitlicher Bedrängnis (V. 10). Johannes, der in den Sendschreiben nur lokal begrenzte Ereignisse nennt, schaut hier auf eine umfassende, die ganze Welt betreffende Notzeit 136 . Dabei hat er die furchtbare Zeit des Tieres (Apk 13) im Blick, „den letzten großen Kampf, den die Gemeinde der Gläubigen nach dem Erscheinen des Nero redivivus mit dem römischen Imperium in der ganzen Welt zu bestehen haben werde"137. Dieser eschatologischen Versuchung kann die Gemeinde in Philadelphia jedoch gefaßt entgegense129

Vgl. U.B. Müller, Offb 128. Vgl. Kraft, Offb 78; Woschitz, Erneuerung 227. 131 Vgl. Woschitz, Erneuerung 227f. 132 Zum Judentum und zur Situation in Smyrna s.o. S. 22f. 133 Ygi Roloff, Offb 61, der zu Recht hervorhebt, daß bereits in der Botenformel die Thematik dieses Konflikts indirekt angesprochen wird. - Nach Kraft, Offb 81f.92f. sollen die in Apk 3,7-13 so bezeichneten „Juden" eine schismatische christliche Gruppe sein, die sich den Judennamen nur zugelegt hat. Da im Text jedoch nichts von einer Spaltung der Gemeinde verlautet, ist diese Deutung unhaltbar, vgl. U.B. Müller, Offb 131. Dementsprechend ist hier - anders als in IgnPhld auch nicht von inneren Kämpfen mit Irrlehrern die Rede, wie Kraft, Offb 81f. 92f meint. Vielmehr bezieht sich Ignatius „auf eine ganz andere Problemsituation der Gemeinde" (U.B. Müller, Offb ebd.). 134 Vgl. Ritt, Offb 34 und U.B. Müller, Offb 129f. 135 Vgl. U.B. Müller, Offb 130. - Wie „Israel" ist auch „Jude" für den Apokalyptiker ein Ehrentitel; in seinen Augen sind die Christen die wahren Juden (vgl. Böcher, Israel 33). 136 Vgl. U.B. Müller, Offb 131. 137 Bousset, Offb 228. - Daß Joh diese Bedrängnisse für die nahe Zukunft erwartet, ist von der Aussage Christi V. 11 her klar: έρχομαι ταχύ. 130

1. Die Voraussetzungen der Ethik

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hen138; dabei wird sie nicht unbedingt äußerlich verschont bleiben, wohl aber im Glauben standhalten können135. Die phrygische Stadt Laodizea lag an einer wichtigen Handelsstraße, die von den ca. 160 km westlich von ihr gelegenen Häfen Ephesus' und Milets bis nach Syrien führte 140 . Sie war ein wichtiges Bankzentrum, besaß eine bedeutende Textilindustrie und eine weltbekannte Schule der Heilkunst141. Nach einem schweren Erdbeben, das 60/61 n. Chr. die Stadt zerstört hatte, konnten die Bürger sie ohne fremde Hilfe wieder aufbauen und zu neuer Blüte bringen142. - Schon früh war die Christengemeinde Laodizeas, das nur ca. 15 km von Kolossä entfernt lag143, von Paulusschülern gegründet worden; anscheinend hatte dabei insbesondere Epaphras eine Rolle gespielt (vgl. Kol l,7f.; 4,12f.)144. Der Verfasser des Kol fordert dazu auf, seinen Brief auch nach Laodizea zu senden; weiterhin soll der (nicht mehr erhaltene) Brief an die Gemeinde in Laodizea in Kolossä verlesen werden (vgl. Kol 4,16)14S. Aus diesen Informationen ergibt sich, daß die Christen Laodizeas in paulinischer Tradition standen 146 . Im Sendschreiben an die Gemeinde in Laodizea (Apk 3,14-22) wird deren „Lauheit" scharf verurteilt (V. 15f.): Sie ist weder „heiß" (gemeint ist der entschiedene Glaube)147 noch „kalt" (eindeutige, klare Ablehnung des Christlichen) 148 . Diese 138 139 140 141

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Vgl. Kraft, Offb 82. Vgl. Roloff, Offb 61f. Vgl. Rudwick/Hemer, Laod 867. Vgl. Woschitz, Erneuerung 236. Möglicherweise wird in Apk 3,18 auf den Reichtum, die Textilindustrie und die ärztliche Kunst der Stadt angespielt, vgl. U.B. Müller, Offb 134. Vgl. Lohse, Offb 34; siehe dazu auch Woschitz, Erneuerung 236 mit Anm. 1, der auf TacAnn XIV, 27 verweist: „ex inlustribus Asiae urbibus Laodicea, tremore terrae prolapsa, ... propriis opibus revaluit." Vgl. Ritt, Offb 34. Vgl. Laub, Laod 588f. Vgl. U.B. Müller, Offb 134. Im Blick auf die Anfangszeit der Gemeinden in Kolossä und Laodizea wird man „geradezu von Schwestergemeinden" (Roloff, Offb 63) sprechen können. Vgl. U.B. Müller, Offb 134 und Woschitz, Erneuerung 237. In diesem Zusammenhang ist ferner darauf hinzuweisen, daß sich mit der Selbstprädikation Christi als ή άρχή της κτίσεως τοΰ θεου (Apk 3,14) anscheinend eine Berührung mit Kol 1,15.18 findet (vgl. Bousset, Offb 331). Vgl. Hadorn, Offb 63. Vgl. ebd. und Ritt, Offb 35.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

Halbheit, mit der sie einer Entscheidung für oder gegen Christus - und den damit verbundenen Konsequenzen vor allem gesellschaftlicher Art149 - aus dem Wege geht, ist ekelerregend150. Überdies leben die Christen dieser „reichste(n) Stadt Phrygiens" lsl , offenbar ebenfalls wohlhabend (vgl. V. 17), in satter Selbstzufriedenheit 152 : Das πλούσιος είμι (V. 17) dürfte nicht nur auf die Prosperität der Gemeinde, sondern auch auf ihr hohes Selbstbewußtsein in geistlichen Dingen hinweisen153. Möglicherweise meinen die laodizenischen Christen, viele Geistesgaben zu besitzen und den Zuspruch des auswärtigen Charismatikers Johannes nicht nötig zu haben154. Mit scharfen Worten wird diese hybride Fehleinschätzung der Gemeinde gebrandmarkt, und die laodizenischen Christen werden eindringlich zur Umkehr aufgefordert (V. 17-19)155. Zusammenfassung Nach alledem stellt sich das Außenverhältnis der sieben kleinasiatischen Gemeinden folgendermaßen dar: Drei befinden sich in wichtigen Urbanen Metropolen (Ephesus, Smyrna, Pergamon), die anderen vier in weniger bedeutsamen, aber zumeist von regem Handel geprägten Städten (Thyatira, Sardes, Philadelphia, Laodizea). Alle sieben sind von einer „unübersichtlichen Fülle heterogener religiöser Phänomene"156 umgeben, zu denen die Verehrung der alten griechisch-römischen Götter (Zeus, Asklepios, Artemis) ebenso gehört wie die jüdi-

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Diese wären im Falle einer deutlichen Entscheidung für den christlichen Glauben in der Tat gewaltig, vgl. nur das oben zu φ α γ ε ΐ ν είδωλόθυτα και πορνεΰσαι Gesagte, S. 20f.24-26. Das „Ausspeien" kommentiert Lohse, Offb 34 treffend: „Weil sie lau ist, wird Christus sie im Gericht verwerfen, wie man von ekelerregendem Wasser angewidert ist und es aus dem Munde ausspeit". Lohmeyer, Offb 37. Vgl. Hadorn, Offb 63; Ritt, Offb 35. Vgl. U.B. Müller, Offb 136 mit dem Hinweis, daß Joh wohl einen Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Situation und der falschen religiösen Sicherheit der Gemeinde sieht. Vgl. Kraft, Offb 85. Vgl. Roloff, Offb 64, der zu Recht darauf hinweist, daß hinter der Ermahnung der Gemeinde nichts anderes als die Liebe Christi steht (vgl. V. 19). Wickert, Kleinasien 247.

1. Die Voraussetzungen der Ethik

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sehe Religion und der Kaiserkult 157 . Abgesehen von den alltäglichen Schwierigkeiten, welche die Gemeinden in dieser nichtchristlichen Umwelt Kleinasiens zu bewältigen haben - vgl. nur das zu Thyatira Gesagte - , werden sie sowohl von der Judenschaft als auch von staatlichen Behörden angefeindet, führen also einen „Zweifrontenkrieg" 158 . Diesem ist bereits ein Christ zum Opfer gefallen (2,13), weitere Angriffe auf die Gemeinde stehen bevor (2,10); für die nahe Zukunft erwartet Johannes eine weltweite Notzeit mit massiver Bedrängnis der Christen (3,10). Die interne Situation der Gemeinden ist zum Teil ein Spiegelbild des Außenverhältnisses: Die mindestens in Pergamon und Thyatira erfolgreichen christlich-libertinistischen Lehrer, deren Position wohl nicht unabhängig von Nachwirkungen paulinischer Theologie ist, geben φ α γ ε ΐ ν είδωλόθυτα και πορνευσαι frei. Dies böte den Christen nicht nur die Möglichkeit, innerhalb der kleinasiatischen Gesellschaft soziale Ächtung und wirtschaftliche Nachteile zu vermeiden, sie könnten damit auch dem lebensgefährlichen Druck der Behörden entgehen. Würde Johannes diese Lehre tolerieren oder ihnen gar empfehlen, so drohte nicht nur die Anpassung an eine „pagane Allerweltsmeinung" 159 (welche die christliche Identität der Empfänger freilich zurücktreten, wenn nicht untergehen ließe), zwischen Juden- und Heidenchristen in den Gemeinden käme es auch zum offenen Bruch. Im Blick auf die Propaganda der Nikolaiten und der „Isebel" muß man deshalb von einer ethischen Bedrohung der Gemeinden sprechen, die zu den Bedrängnissen von außen (Imperium Romanum, Juden) hinzutritt. - Auch sonst kommt die Ethik der Christen in den sieben Gemeinden Kleinasiens, in denen Jahre vorher zum Teil Paulus selbst und Paulusschüler gewirkt haben, immer wieder in den Blick: Johannes fordert nachdrücklich „Werke", die dem Christenstand entsprechen. Die Liebe zu Gott (und Christus) und untereinander droht zu erkalten (Ephesus), sexuelle Freizügigkeit und Ausschweifungen machen sich breit (neben Perga157

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In der Gefahr, die den Gemeinden der Apk von ihrer religiösen Umgebung droht, sieht Rissi, Hure 51 „das wesentliche Anliegen des Sehers" (im Original hervorgehoben). Böcher, Israel 32. - Die beiden Fronten können dann zu einer verschmelzen, wenn die örtliche Judenschaft die Christen bei den Behörden denunziert (vgl. S. 23 [mit Anm. 81], 28). Heiligenthal, Nikolaiten 137.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

mon und Thyatira, die von der besagten christlichen Irrlehre beeinflußt sind, auch Sardes). Vor diesem Hintergrund ist die wiederholte Umkehraufforderung des Johannes verständlich. 2. Theologische Voraussetzung: Was macht die Johannes-Apokalypse zur Apokalypse? In der Einführung zu dieser Untersuchung wurde festgestellt, daß es in der neueren und neuesten Forschung umstritten ist, ob es sich bei der Johannes-Apokalypse um eine Apokalypse handelt; dies ist als eine Folge der gegenwärtigen Unsicherheiten um den Apokalypse-/Apokalyptikbegriff zu begreifen 160 . Wegen dieser Schwierigkeiten ist der Empfehlung H. Stegemanns zu folgen, „daß ein jeder, der diesen Begriff verwenden will, zuvor mitteilt, wie er ihn versteht" 161 . Daher wird im folgenden der Begriff „Apokalypse" definiert und anschließend geprüft, ob die Johannes-Apokalypse im Sinne dieser Definition als Apokalypse verstanden werden kann. Eine solche Definition läßt sich auf zweierlei Weise gewinnen: über die Summe der sogenannten apokalyptischen Motive und Themen, die man in einem Text vorfindet, oder von einer den Text bestimmenden theologischen Mitte her162. Hier soll der letztgenannte Weg beschritten werden. Es ist nämlich erheblich sinnvoller zu fragen, ob die theologischen Grundüberzeugungen der Johannes-Apokalypse denen der antiken jüdischen Apokalypsen entsprechen, als formale und motivliche Übereinstimmungen bzw. Differenzen aufzuzählen 163 . Denn ein und dasselbe Motiv oder formale Merkmal kann in völlig verschiedenen theologischen Problemlagen Verwendung finden; von Motiven und formalen Merkmalen aus kann daher nicht 160

161 162 163

Vgl. Taeger, Veröffentlichungen 62; Zager, Begriff If.; K. Müller, Apokalyptik, 124. Stegemann, Qumranfunde 498. Vgl. Zager, Begriff 16. Vgl. Taeger, Veröffentlichungen 62. Ähnlich Brandenburger, Verborgenheit 9 im Zusammenhang mit der Formbestimmung des 4 Esr: „Man wird darum gut tun, auch eine Schrift wie den 4Esr nicht an verarbeiteten traditionellen Einzelgattungen zu messen. Eher empfiehlt sich eine Kennzeichnung von jenem Darstellungswillen aus, der nun das Ganze überformt und prägt." - Vgl. dazu auch Stegemann, Qumranfunde 499.

1. Die Voraussetzungen der Ethik

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ohne weiteres auf die Problemlage des Werkes geschlossen werden, in die sie eingebettet sind164. Deshalb gilt es, die theologische Problemlage der Johannes-Apokalypse herauszuarbeiten; und dies um so mehr, als in der gegenwärtigen Forschung hinsichtlich der Bewertung formaler und motivlicher Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dieser Schrift und antiken jüdischen Apokalypsen alles andere als ein Konsens besteht165. Ebendiesen Weg hat E. Brandenburger bei seiner Analyse des 4 Esr beschritten, indem er „nach Verfahren und Absicht apokalyptischer Theologie im Gesamtentwurf einer klassischen Apokalypse"166 fragt und von der theologischen Mitte des 4 Esr aus folgende Definition einer Apokalypse gewinnt: Eine Apokalypse ist „eine Offenbarungsschrift ..., die in einer verschlossen erscheinenden Weltsituation, in der Gottes weltordnendes Walten unter überkommenen Glaubens- und Verstehensvoraussetzungen nicht mehr einsichtig war, himmlisches Offenbarungswissen vermittelt; und zwar als geheime, der verschlossenen Weltsituation gegenüber jenseitige Weisheit, welche die Welt von ihrem Ende her entschlüsselt und auf dies Ende in Heil und Unheil hin orientiert"167. - Wird diese Definition der Johannes-Apokalypse gerecht?

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Selbstverständlich würde im Falle massiver Häufung bestimmter Motive oder formaler Merkmale auch die Problemlage wenigstens zum Teil transparent werden - der genannte Ausschluß ist also kein völliger - , zumal für bestimmte theologische Problemlagen bestimmte theologische Motive oder formale Merkmale geeigneter sind als andere. Dies wird beispielsweise an den verschiedenen Erklärungen des Phänomens der fehlenden Pseudonymität der Apk sichtbar: Für die einen ist es einer der Hauptgründe, weshalb die Apk von frühjüdischer Apokalyptik zu unterscheiden sei (so z.B. Schnackenburg, Botschaft 2 260), für die anderen mit dem Hinweis auf den prophetischen Anspruch (J.J. Collins, Pseudonymity 331f.) oder brieflichen Charakter (U.B. Müller, Bestimmung 607f.) der Apk leicht erklärbar und keineswegs ein Hinderungsgrund, diese als apokalyptische Schrift zu begreifen (vgl. J.J. Collins, ebd.; U.B. Müller, ebd.). Brandenburger, Verborgenheit 7. Ebd. 9.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

1. Ist die Johannes-Apokalypse eine Offenbarungsschrift, die himmlisches Offenbarungswissen vermittelt? Der Buchüberschrift 1,1-3 entspricht nicht nur inhaltlich, sondern auch formal 22,6f. am Schluß der Johannes-Apokalypse; beide Male wird zunächst die göttliche Herkunft der in diesem Buch vermittelten Offenbarungen betont, woran sich ein Makarismus anschließt 168 . Klar erkennbar ist dabei die Intention des Verfassers: die „Autorisierung des Buches durch die Betonung seines göttlichen Ursprungs" 169 . - Der Offenbarungscharakter der Johannes-Apokalypse wird außerdem durch das wiederholte Auftreten von Engeln, Himmelsstimmen usw. unterstrichen, die dem Johannes den endzeitlichen Willen Gottes als himmlisches Offenbarungswissen kundtun (vgl. 1,10; 4,1; 17,1; 21,9f. u.ö.). Die in der Überschrift gestellte Frage ist somit zu bejahen. 2. Die Situation der Johannes-Apokalypse - eine verschlossen erscheinende Weltsituation, in der Gottes weltordnendes Walten unter überkommenen Glaubens- und Verstehensvoraussetzungen nicht mehr einsichtig war? Nach dem in B.l.l.b) und c) Gesagten ist die Situation des Absenders der Johannes-Apokalypse wie die der Adressaten klar: Johannes, auf eine Insel verbannt, schreibt an christliche Gemeinden, die als Minderheit in einer multireligiösen Gesellschaft von verschiedenen Seiten her existentiell bedroht sind; eine gewaltige Zunahme dieser Drangsale scheint unausweichlich (s.o. S. 28.31) - mit anderen Worten: es liegt eine schwere Krisensituation vor170. Kannten die Adressaten der Johannes-Apokalypse bislang nur lokal begrenzte Ereignisse bedrohlicher, krisenhafter Art, so sind sie nun auf eine weltweite Verfolgung vorzubereiten, in der wegen der scheinbar totalen 168 169

170

Vgl. U.B. Müller, Offb 66. Ebd. - Wie ders., Bestimmung 616 zeigt, hat zudem der gesamte Schlußrahmen der Apk (22,6-21) „die Funktion der Beglaubigung des ganzen Buches als himmlische Offenbarungsschrift". Vgl. dazu Brandenburger, Mk 13 140f.: „... meine ich begründet behaupten zu können, daß ursprüngliche Apokalyptik nicht ohne Vorliegen einer mehr oder weniger schweren Krisensituation oder bestimmter, gravierender Differenzerfahrungen entsteht. Solche Krisenlage sucht der apokalyptische Prophet zu bewältigen".

1. Die Voraussetzungen der Ethik

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Herrschaft der Finsternismächte das weltordnende Walten Gottes unter den überkommenen Glaubens- und Verstehensvoraussetzungen nicht mehr einsichtig sein kann. Zwar wurden ähnliche Problemlagen schon vor der Abfassung der Johannes-Apokalypse (vgl. die jüdisch- und christlich-apokalyptischen Texte bis ca. 90 n. Chr.) und etwa gleichzeitig mit ihr (vgl. 4 Esr, syrBar, Mt 24f.) durchaus theologisch bewältigt, aber diese Lösungen haben sich im kleinasiatischen Christentum um 95 n. Chr. anscheinend nicht hinreichend durchgesetzt. So verfaßt Johannes sein Buch, um in dieser verschlossen erscheinenden Weltsituation mit dem Hinweis auf Gottes Souveränität und sein endzeitliches siegreiches Handeln in den kleinasiatischen Gemeinden Vertrauen zu stiften 171 . 3. Ist das Offenbarungswissen der Johannes-Apokalypse geheime, der verschlossenen Weltsituation gegenüber jenseitige Weisheit? Treffend kommentiert E. Lohse Apk 1,1a: „Der Seher darf einen Blick in die sonst verschlossene himmlische Welt tun, weil Gott seinen Knechten ... zeigen will, was in Kürze geschehen muß"172. Das hier (1,1a) zum ersten und letzten Mal gebrauchte Wort άποκάλυψις bedeutet im Zusammenhang des Vorwortes 1,1-3, das zugleich Buchüberschrift und somit Leitmotiv der ganzen Johannes-Apokalypse ist, „Enthüllung des Geheimnisses des Kommens des Reiches Gottes" 173 . Tatsächlich handelt die Johannes-Apokalypse also von himmlischem Geheimwissen, das einem bestimmten Leserkreis geoffenbart wird174. Das Offenbarungswissen der Johannes-Apokalypse ist ferner ein der verschlossenen Weltsituation gegenüber jenseitiges: Johannes erlangt es nicht durch Betrachtung der (von der 171

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Das Stiften von Vertrauen ist, wie Brandenburger am 4 Esr gezeigt hat, einer der beiden integralen Bestandteile (frühjüdisch-) apokalyptischer (!) Paraklese: „Darauf beruht die apokalyptische Paraklese: sowohl die Vermittlung von Vertrauen, als auch die Einweisung in den Gesetzesgehorsam. Das Vertrauen wird durch die Vergewisserung über die im gegenwärtigen Weltgeschehen nicht sichtbare Herrschaft Gottes erneut zu stiften versucht" (Brandenburger, Verborgenheit 197). Lohse, Offb 11. Hadorn, Offb 24. Vgl. Stegemann, Qumranfunde 499.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

verschlossenen Weltsituation her geprägten) Gegenwart oder der Geschichte, sondern durch Geist-Offenbarungen (vgl. 1,10; 4,2; 17,3; 21,10 u.ö.); er erkennt nicht von sich aus, sondern alles wird ihm „gezeigt" (vgl. 1,1; 4,1; 17,1 u.ö.)175. Jenseitig ist das dem Johannes geoffenbarte Wissen auch deshalb, weil es das genaue Gegenteil dessen enthält, das die gegenwärtige Weltsituation ausmacht: Die scheinbar totale Herrschaft der Finsternis, welche die christlichen Gemeinden bedroht, wird als vorläufig und begrenzt erkannt, und Gott wird sie zu einem von ihm gesetzten Zeitpunkt beseitigen176. 4. Handelt es sich beim Offenbarungswissen der JohannesApokalypse um jenseitige Weisheit, welche die Welt von ihrem Ende her entschlüsselt und auf dies Ende in Heil und Unheil hin orientiert? Die für die nahe Zukunft erwartete Parusie Christi, mit der sich die Äonenwende vollzieht, ist grundlegendes Theologumenon (vgl. 1,3.7; 3,11; 22,6f. u.ö.); der endzeitliche Sieg des Messias (vgl. 19,11-16; 20,7-10 u.ö.) und die Durchsetzung des Königtums Gottes in der Welt (vgl. 11,15-17; 12,10; 19,6 u.ö.) stehen fest. In der Tat wird demnach die Welt von ihrem Ende her entschlüsselt. Entschlüsselt wird aber auch die Verborgenheit Gottes im Weltgeschehen177, denn die Johannes-Apokalypse hebt immer wieder die absconde Herrschaft Gottes und des Messias hervor: Christus, dessen Anhänger von den Herrschern der Welt verfolgt werden, ist in Wirklichkeit ό δρχων των βασιλέων της γης (1,5); der apokalyptische Hauptteil, in dem die Bedrängnis der Gläubigen als zum Höhepunkt kommend darge175

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Δεικνυμι bezeichnet in der Apk göttliche Kundgabe, in der die Zukunft enthüllt wird (vgl. Schneider, δείκνυμι 673). Genuin weisheitliche Traditionen und Formen finden sich in der Apk allerdings nur ansatzweise, vgl. die σοφία-Stellen 5,12; 7,12; 13,18; 17,9 und die sieben Makarismen 1,3; 14,13; 16,15; 19,9; 20,6; 22,7.14; daher bleibt meine Anwendung der Brandenburgerschen Definition an dieser Stelle defizitär. Damit ist aber kein entscheidendes Gegenargument gegen diese Anwendung gegeben, da die Häufung der anderen hier genannten Merkmale ausreicht, um die Apk als Apokalypse zu bestimmen. Dies ist nach Brandenburger, Mk 13 141 ebenfalls eine typische Funktion der von einem Apokalyptiker vermittelten jenseitigen Weisheit.

1. Die Voraussetzungen der Ethik

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stellt wird, beginnt (!) mit Visionen, welche die Souveränität Gottes und des „Lammes" eindringlich darstellen (Kap 4f.)178; wiederholt finden sich hymnische Stücke, die den bevorstehenden Sieg beider vorwegnehmend preisen (vgl. 7,10-12; 11,15-18; 12,10-12 u.ö.). So ist es Gott allein, der trotz seiner Verborgenheit das Weltgeschehen souverän lenkt; hierauf weisen auch das wiederkehrende δει (vgl. 1,1; 4,1; 17,10 u.ö.) und das passivum divinum έδόθη, -ησαν (vgl. 6,2; 9,3; 12,14 u.ö.) hin179. Die Orientierung der Welt und der Gemeinde180 auf das Ende in Heil und Unheil hin zeigt sich nicht nur am Aufbau der Johannes-Apokalypse 181 , vielmehr auch an der eschatologisch motivierten Paränese 182 und vor allem am doppelten Ausgang der Welt- und Menschheitsgeschichte: Über das gottfeindliche Babel und alle, die nicht zur wahren Gemeinde des Christus gehören, ergeht das Strafgericht (vgl. Kap. 18f.; 20,15; 21,8), während die frommen „Überwinder" erlöst werden und in der unmittelbaren Gottesschau leben (vgl. 21,2-7; 22,3-5). Nach alledem wird man die Johannes-Apokalypse getrost als eine Apokalypse bezeichnen können, und zwar als eine christliche, da sie „den ... Messias mit Namen kennt: Jesus von Nazareth" 183 und in ihr „das apokalyptische Geschichtsbild mit der Botschaft von Kreuz, Auferstehung und Ankunft Chri-

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Für Roloff, Offb 24 ist Apk 4,1-5,14 sogar das den ganzen Abschnitt 4,1-22,5 „beherrschende Zentrum." Das δει der Apk ist „apokalyptischer Ausdruck göttlicher Determination" (Popkes, δει 671); diesem richtenden und heilschaffenden Muß unterstehen die einzelnen Akte des apokalyptischen Enddramas (vgl. Tiedtke/Link, δει 979). In ähnlichem Sinne drückt das δίδωμι Gottes und Christi „unbehinderbare Setzung" (Popkes, δίδωμι 775) aus. Brandenburger, Mk 13 141 nennt letztere in diesem Zusammenhang betont: Auf das „Ende in Heil (Rettung) und Unheil hin sucht der apokalyptische Prophet ... seine in einer bestimmten Weltlage bedrängte Gemeinde zu orientieren". Der apokalyptische Hauptteil 4,1-22,5 endet mit den Abschlußvisionen 19,11-22,5, welche die „Vollendung des Geschichtsplanes Gottes" (Roloff, Offb 183) zum Inhalt haben und nacheinander die Ankunft Jesu als Weltrichter (19,11-21), das tausendjährige Reich und die Vernichtung des Satans (20,1-10), das Weltende und allgemeine Gericht (20,11-15) und die neue Welt Gottes (21,1-22,5) schildern (vgl. ebd. und 188.195.197). Dazu s. u. B.2.2.c). Böcher, Bürger 163.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

sti verbunden"184 ist; auch ist die „Fülle der apokalyptischen Bilder ... vom christologischen Bekenntnis umklammert"18S. - Gegen ihren Charakter einer Apokalypse lassen sich auch nicht ihre brieflichen Merkmale ausspielen, wie dies hier und da geschieht186, vielmehr „ist die ganze Apokalypse ... als Brief an die sieben Gemeinden der Asia gestaltet"187. Anders als durch eine solche briefliche Gestaltung hätte der von den Adressaten räumlich getrennte Verfasser gar nicht schriftlich mit ihnen kommunizieren können; auch erlaubte sie die Verlesung in Gemeindegottesdiensten, wie man das mit Briefen zu tun pflegte (vgl. 1 Thess 5,27)188. - Zur Charakterisierung der Johannes-Apokalypse als eines Rundschreibens siehe oben S. 19. Zusammenfassend läßt sich sagen: Die Johannes-Apokalypse ist eine (in theologiegeschichtlichem Zusammenhang mit antiken jüdischen Apokalypsen stehende) christliche Apokalypse, die als ein Rundschreiben konzipiert und brieflich gestaltet ist.

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Lohse, Grundriß 160. Ebd. So warnt beispielweise Karrer, Joh-Offb, der die Apk als „Brief" oder „Rundbrief" bezeichnet (vgl. ebd. 285.302f.304f. u.ö.), davor, sie als „Apokalypse im Zusammenhang der jüdisch-christlichen Apokalyptik" (ebd. 304) zu verstehen, denn dadurch würde „eine einzelne vom Apk-Autor in sein Werk eingebrachte Traditionslinie zu stark betont werden" (ebd. 305). - Damit fragt Karrer jedoch nicht nach der die Apk bestimmenden theologischen Problemlage, sondern nach der Summe der in ihr vorfindlichen apokalyptischen Motive und Themen - ein Verfahren, dem ich mich nicht anschließen kann (s.o. S. 32f). U.B. Müller, Bestimmung 600. - Den Begriff „briefliche Gestaltung" ziehe ich der Bezeichnung „Brief" vor, denn die Apk beginnt „nicht mit 1,4 und somit nicht brieflich" (Rissi, Rez. Karrer, Joh-Offb 348); die literarische Gattung der Apk als „Brief" zu bestimmen, scheint mir deshalb problematisch (vgl. auch ebd.). Vgl. U.B. Müller, Bestimmung 607; Kümmel, Einleitung 405; Vielhauer, Geschichte 500.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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2. Darstellung und Analyse der Ethik 1. Untersuchung der ethischen Motive a) Ethische Motive, die unmittelbar mit der Verfolgungssituation zusammenhängen Da dieser Motivkomplex die gesamte Apokalypse durchzieht und an vielen Stellen und in vielerlei literarischen Formen zu finden ist, wird er im Rahmen der Untersuchung der ethischen Motive der Apokalypse an erster Stelle verhandelt. 1. Υπομονή Dieses ethische Einzelmotiv begegnet bereits in 1,9a, dem Anfang der Schilderung der Beauftragungsvision l,9-20 189 . An dieser ersten der insgesamt sieben Stellen der Apokalypse, wo υπομονή vorkommt, erscheint das Wort in einer Reihung von Substantiva (θλΐψις - βασιλεία - υπομονή); inhaltlich wird von diesen her υπομονή nur wenig erklärt190. Andere Reihungen, in denen ύπομονή auftritt, finden sich in den οΤδα-Abschnitten der Sendschreiben191 an Ephesus 2,2 (£ργα - κόπος - ύπομονή) und Thyatira 2,19 (£ργα - άγάπη - πίστις - διακονία - ύπομονή). Auch hier ist festzustellen, daß ύπομονή nur wenig durch die jeweils anderen Glieder erläutert wird; deutlich ist nur, daß wie diese auch ύπομονή eine Tugend ist, die unter dem Oberbegriff τά £ργα subsumiert erscheint192. Was mit dieser Tugend konkret gemeint ist, ergibt sich allerdings aus den verbleibenden vier Belegen:

189 190

191 192

Vgl. Giesen, Apk 35; U.B. Müller, Offb 80. Allenfalls läßt sich vermuten, das Nebeneinander von θλΐψις und βασιλεία bringe „die Glaubenden in eine spannungsvolle Situation, die nur im Ausharren (= υπομονή, J.K.) bestanden werden kann" (Roloff, Offb 39). Aber derart werden die drei Begriffe im Text selbst nicht aufeinander bezogen, so daß eine präzise Beschreibung dessen, was ύπομονή beinhaltet, von den anderen ύπομονή-Stellen der Apk her vorgenommen werden muß. Diese Bezeichnung nach Hahn, Sendschreiben 370-377 und passim. Vgl. U.B. Müller, Offb 101.117; Kraft, Offb 56.69; Hadorn, Offb 42.52. - Zum Thema „Werke" s.u. B.2.3.b).

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

2,3 gibt mit και έβάστασας δια το δνομά μου και ού κεκοπίακες „an, worin die υπομονή besteht" 193 , von der hier und in V. 2 die Rede ist: im „Durchhalten in Verfolgung und Leiden"194, die von der nichtchristlichen Umwelt ausgingen (Heiden oder Juden)195. In 3,10 wird der Gemeinde in Philadelphia bestätigt: έτήρησας τον λόγον της υπομονής μου, eine Wendung, die jener in V. 8b sehr nahe kommt: έτήρησάς μου τον λόγον και ούκ ήρνήσω τό δνομά μου. Der Gedanke von V. 8b wird also in V. 10 wiederholt 196 , so daß υπομονή das „Bewahren des Wortes" und das „Nicht-Verleugnen des Namens" Christi in Zeiten äußerer Anfeindungen bedeutet, die wohl von den Juden hervorgerufen wurden 197 . Ergänzend wird allerdings der Gemeinde in V. 10 bestätigt, das Wort Jesu, welches zur Standhaftigkeit auffordert 198 , bewahrt zu haben, ebenso auch das Wort, welches das Harren auf seine Parusie enthält 199 . - Υπομονή bedeutet in 3,10 demnach sowohl „Standhaftigkeit in Zeiten der Bedrängnis" als auch „Harren auf Jesus". 13,9f., ein prophetischer Weckruf (V. 9)200 und ein Mahnwort (V. 10)201, die eng zusammengehören 202 und mit denen sich Johannes direkt an die Empfänger der Apokalypse wendet 203 , unterbrechen 204 deutlich den Visionsbericht 12,18-13,18. Aber nicht nur wegen ihres Charakters einer Zäsur sind die beiden Verse besonders hervorgehoben, sondern auch wegen ihrer 193 194 195 196 197 198

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204

Lohmeyer, Offb 22. U.B. Müller, Offb 101. Zum historischen Hintergrund s.o. S. 19-22. Vgl. U.B. Müller, Offb 130. Zum historischen Hintergrund s.o. S. 27-29. Vgl. U.B. Müller, Offb 130, der das μου auf τόν λόγον bezieht und übersetzt: ,„mein Wort von der Standhaftigkeit'". Vgl. Lohmeyer, Offb 36; das μου, auf υπομονή bezogen, läßt sich nämlich als Gen obj zu υπομονή verstehen (vgl. Zahn, Offb 307; ähnlich auch Hauck, υπομένω 590); dies ist um so mehr der Fall, als im engen Kontext (V IIa) ein έρχομαι ταχυ erklingt. - Da grammatisch beide Interpretationen von υπομονή V. 10a (Standhaftigkeit/Harren) möglich sind, kann Johannes durchaus auch beides intendiert haben. Vgl. Roloff, Offb 138; Ritt, Offb 71. Vgl. Hadorn, Offb 153. Vgl. Roloff, Offb 138; U.B. Müller, Offb 252. Vgl. Roloff, Offb 138. Nach Lohmeyer, Offb 112 handelt es sich bei V. 9f. um „Paränese, die unmittelbar zu der Gegenwart spricht". Vgl. Hadorn, Offb 141.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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Stellung am Ende des ersten Teils des Visionsberichts (12,18-13,10). Zu dieser zweifachen Betonung kommt hinsichtlich V. 10 eine dritte hinzu: Der Weckruf V 9, der einzige außerhalb der Sendschreiben, fordert „die Leser zur besonderen Aufmerksamkeit" auf205 und unterstreicht so die Aussage von V. 10. Durch diese dreifache Hervorhebung erhalten die Aussagen des Textes über υπομονή außergewöhnliches Gewicht. Was die Christen tun sollen, ist in V. lOab, einer Anlehnung an Jer 15,2206 ausgedrückt: „Wenn einer in Gefangenschaft (geführt werden soll), so geht er in Gefangenschaft. Wenn einer durch das Schwert getötet werden soll, der wird durch das Schwert getötet" 207 . Johannes fordert die Bereitschaft, demütig und ergeben in Verfolgung und Leiden hineinzugehen, wenn Gott sie schickt. Erlegt er Gefangenschaft auf, so sollen die Gläubigen sie gehorsam hinnehmen; und wenn Gott will, daß Christen mit dem Schwert getötet werden, so sollen sie auch den Tod erdulden 208 . - An diese Gedanken schließt unmittelbar V. 10c an: ώδέ έστιν ή υπομονή και ή πίστις των άγιων, was paraphrasierend folgendermaßen wiedergegeben werden kann: „Hier ist die Loyalität gegenüber Gott vonnöten, die sich in der Hinnahme des Leidens, d.h. in Standhaftigkeit und Treue, dokumentiert" 209 , υπομονή bedeutet also wieder, ähnlich wie in 2,3; 3,10 „Standhaftigkeit in Bedrängnis", 205 206 207

208 209

U.B. Müller, Offb 252. Vgl. Giesen, Apk 109; Roloff, Offb 138; Lona, Treu 448. 13,10ab bietet einige textkritische Probleme, wobei für die Ethik der Apk diejenigen von V. 10b relevant sind: Vor allem die Handschriften X, C bieten eine vom Text des Nestle-Aland abweichende Lesart: εί τις έν μαχαίρη (-ρα) άποκτενεΐ (Χ άποκτείνει) δει αυτόν έν μαχαίρτ] (-pqc) άποκτανθηνοα. Diese hat weitgehende inhaltliche und für die Ethik der Apk relevante Konsequenzen, wird doch darin eine Warnung an die Christen ausgesprochen, selbst zu Mitteln der Gewalt zu greifen (vgl. Roloff, Offb 138). Es ist das Verdienst J. Schmids, in gründlicher Analyse die Ursprünglichkeit der Lesart des A, die auch Nestle-Aland und der hier gebotenen Übersetzung zugrunde liegt, wahrscheinlichgemacht zu haben, und zwar für V. 10b wie für V. 10a (vgl. ders., Text 2 138-141). Sein Beweisgang hinsichtlich V. 10b wird durch die von Metzger, Commentary 748 vorgetragenen Argumente zusätzlich gestützt: Die von X, C gebotene Lesart läßt sich als von Mt 26,52 her beeinflußt erklären, während umgekehrt für die Ursprünglichkeit der Lesart des A - stärker als von Schmid dargestellt - die textliche Nähe zu Jer 15,2 (LXX) spricht. Vgl. Lohse, Offb 78. U.B. Müller, Offb 253. Zu πίστις i.S. von „Treue" s.u. B.2.3.b)3.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

„Durchhalten in Verfolgung und Leiden"; freilich wird hier diese Tugend den Lesern wesentlich eindringlicher nahegelegt als in 2,2f.; 3,10. Ähnlich 13,9f. ist auch 14,12 im Text der Apokalypse besonders hervorgehoben, denn auch dieser Vers unterbricht, zusammen mit dem Makarismus 14,13, einen Visionsbericht (14,6-20) 210 , und die beiden Verse bilden den Abschluß eines Visionsberichtes, nämlich desjenigen in 14,6-13211. Wie bei 13,10, so handelt es sich auch bei 14,12 um ein Mahnwort 212 ; als direkte prophetische Anrede213 soll es „die Hörer packen" 214 . Der Vers stellt eine Art Kommentar zu dem vorher angekündigten Gericht über die Anhänger des Kaiserkultes (14,9-11) dar 2is : Die Christen, hier als των άγιων ..., οί τηρουντες τ ά ς έντολάς του θεου και την πίστιν Ίησου 216 beschrieben, werden aufgefordert, „gegenüber dem Kaiserkult und seinen Zwängen standhaft zu sein"217; υπομονή bedeutet also wieder „Standhaftigkeit" 218 . Die mit dem Kaiserkult verbundenen Zwänge werden in V. 9.11 deutlich genannt: Anbetung des „Tieres" bzw. seines Bildes, Annahme seines Malzeichens an Stirn oder Hand. Deshalb bedeutet υπομονή in 14,12, genau diesen Zwängen nicht nachzukommen. Wie weit die Bereitschaft, sich dem Kaiserkult zu widersetzen, gehen kann, be-

210 211 212 213 214 215

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217 218

Vgl. U.B. Müller, Offb 266. Vgl. Hadorn, Offb 153. Vgl. ebd. Vgl. U.B. Müller, Offb 266. Bousset, Offb 386. Vgl. Ritt, Offb 76. Ähnlich Giesen, Apk 115: „Doch die Schilderung des Gerichts über die Völker verfolgt keinen Selbstzweck. Immer bleiben die eigentlichen Adressaten, die Christen in Kleinasien, im Blick. Aus diesem Grund spricht der Seher in 14,12f. die Christen persönlich an". Hierbei handelt es sich um einen der in der Apk häufigen Fälle von Inkongruenz: Das Part conj οί τηρουντες steht im Nom statt im obliquen Kasus; vgl. Blass-Debrunner § 136,1. Daher ist Bousset, Offb 386 zuzustimmen: „Die Konstruktion ist völlig formlos. Zu erklären ist: Hier gilt es die Geduld der Heiligen, derjenigen, welche die Gebote Gottes und den Glauben an Jesus wahren" (Hervorhebungen von mir). Giesen, Apk 117. Vgl. U.B. Müller, Offb 265.268; Lohse, Offb 84f. Das ώδε ... έστίν bedeutet, wie auch in 13,10, „hier ist vonnöten"; vgl. U.B. Müller, ebd. und 246.253.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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stimmt der mit 14,12 eng zusammengehörende 219 Makarismus V. 13: μακάριοι οί νεκροί oi έν κυρίω αποθνήσκοντες άπ' δρτι. Mit ol νεκροί οί έν κυρίω sind nicht etwa alle verstorbenen Christen gemeint, sondern nur christliche Märtyrer. Dies ergibt sich zum einen durch das άπ' αρτι (= „von dem großen nunmehr beginnenden Kampfe an"220), zum anderen durch die Stellung von V. 13 am Ende des Visionsberichtes V. 6-13: Nach der Schilderung der Gerichtsstrafe derer, die sich dem Druck des Kaiserkultes gebeugt haben (V. 9-11), erfolgt mit V 13 eine entsprechende Aussage über diejenigen, die dies nicht tun221. Sie werden „selig" genannt, ihnen wird also eschatologisches Heil zugesprochen 222 ; sie „sind bei dem Herrn geborgen"223 (V. 13c). Neben dem Charakter eines Heilszuspruches eignet dem Makarismus, wie allen anderen Makarismen der Apokalypse, allerdings auch ein paränetischer 224 : Johannes ermahnt die Empfänger seines Buches, in den Zeiten der bevorstehenden Drangsal ihrem Herrn, Christus, bis in den Tod treu zu sein 225 . Zusammenfassend läßt sich festhalten: ύπομονή ist eine von mehreren unter dem Oberbegriff τά £ργα subsumierten Tugenden, die den Empfängern der Apokalypse mit großem Nachdruck aufgetragen wird. Sie bedeutet vor allem Standhaftigkeit in Verfolgung und Leiden, die Johannes durch die Bedrängnisse von nichtchristlicher Seite (durch Juden und Heiden, insbesondere durch den Kaiserkult) an die kleinasiatischen Gemeinden herangetragen sieht: Die Gläubigen sollen 219

Vgl. U.B. Müller, Offb 266; Giesen, Apk 117. Zutreffend ist U.B. Müllers Beobachtung, daß der Makarismus die Mahnung V. 12 unterstreicht (vgl. ebd. 268). 220 Bousset, Offb 386. 221 vgl. Giesen, Heilszusage 84. - Das άναπαήσονται έκ των κόπων αυτών als Pendant zur Unruhe der Frevler V. 11 erweist den Zusammenhang von V. 13 und V. 9-11 (vgl. Giesen, Apk 118); daher ist Hadorn, Offb 153f. zuzustimmen: „Die Seligpreisung der Toten steht dem Los der Verdammten gegenüber". 222 Vgl. Giesen, Heilszusage 97.74; U.B. Müller, Offb 269. 223 Lohse, Offb 85. 224 Ygi Giesen, Heilszusage 97. 225 Mit seiner Kommentierung von V. 13: „Die Sprache des Apok. wird flammend. In glühender Leidenschaftlichkeit ruft er zum Martyrium auf" übertreibt Bousset, Offb 386 doch ein wenig; denn die primäre Intention des Makarismus ist der Heilszuspruch, vgl. Giesen, Heilszusage 97.84.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

„das Wort Jesu (das unter anderem zur Standhaftigkeit auffordert)" und „das Wort, welches das Harren auf seine Parusie enthält", „bewahren" sowie seinen „Namen nicht verleugnen". Konkret bedeutet υπομονή, die Anbetung des „Tieres" bzw. seines Bildes und die Annahme seines Malzeichens an Stirn oder Hand zu verweigern, selbst wenn dies mit Gefängnis oder Tod bestraft werden sollte. Solches Ergehen begreift Johannes als unter der Zulassung Gottes stehend, und Gläubige, die durch diese Bedrängnisse umkommen, dürfen ihres eschatologischen Heils gewiß sein. - Obwohl ύπομονή auch das Element des Harrens auf die Parusie Jesu eignet, steht doch der Aspekt der Standhaftigkeit in Bedrängnis und Verfolgung im Vordergrund. 2. Λόγος του θεοΟ und μαρτυρία Ίησου Dieses ethische Motiv erscheint erstmals in 1,9: Johannes wurde δια τον λόγον του θεου και την μαρτυρίαν Ίησοΰ auf die Insel Patmos verbannt226, demnach als confessor bestraft 227 . Λόγος του θεου και μαρτυρία Ίησου228 ist eine „Doppelaussage"229, ein „plerophorischer Ausdruck für christliche Offenbarung überhaupt" 230 ; mit jedem der beiden Glieder meint Johannes also ebendiese. Nach dem Zeugnis der Apokalypse können λόγος του θεου und μαρτυρία Ίησου unter anderem „in Form der apostolischen Predigt, in Form des - mit Hinrichtung verfolgten - Zeugnisses der Märtyrer, in Form der ,Schauung' des Johannes sich darbieten"231, in 1,9 wohl in Form der Verkündigungstätigkeit des Apokalyptikers232. Das Einstehen für λόγος του θεου und μαρτυρία Ίησου - in welcher Form auch immer - ist allerdings nicht nur Sache des 226 227

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S.o. S. 17f. Mit δια τον λόγον του θεου και την μαρτυρίαν Ίησου wird die gleiche Formulierung gebraucht wie in 6,9; 20,4, wo allerdings von Blutzeugen die Rede ist. Johannes kennt also mindestens zwei Formen der Bestrafung des Einstehens für die christliche Offenbarung: die Verbannung, die er selbst erleidet, und die Todesstrafe. Ίησου ist, wie του θεου, Gen subj Vgl. Kittel, λέγω 125; Beutler, μαρτυρία 966. Kittel, λέγω 129. Ähnlich Strathmann, μάρτυς 506: „geradezu ein Doppelausdruck". Bousset, Offb 183. Kittel, λέγω 126; vgl. Apk 1,2.9; 6,9; 12,11; 20,4 und ebd. 125f. S.o. S. 17f.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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Johannes, sondern die aller Christen; dies legen folgende exegetische Beobachtungen nahe. Die Glaubenden werden 3,8 für έτήρησάς μου τον λόγον και ουκ ήρνήσω τό δνομά μου gelobt, womit sachlich nichts anderes gemeint ist als in der oben erwähnten Doppelaussage. Diese erscheint freilich in einer Variation: Statt vom λόγος του θεου ist von dem λόγος μου (= Jesu) die Rede und statt von der μαρτυρία Ίησου von ούκ ήρνήσω τό δνομά μου. Doch die inhaltlichen Unterschiede sind gering: So, wie der Apokalyptiker Gottesprädikationen auch für Christus verwendet233, darf man Analoges in 3,8 für den λόγος annehmen 234 ; und das Nichtverleugnen des Namens Jesu ist tatgewordene μαρτυρία Jesu, eine von verschiedenen Formen, in denen sich nach der Apokalypse die christliche Offenbarung darbieten kann. In 3,10 erfolgt Lob für έτήρησας τον λόγον της ύπομονής μου, womit - ähnlich der Doppelaussage in 1,9 - der zweifache Aspekt der christlichen Offenbarung, nämlich als λόγος (Jesu?, Gottes?) und als υπομονή zum Ausdruck kommt. Letztere stellt (als „Standhaftigkeit" bzw. „Harren"), ähnlich dem ούκ ήρνήσω τό δνομά μου 3,8, als tatgewordene μαρτυρία Ίησου wieder eine Form der christlichen Offenbarung dar. Die Christen werden als solche beschrieben, οί τηρουντες τάς έντολάς του θεου και έχοντες την μαρτυρίαν Ίησου (12,17; ähnlich 19,10: οί εχοντες τήν μαρτυρίαν Ίησου). In 12,17 begegnet also die von 1,9 her bekannte Doppelaussage, jedoch leicht variiert: Anstelle von λόγος erscheint έντολαί. Diese sind freilich wieder eine Form der in 1,9 u.ö. als λόγος τοΟ θεου bezeichneten, allgemeinen christlichen Offenbarung 235 . - Daß das £χειν τήν μαρτυρίαν Ίησου (12,17; 19,10) den Glaubenden dringend aufgetragen ist, ergibt sich aus der wiederholten Mahnung Jesu: ο ϊ χ ε τ ε κρατήσατε, 2,25; κρά τει 8 £χεις, 3,II236.

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So sind beispielsweise Α und Ω in 1,8 Gottes-, in 22,13 Christusprädikationen, vgl. Roloff, Offb 211. Dies läßt sich um so mehr vertreten, als in 3,10, also der unmittelbaren Nachbarschaft von 3,8, sowohl Jesus als auch Gott Subjekt von λόγος sein können, der Apokalyptiker also absichtsvoll λόγος θεου und λόγος Ίησοΰ ineinander schaut. Zu ή έντολή s.u. B.2.2.a) und B.2.3.b). Vgl. Zahn, Offb 185.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

Welche Konsequenzen die Treue zur christlichen Offenbarung für die Glaubenden haben kann, ist mit dem Geschick des Johannes einerseits und dem der Märtyrer 6,9; 20,4 andererseits ausgedrückt: Wie ihm droht den bekennenden Christen Verbannung oder ähnliches, z.B. Haft237, wie den Märtyrern von 6,9; 20,4 darüber hinaus aber auch die Todesstrafe. Dabei muß vom Wortfeld um μαρτυρία her festgehalten werden, daß Johannes die völlige Lebenshingabe der Christen durchaus als mögliche Konsequenz darstellt, ja sogar empfiehlt, sie jedoch keineswegs fordert: 12,11 sagt zwar von denen, die δια τον λ ό γ ο ν της μαρτυρίας αύτών „siegten", daß sie ούκ ή γ ά πησαν την ψυχή ν αύτών αχρι θ α ν ά τ ο υ , aber letzteres erscheint nicht als Bedingung des νικαν 238 ; die Bereitschaft zum Blutzeugnis stellt eher eine Empfehlung des Apokalyptikers dar, drückt also eine vorbildliche Haltung aus. - Auch rechnet 20,4f. mit zwei Gruppen von Regenten des Tausendjährigen Reiches, nämlich einerseits mit auferstandenen Blutzeugen (αί ψυχαί των πεπελεκισμένων κτλ) und andererseits mit jenen, die in der Bedrängnis durch das Tier (Apk 13) standhaft geblieben sind und unmittelbar vor Beginn des Millenniums noch leben (και οΐτινες ού προσεκυνησαν κτλ) 239 ; letztere sind al-

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Apk 2,10 könnte beispielsweise an eine zeitlich begrenzte Haftstrafe von confessores gedacht sein. Denn das xcci V. 11c führt den Vordersatz V. llab weiter und gibt mitnichten einen dritten Grund für den Sieg der V. IIa genannten Überwinder an; vgl. Hadorn, Offb 134. Diese Interpretation, von Bousset, Offb 437f. vorgetragen, ist die dem Text am besten entsprechende. Denn im Gegensatz zu der verbreiteten Auslegung, es handele sich nur um die eine Gruppe der πεπελεκισμένων, die mit και οΐτινες κτλ näher umschrieben würden, wird hier das καί angemessen berücksichtigt (vgl. U.B. Müller, Offb 337), und das οϊτινες muß nicht als inkongruente Anknüpfung an das πεπελεκισμένων aufgefaßt werden (so aber beispielsweise Lohmeyer, Offb 162). Im übrigen kann Johannes gar nicht nur die eine Gruppe der πεπελεκισμένων meinen, denn diese wäre dann ja auf die Resistenten von Apk 13 beschränkt! Die Märtyrer von 6,9-11 stellen aber eine andere Personengruppe dar als die Gläubigen, die Kap 13 von dem Tier verfolgt werden. - Zudem entspricht die gebotene Interpretation nicht nur der Aussage des Textes 12,11, sondern auch der von Apk 13 selbst: Johannes rechnet nämlich in den beiden indefiniten (!) Konditionalsätzen 13,10ab alternativ mit Gefängnis oder Tod, und nirgendwo ist davon die Rede, daß alle bekennenden Christen tatsächlich auch umgebracht werden. Dies legt auch 13,16f. na-

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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so confessores, die vielleicht mit Gefängnis oder Verbannung bestraft worden sind. Dennoch empfiehlt Johannes auch hier das Blutzeugnis, denn in V. 5 wird nachdrücklich, „um den Lohn der Märtyrer besonders hervorzuheben" 240 , erwähnt: oi λοιποί των νεκρών ουκ έζησαν; ferner gilt den Blutzeugen der Makarismus V. 6. 3. Νικάω Dieses ethische Motiv241 begegnet erstmals in 2,7, dem Überwinderspruch des ersten der sieben Sendschreiben an die Gemeinde in Ephesus. Als fester formaler Bestandteil der Sendschreiben bestehen die Überwindersprüche 2,7.11.17.26-28; 3,5.12.21 aus einer „Partizipialwendung (ό νικών bzw. τω νικώντι), die einen Bedingungssatz vertritt, und einem anschließenden futurischen Hauptsatz" 242 ; die Partizipialwendung gibt also die Bedingung an, unter der das im Hauptsatz verheißene ewige Leben dem Glaubenden zukommen soll243. Somit haben die Überwindersprüche mahnende Funktion: sie wollen zum ν ι κ α ν aufrufen 244 . - Bemerkenswert ist, daß die Überwindersprüche zur jeweiligen Situation der Gemeinde zurückkehren245 was durch das Aufgreifen von Motiven und Themen der οΐδα-Abschnitte deutlich wird: 2,7 ist als Verheißungswort das Spiegelbild zur Gerichtsdrohung V. 5246 ; 2,11 setzt das Tod/Leben-Motiv von V. 10 fort 247 ; das Manna 2,17 steht als Himmelsspeise im Gegensatz zur Götzenspeise, zu der sich nach V. 14f. Gemeindeglieder haben verführen lassen 248 ; die Ausführlichkeit des Überwinderspruches 2,26-28,

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he, wo davon ausgegangen wird, daß die Uberlebenden unter den Gegnern des Kaiserkults wirtschaftlich boykottiert werden. Bousset, Offb 438. Mit 17 von 28 ntl. Belegen ist das Verb νικάω „Vorzugswort der Apk" (Karrer, Joh-Offb 216). Hahn, Sendschreiben 381. Nur einmal, in 2,26, ist der Vordersatz erweitert, vgl. ebd. Vgl. ebd. 383 und U.B. Müller, Offb 94. Vgl. U.B. Müller, Offb 94, der freilich νικάω hier mit „Durchhalten" bzw. „Standhalten" wiedergibt; vgl. dazu die berechtigte Kritik bei Karrer, Joh-Offb 217 mit Anm. 338. Vgl. Kraft, Offb 54. Vgl. U.B. Müller, Offb 104. Vgl. Roloff, Offb 53. Vgl. Hadorn, Offb 50.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse der die kommende Herrschaft der Überwinder sehr hervorhebt, mag ihren Grund in der aktuellen, in V. 20ff. beschriebenen Situation der Gemeinde haben 249 ; 3,5 greift eindeutig das Kleidermotiv von V. 4 auf 250 und weist mit ούτως auf das rechte Verhalten der ebenda erwähnten όλίγα όνόματα hin251; die Verheißung des Überwinderspruches 3,12 kehrt zu dem das Sendschreiben durchziehenden Motiv des Öffnens zurück 252 ; 3,21 setzt mit der Verheißung des eschatologischen Herrschens mit Christus das Motiv der Gemeinschaft fort, das in 3,20 zum Ausdruck kam (Tischgemeinschaft) 2 5 3 .

Ist somit der enge sachliche Zusammenhang der Überwindersprüche mit den vorangegangenen οιδα-Abschnitten evident, läßt sich die Aussage J. Roloffs zu 2,7, daß der Überwinderspruch „die auf die aktuelle Gemeindesituation bezogenen Mahnungen und Warnungen zusammenfaßt in der Aufforderung zum ,Überwinden'11254 auch auf die anderen Überwindersprüche der Sendschreiben übertragen. Somit bedeutet νικάω in Apk 2f., sich gemäß dem im jeweiligen Sendschreiben geäußerten Lob und Tadel sowie den dort ausgesprochenen Warnungen und Mahnungen zu verhalten und, wo dies vom Apokalyptiker gefordert wird, Umkehr zu vollziehen 2 ". 249

Sie ist offensichtlich von Anpassungsbereitschaft an heidnisches Brauchtum bedroht, und mit dem Überwinderspruch verheißt ihr Joh, daß die Weltherrschaft nicht dem Heidentum, sondern allein den Glaubenden gebührt; vgl. U.B. Müller, Offb 121; Lohmeyer, Offb 30. 250 Vgl. Kraft, Offb 78; U.B. Müller, Offb 126f. 251 Vgl. Zahn, Offb 300f., der den Anfang des Überwinderspruches richtig übersetzt: „Wer in dieser Weise ... siegt" (ebd. 296. Hervorhebung von mir). 252 Vgl. Roloff, Offb 62; den Überwindern wird Jesus Zugang zur Heilsgemeinde der Endzeit schaffen, die mit dem Bild des Tempels gemeint ist (vgl. ebd.). 253 Vgl. Schlatter, Erläuterungen 432. 254 Roloff, Offb 50 (Hervorhebung von mir), der jedoch in diesem Zusammenhang das in den Sendschreiben (auch in dem an die Gemeinde in Ephesus) ergehende Lob des Apokalyptikers nicht erwähnt; als Bestandteil der Paraklese des Joh gehört es freilich mit den Mahnungen und Warnungen zusammen und wird mit diesen in der Aufforderung zum „Überwinden" aktualisiert. 255 w e i | die Umkehr-Forderung in fünf der sieben οΐδα-Abschnitte (vgl. 2,5.16.21f.; 3,3.19) erhoben wird, ist Wendland, Ethik 118f. zuzustimmen, der in der Apk „Umkehr" und „Siegen" aufeinander bezogen sieht: In der „Gegenwart Christi kann die neue Entscheidung gefällt, kann die Rückkehr vollzogen werden. Damit ist der Weg der Überwindung, zum ,Siegen' ... eröffnet".

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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Da in den Sendschreiben zum Verhalten der Adressaten in ihrer Verfolgungssituation betont Stellung genommen wird (s.o. B.l.l.), liegt beim νικάω der Überwindersprüche ein besonderer Nachdruck auf dem rechten Verhalten angesichts der äußeren und inneren Bedrohung der Gemeinden. Mit νικάω wird ihnen beispielsweise aufgetragen, υπομονή zu üben, den λόγος Jesu bzw. Gottes zu bewahren, bis zum Tode πιστός zu sein usw. Zunächst ist also festzuhalten, daß νικάω die allgemeine Bedeutung des rechten Verhaltens - in den Sendschreiben gemäß dem durch das Wort des erhöhten Christus zum Ausdruck gebrachten Gotteswillen - eignet, eine Interpretation, die vom Uberwinderspruch 21,72S6 getragen wird, wo νικάω „als generalisierendes Gegenbild zu allem widergöttlichen Tun"257 (21,8) erscheint258. Νικάω ausschließlich im Sinne von rechtem Verhalten zu verstehen, griffe allerdings zu kurz, denn das darin enthaltene Motiv des Siegens im Kampfe käme zu wenig zum Ausdruck. Aber gerade dieses Motiv, hinter dem die Vorstellung steht, daß alles Weltgeschehen ein unaufhörlicher Kampf zwischen Gott und widergöttlichen Mächten ist259 und in dem der Mensch letzteren unterliegen oder sie besiegen kann260, durch256 257 258

259

260

21,7 ist der einzige Überwinderspruch außerhalb der Sendschreiben; siehe dazu Hahn, Sendschreiben 383 Anm. 92; U.B. Müller, Offb 352f. Karrer, Joh-Offb 191 Anm. 226. Dieses Argument erhält durch die formale Nähe von 21,7 zu den Überwindersprüchen der Sendschreiben besonderes Gewicht. - Die hier vorgetragenen Beobachtungen stützen die Kritik T. Holtz' am Ansatz F. Hahns, das νικάω der Überwindersprüche aus dem Horizont einer Leidenstheologie heraus zu erklären (vgl. Holtz, νικάω 1150). In der Tat ist die Interpretation Hahns, wonach das νικάω der Überwindersprüche „ausschließlich im Blick auf den Tod" (ders., Sendschreiben 383) zu verstehen sei, von dem hier untersuchten Kontext der Sendschreiben her nicht überzeugend. Vielmehr kann nach dem Zeugnis der Apk die Erfüllung des Gotteswillens für den Glaubenden den Tod bedeuten, in den Sendschreiben steht dies jedoch nicht im Vordergrund der Textaussage. Vgl. Roloff, Offb 50. Es ist für die Ekklesiologie der Apk kennzeichnend, daß Joh „die Auseinandersetzung der Kirche mit dem sie verfolgenden römischen Staat durchweg mit militärischen Vokabeln beschreibt" (Böcher, Israel 57): ποιέω πόλεμον, νικάω, άποκτείνω usw., vgl. 11,7; 12,17; 13,7 und die Überwindersprüche der Sendschreiben (vgl. ebd.). Vgl. Holtz, νικάω 1150.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

zieht das ganze Buch, und die Überwindersprüche erinnern daran, daß die Gemeinden im Kampf stehen 361 . Dabei haben die Glaubenden das Wort „Sieg" in seinem vorläufigen, immanenten Sinne gegen sich262: Die Νικο-λαΐται der Sendschreiben sind über einen Teil des Gottesvolkes tatsächlich - wie der Name schon sagt 263 - siegreich, der erste apokalyptische Reiter zieht über die Welt νικών και ί ν α νικήση (6,2), und das Tier besiegt die beiden Zeugen (11,7) und alle Heiligen (13,7). Aber dabei bleibt es nicht, denn dieser immanente Sieg wird durch den des Christus 17,14 zuschanden und ist schon längst durch das - in transzendentem Sinn zu verstehende - ένίκησεν ό λέων ό έκ της φυλής 'Ιούδα (5,5) zunichte gemacht, das „letzte(n) und unbegrenzte(n) Sieg"264 bezeichnet. An diesem schon jetzt Anteil zu haben, ist den Glaubenden mit l,5f.9; 5,9f.; 12,11a zugesagt; den Sieg selbst zu erreichen, wird ihnen - scheinbar paradox 265 - mit den Überwindersprüchen der Sendschreiben (und dem in 21,7) aufgetragen. Auftragscharakter hat ebenfalls 15,2266, eine Stelle, die zugleich deutlich macht, wie sich in der Verfolgung durch die widergöttlichen Mächte das νικαν vollzieht und der bereits in den Sendschreiben ausgedrückte Gotteswille in menschliche Tat umgesetzt wird: Die am θάλασσα υαλίνη stehenden Harfenspieler sind νικώντες, weil267 sie sich dem Kaiserkult kompromißlos widersetzten, indem sie die Anbetung des Tieres (bzw. seines Bildes) und die Annahme seines Zeichens an Hand oder Stirn (vgl. 13,4.8.12.14-17) verweigerten. Diese νικώντες sind nicht notwendig Blutzeugen, auf jeden Fall aber Glaubende, denen der Gehorsam gegen Gott und Christus wichtiger war als ihr eigenes Leben 268 . Dies entspricht der generellen Vorstellung der Apokalypse, wonach das νικάω in den Märtyrertod führen kann, wie auch Jesus selbst im Tode gesiegt hat 261

Vgl. Kraft, Offb 54. 262 V g l Bauernfeind, νικάω 943. 263 Zu diesem Namen s.o. B.l.l.c) S. 21, Anm. 60. 264 Bauernfeind, νικάω 944. 265 Zu dieser Paradoxie s.u. 266 Mit 15,2-4 will Joh die Christen „ermuntern, im Kampf um ihren Christusglauben nicht zu erlahmen" (Giesen, Apk 121). 267 Das νικαν wird als durch die Glaubenstreue verwirklicht gedacht (vgl. Hadorn, Offb 159), „the martyrs have triumphed over the Beast by proving faithful" (Charles, Rev 2 33; Hervorhebung von mir). 268 Vgl. Roloff, Offb 158.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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(3,21), jedoch nicht durchgehend an das Blutzeugnis gedacht ist 269 . Auch 12,11, wo sicher die allgemeine Verfolgungssituation der Christen im Blick ist 270 , Johannes vielleicht aber insbesondere an Prozesse vor römischen Beamten denkt271, handelt vom Sieg der Glaubenden: Das νικαν über den Teufel ist ihnen möglich δια το αίμα του άρνίου και δια τον λόγου της μαρτυρίας αυτών; das Blut, das Jesus am Kreuz vergossen hat, und das Offenbarungswort Gottes, für das die Uberwinder Zeugnis ablegen 272 , ermöglichen den Sieg über alle gottfeindliche Macht. Es wirken also die Heilstat Jesu als das „entferntere Mittel"273 und das treue Zeugnisablegen der Glaubenden im Hier und Jetzt zusammen, was an die oben erwähnte scheinbare Paradoxie erinnert: Als solche, die am Sieg Jesu bereits Anteil haben, bleibt es den Christen dennoch aufgetragen, je und je neu (hier: im treuen Zeugnisablegen; in 15,2: im kompromißlosen Verweigern des Kaiserkults; in den Sendschreiben: im Rechtverhalten gemäß dem dort ausgedrückten Gotteswillen) die widergöttlichen Mächte zu besiegen. Zusammenfassend ist demnach zum Thema ethische Motive, die unmittelbar mit der Verfolgungssituation zusammenhängen, zu sagen: Johannes trägt den Empfängern mit großem Nachdruck υπομονή auf, die vor allem Standhaftigkeit in Verfolgung und 269 270 271

272

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Vgl. U.B. Müller, Offb 94f. Vgl. Lohse, Offb 74; Kraft, Offb 169. „Vs. 11, by mentioning the testimony of the brethren and their death, indirectly brings earthly courts to mind. ... The Christians have been on trial for their faith ..., presumably before Roman magistrates" (A.Y. Collins, Combat Myth 141). Aber das Zeugnisablegen der Christen ist - gegen Collins - nicht auf derartige Prozeßsituationen zu beschränken; vgl. Karrer, Joh-Offb 216f. Anm. 337. Die grammatische Analogie der Ausdrücke δια τό αίμα κτλ und δια τον λόγον κτλ „verlangt auch logische und sachliche Analogie" (Kraft, Offb 169). Deshalb kann man nicht unter τό αίμα etwas von den Überwindern Empfangenes (etwa die Sakramente) und unter τον λόγον etwas von ihnen Gegebenes (ihr „Zeugniswort") verstehen, sondern die Überwinder „müssen für beide Begriffe entweder als Spender oder als Empfänger gedacht werden" (ebd.). Von 1,5; 5,9 her liegt es nahe, das αίμα als empfangene Gabe zu verstehen, nämlich als das Blut des Lammes, das es bei seinem Erlösungstod für die Glaubenden vergossen hat; vom Gen subj του θεοΰ 1,9; 6,9; 20,4 her dürfte λόγος das Offenbarungswort Gottes, für das sie Zeugnis ablegen, meinen (letzteres vgl. Bousset, Offb 342). Bousset, Offb 342.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

Leiden bedeutet, die er durch die Bedrängnisse von nichtchristlicher Seite an die Gemeinden herangetragen sieht. Konkret bedeutet υπομονή, die Anbetung des „Tieres" bzw. seines Bildes und die Annahme seines Malzeichens an Stirn oder Hand zu verweigern, selbst wenn dies mit Gefängnis oder Tod bestraft werden sollte. Auch sollen die Empfänger für λόγος του θεου und μαρτυρία Ίησου einstehen, also Treue zur christlichen Offenbarung mit allen Konsequenzen bewahren. Die möglichen Folgen solchen Handelns werden mit der Strafe der Verbannung und der Todesstrafe deutlich aufgezeigt. Dabei stellt Johannes die völlige Lebenshingabe als empfehlenswertes, nicht aber als unbedingt erforderliches Verhalten dar. Schließlich ist den Adressaten der Apokalypse νικάω aufgetragen, das neben der allgemeinen Bedeutung des rechten Verhaltens vor allem das „Uberwinden" in Verfolgungssituationen bedeutet; dieses wird zum Beispiel darin vollzogen, sich dem Kaiserkult kompromißlos zu widersetzen. Weil das Bestehen oder Nichtbestehen der Glaubenden in der Verfolgungssituation deren Verhältnis zu Gott und Christus widerspiegelt, ist in den angeführten Verhaltensempfehlungen im wesentlichen die Treue zu Gott ausgedrückt. Wegen der Dominanz der ethischen Motive, die mit der Verfolgungssituation zusammenhängen, läßt sich die Treue zu Gott als „Hauptgebot" der Apokalypse bezeichnen. b) Ethische Motive aus dem Bereich des Dekalogs 1. Zum ersten Gebot274 Das erste Gebot kommt in seinem Wortlaut der Septuaginta (εγώ είμι κύριος ό θεός σου, ... ούκ έσονται σοι θεοί έτεροι πλην έμου, Εχ 20,2f.) in der Apokalypse nicht vor. Der Sache nach spielt es aber eine große Rolle. 274

Die in dieser Untersuchung verwendete Zählweise der Dekaloggebote war im antiken Judentum weit verbreitet (vgl. etwa Josephus, Ant 3,91f. und Philo, SpecLeg pass, [hier jedoch mit der Reihenfolge der Gebote 6 und 7 entsprechend der LXX]); siehe dazu auch Greenberg, Decalogue 1441ff. - Diesen antiken Beispielen entspricht die Nuraerierung der Dekaloggebote im Heidelberger Katechismus (vgl. Weber, Katechismus 49f.).

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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Im Grunde ließen sich alle ethischen Motive, die unmittelbar mit der Verfolgungssituation zusammenhängen (B.2.1.a) unter dem ersten Dekaloggebot verhandeln. Denn die von Bedrängnis und Verfolgung geprägte Situation der angeschriebenen kleinasiatischen Gemeinden soll durch υπομονή, τηρεΐν τον λόγον του θεου και την μαρτυρίαν Ίησου, νικάω usw. (s.o.) bewältigt werden, die nichts anderes als Ausdruck der Treue zu Gott und Christus sind; das erste Gebot steht deshalb hinter den Anweisungen zum oben in B.2.1.a) beschriebenen, rechten Verhalten in der Situation der Gemeinden. Weil es sich jedoch außer in den oben beschriebenen Verhaltensempfehlungen noch in anderer, direkterer Form in der Apokalypse ausdrückt, wird das erste Gebot hier gesondert betrachtet. In diesem Zusammenhang ist 2,4 zu nennen, wo der ephesinischen Gemeinde vorgeworfen wird, την ά γ ά π η ν την πρώτην verlassen zu haben. Hierin primär oder ausschließlich den Mangel an Liebe der Gemeindeglieder untereinander kritisiert zu sehen 275 , verbietet sich aus folgenden Gründen: Der Überwinderspruch V. 7 verheißt Anteil am „Baum des Lebens", nennt also ein Motiv aus dem Zusammenhang der Sündenfallgeschichte (vgl. Gen 2,9; 3,22)276. Die sachliche Nähe der Überwindersprüche zu den οΐδα-Abschnitten der Sendschreiben 277 bestätigt sich aufs neue, denn mit der Vorstellung vom tiefen Fall V. 5 dürfte Johannes auf den Sündenfall anspielen 278 . Das Verlassen der „ersten Liebe" läßt sich somit als mit diesem verglichen verstehen 279 , weshalb α γ ά π η die Liebe zu Gott bzw. Christus 280 meinen dürfte.

275 276 277 278

279

280

So Bousset, Offb 205; U.B. Müller, Offb 103. Vgl. Hadorn, Offb 44; U.B. Müller, Offb 104. S.o. B.2.1.a)3., S. 47f. Dieser wird im antiken Judentum wie im NT mit παράπτωμα (vgl. V. 5: πίπτω!) bezeichnet: Weish 10,1; Rom 5,15.17f.; siehe dazu Michaelis, πίπτω 172. Daher ist Lohmeyer, Offb 23 zuzustimmen: Die Verheißung von V. 7 blickt „wohl auf 4. 5 zurück; wenn dort das Verlassen der ersten Liebe' als ein .Fall' bezeichnet wurde, in leiser Anspielung auf den .ersten Fall' im Paradiese, so winkt hier dem Sieger Rückkehr ins Paradies und Leben dort". Da Jesus in den Sendschreiben der Sprecher ist (vgl. die Botenformeln 2,1.8.12.18; 3,1.7.14), ist in Apk 2f. eher die Christus- als die Gottesbeziehung im Blick. Weil Joh aber Gottesprädikationen auch für Christus verwendet (vgl. 1,8 und 22,13) und für ihn „Gott und Jesus

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

Dies legt auch die Tatsache nahe, daß für den Apokalyptiker „das alttestamentliche Bild der Ehe Gottes mit dem Volk von großer Bedeutung ist"281, was sich vor allem daran zeigt, daß er die Gemeinde als Braut Christi versteht282 (vgl. Kap. 12; 19,7f. 21,9 u.ö.). In diesem Kontext drückt 2,4 ein Nachlassen der Glaubenden in der Liebe zum „Bräutigam" Christus aus. 'Αγάπη auf Christus oder Gott zu beziehen, läge ferner nahe, wenn das Motiv des Engelsturzes Jes 14,12 im Hintergrund von V. 5 steht283; denn in diesem Bild ist es Gott, von dem der Abfall vollzogen wird. Mit 2,4 kritisiert Johannes demnach ein Nachlassen der Liebe zu Gott bzw. Christus. Die dadurch gestörte personale Bindung an Gott hat freilich ihre Auswirkungen im Umgang der Glaubenden miteinander284, weshalb άγάπη auch (allerdings erst sekundär) die Bedeutung „Bruderliebe" eignet28S. Um die Gottes- bzw. Christusbeziehung der Glaubenden - und damit um die Erfüllung des ersten Dekalog-Gebotes geht es auch 3,14-22 im Sendschreiben an die laodizenischen Christen. Jesus, der sich in der Botenformel V. 14 als ό μάρτυς ό πιστός καί αληθινός (vgl. 1,5) vorstellt, „vermißt solche radikale Zeugnisbereitschaft in Laodizea"286; das χλιαρός zeigt an, daß die Glaubenden einem entschiedenen „Ja zu Christus"287, das seinem der Gemeinde zugesprochenen άμήν (V. 14) entsprechen würde288, aus dem Wege gehen. Diese Störung des Verhältnisses zu Christus und Gott wird auch durch V. 20 indiziert, der die Mahlgemeinschaft der Glaubenden mit

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286 287 288

funktionsgleich" (Roloff, Offb 212) sind, lassen sich die Liebe zu Gott und die zu Christus nicht gegeneinander ausspielen. Kraft, Offb 56f. Vgl. ebd. 57. Sicher ist dies nicht, aber immerhin denkbar; vgl. Roloff, Offb 49; Ritt, Offb 25. Vgl. Giesen, Apk 40. Zum Ganzen, insbes. in Zusammenhang mit der historischen Situation der ephesinischen Gemeinde, siehe auch oben B.l.l.c), S. 1922. Somit ist der Auffassung Karrers zu widersprechen, άγάπη 2,4 bleibe „im Zusammenhang unbestimmt" (Joh-Offb 204), und es lasse sich nicht sagen, ob damit primär die Liebe der Gemeindeglieder untereinander oder die zu Gott bzw. zu Christus gemeint sei (vgl. ebd. 205 mit Anm. 285). Roloff, Offb 63; vgl. Giesen, Apk 50. Giesen, Apk 50. Vgl. ebd.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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Jesus für den Fall verheißt, daß jene die in V. 19 geforderte Umkehr vollziehen. Entsprechend kann man darauf schließen, daß bereits in V. 15 das Fehlen genau dieser „communion with Christ" 289 kritisiert wird290. Ist somit die Forderung des Apokalyptikers nach konsequenter Treue zum ersten Gebot gegenüber den ephesinischen und laodizenischen Christen evident, bleibt im Rahmen der in den Sendschreiben ergehenden Paraklese noch an seine Ermahnungen im Zusammenhang der die Gemeinden bedrohenden christlich-libertinistischen Lehre zu erinnern 291 . Denn diese, von den Christen in Ephesus abgewiesen, von denen in Pergamon und Thyatira jedoch rezipiert, stellt nicht nur eine Gefahr für die Gemeinschaft von Juden- und Heidenchristen in den Gemeinden dar, sondern vor allem die Unbedingtheit des ersten Gebotes in Frage: Praktizierten die Empfänger der Apokalypse φ α γ ε ΐ ν είδωλόθυτα, so paßten sie sich paganer Allerweltsmeinung an. Dadurch würden sie sich zwar wirtschaftliche Nachteile und soziale Ächtung (bis hin zur lebensgefährlichen Bedrohung durch die Behörden) ersparen, ihre spezifisch christliche Identität aber durchaus verleugnen und so gegen das erste Gebot verstoßen 292 . In den Sendschreiben sind Kenntlichmachung der Defizite im Bereich des ersten Gebotes konsequent mit einer Aufforderung zur Umkehr (vgl. 2,5.16.21f.; 3,19) verbunden; so wird den Christen die Möglichkeit gegeben, durch Buße zu fester Gottes- und Christusbeziehung zu gelangen. Auch in 9,20 finden sich die beiden Motive erstes DekalogGebot und Buße nebeneinander, freilich in von der Situation der Sendschreiben verschiedenem sachlichen Kontext: Sind in den Sendschreiben christliche Empfänger im Blick, so ist es in 9,20 die nichtchristliche Weltbevölkerung; geht es hier um die Umkehr zu Gott, so in den Sendschreiben mindestens ebensosehr um die zu Christus; dienen die in Kap. 8f. geschilderten Plagen der Erziehung der Menschheit auf die Umkehr zu Gott

289 290

291 292

Charles, Rev 195. Zum Ganzen, insbes. im Zusammenhang mit der historischen Situation der laodizenischen Gemeinde, siehe auch oben B.l.l.c), S.29f. Dazu s.o. B.l.l.c). Das in den Sendschreiben mit φ α γ ε ΐ ν είδωλόθυτα zweimal verbundene πορνεΰσαι (vgl. 2,14.20) hat dort primär nicht die Bedeutung des Abfalls von Gott, s.o. B.l.l.c)., S. 21 Anm. 61.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

hin293, folgt gemäß den Sendschreiben das Gericht, wenn die Umkehr nicht vollzogen wird294. Formal ist 9,20 eng mit dem darauffolgenden Lasterkatalog V. 21 verknüpft: Die beiden Verse schildern zusammen die Wirkungslosigkeit des vorher ergangenen Gerichts 295 und bilden gemeinsam den Abschluß der Visionen von den sechs Posaunen 296 . Außerdem greift V. 21 mit ού μετενόησαν das ουδέ μετενόησαν V. 20 auf 297 , womit die Reihung der Laster fortgesetzt wird. Hinzu kommt eine enge sachliche Verbindung der zwei Verse, die im Vergleich mit den beiden anderen Lasterkatalogen der Apokalypse (21,8; 22,15) deutlich wird: Drei ihrer Grundbestandteile, nämlich φόνος, φαρμακεία und πορνεία 298 finden sich auch in 9,21, der vierte Grundbestandteil, die ειδωλολατρία 2 9 9 jedoch - breit ausgeführt - in V 20. Da demnach alle vier durch 21,8; 22,15 vorgegebenen Hauptübel auch am Ende von Kap. 9 nur dann zur Sprache kommen, wenn man die Verse 20 und 21 miteinander verbindet, liegt die sachliche Zusammengehörigkeit beider Verse auf der Hand. Hier greift Johannes aus den wahrscheinlich traditionell vorgegebenen Lastern 300 das der ειδωλολατρία besonders heraus und widmet ihr nahezu den gesamten V. 20; man kann deshalb 9,20f. als erweiterten Lasterkatalog bezeichnen. Die Aussagen des Textes zum ersten Gebot sind eindeutig: Die Menschen, die nach den sechs Plagen noch am Leben sind, vollziehen nicht die gewünschte Abkehr von der Verehrung der δαιμόνια und είδωλα (V. 20)301, was Johannes „gleichsam mit Verwunderung" 302 registriert. Wie Paulus 1 Kor 10,20 erblickt auch der Apokalyptiker im Anbeten von Dämonen „den geistigen Hintergrund des Götzendienstes" 303 , was seine schroffe Ablehnung des φ α γ ε ΐ ν είδωλόθυτα (s.o.) verständlich macht. 293

Vgl. Roloff, Offb 105. 294 V g l (j a s ε [ μή bzw. εάν (ουν) μή κτλ 2,5.16.22; 3,3. 295 Vgl. Hadorn, Offb 110; Ritt, Offb 57. 296 Mit 10,1 ff. setzt ein Zwischenstück zwischen sechster und siebter Posaune ein, vgl. ebd. 111 und Lohse, Offb 60f.67. 297 Vgl. Bousset, Offb 306; Lohmeyer, Offb 83. 298 Vgl. Böcher, Lasterkataloge 76. 299 Vgl. ebd. 300 Vgl. Roloff, Offb 201; Karrer, Joh-Offb 251 Anm. 120. 301 Vgl. Roloff, Offb 105; Kraft, Offb 144. 302 Böcher, Lasterkataloge 78. 303 Hadorn, Offb 110; vgl. auch Böcher, Christus 61f.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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- Beim Götzendienst dürfte er insbesondere an den Kaiserkult denken, was auch der Gleichsetzung von δαιμόνια und είδωλα entsprechen würde; denn nach Apk 13,4 ist die Anbetung des „Tieres" mit der des Teufels parallelisiert. Auch mit der kurzen Nennung der φάρμακα V. 21, welche die Mittel der Magie304 und abgöttischen Zauberei 30S bezeichnen, werden, jedoch weniger ausführlich als in V. 20, Verstöße gegen das erste Gebot angeprangert (dies gilt auch für φάρμακος in den anderen Lasterkatalogen 21,8; 22,15). Von Act 19,18f. her darf man darauf schließen, daß „magische Praktiken in der Volksfrömmigkeit des östlichen Mittelmeerraumes eine große Rolle spielten" 306 ; die Zauberpapyri gerade der Stadt Ephesus wurden in der ganzen antiken Welt vertrieben307. - Nach der Schilderung des Apokalyptikers lassen die Erdenbewohner von der φαρμακεία ebensowenig wie von der πορνεία, die an dieser Stelle (wie schon πορνεύω 2,14.20) primär Geschlechtssünden 308 meint; dies ist vom Kontext der φόνοι und κλέμματα her eindeutig, die auf das sechste und achte Dekalog-Gebot rekurrieren 309 . Von Apk 18 her liegt es jedoch nahe, in πορνεία außerdem - in Sekundärbedeutung - eine Metapher für den Abfall von Gott zu sehen: Nach V. 3 haben π ά ν τ α τά εθνη vom οίνος του θυμού της πορνείας Babylons getrunken, und nach V. 23 wurden ebendiese π ά ν τ α τά εθνη durch ihre φαρμακεία verführt 310 ; diese Parallelisierung erlaubt es, die Begriffe φαρμακεία und πορνεία 9,21 bis zu einem gewissen Grade als dasselbe Übel der Abwendung von Gott zu verstehen. Hinsichtlich der πορνεία ist dies auch durch den lexikalischen Befund gedeckt, der als Sekundärbe-

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Vgl. Roloff, Offb 106. Vgl. Lohmeyer, Offb 83. Roloff, Offb 106. Man wird „an schlichten Alltagszauber zu denken" (Böcher, Lasterkataloge 83 Anm. 15) haben, der von heidnischen Religionen geduldet, von der Theologie des Juden- und Christentums aber verboten wird, da der Umgang mit dämonischen Mächten verunreinigt; vgl. ebd. und ders., Dämonenfurcht 160 mit Anm. 360-362. 161 ff. passim. Vgl. Stockmeier, Eph 551. Vgl. Hadorn, Offb 110. Joh nennt in V. 21 - neben den φάρμακα - also Übertretungen des sechsten bis achten Gebotes,vgl. U.B. Müller, Offb 198. Bousset, Offb 306 weist im Zusammenhang von 9,21, freilich mit anderen Schlußfolgerungen, auf diese Stellen hin.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

deutung „Abfall von Gott", „Abgötterei" (in übertragenem Sinne)311 angibt. Obwohl der Katalog 9,20f. bestimmte heidnische Laster nennt und die Empfänger der Apokalypse nicht unmittelbar anspricht, so gilt ihnen die darin zum Ausdruck gebrachte Paränese trotzdem. Denn die große formale und inhaltliche Nähe zu den beiden anderen Lasterkatalogen der Apokalypse (21,8; 22,15)312, die eindeutig die Leser des Buches im Blick haben313, macht es notwendig, dies auch für 9,20f. anzunehmen. Hinzu kommt ein formgeschichtliches Argument: Wie die beiden anderen Lasterkataloge hat auch dieser seinen Sitz im Leben in der Taufunterweisung; wo die katalogische Paränese aber „an Getaufte ergeht, ist sie Erinnerung an den Lehrstoff des Katechumenats"314. Schließlich besteht mit der breiten Ausführung des Lasters der ειδωλολατρία V. 20 eine sachliche Nähe zum Verbot des Verzehrens von είδωλόθυτα (vgl. 2,14.20), das den angeschriebenen Gemeinden gilt315; auf ähnliche Weise erinnert das Laster der πορνεία V. 21 an die Warnung vor πορνευσαι 2,14.20. Der Lasterkatalog 9,20f. gilt also auch den Empfängern der Apokalypse, und das notwendige ethische Verhalten der Christen wird aus dem abgelehnten Tun der Sünder deutlich erkennbar316.

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Vgl. BA 1389 mit dem Hinweis auf entsprechenden atl. Gebrauch Hos 6,10; Jer 3,2.9; 4 Kön 9,22. Die den Katalogen 9,20f; 21,8; 22,15 gemeinsamen Begriffe stimmen wörtlich überein, nur daß 9,20f. primär die Taten, die beiden anderen Kataloge aber die Täter nennen (vgl. Böcher, Lasterkataloge 75). - Und: Mit Götzendienst, Mord, Zauberei und Unzucht haben alle drei Lasterkataloge einen gemeinsamen Grundbestand (vgl. ebd. 76). 21,8 ist dem Überwinderspruch V. 7 „antithetisch angeschlossen" (U.B. Müller, Offb 353) und zeigt, was Joh unter dem „Überwinder" versteht (vgl. Kraft, Offb 266); somit werden die Adressaten der Apk durch den Lasterkatalog direkt angeredet. Ähnliches gilt für 22,15: Der Lasterkatalog stellt das Gegenstück zum vorangegangenen Makarismus V. 14 dar, und mit beiden wendet sich Joh unmittelbar an die Leser (vgl. Roloff, Offb 211). Böcher, Lasterkataloge 80. Zum Bilderverbot s.u. die Ausführungen zum zweiten Gebot. Somit bewahrheitet sich die oben A.2.2., S. 8f. wiedergegebene, am 4 Esr gewonnene Erkenntnis Münchows auch an der Apk, daß nämlich das Tun der Sünder die negative Entsprechung zum Tun der Gerechten ist und sich deren notwendiges Tun aus dem abgelehnten Verhalten der Sünder erschließen läßt.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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Außerdem droht dem Sünder, der im Sinne von 9,20f. gegen das erste Dekalog-Gebot verstößt, die Strafe der Exkommunikation aus der christlichen Gemeinde. Dies macht die Verwandtschaft des Textes mit den anderen Lasterkatalogen deutlich. Denn 21,8; 22,15 heben - wie auch ihr Kontext - auf die Scheidung von Gottesvolk und Verlorenen ab317: „Der Androhung des (ewigen) Ausschlusses von Lebensbaum und Gottesstadt ... entspricht ohne Zweifel die Strafe der Exkommunikation durch den Gemeindeleiter" 318 . In der Apokalypse findet sich außer an den bisher behandelten Stellen das Thema erstes Gebot noch häufiger, freilich ohne daß - vom Thema der Engelverehrung abgesehen (s.u.) sachlich wesentlich Neues hinzukäme. So wird die Anbetung des Drachen (13,4) und des „Tieres" (13,4.8 u.ö.) ebenso verurteilt, wie die Annahme des Malzeichens des „Tieres" an Stirn oder Hand (13,16f.; 19,20 u.ö.). Alle diese Vergehen gegen das erste Gebot, die im Zusammenhang mit dem Kaiserkult zu sehen sind, entsprechen dem, was in 9,20f. als Dämonenanbetung und Götzendienst gebrandmarkt wurde, und stehen unter dem schonungslosen Gerichtsurteil Gottes. Dieses kündigt Johannes unter anderem 14,9-11 in Verbindung mit einer Aufforderung an die Empfänger der Apokalypse, gegenüber den Verführungen des Kaiserkultes standhaft zu sein (14,12f.; s.o. S. 42f.), an und schildert die Durchführung des Gerichts in Kap. 18-20. Auch die bereits erwähnten Lasterkataloge 21,8; 22,15 bringen hinsichtlich des ersten Gebots - abgesehen von der durch wiederholte Katalogparänese gesteigerten Eindringlichkeit nichts entscheidend Neues. Nur, daß hinsichtlich 22,15 die Möglichkeit des Kontextes von Herrenmahlsfeiern der Adressatengemeinden besteht 319 , was die paränetische Relevanz dieses Katalogs - auch im Blick auf das erste Gebot - und der beiden anderen 9,20f.; 21,8320 noch unterstreichen würde. Somit bleibt abschließend das Thema Engelverehrung zu verhandeln, das zu dem des ersten Gebotes selbstverständlich

317

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So v.a. das εξω 22,15, das die Sünder als außerhalb der Heilsgemeinde befindlich beschreibt. Böcher, Bürger 166. - Zum Methodischen s.o. A.2.2., S. 8f. Vgl. Roloff, Offb 211f.; Karrer, Joh-Offb 251-254. Denn, wie oben gezeigt, sind die drei Kataloge formal und sachlich ganz parallel gestaltet.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

hinzugehört. Denn zweimal, in Apk 19,10 und 22,8f., fällt der Seher nieder, um den Engel Gottes anzubeten; dieser jedoch wehrt ihm beide Male mit der Aufforderung: τω θεω προσκύνησον. Da Johannes an diesen Stellen des Buches den Engel kaum mehr für Christus hat halten können 321 , wird etwas anderes im Blick sein, nämlich eine Botschaft an die Adressatengemeinden 322 . - Kol 2,18 belegt häretische Engelverehrung in demselben geographischen Bereich, in dem die Empfänger der Apokalypse zu lokalisieren sind323; Apk 1,20 bringt die Überordnung Christi über die Gemeindeengel betont zum Ausdruck und könnte eine Abwehr von Engelverehrung oder -Spekulation bei den Adressaten intendieren 324 . Deshalb ist damit zu rechnen, daß mit 19,10 und 22,8f. die in den Empfängergemeinden lebendige Neigung zu Engelspekulation und Engelverehrung abgewiesen werden soll325. Zusammenfassend ist zum Thema erstes Gebot in der Apokalypse zu sagen, daß es in seinem Wortlaut der Septuaginta nicht vorkommt, der Sache nach aber eine große Rolle spielt. Implizit steht es hinter den bereits verhandelten Verhaltensempfehlungen im Zusammenhang der ethischen Motive, die unmittelbar mit der Verfolgungssituation zusammenhängen, kommt in diesen doch wesentlich die Treue zu Gott zum Ausdruck. Explizit drückt sich das erste Gebot dadurch aus, daß Johannes die Störung des Verhältnisses zu Gott und Christus der Angehörigen verschiedener angeschriebener Gemeinden kritisiert. Außerdem verbietet er ausdrücklich die Anbetung von δαιμόνια sowie die Ausübung der Magie (φαρμακεία) und den Abfall von Gott (metaphorisch durch πορνεία ausgedrückt). Auch lehnt er kategorisch sämtliche Handlungen im Zusammenhang des Kaiserkults wiederholt und mit Nachdruck ab. Schließlich untersagt er die Verehrung von Engeln.

321

Vgl. Kraft, Offb 245. Vgl. Roloff, Offb 182. 323 Vgl. ebd_ 46 ; z u r historischen (und geographischen) Situation der sieben Sendschreiben-Gemeinden s.o. B.l.l.c). 324 Vgl. Roloff, Offb 46. 325 vgl. e bd. 182; ähnlich auch Bousset, Offb 429: Joh „polemisiert gegen jüdischen, resp. judenchristlichen Engelkultus". 322

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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2. Zum zweiten Gebot Obwohl das zweite Gebot in der Apokalypse nicht in seinem Wortlaut (Ex 20,4-6 LXX: ού ποιήσεις σεαυτω εϊδωλον ουδέ παντός όμοίωμα ...) erscheint, so spielt doch das Thema eine große Rolle. In dem erwähnten Lasterkatalog Apk 9,20f. wird sehr ausführlich die Verehrung von είδωλα τά χρυσά και τά άργυρα κτλ als schreckliches Vergehen der endzeitlichen Weltbevölkerung angeprangert. Dabei denunziert Johannes die είδωλα als Werke von Menschenhand, wobei er bei der näheren Kennzeichnung des Götzendienstes alttestamentlichen Vorbildern folgt (vgl. Jes 2,8.20; 44,9 ff.; Mi 5,12; Ps 115,4-7; Dan 5,4.23) 326 . Mit Apk 9,20 wird, wie oben im Zusammenhang des ersten Dekaloggebotes gezeigt wurde, auch den Christen das Bilderverbot dringend nahegelegt 327 . Hier wie dort gilt, daß abtrünnige Christen neben jenseitigen Strafen auch ihre Exkommunikation aus der Gemeinde gewärtigen müssen. 3. Zum dritten Gebot Das dritte Gebot (ού λήμψη τό δνομα κυρίου του θεου σου έπί ματαίψ· ού γαρ μή καθαρίση κύριος τόν λαμβάνοντα το δνομα αύτου έπί ματαίφ, Ex 20,7 LXX) kommt in der Apokalypse nirgends explizit oder implizit zur Sprache. 4. Zum vierten Gebot Das vierte Gebot (μνήσθητι τήν ήμέραν των σαββάτων άγιάζειν αύτήν. Εξ ήμέρας έργςί και ποιήσεις πάντα τά £ργα σου· τη δέ ήμέρςκ τη έβδόμη σάββατα κυρίω τω θεφ σου· ... Εχ 20, 8-11) kommt in der Apokalpyse nirgends direkt zum Ausdruck. Allerdings kennt Johannes den „Herrentag", denn er gerät an der κυριακή ήμέρα in Verzückung (1,10). Damit ist nicht der antik-jüdische Sabbat, sondern der christliche Sonntag als Tag der Auferstehung Jesu gemeint, an dem man sich zu gottesdienstlichen Versammlungen einfand328. Johannes

326 327 328

Vgl. U.B. Müller, Offb 198. Dies geschieht ferner mit der strikten Verurteilung der Anbetung des „Bildes" (ή εΐκών) des antichristlichen „Tieres" (vgl. 13,15 u.ö.). Vgl. ebd. 81f. und Rordorf, Sonntag 203 ff.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

mag sich mit den fernen Gemeinden verbunden gefühlt haben, die an diesem Tag zum Gottesdienst versammelt waren 329 . - Man -wird vermuten dürfen, daß Johannes den Sonntag, den ersten Tag der Woche, analog zum alttestamentlichen, antikjüdischen Sabbat im Sinne von Ex 20,8-11 empfiehlt. Anhang (am Ende der Gebote eins bis vier): kultische Motive in der Apokalypse a) Lobgesang, Jubel und ähnliches Lobgesang und Jubel erscheinen in der Apokalypse in den hymnischen Stücken, die oft himmlischen Wesen in den Mund gelegt sind: 1,5 f; 4,8.11; 5,9f.l2 f; 7,10.12; ll,15.17f.; 12,10-12; 15,3f.; 16,5f.; 19,lf.5-8; 22,13"°; sie sind aber auch den Empfängern des Buches aufgetragen, und zwar aus folgenden drei Gründen: a) Sie sind in den Gemeindegottesdiensten verwurzelt 331 , erinnern die Empfänger also an etwas, das sie genau kennen und regelmäßig praktizieren. ß) Sie werden in der Apokalypse von Wesen geäußert, die für die Ethik der Apokalypse als Positiv-Personen vorbildlich und beispielgebend sind332 und werden damit den Lesern der Apokalypse als agendum aufgetragen. γ) Sie enthalten selbst schon Aufforderungen zum Loben und Jubeln, z.B. 15,4: τίς ού μή ..., κύριε, ... δοξάσει τό δνομά σου; (ähnlich auch 19,5.7). Damit spielen Lobgesang und Jubel in der Ethik der Apokalypse eine sehr große Rolle, was sich übrigens auch daran zeigt, daß sie einen großen Raum im Text des Buches einnehmen. b) Beten, bitten Von den 60 Belegen des Neuen Testaments für προσκυνέω entfallen auf die Apokalypse mehr als ein Drittel, nämlich 24. Bereits dieser statistische Befund zeigt die Bedeutsamkeit des 329 330 331 332

Vgl. Lohse, Offb 20. Vgl. Kümmel, Einleitung 410. Vgl. Wengst, Pax Romana 165f. Zum Methodischen s.o. A.2.2., S. 8f.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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„niederkniend huldigen, anbeten, fußfällig verehren" 333 für die Apokalypse an. So ist denn auch immer wieder die Rede von himmlischen Wesen, die Gott anbeten (vgl. 7,11; 11,16; 19,4) bzw. von der Menschheit am Ende des alten Äons, die Götzen oder das antichristliche Tier verehren (vgl. 9,20; 13,12). Kontrastiv erscheinen rechte und falsche Anbetung in 14,6-12: in V. 7 ruft der Engel, der mit einem εύαγγέλιον αίώνιον durch den Himmel fliegt (V. 6): προσκυνήσατε τ φ ποιήσαντι τον ούρανόν και την γήν ..., in V 9-11 erscheinen schlimmste eschatologische Strafandrohungen für jeden, der προσκυνεί τό θηρίον; in V. 12 wird mit ώδε ή υπομονή των αγίων ... das Ganze auf die Empfänger der Apokalypse bezogen 334 . Somit ist auch im Zusammenhang der Anbetung Gottes deutlich, daß die Ethik der Apokalypse sehr stark von der Verfolgungssituation der Gemeinde geprägt ist. Schließlich wird im Zusammenhang des Themas der Engelverehrung 19,10; 22,8f. zweimal die Anbetung eines Engels abgewiesen und die Gottes gefordert. Neben der Anbetung Gottes, die den Empfängern der Apokalypse eindringlich und kompromißlos aufgetragen wird, empfiehlt Johannes ihnen auch das Beten im allgemeinen. Denn an zwei Stellen wird die in hochheiligem himmlischen Raum stattfindende, feierliche Präsentation der προσευχαί των άγίων geschildert (5,8; 8,3f.), die als bzw. zusammen mit Räucherwerk in goldener Schale Gott dargebracht werden; daß Gott die Gebete empfängt, wird mit 8,4 zum Ausdruck gebracht. Der Inhalt der Gebete wird im Text der Apokalypse nicht näher bestimmt, so daß man an Gebet der Frommen jedweder Form zu denken hat. Wegen der Darstellung der Idealsituation der aufsteigenden Gebete ist das Beten den Empfängern der Apokalypse als agendum aufgetragen 33S .

333 334

335

BA 1435. Richtig Roloff, Offb 153: „Indem Johannes sich in V. 12 direkt an die Leser wendet, unterstreicht er, daß sie nicht Zuschauer, sondern unmittelbar Betroffene sind" (Hervorhebung des Originals weggelassen). Entsprechend ist die ergänzende Übersetzung von V. 12a: „Hier ist Standhaftigkeit der Heiligen (gefordert)" (ebd. 151, Hervorhebungen des Originals weggelassen; ähnlich U.B. Müller, Offb 265) sachlich zutreffend. Zum Methodischen s.o. A.2.2., S. 8f.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

c) Opfer Trotz kultischer Begriffe und Aussagen kennt die Apokalypse keinen aktuellen Opferdienst. Das Opfer Christi, das für Johannes von größter Bedeutung ist (vgl. l,5f.; 5,9.12), ist ein Ereignis der Vergangenheit. In der Gegenwart des Johannes spielen sich an kultischen Handlungen nur die Räucherwerke der Gebete der Glaubenden 5,8; 8,3f. ab. Doch handelt es sich bei dem Plur θυμιάματα nicht um Räucheropfer, sodern um Räucherwerk 336 , so daß die Apokalypse ihren Lesern auch keine Räucheropfer als agendum nahelegt. Im Sinne der methodischen Grundsatzbestimmung, daß Handlungsbereiche idealer Situationen den Lesern ethische Verhaltensweisen auftragen können337, ist aber davon auszugehen, daß Johannes ihnen das Entzünden von Räucherwerk bei ihren gottesdienstlichen und Gebetsversammlungen empfiehlt. Von diesem methodischen Grundsatz ausgehend könnte man vermuten, daß nach den Vorstellungen der Apokalypse generell auch der kultische und Opferdienst des Jerusalemer Tempels noch gültig wäre, ist doch immer wieder von ihm - sehr oft auch in ideal-himmlischer Form - die Rede (vgl. u.a. Il,lf.l9; 14,17; 15,5-8). Doch widerspricht dem der Text der Apokalypse selbst, die im Zusammenhang des himmlischen Jerusalem des Eschatons betont aussagt: και ναόν ούκ εΤδον έν αύτη, ό γάρ κύριος ό θεός 6 παντοκράτωρ ναός αύτής έστιν και τό άρνίον (21,22); außerdem ist nach 3,12 der Tempel Gottes die Gemeinde der Glaubenden338. d) Gottesdienst Mit den oben genannten hymnischen Stücken nimmt die Apokalypse häufigen Bezug auf die Gottesdienstfeiern der angeschriebenen Gemeinden. Außerdem erwähnt sie immer wieder himmlische Feiern dieser Art; ein Beispiel hierfür ist 14,1-5, wo die ideale Gemeinde der 144.000 auf Harfen spielend vor Gott singt. Schließlich spricht die Apokalypse direkt (vgl. 3,20) oder im Bilde (vgl. 22,1-3) von der künftigen, ideal dar-

336 337 338

Vgl. Schneider, θυμίαμα 395. Zum Methodischen s.o. A.2.2., S. 8f. Vgl. U.B. Müller, Offb 207.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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gestellten Mahlgemeinschaft der Frommen mit Christus. - Aus alledem folgt, daß Johannes den Empfängern der Apokalypse die Feier des Gottesdienstes und Herrenmahles sehr empfiehlt. Dies wird auch durch 22,14-20 bestätigt, wo nachweislich auf Gottesdienst und Herrenmahl Bezug genommen und ihre korrekte Durchführung (Ausschluß Unbußfertiger und Nichtgetaufter vom Herrenmahl) 339 gefordert wird. Insgesamt, auch unter Berücksichtigung der Punkte a) - c), stellt sich der ideale Gottesdienst nach der Apokalypse als eine Zusammenkunft dar, die von Freude und Ernst zugleich geprägt ist. Lobgesang, Jubel und der Duft von Weihrauch haben in ihm ebensoviel Platz wie (Harfen-?) Musik, Anbetung Gottes und Gebete aller Art. Streng wird jedoch auf die ethische Reinheit der Gemeinde geachtet, und die Unreinen werden nicht zum Herrenmahl zugelassen bzw. exkommuniziert. 5. Zum fünften Gebot Das fünfte Gebot (τίμα τον πατέρα σου και την μητέρα κτλ Εχ 20,12 LXX) kommt in der Apokalypse nirgends zur Sprache, wohl aber die Gebote sechs bis zehn. 6. Zum sechsten Gebot Expressis verbis erscheint das Tötungsverbot, welches das sechste Dekalog-Gebot (ού φονεύσεις, Ex 20,15 LXX) darstellt, in den drei Lasterkatalogen der Apokalypse 9,20 f; 21,8; 22,15. Während 9,21 mörderische Taten im Blick hat (ού μετενόησαν έκ των φόνων αύτών), nennen 21,8; 22,15 die Täter (τοις ... φονευσιν bzw. οί φονεΐς) 340 ; wird in 9,21 von einer Sünde der unbußfertigen Heiden gesprochen 341 - wiewohl auch hier eine Ermahnung an die christlichen Leser der Apokalypse ergeht - 342 , so ist das in 21,8; 22,15 ausgesprochene Tötungsverbot direkt an die Adressaten der Apokalypse gerichtet 343 .

339

340 341 342 343

Vgl. Böcher, Bürger 166; Roloff, Offb 211-213; Karrer, Joh-Offb 251-254. Vgl. oben S. 55-59. Vgl. das oben im Rahmen des ersten Gebotes Gesagte S. 58f. S.ebd. S.ebd. mit Anm. 312.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

Φονευς / φόνος gehört in den Aufzählungen sowohl des Urchristen- als auch des antiken Judentums zum traditionellen Bestand, vgl. neben den genannten Stellen der Apokalypse vor allem Mk 7,21 par.; Rom 1, 29; 1 Petr 4,15; grBar 4,17344; das Wort ist im Deutschen mit „Totschläger", „Mörder" 345 wiederzugeben, φόνος entsprechend mit „Tötung", „Totschlag", „Mord"346. In den Lasterkatalogen der Apokalypse ist damit eine sehr schlimme sittliche Verfehlung ausgedrückt 347 : „jeder Totschläger begeht eine Kapitalsünde" 348 , auf die im Jenseits Höllenstrafen folgen (21,8b). In dieser Welt bleibt ihm der Zugang zur christlichen Gemeinde verwehrt, denn 21,8 und 22,15 haben im Sinne präsentischer Ekklesiologie die Nichtzulassung bzw. den Ausschluß der Frevler im Blick349. Demjenigen Christen, der gegen das sechste Gebot verstößt, droht also die gemeindliche Strafe der Exkommunikation. Obwohl φονεός / φόνος allgemein zu fassen 350 und nicht etwa auf die Mörder Jesu351, den gewalttätigen Mob, der Christen umbringt 352 , oder die römischen Henker zur Zeit Domitians353 in Beziehung zu setzen ist, warnt dennoch der Apokalyptiker konkret auch die Christen vor den mörderischen Freveltaten der Heiden: Nach 18,4 sollen die Glaubenden keinerlei Anteil an den Sünden der gottfeindlichen Stadt Babylon haben, was eine Warnung vor jedwedem Konformismus mit der Lebensweise der „Hure" Babylon impliziert 354 . Diese ist nach 344

345 346 347

348 349 350 351 352 353

354

Vgl. Reader, Stadt 191 und die Auflistung dieser und weiterer Stellen ebd. 190. Vgl. BA 1723. Vgl. ebd. 1724. Vgl. Reader, Stadt 189. Ob in der Apk φόνος und πορνεία die schlimmsten ethischen Verfehlungen darstellen, wie ders. ebd. meint, darf bezweifelt werden: Zwar erscheinen die φονεΐς und πόρνοι in den Katalogen 21,8; 22,15 nebeneinander, aber im Lasterkatalog 9,20f. die entsprechenden Freveltaten φόνος und πορνεία nicht; dort werden ebenfalls Diebstahlssünden angeprangert, die ja auch nichts anderes als ethische Verfehlungen sind. Ebd. 191. Vgl. Böcher, Bürger 164-166. Zum Methodischen s.o. A.2.2., S. 8f. Vgl. Reader, Stadt 191. Eine ebd. 328, Anm. 247 abgewiesene Deutung. So die Auslegung von Swete, Apoc 282, abgewiesen von Reader, ebd. Als mögliche Deutung angeführt von Weiss, Offb 109, abgewiesen von Reader ebd. Vgl. Roloff, Offb 175; Giesen, Apk 138. - Hadorn, Offb 178 kommentiert 18,4 u.a. mit folgenden Worten: „Babel ist nicht nur die Welt-

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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18,24 voll vom Blut der προφηται, δγιοι und π ά ν τ ε ς οί έσφαγμένοι έπί της γης, so daß die Empfänger mit V. 4 gerade auch vor solchen Verstößen gegen das sechste Gebot gewarnt werden. Damit ist sachlich nichts anderes ausgesagt als mit der knappen Nennung der φονεις 21,8; 22,15: Hier wie dort geht es um das Leben entweder in der Stadt Gottes, also der christlichen Gemeinde, oder in der des Frevels, der gottfeindlichen Welt des Imperium Romanum. Im Gegensatz zu φόνος als ethischem Merkmal der gottfeindlichen Welt ist in der Apokalypse das (von Christus geforderte) Leben im Herrschaftsbereich Gottes positiv mit dem Wörtern ά γ ά π η und διακονία angezeigt: α γ ά π η hat in der Apokalypse auch die Bedeutung der Bruderliebe (2,4)3SS und erscheint als allgemeine Tugend 2,19; dort findet sich auch die (geforderte) Tugend der διακονία, was im Deutschen mit „Dienst" 356 , „Dienstleistung" 357 , „Fürsorge" 358 - etwa in Form von Unterstützung der Armen in der Gemeinde359 - wiederzugeben ist. 7. Zum siebten Gebot Ausdrücklich kommt das Verbot der πορνεία, das unter anderem das siebte Gebot des Dekalogs (ού μοιχεύσεις, Ex 20,13 LXX) wiedergibt, in den drei Lasterkatalogen der Apokalypse 9,20f.; 21,8; 22,15 zur Sprache. Wird in 9,21 die unzüchtige Tat erwähnt (οΰ μετενόησαν ... έκ της πορνείας αυτών), so werden in 21,8; 22,15 die entsprechenden Täter angeführt (τοις ... πόρνοις bzw. ol πόρνοι) 360 ; hat 9,21 ein Laster der unbußfertigen Heiden im Blick361 - wiewohl mit dieser Stelle auch die

355 356 357 358 359 360 361

Stadt Rom, es ist das Imperium Romanum, und doch nicht nur das Imperium, es ist die gottfeindliche Welt. Babel ist überall, wo die typischen Symptome dieser Weltkultur sichtbar werden. ... Die Mahung ist für Joh und die Gemeinde höchst aktuell, und wird umso aktueller, je mehr der Rückfall in das Heidentum und die Verweltlichung der christlichen' Welt fortschreiten" (Hervorhebung von mir). S.o. S. 53f. mit Anm. 285. Roloff, Offb 55. BA 369. U.B. Müller, Offb 115. Vgl. ebd. 117. Vgl. oben S. 58 Anm. 312. Vgl. das oben im Rahmen des ersten Gebotes Gesagte S. 58f.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

Adressaten des Johannes ermahnt werden 362 so gilt das in 21,8; 22,15 zum Ausdruck gebrachte Verbot der πορνεία unmittelbar den Empfängern der Apokalypse 363 . Dasselbe geschieht 2,14.20 mit der Warnung vor der Ethik der in Kap. 2 erwähnten Libertinisten, die φαγεΐν είδωλόθυτα και πορνευσαι (2,14.20) empfehlen 364 . Ebenso bezieht sich die Kritik an der Gemeinde in Sardes 3,4, wonach die meisten Christen έμόλυναν τά Ιμάτια αυτών, wahrscheinlich auf sexuelle Freizügigkeit und Ausschweifungen 365 . Πόρνος / πόρνη, πορνεία / πορνεύω usw. werden in antiken christlichen und jüdischen Lasterverzeichnissen häufig erwähnt, vgl. neben den genannten Katalogen der Apokalypse insbesondere Mk 7,21 par.; Gal 5,19; Kol 3,5; Eph 5,3; 1 Tim 1,10; CD 4,17; grBar 4,17 366 . Während πόρνη die Prostituierte, Dirne bezeichnet 3 6 7 und in übertragenem Sinne auch ein Staatswesen meinen kann, das Gott und seinem Volk feindlich gegenübersteht 3 6 8 , bedeutet πόρνος ganz allgemein den Unzüchtigen, Unzucht Treibenden 369 , ohne daß hier an einen übertragenen Sinnzusammenhang zu denken ist. πορνεία ist im Deutschen mit „Unzucht", „Hurerei", „jede Art illegitimen Geschlechtsverkehrs" wiederzugeben 370 , πορνεύω entsprechend mit „huren", „Unzucht treiben" 371 . Ähnlich πόρνη eignet den beiden Letztgenannten auch die übertragene Bedeutung „Abfall von Gott", „Abgötterei" (πορνεία) 372 , „Götzendienst treiben" (πορνεύω) 373 . Da auch in Apk 2 πορνεία / πορνεύω im

362 363 364 365 366

367 368

369

370 371 372 373

Vgl. ebd. S.o. S. 5 5 - 5 9 mit Anm. 312. Vgl. das oben B.l.l.c) mit Anm. 61 Gesagte. Vgl. das oben B.l.l.c), S. 26f. Gesagte. Vgl. Reader, Stadt 191 und die Auflistung dieser und weiterer Stellen ebd. 190. Vgl. BA 1390. Vgl. ebd. mit dem Hinweis auf die entsprechenden Stellen in Apk 17 und 19. Vgl. ebd. Deshalb ist Reader, Stadt 191.328 Anm. 248 zuzustimmen, der eine Einengung auf die Bedeutung „Ehebrecher" (so Lohmeyer, Offb 168f.) abweist. Vgl. BA 1389. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd. 1390.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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wörtlichen Sinne zu verstehen sind374, erscheinen im Rahmen dieser Untersuchung zum siebten Gebot die übertragenen Bedeutungen als nicht relevant. Auch ist πόρνη nicht Gegenstand der hiesigen Betrachtung, da die Apokalypse nur im Zusammenhang der gottlosen Stadt Babylon dieses Wort gebraucht (17,1.5.15f.; 19,2). Mit dem Verbot von πορνεία und πορνεύω sowie der Qualifizierung des πόρνος als üblen Sünder ist allen Lesern der Apokalypse, den männlichen wie den weiblichen 375 , dringend jede Form illegitimen Geschlechtsverkehrs untersagt; dazu gehören neben dem Ehebruch im engeren Sinne376 der Gang zur Prostituierten 377 sowie Homosexualität 378 . In alledem sieht Johannes ganz schlimme Freveltaten 379 , durch welche sich die Menschen vom endzeitlichen Heil ausschließen 380 ; dies wird ihnen mit 21,8 (ό θ ά ν α τ ο ς ό δεύτερος) und 22,15 (εξω) ausdrücklich angedroht 381 . Im Diesseits bleibt ihnen der Zugang zur christlichen Gemeinde verwehrt, denn 21,8 und 22,15 drükken im Sinne präsentischer Ekklesiologie die Nichtzulassung bzw. die Exkommunikation der πόρνοι aus382. Johannes kennt

374

375 376

377 378

379

380 381 382

Vgl. Schulz, Ethik 550; U.B. Müller, Theologiegeschichte 19 mit Anm. 19. Dieses wörtliche Verständnis wird durch das μοιχεύω 2,22 gedeckt, das kaum anderes als die Unzucht der „Isebel" meinen kann; dem Wechsel der Ausdrücke πορνεύειν - μοιχεύειν ist nicht allzu viel Bedeutung beizumessen (vgl. Bousset, Offb 219). Vgl. Reader, Stadt 191. Dieser wird im NT primär zwar mit μοιχεύω κτλ bezeichnet (vgl. Mk 10,11 parr. ; Mt 19,18; Rom 7,3; Jak 2,11; 2 Petr 2,14 u.a.) und von πόρνη κτλ unterschieden (vgl. Mk 7,21f. par.; 1 Kor 6,9); πόρνη κτλ erscheint aber durchaus als Oberbegriff verschiedener Geschlechtssünden, unter den auch die des Ehebruchs fällt (vgl. neben Sir 23,23; TestJos 3,8 v.a. Mt 5,32 und Apk 2,14.20 im Zusammenhang mit V. 22). Vgl. U.B. Müller, Offb 113. Da Paulus Rom l,26f. „deutlich auf Homosexualität als Sünde anspielt, kann π.ίορνεία] auch Unzucht in dieser Beziehung bedeuten, wie auch έκπορνεύω Jud 7, das von der argen Unzucht der Leute in Sodom und Gomorra gebraucht wird, vgl. Gen 19" (Fitzer, πορνεία 329). Reader, Stadt 189 denkt, für Joh seien φόνος und πορνεία „die schlimmsten sittlichen ... Verfehlungen", doch siehe dazu oben Anm. 347. Vgl. Schulz, Ethik 550. Vgl. ebd. Vgl. Böcher, Bürger 164-166.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

also auch im Zusammenhang des siebten Gebots gemeindliche Sanktionen bzw. Strafen. Doch was sollen die Leser der Apokalypse im Bereich der Sexualität positiv tun? Dazu äußert sich Johannes nicht direkt; man kann jedoch von den oben genannten Verboten und von 18,4 her darauf schließen, daß ihm an ehelicher Treue und Nichtbeteiligung an den Sexualpraktiken der endzeitlichen Weltbevölkerung gelegen ist. Dieser wird 9,21 πορνεία zugeschrieben, ähnlich in Kap. 17-19; dort wird πόρνη κτλ zwar hauptsächlich übertragen gebraucht, aber Johannes dürfte auch das Nachahmen der Sitten der Hure Babylon „bis hin zum Huren im wörtlichen Sinn"383 im Auge haben. Ein συγκοινωνεϊν mit dieser und den anderen Sünden Babels ist den Christen mit 18,4 klar untersagt. Darüber hinaus läßt sich über die positive Bewertung von νυμφίος und νύμφη 18,23 und dem ekklesiologischen Brautmotiv (vgl. Kap. 12; 19,7f.; 21,9 u.ö.) sogar eine Empfehlung der Ehe durch den Apokalyptiker ausmachen. S. Schulz ist anderer Meinung: Apk 14,4f. hätten eine paränetische Intention und redeten die Leser unmittelbar an. Dabei sei παρθένοι „wörtlich als Preisgabe der Ehe und der familiären Beziehungen ... zu verstehen. Es geht hier ... um christliche Askese im Sinn völliger Geschlechtsabstinenz" 384 . An dieser Sicht ist zweifelsfrei richtig, daß Johannes mit 14,4f. seine Leser direkt anspricht 3 " und dies mit paränetischer Absicht tut386 . Auch kann es sein, daß - sofern Johannes 14,1-5 mit der Versiegelung der 144.000 die Taufe der Christen im Blick hat V. 4a auf ein enkratitisches Taufgelübde anspielt, mit dem der Täufling künftige sexuelle Enthaltung gelobt387; außerdem ist es wahrscheinlich, daß Johannes wie der Kreis der Propheten um ihn herum unverheiratet war388. Daraus ist jedoch eine Schlußfolgerung zu ziehen, die der These Schulz' wider383 384

385 386 387

388

Hauck/Schulz, πόρνη 594. Schulz, Ethik 551. Ähnlich auch ebd., 552: „Von den Christen wird ... die Aufgabe der sich in der Ehe vollziehenden Geschlechtsgemeinschaft und damit der Familie verlangt". Vgl. Roloff, Offb 149. Vgl. Lohmeyer, Offb 122f.; U.B. Müller, Offb 264. Vgl. Böcher, Israel 51 mit dem Hinweis, daß solch asketischer Enthusiasmus, der auf dem hohen Pathos einer Endzeit-Elite beruht (vgl. Qumran, aber auch 1 Kor 7,1-8), in der alten Kirche lange fortlebte. Vgl. Kretschmar, Askese 63; U.B. Müller, Theologiegeschichte 21.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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spricht: Johannes beschreibt die vollendete Gemeinde mit den Begriffen, die für die eigene Lebensform bezeichnend sind389; damit ist aber noch keineswegs gesagt, „daß für die Apokalypse nur Asketen zur vollendeten Gemeinde gehören werden, ebensowenig wie man aus der Tatsache, daß die sieben Gemeinden Kleinasiens Typos der ganzen Christenheit sind, schließen dürfte, daß es außer ihnen keine Christen gegeben hätte" 390 . Lassen diese Argumente an der skizzierten These Schulz' zweifeln, wird vollends ein Blick auf den gesamten Text der Apokalypse - 14,4f. ausgenommen - zu anderer Einsicht führen: denn nirgends wird die Forderung nach sexueller Enthaltsamkeit im Sinne von Ehelosigkeit erhoben, lediglich die πορνεία wird verboten 391 . 8. Zum achten Gebot Ohne das achte Gebot (Ex 20,14 LXX: ού κλέψεις) wörtlich zu zitieren, bringt Johannes es an einer Stelle deutlich zur Sprache: im Lasterkatalog 9,20f. Mit der Nennung der κλέμματα 9,21 hat er Diebstahlstaten der unbußfertigen Heiden im Blick392; dennoch ergeht auch hier eine Ermahnung an die christlichen Leser der Apokalypse 393 . Würden sie κλέμματα begehen, hätten sie neben eschatologischen Strafen auch gemeindliche Sanktionen zu gewärtigen - bis hin zur Exkommunikation 394 . Κλέπτω κτλ gehört zum traditionellen Bestand paränetischer Aufzählungen 395 des Urchristen- und antiken Judentums, vgl. neben Apk 9,21 vor allem Mk 7,21 par.; 1 Kor 6,10; 1 Petr 4,15396; grBar 13,4. Im Deutschen ist κλέμμα mit „Stehlen", „Diebstahl" 397 wiederzugeben. 389 390 391

392 393 394 395 396

397

Vgl. ebd. Kretschmar, Askese 63. Vgl. U.B. Müller, Theologiegeschichte 21; ähnlich Hadorn, Offb 150: „Der Kampf in den Sendschreiben geht gegen die πορνεία, nicht gegen die Ehe." Vgl. oben S. 55-59. S.o. S. 58f. Siehe dazu oben S. 59 mit Anm. 318. Vgl. Roloff, Offb 105; Schulz, Ethik 550. Vgl. Wibbing, Tugend- und Lasterkataloge 87; Böcher, Lasterkataloge 76. Vgl. BA 883.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

Indirekt wird Diebstahl den Empfängern der Apokalypse außerdem mit Kap. 18 verboten, wo V. 9-19 die Klagelieder der Könige, Kaufleute und Seefahrer bestätigen, daß die ökonomische Macht und Ausbeutung, Üppigkeit und Reichtum der Hure Babylon dem Gericht verfallen 398 . Die Ausbeutung der von Rom unterworfenen Völker, die selbst vor „Körpern und Seelen von Menschen" (V. 13) nicht Halt macht 399 , ist nichts anderes als Diebstahl. Mit 18,4 ist es den Lesern der Apokalypse untersagt, an den Ausbeutungssünden der Hure Babylon teilzuhaben. Während Johannes den Diebstahl eindeutig als Vergehen qualifiziert, kommt das diesem Laster entgegengesetzte, positive Verhalten fast nicht zur Sprache; wahrscheinlich setzt er bei seinen Lesern als bekannt voraus, wie ein Leben ohne Diebstahlssünden aussieht. Sicher ist es ein Leben, in dem die 2,19 erwähnte Tugend der διακονία 400 zu ihrem Recht kommt. Denn ein von „Dienst" und „Fürsorge" 401 durchdrungener Mensch wird sich bemühen, seinen Mitmenschen etwas zu geben - während der Dieb nehmen will. Man wird deshalb bis zu einem gewissen Grad in διακονία das ethische Gegenstück zu κλέμμα erblicken dürfen. 9. Zum neunten Gebot Ausdrücklich wird τό ψευδός, welches unter anderem das neunte Gebot des Dekalogs (Ex 20, 16 LXX: ού ψευδομαρτυρήσεις κ α τ ά του πλησίον σου μαρτυρίαν ψευδή) bezeichnet, in Apk 14,5; 21,27; 22,15 erwähnt. Während 14,5 die 144.000 Versiegelten (vgl. V. 1 ff.) als solche rühmt, έν τω στόματι αυτών ούχ ευρέθη ψευδός und sie als άμωμοι qualifiziert, wird 21,27; 22,15 dem, der (φιλών και) ποιών ψευδός, der Ausschluß aus der Gottesstadt angedroht; in ähnlicher Weise wird im Lasterkatalog 21,8 den ψευδέσιν der „zweite Tod" angekündigt. Alle diese Stellen, dazu diejenigen, welche in anderem Zusammenhang von ψευδής, ψεύδομαι und ψευδοπροφήτης sprechen (2,2; 3,9; 16,13; 19,20; 20,10), weisen ψευδός κτλ eindeutig als abzulehnendes Verhalten aus. Den Empfän398 399 400 401

Vgl. Schräge, Ethik 341. Siehe dazu unten B.2.1.c), S. 88f. Siehe dazu oben S. 67. So die Übersetzung von διακονία, vgl. ebd.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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gern der Apokalypse führt Johannes mit 14,5 völlige Wahrhaftigkeit als vorbildliches Verhalten vor Augen 402 , mit 21,8.27; 22,15 droht er ihnen für die Lüge endzeitliche Bestrafung sowie - in präsentisch-ekklesiologischem Sinn - Nichtzulassung zur christlichen Gemeinde bzw. Ausschluß aus ihr an 403 . Ψευδός / ψευδής wird in den erwähnten Stellen Apk 21,8.27; 22,15 von den meisten Exegeten in übertragenem Sinn ausgelegt oder als Zusammenfassung der vorher genannten Laster bzw. als allumfassendes Grundübel verstanden 404 . So kommentiert H. Kraft τοις ψευδέσιν Apk 21,8 unter anderem mit folgenden Worten: „An die Alltagslüge mit den kurzen Beinen ist in diesem Zusammenhang nicht gedacht" 405 , und W. Reader: „die Lüge (ist) ... nicht irgendeine zusätzliche Sünde ..., sondern das allumfassende Grundübel" 406 . Es ist zwar vorstellbar, daß Johannes ψευδός / ψευδής auch in übertragenem Sinn verwendet - etwa im Sinne der Verleugnung des Glaubens oder einer in den Augen des Johannes falschen Lehre (vgl. 2,2) bzw. nichtchristlichen Religion (vgl. 3,9407) - , aber dies kann die Primärbedeutung aus den folgenden Gründen nicht sein: a) die semantische Grundbedeutung von ψευδός κ τ λ ist sowohl in der Profangräzität als auch im AT (mit LXX) „Unwahrheit", „Täuschung", „Betrug", „Lüge"408 als konkretes Tun und kann vom Griechisch sprechenden und denkenden Leser der 402

403 404

405

406 407

408

Apk 14,4f. haben eine paränetische Intention, vgl. U.B. Müller, Offb 264; Lohmeyer, Offb 122f. Vgl. Böcher, Bürger 164-166. Ein Grund hierfür mag die Stellung von ψεΰδος/ψευδής am Ende von 21,8.27; 22,15 sein. Vielleicht veranlaßt auch das zweimalige πας vor ψεΰδος/ψευδής manchen Exegeten, dieses Laster betont zu sehen sowie auf eine allumfassende (und damit übertragene) Bedeutung zu schließen. - Dieses Argument würde sofort hinfällig, würde man das zweimalige ποιεΐν der ψευδός (21,27; 22,15) zur Kenntnis nehmen. Dies hebt gerade auf eine handfeste, materiale Bedeutung von ψευδος/ψευδής ab. Kraft, Offb 266; vielmehr warne Joh mit τοις ψευδέσιν vor einem sachlich unrichtigen Bekenntnis, das an der Wahrheit, d.i. Christus, vorbeigeht (vgl. ebd.). Reader, Stadt 193; ähnlich auch zu 21,27, vgl. ebd. 135. Vgl. dazu Horn, Synagoge 153: „Hier ist nicht nach einer konkreten UnWahrhaftigkeit, einer Falschaussage zu fragen. Lügner ist vielmehr eine Wesensbestimmung". Vgl. Conzelmann, ψευδός 590f. 593ff.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

Apokalypse zunächst nicht anders als in dieser Grundbedeutung wahrgenommen werden 409 . b) Ψευδός κ τ λ erscheint in antiker jüdischer Literatur in Aufzählungen verschiedener, konkreter Laster (vgl. das Vorkommen in den Lasterkatalogen Apk 21,8; 22,15!), so TestBenj 6,4 (neben άτιμία, δόλος, μάχη und λοιδωρία) und Sib 3,36-38 (neben άσεβης, δίγλωσσος, κακοήθης, λεκτροκλώψ, ειδωλολάτρης, δόλια φρονεΐν); Sir 20,25 werden Dieb (κλέπτης) und Lügner (ό ένδελεχίζων ψεύδει) miteinander verglichen. Dies legt es ebenfalls nahe, daß ψευδός κ τ λ in der Apokalypse durchaus im Sinne der genannten Grundbedeutung als konkrete Verfehlung verstanden sein will. c) Diese Interpretation wird von bestimmten frühchristlichen Belegen in geographischem, zeitlichem oder einem Gattungszusammenhang mit der Apokalypse gestützt: Eph 4,25 und 1 Tim 1,10 meinen als Texte des kleinasiatischen Christentums um 100 n. Chr.410 eindeutig ψευδός κ τ λ in seiner Grundbedeutung, genauso wie Act 5,3f., ein Beleg des ausgehenden ersten 411 , und Herrn mand VIII 3,5; Herrn sim VI 5,5 als Teile einer christlichen Apokalypse 412 (!) der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts 413 . - An mehreren dieser Stellen erscheinen - durchaus vergleichbar mit den Katalogen Apk 21,8; 22,15 ψευστης oder ψευδός in Aufzählungen von Lastern: 1 Tim l,9f. nennt die ψευσται nach den άνδροφόνοι und πόρνοι, welche - genau wie Mord, Unzucht (und Lüge) in Apk 21,8; 22,15 die entsprechenden Dekaloggebote wedergeben. Ähnliche Reihungen finden sich in allen drei genannten Stellen des 409

410

411

412

413

Dies schließt ein weitergehendes Verständnis von ψευδός in einem übertragenen Sinn selbstverständlich nicht aus, das aber erst ein sekundäres sein kann. Mit Vielhauer, Geschichte 215 ist Eph auf ca. 100 n. Chr. zu datieren; das westliche Kleinasien ist der wahrscheinliche Abfassungsort (vgl. ebd.). Ebenfalls Kleinasien dürfte der Abfassungsort der Pastoralbriefe sein (vgl. ebd. 237), welche mit Kümmel, Einleitung 341 auf ,,de(n) erste(n) Anfang des 2. Jh." als wahrscheinlichste Abfassungszeit zu datieren sind. Die Abfassungszeit der Act ist vermutlich ca. 90 n. Chr. (vgl. Vielhauer, Geschichte 407) oder 80-90 n. Chr. (vgl. Kümmel, Einleitung 154, der eine Datierung zwischen 90 und 100 n. Chr. aber nicht ausschließt). Vgl. Vielhauer, Geschichte 518: „Das Buch ... ist ... in Form und Stil als Apokalypse gehalten". Vgl. ebd. 523.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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Herrn, wobei Herrn mand VIII 5 mit der Aufzählung der Laster κ λ έ μ μ α , ψευδός (und ψευδομαρτυρία) sowie επιθυμία πονηρά auch die Dekaloggebote acht, neun und sieben meinen dürfte. d) Schließlich gebraucht die Apokalypse selbst fast alle Wörter des Stammes ψευδ- in der oben erwähnte Grundbedeutung: Ψευδής erscheint zweimal, nämlich in 2,2 und 21,8. Zur Frage nach der Grundbedeutung gibt 2,2 eine Antwort: Die in Ephesus aufgetretenen „Apostel" waren und sind in Wirklichkeit gar keine (και ουκ είσίν), was die Gemeinde feststellte und sie somit als ψευδείς erkannte. Demnach bedeutet ψευδής in 2,2 „Lügner", „Betrüger" oder ähnliches; zu den Konsequenzen f ü r die Exegese von ψευδής 21,8 siehe unten. Ψεύδομαι kommt in der Apokalypse nur einmal vor: 3,9. Die Juden behaupten zwar, Juden zu sein (των λ ε γ ό ν τ ω ν έαυτούς 'Ιουδαίους είναι), sind es nach Meinung des Johannes aber nicht (και ουκ είσίν) 414 ; deshalb lügen sie ( ά λ λ α ψεύδονται). Auch hier wird ψευδός κ τ λ in der erwähnten Grundbedeutung gebraucht. Ψευδοπροφήτης erscheint dreimal (16,13; 19,20; 20,10) und bedeutet jedesmal „falscher Prophet" 415 , also einen, der sich fälschlich für einen Propheten Gottes ausgibt, oder der als Prophet Falsches verkündigt 416 . Das ψευδ- in diesem Kompositum hat also wieder die oben erwähnte Grundbedeutung. Ψευδός findet sich in der Apokalypse dreimal: 14,5; 21,27; 22,15. In 14,5 meint es α) vom Kontext und ß) von den im Hintergrund stehenden alttestamentlichen Zitaten her deutlich „Lüge" im Sinne der oben genannten Grundbedeutung. Daß α) die Lüge nämlich έν τω στόματι αυτών ούχ εύρέθη, weist sie als reales Lügenwort aus und läßt eine übertragene Bedeutung - wenn überhaupt - erst sekundär zu. Dasselbe legen ß) die alttestamentlichen Zitate nahe: Johannes zitiert fast wörtlich Zeph 3,13; Jes 53,9 LXX, gibt aber γλώσσα δολία (Zeph 3,13 LXX) bzw. δόλος (Jes 53,9 LXX) mit ψευδός wieder; damit ist ψευδός mit δόλος / δόλιος identifiziert und hat die oben erwähnte Grundbedeutung. 414

415 416

Er sieht in den Christen die wahren Juden, vgl. Böcher, Israel 33. Siehe auch oben S. 28 mit Anm. 135. Vgl. BA 1779. Vgl. ebd.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

Aus letzterem und aus dem zu ψευδής, -ψεύδομαι und ψευδοπροφήτης in der Apokalypse Gesagten sowie aus den Ausführungen a) bis c) ergibt sich als Konsequenz für die Exegese der Verwendung von ψευδής 21,8 und ψευδός 21,27; 22,15: Die Auslegung dieser Worte kann nicht vom Bedeutungsfeld des Stammes ψευδ- in der Apokalypse sowie in anderen profanen, jüdischen und christlichen Texten der Antike absehen, dem eindeutig die erwähnte Grundbedeutung „Unwahrheit", „Täuschung", „Betrug", „Lüge" eignet; entsprechend hat Johannes in Apk 21,8.27; 22,15 ganz konkrete Verfehlungen dieser Art, also durchaus auch Alltagslügen, im Blick. Dieser Befund wird übrigens durch den engsten Kontext von ψευδής 21,8 und ψευδός 22,15 unterstützt: mit φάρμακοι, πόρνοι, φονεΐς usw. werden dort ganz reale Sünden angesprochen. 10. Zum zehnten Gebot Das zehnte Dekaloggebot (ουκ έπιθυμήσεις την οίκίαν του πλησίον σου. ουκ έπιθυμήσεις την γ υ ν α ί κ α του πλησίον σου ουτε τον ά γ ρ ό ν αύτου ουτε τον π α ΐ δ α αύτου ουτε την παιδίσκην αύτου ουτε του βοός αύτου οΰτε του ύποζυγίου αύτου ουτε π α ν τ ό ς κ τ ή ν ο υ ς αύτου ουτε οσα τω πλησίον σου έστιν, Εχ 20,17 LXX417) findet sich in der Apokalypse expressis verbis nicht. Auch kennt sie nicht die veränderte Form des zehnten Gebots, wie sie bei Paulus mit dem einfachen ούκ έπιθυμήσεις Rom 7,7; 13,9, oder ähnlich 4 Makk 2,6 mit μή έπιθυμεΐν (εϊρηκεν ή μ α ς ό νόμος) zu finden ist418. Ebenso ist ihr der Ausdruck μή άποστερήσης, der Mk 10,19 sicher 419 und Herrn mand VIII 5 (άποστέρησις); Herrn sim VI 5,5 (άποστερητής) wahrscheinlich für das zehnte Gebot gebraucht wird, unbekannt. Dieser Befund ändert allerdings nichts daran, daß das zehnte Gebot der Sache nach in der Apokalypse vorkommt, und zwar im negativen Spiegelbild des Verhaltens der Hure Baby417

418

419

Die LXX hat in Ex 20,17 ούκ έπιθυμήσεις τήν οίκίαν του πλησίον σου nach ούκ έπιθυμήσεις τήν γυναίκα του πλησίον σου; unsere Reihenfolge entspricht der des hebräischen Textes von Ex 20,17. Vgl. Büchsei, θυμός 171. - έπιθυμέω kommt nur Apk 9,6, έπιθυμία Apk 18,14 vor; in ersterem Fall ist kein Zusammenhang mit dem zehnten Dekaloggebot erkennbar, in letzterem ein indirekter. Siehe dazu die folgenden Ausführungen zu Apk 18. Vgl. Klostermann, Mk 102; Pesch, Mk 2 139.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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Ion Kap. 18. Sie verstößt, ohne daß Johannes dies ausdrücklich auf das zehnte Gebot bezieht, in schranken- und hemmungsloser Weise gegen das ουκ έπιθυμήσεις: Die ganze Welt ist nach 18,3 vom θυμός (!) ihrer Gottlosigkeit 420 tödlich infiziert; sie giert nicht nur nach eher Harmlosem wie Obst (18,14: έπιθυμία!), sondern in ausbeuterischer Absicht nach allen Ländern der unterdrückten Völker mit ihren landwirtschaftlichen Erzeugnissen (18,13: Wein, Öl, feinstes Mehl, Weizen); hierin besteht ein massiver, weltweiter Verstoß gegen das ούκ έπιθυμήσεις ... τον άγρόν αύτου von Ex 20,17 LXX. - Auf dieselbe Weise vergeht sie sich an „Körpern und Seelen von Menschen", die sie wie Vieh oder dingliche Ware von den unterdrückten Völkern raubt und sie zum Sklavendienst zwingt (Apk 18,13)421; damit ist der Verstoß gegen das ούκ έπιθυμήσεις την γ υ ν α ί κ α του πλησίον σου ... ουτε τον παΐδα αύτου ουτε την παιδίσκην αύτου ebenso offenkundig wie der gegen das ούκ έπιθυμήσεις ... του βοος αύτου ουτε του υποζυγίου αύτου ουτε παντός κτήνους αύτου ουτε 8σα τώ πλησίον σου έστιν (vgl. Ex 20,17 LXX). Schließlich sind auch die Wertgegenstände der von der Hure Babylon unterjochten Völker wie Gold, Silber, Edelsteine usw. (Apk 18,12) von deren Ausbeutung betroffen, womit sie hemmungslos und massiv gegen das ούκ έπιθυμήσεις ... οσα τω πλησίον σου έστιν (Εχ 20,17 LXX) sündigt. Zu den Wertgegenständen wird man auch Häuser und Grundstücke zählen dürfen, die in der Apokalypse zwar keine Erwähnung finden, von den römischen Machthabern aber - wie alles andere nach Belieben beschlagnahmt werden konnten und auch wurden. So ist davon auszugehen, daß Johannes auch Verstöße der Hure Babylon gegen das ούκ έπιθυμήσεις την οίκίαν του πλησίον σου (Εχ 20,17 LXX) kennt, und zwar insbesondere auch deshalb, weil die Konfiskation von Vermögen eine übliche Strafe für Verweigerer des römischen Kaiserkults war422, hierunter fielen auch Beschlagnahmungen von Häusern und Grundstücken.

420

421

422

Πορνεία ist hier in übertragenem Sinn zu verstehen als „Abgötterei" (vgl. BA 1389). Daß mit σωμάτων, και ψυχάς ανθρώπων auf die Sklaverei angespielt wird, ist communis opinio der Exegeten, vgl. etwa Kraft, Offb 235; Roloff, Offb 177. Vgl. Schütz, Offenbarung 31.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

Wird mit Apk 18 zwar primär der Frevel der Hure Babylon, also des Imperium Romanum, angeprangert, so gelten die dieser Anklage zu Grunde liegenden göttlichen Gebote - hier: das zehnte Dekaloggebot - auch den Christen; denn Johannes fordert sie mit 18,4 dazu auf, jedes συγκοινωνεΐν mit den άμαρτίαις Babylons (= Roms), die in Kap. 18 geschildert werden, zu unterlassen. c) Ethische Motive aus dem Bereich des Sozialen 1. Reichtum und Armut In den Sendschreiben Apk 2f. wird der Gemeinde von Smyrna, die arm ist (οΤδά σου ... την π τ ω χ ε ί α ν , 2,9), von Johannes zugesprochen, sie sei in Wirklichkeit reich (άλλα πλούσιος εί, 2,9); somit betont er die äußere Armut, hebt jedoch auch den geistlichen Reichtum der smyrnäischen Christen hervor 423 . Das Gegenteil trifft auf die Gemeinde von Laodizea zu: Sie sagt hochmütig von sich selbst: „πλούσιος είμι και πεπλουτηκα και ουδέν χρείαν εχω" (3,17), aber Johannes teilt ihr mit, daß sie ό ταλαίπωρος και ελεεινός και πτωχός και τυφλός και γυμνός (3,17) ist. Dabei ist das πλούσιος primär buchstäblich als materieller Reichtum zu verstehen 424 , in zweiter Linie aber im Sinne von 1 Kor 4,8 als „das stolze Pochen auf einen angeblichen geistlichen Besitz" 425 . - Deutlich sind in der Gemeinde von Laodizea Reichtum und Arroganz miteinander verbunden 426 ; wegen ihrer Lauheit ist sie von äußeren Bedrängnissen verschont. Ganz anders ist die Situation der Gemeinde in Smyrna, die arm ist und unter äußeren Pressionen leidet, deren geistlicher Reichtum aber von Johannes herausgestellt wird427. Angesichts der gesellschaftlichen Ächtung und der wirtschaftlichen Benachteiligung derjenigen Christen, die 423

Vgl. U.B. Müller, Offb 106. 424 Ygj Hadorn, Offb 63, der jedoch eine Interpretation des πλούσιος im Sinne von 1 Kor 4,8 gänzlich abweist und nicht einmal als Sekundärbedeutung diskutiert. 425 Roloff, Offb 64, der jedoch eine buchstäbliche Bedeutung für nicht wahrscheinlich hält. 426 Vgl. A.Y. Collins, Rev 18 202. 427 Zu beiden Gemeinden siehe auch oben B.l.l.c), S. 22f.29f. mit Anm. 153.

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verbindlich und für Außenstehende erkennbar ihr Christsein praktizieren 428 , kann man geradezu von einem Automatismus sprechen: Wer mit Ernst Christ ist, erleidet ökonomische Nachteile, wer nicht, hat diese auch nicht zu gewärtigen; es handelt sich also um eine „automatic exclusion of scrupulous Christians from possibilities of advancement" 429 . In Apk 6,6, wo Johannes eine die Menschen heimsuchende Teuerung schaut, kann nach W. Schräge ein „sozialkritischer Unterton" 430 anklingen; leider führt Schräge dies nicht weiter aus. Zu seiner Mutmaßung mögen die Überlegungen W. Boussets Anlaß gegeben haben, der in 6,6 einen Reflex auf ein Edikt Domitians des Jahres 92 n. Chr. sieht, in dem der Kaiser eine Verringerung des Weinanbaus im Reich anordnete; zu dessen Ausführung kam es freilich auf Grund einer starken Gegenagitation nicht, und es wurde aufgehoben 431 . Nach Bousset soll Johannes ebendies außerordentlich mißfallen haben: „Er ist entrüstet, daß jene Maßregel, die er von seinem asketischen Standpunkt aus als gut und heilsam betrachtet, ... wieder aufgehoben ist" 432 . Deshalb weissage er mit 6,6 „eine große Teuerung, durch welche die notwendigsten Lebensmittel betroffen werden, während die Luxusartikel wie zum Hohn verschont bleiben sollen" 433 . - Tatsächlich prophezeit Johannes in Apk 6,6 eine massive Verteuerung von Weizen und Gerste, während die Preise für Öl und Wein stabil bleiben sollen (και τό ελαιον και τον οίνον μή άδικήσης) 434 . Letztere waren jedoch in der antiken mediterranen Welt kaum Luxusgüter 435 , was sich am Beispiel von bBB 90b zeigen läßt: „Man darf keine Früchte, Dinge, die als Lebensmittel dienen, zum Beispiel Wein, Öl, Mehl, aufspeichern" 436 . Somit muß Apk 6,6 anders als im Sinne Boussets erklärt werden: Johannes spielt mit τον otvov μή άδικήσης auf die Rücknahme des Weinedikts an, die er für gut hält, befürchtet aber davon unabhängig eine

428

429 430 431 432 433 434 435 436

Man denke nur an das oben B.l.l.c), S. 25f. im Zusammenhang des Götzenopferfleisch-Essens in der Gemeinde zu Thyatira Gesagte. A.Y. Collins, Rev 18 203. Ethik 340. Vgl. Bousset, Offb 135.268. Ebd. 135. Ebd. Vgl. Roloff, Offb 81; Kraft, Offb 117. Vgl. U.B. Müller, Offb 168. Goldschmidt, Talmud 8, 251.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

erhebliche Steigerung der Preise für Weizen und Gerste und somit eine Hungersnot. Hierbei klingt keine unmittelbare Sozialkritik an, wie Schräge erwägt. Nur mittelbar kommt hier Soziales in den Blick, und zwar in zweierlei Hinsicht: zum einen wären in der vorausgesagten Hungersnot selbstverständlich - wie in jeder Notzeit - die Ärmsten der Bevölkerung die Hauptleidtragenden 437 . Zum anderen zeigt die als positiv wahrgenommene Preisstabilität bei Öl und Wein und die negativ empfundene Verteuerung von Weizen und Gerste, daß Johannes am Bestand „normaler" Preisverhältnisse im Bereich der Landwirtschaft gelegen ist. Jedoch läßt der Text Apk 6,6 nichts von einem Protest gegen die Armut bestimmter Teile der Bevölkerung oder einem regelrechten Anprangern sozialer Ungerechtigkeiten erkennen 438 . Wie oben gezeigt wurde, sind nach der Botschaft der Sendschreiben diejenigen, die mit Ernst Christen sind, automatisch sozial benachteiligt. Während sich die Bedrängnis der christlichen Gemeinden nach Apk 2f. jedoch in Grenzen hält 439 , ist sie nach Apk 13 eine totale: Ihnen droht erbarmungslose Verfolgung durch einen totalitären Staat (vgl. Apk 13 passim und insbesondere V. 9f.). Wenn schon in der Gegenwart des Sehers und der sieben angeschriebenen Gemeinden zu den staatlichen Pressionen auch die Konfiskation von Vermögen gehört 440 , wieviel mehr wird im Rahmen einer totalen Verfolgung mit der Enteignung von Christen und deshalb mit ihrer Armut zu rechnen sein! - Nach Apk 13 übt der Staat auch absolute Kontrolle über das Wirtschaftsleben aus, was durch das χ ά ρ α γ μ α επί της χειρός ... της δεξιάς η έπί τό μέτωπον der Menschen erreicht wird (V. 16), ohne das niemand kaufen oder verkaufen kann (V. 17). Die damit gemeinte generelle Kennzeichnung der 437 438

439 440

Vgl. Kraft, Offb 117. Dies trifft auch auf 6,15 zu, wo A.Y. Collins, Persecution 745f. „the kings of the earth, οί μεγιστάνες, the generals and the rich" herausgehoben sieht; doch man wird die anderen dort genannten drei Gruppen von Menschen (και οί ισχυροί και πας δούλος και έλεύθερος) nicht unerwähnt lassen dürfen oder behaupten wollen, Joh hätte sie weniger im Blick als die erstgenannten. Vielmehr ist Roloff, Offb 86 zuzustimmen: „Vertreter aller Gesellschaftsschichten stehen vor dem Richter gleich da; hier gibt es keine Unterschiede mehr zwischen Reichen und Armen, Mächtigen und Machtlosen". S.o. B.l.l.c). Siehe dazu das oben im Zusammenhang der Bedrängnisse der Christen allgemein S. 17f. und des zehnten Gebots Gesagte S. 76-78.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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Anhänger des Kaiserkultes entspricht nicht der geschichtlichen Wirklichkeit zur Zeit des Johannes, „sondern gehört zum Bild, das er für die kommende Verfolgungssituation entwirft, bei der alle (mit Ausnahme der Christen) zu Sklaven des Tieres werden" 441 . Da nach den Aussagen der Apokalypse das erste Gebot unbedingte Gültigkeit für die Christen besitzt 442 , versteht es sich von selbst, daß ihre Haltung zu diesem Staat nur Ungehorsam sein kann 443 . Sie werden deshalb die mit 13,16f. ausgedrückte wirtschaftliche Boykottierung in Kauf nehmen müssen, welche auf Grund ihrer Totalität die in der historischen Wirklichkeit des Johannes und der kleinasiatischen Gemeinden bestehende bei weitem übertreffen wird. Indirekt sagt Johannes mit 13,16f. den Empfängern der Apokalypse voraus, daß sie - solange sie dem ersten Gebot gegenüber treu bleiben - ins ökonomische Abseits und damit in die Armut geraten werden. Dies wird den Nichtchristen, die das Malzeichen annehmen, und denjenigen Christen, die nicht mit Ernst Christen sind und dies ebenfalls tun, durchaus erspart bleiben, genauso wie die Verarmung durch Vermögenskonfiskation. Der Preis dafür ist freilich hoch: Johannes kündigt mit 14,9-11 das schonungslose Gericht Gottes über sie an444. Dieses wird auch die Hure Babylon, das Imperium Romanum, treffen, worüber Apk 18 Auskunft gibt. Ihren unermeßlichen Reichtum bringt Johannes auf verschiedene Weise zum Ausdruck: - Sie ist mit feinem Leinen, Purpur und Scharlach bekleidet, mit Gold, Edelsteinen und Perlen geschmückt und hält einen goldenen Becher in ihrer Hand (17,4; 18,16). - Sie deckt sich mit größten Mengen von Luxusgütern ein: Gold, Silber, Edelsteine gehören dazu wie Seide, wohlriechende Hölzer, Gerät aus Elfenbein usw. (18,12f.). - Sie lebt in Herrlichkeit und Luxus (18,7.9); durch diesen sind die Kauf- und Schiffsleute der Erde ebenfalls zu Reichtum gekommen (18,3.19), denn der Handel mit ihr bringt hohen Gewinn (18,15). - Die Kaufleute heißen denn auch οί μεγιστάνες της γης (18,23), werden also geradezu mit Fürsten gleichgesetzt 445 . 441 442 443 444

U.B. Müller, Offb 255. Siehe dazu die Ausführungen in B.2.1.b)l. Vgl. Schräge, Ethik 345. S.o. S. 59.

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Dieser Reichtum wird, zusammen mit der Hure Babylon überhaupt, durch Gottes Gerichtshandeln in ganz kurzer Zeit vernichtet werden (18,8.10.17.19). Dabei besteht durchaus ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Reichtum Babels und ihrer Bestrafung: Nach 18,22f. soll sie zu einer Geisterstadt werden, „Lebenslust, Festesfreude und alltägliche Arbeit werden aus ihr auf immer verbannt" 446 . Einer der Gründe dafür wird in V. 23b mit zwei δτι-Sätzen angegeben: δτι ol έμποροι σου ησαν οί μεγιστάνες της γης, δτι έν τη φαρμακείς* σου έ π λ α νήθησαν π ά ν τ α τά εθνη. Die Schuld Babylons/Roms liegt also in seiner hemmungslosen Machtgier, die am Teilaspekt stolz auftrumpfender ökonomischer Macht dargestellt wird und alle Welt gleichsam wie mit magischen Kräften verführt 447 . Wenn man ferner im Blick auf diese Stelle bedenkt, daß die Begriffe φαρμακεία und πορνεία in der Apokalypse bis zu einem gewissen Grade deckungsgleich sind448, wird man folgender Feststellung 0. Böchers zustimmen können: Die πορνεία Roms besteht „nicht zuletzt in seinen Handelsbeziehungen und dem dadurch ermöglichten Luxus"449. Die Reichen der Welt, die Könige, Kaufleute und Schiffsbesitzer mit ihren Angestellten sind es, die den Untergang Babylons beweinen (18,9-19). Es ist umgekehrt interessant zu sehen, wer nicht trauert: „Die kleinen Leute, die riesigen Scharen der Untertanen der Könige im weiten Land; die Arbeiter und Bauern, die all die genannten Werte geschaffen haben; ... die vielen Lakaien und Sklaven; die Unzähligen, die für den Glanz der Metropole ihr Leben opfern mußten, in den Steinbrüchen, in den Ziegelbrennereien, auf See, beim Schaukampf in der Arena" 450 . Zu diesen Armen sind selbstverständlich auch diejenigen zu rechnen, die mit Ernst Christen sind und - wie oben erwähnt - wirtschaftlichen Boykott und Vermögenskonfiskation zu ertragen haben.

445

446 447 448 449 450

Vgl. U.B. Müller, Offb 311 mit dem Hinweis auf die LXX-Stellen Jer 27,35; 32,15ff., welche die Bedeutung von ό μεγιστάν erläutern; darüber hinaus ist noch auf Mk 6,21 und Apk 6,15 zu verweisen. Zur Verbindung von Politik und Ökonomie s.u. B.2.1.d). Roloff, Offb 178. Vgl. ebd. Zur Begründung s.o. S. 57f. Böcher, Israel 53 Anm. 157. Füssel, Zeichen 68.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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Was bisher zum Thema „Reichtum und Armut" mit Blick auf die f ü r diese Frage wesentlichen Texte der Apokalypse (Sendschreiben; Kap. 13; 17f.) gesagt wurde, läßt sich mit den Worten A.Y. Collins' zusammenfassen: „Those who have power and wealth in the present are portrayed as idolatrous and murderous, or at best as lukewarm, while the truly faithful are expected to be poor" 4S1 . Doch welches Verhalten empfiehlt Johannes seinen Lesern im Zusammenhang von Reichtum und Armut? R. Schnackenburg meint im Zusammenhang der Sendschreiben an die Gemeinden von Smyrna und Philadelphia, die als arm und einflußlos dargestellt werden: „Der Prophet, der wohl selbst zu den armen Wanderpredigern gehört, läßt sein Ideal eines christlichen Lebens erkennen" 452 . Doch die Armut wird in der Apokalypse nicht idealisiert; denn weder in den Sendschreiben noch sonst in der Apokalypse - mit einer gewissen Ausnahme von Kap. 18 - wird Reichtum an sich angeprangert oder Armut an sich gelobt: In 2,9 konstatiert Johannes lediglich die materielle Armut der Gemeinde in Smyrna 453 ; in 3,17 liegt der Ton nicht auf dem Reichtum, sondern auf der Hybris der vermeintlich Wohlhabenden und auf ihrer Blindheit gegenüber der tatsächlichen Situation. In 6,6 läßt sich, wie gezeigt wurde, ebenfalls kein Protest gegen die Armut ausmachen 454 wie auch in Kap. 13 nicht; denn hier wird die Verarmung der Christen noch nicht einmal expressis verbis genannt, sondern ist nur als Konsequenz der totalen Verfolgung und wirtschaftlichen Boykottierung zu erschließen. - Freilich wird in Kap. 18 Reichtum an sich bis zu einem gewissen Grade angeprangert 4 5 5 und den Christen mit V. 4 eine Distanzierung davon nahegelegt (έξέλθ α τ ε ό λαός μου έξ αύτής 'ίνα μή συγκοινωνήσητε τ α ΐ ς ά μ α ρ τ ί α ι ς αύτής). Dabei ist aber nicht zu vergessen, daß es sich um den Reichtum der antichristlichen Hure Babylon handelt, der „nur die Kehrseite ihrer sozialen Ungerechtigkeit, Gottlosigkeit wie Unreinheit" 456 und daher mit diesen Freveln 451 452 453

454 455 456

A.Y. Collins, Rev 18 202. Schnackenburg, Botschaft 2 270. Diese wird hier keinesfalls als etwas Positives gewertet, vielmehr sogar eher als etwas Negatives; denn πτώχεια steht zwischen θλΐψις und βλασφημία, welche die Gemeinde belasten. S.o. S. 79f. S.o. das zu 18,23b und φαρμακεία/πορνεία Gesagte. Schulz, Ethik 553.

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untrennbar verbunden ist. Den Reichtum der Gottesstadt Jerusalem, die als keusche, reine Braut vorgestellt wird (vgl. 21,2.9-11.27), beschreibt Johannes dann auch ganz positiv (vgl. 21,11—27)457. Schließlich ist noch festzuhalten, daß in der Apokalypse jede direkte Kritik an den Reichen oder ihre unmittelbare Anklage durchaus fehlen, wie sie sonst im Neuen Testament verschiedentlich zu finden sind (vgl. Mk 10,25 parr.; Lk 6,24; Jak 2,5-7; 5,1-6). Man wird zusammenfassend sagen können, daß in der Apokalypse materieller Reichtum nicht als etwas Erstrebenswertes erscheint, umgekehrt die Armut aber nicht als Ideal genannt wird. Eindeutig ist, daß der Reichtum Babylons/Roms, der auf der skrupellosen Unterjochung und Ausbeutung der Menschen basiert, abgelehnt wird. Wie an anderer Stelle gezeigt wurde, fordert Johannes seine Leser zur Einhaltung der Dekalog-Gebote sechs bis zehn auf458, was den Erwerb materiellen Reichtums durch Unterjochung und Ausbeutung anderer per se ausschließt. Auch die unbedingte Gültigkeit des ersten Gebots spielt in das Thema „Reichtum und Armut" hinein: Wer mit Ernst Christ ist, wird den wirtschaftlichen Boykott und die Konfiskation von Vermögen - und damit die Armut! ertragen, wie im Zusammenhang von Apk 13 gezeigt wurde4S9. Auf die vom Apokalyptiker empfohlenen Tugenden der άγάπη und διακονία wurde an anderer Stelle bereits hingewiesen460; da beide durchaus einen finanziellen Aspekt haben, sind sie auch im Zusammenhang von Reichtum und Armut zu erwähnen: Wer zur Nächsten- und Bruderliebe sowie zum Dienst an anderen Menschen bereit ist, wird sicher nicht Reichtum als persönliches Lebensideal pflegen.

457

458 459 460

Von hier aus könnte man im Rahmen präsentisch-ekklesiologischer Auslegung der Kap. 21f. (zum Methodischen s.o., A.2.2., S. 8f.) sogar darauf spekulieren, Joh würde den angeschriebenen Gemeinden materiellen Wohlstand schon im Diesseits wünschen. S.o. B.2.1.b), S. 65-78. S.o. S. 80f. S.o. v.a. B.2.1.b) S. 67-72.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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2. Allgemeine Kritik an sozialen Verhältnissen im Imperium Romanum a) Die soziale Wirklichkeit zur Zeit der Apokalypse Wie bereits festgestellt wurde, befinden sich drei der sieben von Johannes angeschriebenen Gemeinden in wichtigen Urbanen Metropolen (Ephesus, Smyrna, Pergamon), die restlichen in weniger bedeutsamen, aber zumeist von regem Handel geprägten Städten (Thyatira, Sardes, Philadelphia, Laodizea)461; es handelt sich also ausnahmslos um Stadtgemeinden. Wie sahen nun die sozialen Verhältnisse zur Zeit der Apokalypse in Kleinasien und seinen Städten aus? Dieser Frage ist Α. Y. Collins nachgegangen462: Im letzten Drittel des ersten Jahrhunderts n. Chr. bestand in Kleinasien ein deutlicher Konflikt zwischen arm und reich. Dieser wurde durch folgende Entwicklungen der vorangegangenen Dekaden vorbereitet: Einerseits wurden durch das Engagement Roms neue Möglichkeiten für ein ökonomisches Wachstum im Osten des Reiches geschaffen, wovon die Elite der Provinzen und die Einwanderer aus Italien profitierten. Andererseits waren die römischen Steuern hoch, und die Steuerlast wurde hauptsächlich von der Arbeiter- und Mittelklasse getragen. Trotzdem waren die Städte West-Kleinasiens während dieser Periode in Blüte. Ihr Glanz war von einigen wenigen Privilegierten geschaffen worden, für die er auch bestand; die ganz große Mehrheit der Menschen in diesen Städten hatte jedoch ein sehr mäßiges Einkommen oder war extrem arm. b) Die Kritik des Apokalyptikers In Kap. 18 kritisiert Johannes die oberen Zehntausend, die durch Könige, Kaufleute und Schiffsherren repräsentiert werden. Die Könige kommen in diesem Kapitel nur kurz zur Sprache, während vor allem die Kaufleute im Zentrum der Sozialkritik des Johannes stehen: Ihr Klagen über den Untergang Babylons V. ll-17a wird intensiver geschildert als das der Könige

461 462

S.o. B.l.l.c) S. 30f. Die folgenden Ausführungen aus: A.Y. Collins, Response 7f. Ähnlich auch Schüssler Fiorenza, Buch 123.152.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

V. 9f.463 und Schiffsherren nebst ihren Angestellten V. 17b-19; auch die summarische Feststellung V. 23b weist besonders auf die Kaufleute 464 . Freilich hat Johannes diese einzelnen Gruppen kaum gegeneinander ausspielen wollen, als ob ihm in seiner Kritik an einer Stufenfolge gelegen wäre. Vielmehr geht es ihm in Kap. 18 darum, vor allem am Beispiel der Kaufleute mit der Auflistung ihrer überaus kostbaren Handelswaren V. 12f. das Luxusleben der Privilegierten, der oberen Zehntausend, zu kritisieren. Während sie das Leben in vollen Zügen und durchaus auf Kosten anderer genießen, leben viele ihrer Zeitgenossen in bitterer Armut. Babylon/Rom verstößt so gegen das elementare Recht auf Lebensunterhalt, was besonders im Zusammenhang von Apk 13,16f. deutlich wird 4 ": Dissidenten, die sich nicht öffentlich zur vergötzten Staatsmacht bekennen, werden wirtschaftlich boykottiert 466 . Aber auch die der Staatsmacht gegenüber Treuen nehmen Schaden, denn die „Lizenz, die der am Wirtschaftsleben Teilnehmende bekommt, macht ihn zur Nummer, prägt ihm ein Zeichen ein, wie es die Großgrundbesitzer mit ihren Herden tun"467 und verletzt ihn so in seiner Menschenwürde. Im Rahmen der Sozialkritik des Johannes ist noch an die obigen Ausführungen zu den Dekaloggeboten acht und zehn (s.o. B.2.1.b), S. 71f.76-78) zu erinnern: Die Ausbeutung der von Babylon/Rom unterworfenen Völker ist nichts anderes als Diebstahl 468 ; sie erstreckt sich auf Ländereien, landwirtschaftliche Erzeugnisse, Menschenkörper und -seelen, Wertgegenstände wie Gold, Silber, Edelsteine, Häuser und Grundstücke und stellt somit massive Verstöße gegen das zehnte Gebot dar 469 . Mit dieser allgemeinen Kritik an den sozialen Verhältnissen im Imperium Romanum steht Johannes durchaus in der Tradition alttestamentlicher Propheten, vgl. Jes 23; Ez 26,1463 464 465

466 467 468 469

Richtig beobachtet von Füssel, Zeichen 67. Siehe dazu oben S. 81f. Vgl. Schürmann, Menschenwürde 274ff. Der in diesem Zusammenhang von Schürmann gebrauchte Begriff des „Mensckenrechts" ist jedoch ein moderner und sollte nicht an antike Texte angelegt werden. Vgl. ebd. 276. Siehe auch oben S. 80ff. Füssel, Zeichen 51. S.o. B.2.1.b)8. S.o. B.2.1.b)10.

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28,19470; Nah 3,4 LXX471. Somit ist bei der Schilderung des Untergangs Babylons/Roms Apk 18 „nicht der Haß des Proletariers, der mit Wollust dieser Zerstörung zuschaut" 472 vernehmbar, „sondern der heilige prophetische Zorn über die soziale Ungerechtigkeit der oberen Zehntausend, ... wie er bei den Propheten sich Ausdruck verschafft hat" 473 . c) Die soziale „Utopie" des Apokalyptikers Wie in der Auseinandersetzung zwischen Gott und dem Drachen die politisch-soziale Existenz der Christen auf dem Spiele steht, so wird auch das Endheil als politisch-soziales Heil verstanden 474 . Dies wird an verschiedenen Stellen von Apk 20 ff. deutlich: - Das Millennium 20,1-6 versteht Johannes ganz „irdisch" als tausendjährige Herrschaft Christi mit den Seinen 475 . - Den Bewohnern des neuen Jerusalem wird Speise und Trank in Aussicht gestellt: Das Lebenswasser stillt ihren Durst (22,17b), dessen Quelle (21,6) einen Strom durch die Stadt entläßt, der von Lebensbäumen gesäumt wird (22,lf.); diese Lebensbäume tragen zwölfmal im Jahr ihre Früchte (22,2) 476 . - Das neue Jerusalem versteht Johannes durchaus politischimmanent, was schon die betonte Parallelisierung mit Babylon/Rom deutlich macht 477 . Tatsächlich stellt Apk 21f. ein Gegenbild zu Apk 13 und 17478 und allen anderen Stellen der Apokalypse dar, die von Babylon/Rom handeln. Erscheint dieses antichristliche Imperium in der Apokalypse immer wieder als harter Bedränger der Glaubenden, ist Apk 21,9ff. an ebendiese „bedrängte und verängstigte winzige Minderheit" 479 gerichtet und enthält für sie „das Angebot einer heilen städtischen Welt"480. Die Beschreibung 470

Vgl. Schräge, Ethik 341 Vgl. U.B. Müller, Offb 304; Kraft, Offb 239. 472 Hadorn, Offb 181. 473 Ebd. 474 Ygi Schüssler Fiorenza, Priester 414. 475 Vgl. Böcher, Apk 105f. 476 Vgl. ders., Bürger 158. 477 Vgl. ders., Israel 47f. 478 Vgl. Georgi, Visionen 368. 479 Ebd. 352. 471

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

der endzeitlichen πόλις in der Apokalypse nimmt jüdische wie hellenistische Hoffnungen auf481. Johannes stellt sie als heilvolles Miteinander von Menschen dar, das Gottes Schöpferwillen entspricht und sein Wesen durch die unmittelbare Anwesenheit Gottes in seiner Mitte empfängt 482 . Freie, vertrauensvolle Kommunikation von Menschen aus allen Nationen und Völkern ist hier möglich483; in dieser offenen ... Stadt sind Gott und das Lamm „Bürgermeister und Bürger zugleich, ... Freie unter Freien" 484 . Gab es in der sozialen Wirklichkeit zur Zeit der Apokalypse Konflikte zwischen arm und reich, so sind diese in der Gottesstadt nicht mehr vorzufinden; der Verstoß gegen das Elementarrecht auf Lebensunterhalt, den Johannes kritisiert, existiert nicht mehr485; ebenso haben Ausbeutung, Unterdrückung, Konfiskation von Vermögen und wirtschaftliche Boykottierung ihr Ende gefunden. 3. Spezielle sozialethische Topoi a) Sklaverei Am Ende der Auflistung von Luxuswaren Apk 18,12f. nennt Johannes σ ώ μ α τ α , και ψυχαί α ν θ ρ ώ π ω ν . Wie an verschiedenen Stellen der Septuaginta (Gen 36,6; Tob 10,10; 2 Makk 8,11; Bei 32) hat σώμα auch hier die Bedeutung „Sklave" 486 , ψυχή meint wie LXX Ez 27,13 ebenfalls „Sklave", „Leibeigener" 487 ; sachlich steht ψυχαί α ν θ ρ ώ π ω ν parallel zu σώματα 4 8 8 . Deshalb und weil beide im Deutschen mit „Sklave" wiederzugeben sind, ist die Deutung eines der beiden Ausdrücke auf (männliche oder weibliche 489 ) Prostituierte oder Gladiatoren490 ebenso abzulehEbd. Vgl. Schüssler Fiorenza, Buch 137. 482 Vgl. R o l o f f , Neuschöpfung 133.138. 483 Vgl. ebd. 137. 484 Georgi, Visionen 368. - Zum Ganzen vgl. auch Schüssler Fiorenza, Buch 137f. 485 Y g j Schürmann, Menschenwürde 276. 486 Vgl. U.B. Müller, O f f b 307; Lohmeyer, O f f b 151. 487 Vgl. Bousset, O f f b 422; Charles, Rev 2 105. 488 Vgl. Schweizer, ψυχή 654. 489 Insbesondere für σ ώ μ α τ α erwogen von Hadorn, O f f b 180f. 490 Eine von Hadorn, ebd. 181 erwogene, von Bousset, O f f b 422 abgewiesene Interpretation. 480

481

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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nen wie die, daß σώματα körperliche und ψυχαί geistige Arbeiter seien491. Ψυχαί άνθρώπων ist im Anschluß an LXX Ez 27,13 (ένεπορευοντό σοι έν ψυχαΐς άνθρώπων) formuliert492; die „Menschenseelen" sind unerwartet im Akkusativ angeschlossen, von den vorangegangenen Genitiven also unterschieden und deshalb besonders hervorgehoben 493 . Johannes könnte mit der betonten Erwähnung der „Menschenseelen" darauf hinweisen, daß Sklaven „doch immerhin menschliche Personen sind"494, damit seinen Abscheu vor dem Sklavenverkauf ausdrücken495 und so einen „Ansatz sozialethischer Kritik"496 liefern. Jedenfalls hebt er den Sklavenhandel gegenüber dem Handel mit anderen Waren deutlich hervor, denn beide Ausdrücke (σώματα / ψυχαί άνθρώπων) entsprechen nicht seinem Sprachgebrauch - er verwendet sonst durchgehend δούλος, vgl. 6,15; 13,16; 19,18 - und bilden den Abschluß der Liste der Luxuswaren: Die Sünde Babylons/Roms erreicht darin ihren Gipfel, „daß sie auch lebendige Menschen wie Waren behandelt"497. b) Hochwertung der Frau? Diese könnte sich in Apk 2,20 ausdrücken: Johannes polemisiert zwar gegen „Isebel"498, aber es „wird nicht die Tatsache moniert, daß eine Frau als Prophetin in der Gemeinde von Thyatira eine führende Rolle zu spielen scheint, sondern die, daß sie falsch lehrt"499; für ihr Ansehen spricht, daß sie trotz der Warnungen des Johannes noch immer in dieser Gemeinde wirksam ist500 (vgl. Apk 2,20ff.). 491 492 493 494 495 496 497 498

499

500

Abgewiesen von Kraft, Offb 235. Vgl. U.B. Müller, Offb 307; Kraft, Offb 235. Vgl. U.B. Müller, ebd. Schweizer, ψυχή 654; so auch U.B. Müller, Offb 307. Vgl. Schweizer, ebd.; U.B. Müller, ebd. Schweizer, ebd. Roloff, Offb 177. Zum Namen „Isebel" und zur Situation der Gemeinde in Thyatira s.o. B.l.l.c), S. 25f. mit Anm. 103. Schräge, Ethik 339. Ähnlich auch Roloff, Offb 57 mit dem Hinweis darauf, daß im Urchristentum nicht selten Frauen die Gabe der prophetischen Rede hatten: Act 2,17; 21,9; 1 Kor 11,5. - Auf die führenden Positionen von Frauen in den christlichen Gemeinden Kleinasiens weist auch Schüssler Fiorenza, Buch 159 hin. Vgl. Dies., Gedächtnis 90.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

Möglicherweise war „Isebel" die Leiterin einer frühchristlichen Prophetenschule, zu der auch weibliche Seher gehört haben mögen und die in der Gemeinde von Thyatira großen Einfluß und hohe Autorität besaß501. Vielleicht war ihr Einfluß sogar von Dauer, denn Thyatira spielte in der montanistischen Bewegung des zweiten Jahrhunderts, in der Prophetinnen wichtige Funktionen innehatten, eine herausragende Rolle502. Doch außer der Tatsache, daß Johannes trotz seines Angriffs auf eine bestimmte Prophetin „die Prophetie von Frauen nicht an und für sich in Zweifel zieht"503, läßt sich dem Sendschreiben an die Gemeinde zu Thyatira nichts zum Thema „Hochwertung der Frau" entnehmen. So wird man aus der Akzeptanz weiblicher Propheten noch nicht auf eine generelle Hochwertung der Frau in modern-emanzipatorischem Sinne schließen dürfen. Dies ist um so weniger der Fall, als für die Apokalypse wie für den Epheserbrief die Vorstellung der Gemeinde als Braut Christi eine wichtige Rolle spielt504 (vgl. Eph 5,22-33). Auch wenn in diesem Text das Bild von der Kirche als Braut und Ehefrau Christi mit dem Symbol vom Leib (der Mann als κεφαλή wie Christus [V. 23], die Ehegatten Glieder des Leibes Christi [V. 30] usw.) verfließt505, so ist doch deutlich, daß auch die Beziehung zwischen Christus und der Kirche, ausgedrückt in der Metapher „Bräutigam/Braut", zum Paradigma christlicher Ehe wird; dabei betrachtet der Verfasser des Epheserbriefs die Beziehung zwischen Christus und der Kirche nicht als Beziehung zwischen Gleichgestellten. Denn die Braut Kirche wird als abhängig von ihrem Bräutigam Christus und als ihm untergeordnet dargestellt 506 .

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Vgl. ebd. Vgl. ebd. Nach Kraft, Offb 68, der auf EpiphHaer 51,33 verweist, war Thyatira im zweiten Jahrhundert n. Chr. „Hauptstadt des Montanismus". Ob aber konkret „Isebel" dauerhaften Einfluß ausübte, wie Schüssler Fiorenza meint, muß offen bleiben, zumal im Montanismus sexuelle Enthaltsamkeit gefordert wurde (vgl. Tröger, Christentum 126; Benoit, Entfaltung 103), was nicht gerade an die Verkündigung der „Isebel" nach Apk 2,20 erinnert. Schüssler Fiorenza, Gedächtnis 363. · S.o. B.2.1.b)l. Vgl. Schnackenburg, Eph 312. Vgl. Schüssler Fiorenza, Gedächtnis 328f., die aber von völliger Abhängigkeit vom Bräutigam und von Unterwerfung unter ihn spricht. Doch nimmt solch krasse Darstellung viel zu wenig die breite Linie

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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Sollte Johannes den Epheserbrief kennen bzw. als mit dem Ort Ephesus in Zusammenhang Stehender 507 die dem Epheserbrief zugrundeliegenden theologischen Traditionen, so könnte er derselben christologisch-ekklesiologischen Begründung der Unterordnung der Frau zuneigen; sollte er ihn nicht kennen, mag er aus seiner eigenen Christologie und Ekklesiologie heraus zu einem ähnlichen Ergebnis wie Eph 5,22-33 gekommen sein - freilich ohne es in der Apokalypse auszudrücken. c) Hochwertung der Schöpfung Unbestreitbar ist Johannes an der Kreatürlichkeit der neuen, nach diesem Äon anbrechenden Welt Gottes interessiert: Ein neuer Himmel und eine neue Erde werden geschaffen 5 0 8 ( 21,1), nachdem bereits das Millennium als innerweltliche Größe vorgestellt wurde (20,1—6)509. Auch im einzelnen wird die neue Welt Gottes mit konkreten, natürlichen Dingen ausgestattet sein: Lebensbäume tragen zwölfmal im Jahr Frucht, ihre Blätter haben Heilkraft (22,2); lebendiges Wasser wird den Durst von den Erlösten nehmen (21,6; 22,1), Manna ihren Hunger stillen (2,17). Eine „abstrakte(n), blasse(n) Jenseitshoffnung" S10 ist dem Apokalyptiker also fremd 511 ; auch zeigt sich an der Vorstellung des innerweltlich gedachten Millenniums das Moment der sichtbaren Verwirklichung der Herrschaft Christi in dieser Welt, „die nicht einfach als teuflisch den Dämonen und imperialen Helfershelfern des Drachen überlassen werden kann" 512 . Daß Johannes diese Welt liebt und hochschätzt und gleichzeitig diejenigen wenig achtet, die der Erde Schaden zufügen,

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wahr, die den Text im Sinne von οί άνδρες, άγαπατε τάς γυναίκας (V. 25) durchzieht. Schließlich kann Joh gut von Ephesus aus nach Patmos verbannt worden sein (s.o.B.l.l.b), und die Orte der von ihm angeschriebenen Gemeinden bilden einen Kreis, der von Ephesus ausgeht und wieder dorthin zurückführt (s.o. B.l.l.c); das Sendschreiben an die Gemeinde zu Ephesus ist das erste der sieben von Apk 2f. (s.o. B.l.l.c), S. 19-22). Vgl. Schräge, Ethik 334. Vgl. ebd. und Böcher, Apk 105f. Schräge, Ethik 334. Vgl. ebd. Ebd.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

wird aus 11,18 ersichtlich: Denjenigen, welche die Erde vernichten, ist ihrerseits die eigene Vernichtung durch Gottes Gericht sicher (και διαφθεΐραι τους διαφθείροντας τήν γήν). Die Schuld dieser Menschen besteht darin, daß sie die Erde durch ihre Sünde verderben und verwüsten und aus ihr „ein Jammertal und einen Ort des Unfriedens machen" 513 . Nimmt man zu dieser Stelle 19,2 (δτι £κρινεν τήν πόρνην τήν μ ε γ ά λην ήτις £φθειρεν τήν γήν έν τή πορνεία αυτής) hinzu, so wird deutlich, wie Johannes sich die Vernichtung der Erde denkt: Sie geht von der Hure Babylon aus und ist durch ihre Gottlosigkeit bedingt (πορνεία im übertragenen Sinn: „Abfall von Gott", „Abgötterei" 514 ). Das Verhältnis des Menschen zu Gott ist für den Apokalyptiker also nicht nur eine Sache der Innerlichkeit, sondern strahlt auf alle Lebensbereiche aus; wo es gestört oder gar zerstört ist, da wird auch die Erde in Mitleidenschaft gezogen 515 . Bedenkt man, daß Johannes die zerstörte Gottesbeziehung mit πορνεία umschreibt und diese durchaus auch in Babylons/Roms Handelsbeziehungen und Luxus besteht 516 , so fällt ein neues Licht auf die Liste der Luxuswaren 18,12f.: Sie sind ein Beispiel f ü r das (δια)φθείρειν τήν γήν (11,18; 19,2), denn zur Gewinnung, Herstellung und Veredelung der vor allem in 18,12 genannten Edelmetalle, Kostbarkeiten und feinen Stoffe bedarf es größter Mengen von Rohstoffen sowie tierischer und menschlicher Arbeitsleistung; ähnliches gilt für die V. 13a aufgezählten, teilweise seltenen oder verfeinerten Produkte der Landwirtschaft (κιννάμωμον, άμωμος, θυμίαμα, μύρον, λίβανος, οίνος, ί λ α ι ο ν , σεμίδαλις, σΐτος). In noch höherem Maße jedoch wird die Erde durch den Luxushandel mit lebenden Wesen (V. 13b: κτήνος, πρόβατον, 'ίππος, σώμα, ψυχή άνθρώπων) ausgeplündert und geschändet. Auch wenn Johannes noch keine eigentliche Umwelt- und Tierschutzethik entwirft, so bilden seine Ablehnung derer, die der Erde Schaden zufügen, und sein Aufweis des Zusammenhanges von Gottlosigkeit und Vergehen an der Schöpfung (vgl. 11,18; 19,2) durchaus die Ansätze zu einer solchen 517 . 513 514 515 516 517

Hadorn, Offb 127. Vgl. BA 1389; siehe dazu auch oben B.2.1.b), S. 57f. Vgl. Roloff, Offb 120. S.o. S. 82. Vgl. Roloff, Offb 120.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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d) Ethische Motive aus dem Bereich des Politischen 1. Die Situation zur Zeit der Abfassung der Apokalypse Als Minorität518 innerhalb einer multireligiösen Gesellschaft ist das politische Gewicht der kleinasiatischen Christen verschwindend gering. Neben der ökonomischen Benachteiligung, die alle ernsthaften Christen trifft, sind sie den Anfeindungen jüdischer Bevölkerungsteile ebenso wehrlos ausgesetzt wie den staatlichen Zugriffen, die in Vermögenskonfiskation, Gefängnis, Verbannung und anderem, bis hin zur Todesstrafe, bestehen. Zentral gesteuerte staatliche Maßnahmen gegen die Christen gibt es zur Zeit der Apokalypse noch nicht, aber mit einem regional begrenzten Vorgehen gegen offene oder passive Gegner des Kaiserkults ist zu rechnen. Dabei ist das im Zusammenhang des Pliniusbriefes beschriebene Verfahren mit Sicherheit teilweise, vielleicht sogar gänzlich in KraftS19, und es ist gut vorstellbar, daß der 2,13 erwähnte Antipas sterben mußte, weil er das Opfer vor der Kaiserstatue verweigert hatte520. Im Blick auf solche Bedrängnis von Seiten des Staates sowie die soziale und wirtschaftliche Situation der Christen spielt ihre Haltung zum φαγεΐν είδωλόθυτα (vgl. 2,14.20) eine entscheidende Rolle. Während Johannes den Verzehr von Götzenopferfleisch kategorisch ablehnt, bieten die in Apk 2 genannten und propagandistisch aktiven christlichen Libertinisten eine „Alternativlösung in den Kirchen Kleinasiens"521, die in der Freigabe des φαγείυ είδωλόθυτα (και πορνευσαι) besteht. Diese theologische Einstellung würde den Glaubenden wirtschaftliche, politische und berufliche Vorteile ermöglichen522. Würde Johannes diese Lehre tolerieren oder den kleinasiatischen Christen gar empfehlen, so drohte ihre Anpassung an

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519 520 521 522

Vgl. Georgi, Visionen 352, der von einer „bedrängten und verängstigten winzigen Minderheit von Glaubenden" spricht. Zum Folgenden s.o. B.l.l.c) und B.2.1.c). S.o. B.l.l.b), S. 18 mit Anm. 36. S.o. B.l.l.c), S. 24 mit Anm. 93. Schüssler Fiorenza, Religion 267. Vgl. dies., Buch 77.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

eine pagane Allerweltsmeinung (mit einem entsprechenden Verlust christlicher Identität) und ein offener Bruch zwischen Juden- und Heidenchristen in ihren Gemeinden523. Behördliche Maßnahmen bekam auch Johannes zu spüren, wurde er doch wahrscheinlich wegen seiner Verkündigungstätigkeit auf die Insel Patmos verbannt524, ist also ein dorthin „deportierter politischer Gefangener" 525 . Doch hat diese Verbannung auch ihr Positives, denn sie erlaubt Johannes einen „ex-zentrischen Blick"526: Alles, was er sieht, sagt und schreibt, nimmt er von einem entlegenen Winkel des Imperium Romanum aus wahr; er lebt nicht in der Metropole, sondern am Rande, an der Peripherie527. Er ist nicht in die Machenschaften der Hauptstadt verwickelt528, und weil er „weder Bestechungsgelder zahlen muß, um Machtgewinne zu erzielen, noch Lügenmärchen auftischen muß, um Applaus zu ernten, weiß er, daß hinter der vergoldeten Fassade (sc. des Römischen Reiches) alles morsch ist"529; trotz seiner Gefangenschaft lebt er auf Patmos bewußter und klarer, seine Exzentrizität hat also erkenntnistheoretische Vorzüge530. Das Weltgeschehen erkennt und durchschaut der Seher von Patmos als einen heftigen Kampf zwischen Gott und widergöttlichen Mächten, in dem der Mensch letzteren unterliegen oder sie besiegen kann, und mit den Überwindersprüchen der Sendschreiben erinnert er die Leser bzw. Hörer daran, daß sie als Christen in diesem Kampf stehenS31. Sich dies bewußt zu machen, ist nach den Vorstellungen des Johannes auch dringend geboten; denn bereits die gegenwärtige Situation ist alles andere als leicht, und für die allernächste Zukunft erwartet er eine „dramatische Steigerung der Auseinanderset-

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S.o. B.l.l.c), bes. S. 3 0 - 3 2 . S.o. B.l.l.b). Füssel, Zeichen 48. Ebd. 69. Vgl. ebd. 69.71. Vgl. ebd. 71. Ebd. Vgl. ebd. mit Anm. 27. S.o. das im Zusammenhang von νικάω B.2.1.a)3. Gesagte. Wengst, Pax Romana 151; siehe auch oben B.l.l.c), S. 28.31.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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2. Die in Bälde erwartete Situation Johannes erwartet für die Zukunft nichts Geringeres als die Verderbnis der gesamten Erde durch das als böses, gottloses Staatswesen gekennzeichnete 533 Babylon/Rom (11,18; 19,2): Es macht aus der Erde, die nach Gottes Schöpfungsplan ein Paradies hätte sein sollen, einen Ort des Unfriedens und ein Jammertal534. Es zwingt alle Erdenbewohner zur Anbetung des „Tieres", des römischen Imperators im Zusammenhang des Herrscherkultes, bzw. seines (Kult-) Bildes und zur Annahme eines Malzeichens an Hand oder Stirn (13,8.12.14-17); wer die Verehrung des Kaisers verweigert, wird mit Gefängnis oder Tod bestraft (13,10.15), wer das Malzeichen nicht annnimmt, wirtschaftlich boykottiert (13,17)S3S. Unter diesem totalitären Regime haben viele Menschen massiv zu leiden, so außer renitenten Christen auch viele andere: Babel ist voll vom Blut der Propheten, Heiligen und πάντων των έσφαγμένων έπί της γης (18,24). Außerdem beutet Babylon/Rom die unterjochten Völker gnadenlos aus und rafft aus ihnen alles zusammen, was sie und ihre Länder nur hergeben; im skrupellosen Handel mit Menschen erreicht seine Sünde ihren Gipfel536. Während Babylon/Rom und seine oberen Zehntausend in unermeßlichem Reichtum und Luxus schwelgen, wird vielen Menschen das zum Leben Nötige vorenthalten; so verstößt es gegen das elementare Recht auf Lebensunterhalt 537 . Dies geschieht in besonderer Weise durch die wirtschaftliche Boykottierung derer, die das Malzeichen verweigern538; aber auch diejenigen, die es annehmen, werden in ihrer Menschenwürde verletzt 539 . Die Wirkung Babylons/Roms auf die Menschheit ist enorm: πάντα τά ?θνη trinken vom οίνος του θυμοί» της πορνείας

533 534

535 536 537 538 539

Vgl. dazu das oben B.2.1.b)7., S. 67-69 im Zusammenhang von πόρνη κτλ Gesagte. Vgl. Hadorn, Offb 127. Siehe auch oben B.2.1.c), S. 92. Bereits in 3,10 ist eine weltweite, umfassende Notzeit angekündigt, s.o. B.l.l.c), S 28 S.o. B.2.1.a), S. 42f.50f.; B.2.1.b), S. 59; B.2.1.c), S. 80f. S.o. B.2.1.b), S. 72.76-78; B.2.1.c), S. 85-88. S.o. B.2.1.c), S. 78-84.85-88. S.o. B.2.1.c), S. 85f. Vgl. ebd.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

Babylons (18,3) bzw. werden durch seine φαρμακεία verführt (18,23)540. Diese „Vergiftung" bleibt nicht ohne Folgen: Alle, die auf Erden wohnen - mit Ausnahme der Erwählten - vollziehen die Proskynese vor dem Tier (13,8); ihr ganzes Wesen erhält von der Gottlosigkeit Babels seine Prägung, denn selbst nach schrecklichen Plagen sind sie nicht willens, von ihren schweren und vielfältigen Sünden zu lassen (9,20f.)541 und sich von ihren bösen Werken zu Gott zu bekehren (16,9.11). - Der Versuchung, die Johannes in 3,10 über die οικουμένη ολη heraufziehen sieht, unterliegt die heidnische Weltbevölkerung also. Daß zu einer widergöttlichen Staatsmacht eine ebensolche Weltbevölkerung hinzutritt, macht die Situation für die Christen noch bedrückender. Unter einem totalitären Regime, das über alle Lebensbereiche (Religion, Politik, Wirtschaft usw.) absolute Herrschaft und Kontrolle ausübt, und inmitten einer von Babylon/Rom vergewaltigten und zugleich verblendeten Menschheit fristen die Glaubenden ihr Dasein. Die ihnen schon zur Zeit der Abfassung der Apokalypse bekannten Pressionen (begrenzte behördliche Maßnahmen gegen sie, ihre soziale und politische Außenseiterrolle und ökonomische Benachteiligung) erfahren dabei eine massive Steigerung: Sie erleben eine umfassende Verfolgung durch das Imperium Romanum542; verweigern sie die göttliche Verehrung des Kaisers, erwartet sie Gefängnis oder Tod; lehnen sie die Signierung durch das 13,16f. erwähnte χ ά ρ α γ μ α ab, droht ihnen völlige wirtschaftliche Boykottierung und damit Verelendung. Summarisch stellt Johannes 13,7 fest, daß die Christen in diesem Kampf der widergöttlichen Mächte gegen sie die eindeutigen Verlierer sind: εδόθη αύτω ποιησαι πόλεμον μετά των αγίων χαι νιχήσαι αυτούς. Doch geht ihre Niederlage nicht, wie man bei einer oberflächlichen Lektüre von Apk 13 meinen könnte, soweit, daß sie alle umgebracht würden; denn anders als die ansonsten parallele Stelle 11,7, die vom Sieg des Tieres über die zwei Zeugen handelt, fehlt in 13,7 die Aussage και άποκτενεΐ αυτούς. Auch besteht 13,10ab aus zwei Kondi-

S4

° Siehe auch oben B.2.1.b), S. 57f. Siehe dazu auch oben B.2.1.b), S. 55-59. 542 Vgl. dazu Rissi, Hure 73: Die Apk bezeugt, „daß eine große, letzte Verfolgung der Gemeinde Jesu ewartet wurde, daß sie aber noch nicht eingetreten ist" (Hervorhebungen des Originals weggelassen). 541

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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tionalsätzen des indefiniten Falls, wobei „das Verhältnis der Protasis zur Wirklichkeit unbestimmt"543 bleibt; deshalb ist es wahrscheinlich, daß nach Meinung des Johannes keineswegs alle Christen in Gefangenschaft kommen oder getötet werden544. Dennoch erwartet Johannes eine massive Bedrohung der Glaubenden, die mit wirtschaftlicher Boykottierung (und der daraus erwachsenden Armut), Gefängnis und Tod zu rechnen haben, diese teilweise auch real erleiden müssen (vgl. 2,10; 20,4). 3. Die Bewältigung der erwarteten Situation a) Das Stiften von Vertrauen „Ein optimistischer Grundzug bestimmt die Aussagen des Buches (sc. der Apokalypse), das keine Resignation kennt, geschweige denn zuläßt" 545 . Dieser Optimismus wird durch wiederholte Hinweise auf die Herrschermacht Gottes und Christi in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erzeugt. Denn Gott ist ό ών και ό ην και ό έρχόμενος (1,4.8; 4,8) und - wie auch Christus - Α und Ω, Anfang und Ende (1,8; 21,6; 22,13)546 aller Zeit und Geschichte. Es ist also durchaus nicht so (bzw. nicht nur so), daß die Apokalypse eine notvolle Gegenwart in Opposition zu einer heilen Zukunftswelt stellte 547 , vielmehr ist Gott bzw. Christus der Herr aller Ereignisse auch der wegen der scheinbar totalen Herrschaft der Finsternismächte verschlossenen WeltsituationS48. Daß die Glaubenden an der βασιλεία Gottes bzw. Christi schon jetzt realen Anteil haben, spricht Johannes seinen 543

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Bornemann/Risch, Grammatik 290; der Inhalt der Protasis wird „keineswegs als wirklich (d.h. als Tatsache) hingestellt ... . Als wirklich soll nur das Verhältnis von Fallsetzung und Folge (Protasis : Apodosis) erscheinen" (ebd. Hervorhebungen im Original). Dies bestätigt auch 13,16f.: Bestimmte Menschen sind selbst nach ihrer Verweigerung der Annahme des Malzeichens noch am Leben, da sie ja wirtschaftlicher Boykott trifft; zu letzterem s.o. B.2.1.c), S. 80f.85f. Strobel, Apk 175. Vgl. U.B. Müller, Offb 77. Vgl. Füssel, Zeichen, 28. Hierauf weisen u.a. das wiederkehrende δει (vgl. 1,1; 4,1; 17,10 u.ö.) und das passivum divinum έδόθη, -ηααν (vgl. 6,2; 9,3; 12,14 u.ö.) hin, s.o. B.I.2., S. 37 mit Anm. 179.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

Adressaten wiederholt zu (l,5f.9; 5,9f.), auch durch die hymnischen Stücke, welche die Leser an die Gottesdienstfeiern der Gemeinden erinnern sollen, in denen das Leben unter der Herrschaft Christi antizipatorische Verwirklichung erfahren hatte 549 . Im Blick auf die konkret erwartete Situation (s.o. 2.) stiftet Johannes weiterhin durch den Hinweis auf den bevorstehenden Untergang Roms, das begrenzte Maß der Leidenszeit der Glaubenden sowie ihre Versiegelung Vertrauen. Nachdem 16,19 bereits das Gericht über Babylon/Rom aussagt, wird dieses in 17,1-19,10 breit entfaltet sso ; Johannes begnügt sich also nicht mit der Feststellung des Untergangs, sondern malt diesen aus. Der Grund für diese ausgedehnte Entfaltung dürfte das mit dem Untergang Babylons/Roms bewirkte Ende seines Terrorregimes sein; tatsächlich ist mit dem Gericht über Babylon/Rom das weltbeherrschende Imperium beseitigt, weshalb der himmlische Jubel und der Lobpreis der auf der Erde lebenden Christen Gott preisen kann (vgl. 19,1—10)551. Deshalb ist K. Wengst zuzustimmen: Im Blick auf den Untergang Roms „spricht sich die Hoffnung aus, daß die Gewalttätigen, die Sieger der Geschichte, nicht auf immer über ihre Opfer triumphieren mögen"SS2. Auch das eschatologische Maß der Leidenszeit intendiert ein solches Aufrichten der angefochtenen Glaubenden: Ganz allgemein erscheint die Unheilszeit als begrenzt, denn sie findet mit dem Gericht Gottes über alle bösen Mächte ihr Ende, und sogar während ihres Bestehens ist sie dem souveränen Gott untergeordnet 553 . Im besonderen macht Johannes deutlich, daß die ausstehende Zeit des Leidens kürzer als die vergangene und die Zahl der Märtyrer begrenzt ist (vgl. 6,11; 12,12) 5 5 4 .

Vertrauensstiftend ist für die Leser ferner die Gewißheit, vor dem über die ganze Welt hereinbrechenden Gericht Gottes verschont bleiben zu können, was Johannes mit ihrer Versie549

Vgl. Wengst, Pax Romana 166. Vgl. Roloff, Offb 165f. 551 Vgl. U.B. Müller, Offb 284. ss2 p a x R o m a n a 155. 553 Vgl. wieder das δει und das passivum divinum έδόθη, -ησαν, s.o. Anm. 548 und B.I.2., S. 37. 554 Vgl. Wengst, Pax Romana 154ff.248, Anm. 57.65; Stuhlmann, Maß 46-52.162. 550

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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gelung 7,1-8 (vgl. 9,4) ausdrückt555; trotz dieser bleibt ihnen Verfolgung durch das gottferne Imperium Romanum nicht erspart 556 . b) Die konkreten ethischen Weisungen des Johannes Mit großem Nachdruck empfiehlt Johannes seinen Adressaten die ύπομονή, die vor allem Standhaftigkeit in den auf die Gemeinden zukommenden Verfolgungen und Leiden bedeutet; sekundär eignet ύπομονή auch das Element des Harrens auf die Parusie Christi, mit welcher die Leidenszeit der Glaubenden ein Ende haben wird. Konkret meint diese Standhaftigkeit die Verweigerung der Anbetung des Tieres bzw. seines Bildes und der Annahme seines Malzeichens an Hand oder Stirn, selbst wenn solche Verweigerung mit Gefängnis oder Tod bestraft werden sollte557. Auch sollen die Christen für λόγος του θεου und μαρτυρία Ίησοΰ einstehen, auch wenn Verbannung, Haft oder Todesstrafe die Konsequenzen ihrer Treue zur christlichen Offenbarung sein können558. Ihnen bleibt es ferner aufgetragen, im treuen Zeugnisablegen und im kompromißlosen Verweigern des Kaiserkults den Sieg über die widergöttlichen Mächte zu erringen(νικαν) 559 . Dies alles „mag auf den ersten Blick bitter wenig erscheinen"560; aber das trügt, denn Johannes geht es „um ein konsequentes Leben in christlicher Identität als Zeugnis für die Herrschaft Christi"S61 und damit um alles562. Genau diese Kon555

Vgl. Roloff, Offb 88.102. Konkret dürfte Joh hierbei an die Taufe denken, denn nach 14,1 ist das Siegelzeichen der 144.000 der Name des Lammes und τό δνομα του πατρός ocüxoöj'nach urchristlichem Verständnis geschieht die Unterstellung unter die Macht des Namens Jesu in der Taufe (vgl. 1 Kor 1,13.15; Act 8,16; Mt 28,19), und im urchristlichen Schrifttum ist σφραγίς term techn für die Taufe, vgl. 2 Kor 1,22; Eph 1,13; 4,30 (vgl. ebd. 89). 556 Vgl. Roloff, Offb 88; U.B. Müller, Offb 178. 557 S.o. B.2.1.a)l., S. 39-44. 558 S.o. B.2.1.a)2., S. 44-47. 559 S.o. B.2.1.a)3., S. 47-52. 560 Wengst, Pax Romana 163. 561 Ebd. 562 vgl. ebd. Daß eine so konsequente Absage der Glaubenden an das Imperium Romanum ihre Außenseiterrolle und damit die Gefährdung ihrer physischen Existenz steigern würde, liegt auf der Hand (vgl. ebd. 165.253, Anm. 119; A.Y. Collins, Response Uf.).

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

sequenz ist auch die Triebfeder für seine Ablehnung eines Lösungsansatzes, der in mehreren der angeschriebenen Gemeinden Kleinasiens praktiziert wurde und mit dem ein nicht geringer Teil der Adressaten den Konflikt mit Staat und Gesellschaft gemeistert haben dürfte: die Zulassung des φαγεΐν είδωλόθυτα ί63 . Es ist gut vorstellbar, daß die Anhänger des „Nikolaos", „Bileam" und der „Isebel" ein enthusiastisches Verständnis von Erlösung hatten, nach welchem der Christ in der Taufe nicht nur von seinen Sünden befreit, sondern zugleich zur Herrschaft erhöht wurde und sich deshalb als frei betrachten durfte, am nichtchristlichen Leben und Kult teilzunehmen564. Ein solches enthusiastisches Verständnis christlicher Erlösung, das konkrete gesellschaftliche und politische Bedingungen christlicher Existenz nicht ernst nimmt, entspricht jedenfalls nicht den Vorstellungen des Johannes565; seiner Meinung nach haben sich die Glaubenden vielmehr „in der konkret politischen Situation zu bewähren"S66. Im Zusammenhang der politischen Ethik der Apokalypse wird in der Literatur häufig der Begriff „passiver Widerstand" gebraucht567, der im Blick auf eine Revolte oder ähnliches angemessen ist568; auch auf einen Teil der von Johannes geforderten und hier dargestellten Tugenden trifft der Begriff Passivität zu, denn Standhaftigkeit, Ausharren und Verweigerung sind Handlungen eher passiver Art, bei denen der Handelnde den von ihm für richtig erachteten Status quo zu erhalten sucht. Etwas anders sieht es mit folgenden, ebenfalls oben skizzierten Tugenden aus: dem Einstehen für und der Treue zu 563

564 565 566 567

568

Schüssler Fiorenza ist zuzustimmen, daß diese „Alternativlösung in den Kirchen Kleinasiens" (Religion 267) eine bedeutende theologische Lösung für Christen in dieser Region darstellte, da das Verzehren von Götzenopferfleisch und das Partizipieren an religiösen Zeremonien des Staatskults und der Handelsvereinigungen für Christen unumgänglich waren, die am sozialen, ökonomischen und politischen Leben aktiv teilnehmen wollten (vgl. ebd.; siehe auch oben B.l.l.). Vgl. ebd. 269f. Vgl. ebd. 271. Ebd. 270f. Schräge, Ethik 346: „Die Ohnmacht der Christen läßt nichts anderes zu als bloße Passivität'·, Schulz, Ethik 548: „Angesichts ihrer politischen Ohnmacht werden die Christen von Johannes zum inneren, passiven Widerstand aufgerufen"; Schnackenburg, Botschaft 2 268: „passive Resistenz" (Hervorhebungen von mir). S.o. B.2.1.a)l., S. 4 0 - 4 2 das zu Apk 13,10 Gesagte.

2 . Darstellung und Analyse der Ethik

101

λόγος του θεοΰ und μαρτυρία Ίησοΰ, denn diese Handlungen erfordern durchaus aktiven Einsatz. Als gänzlich unangemessen erweist sich der Begriff „passiver Widerstand" bei der Untersuchung folgender spezieller Themen, die sich ebenfalls in der Apokalypse finden: Subversion, Zuendebringen der Leidenszeit, Heiliger Krieg. α) Subversion Da die subversive Wirkung der Apokalypse und ihrer Leser nur vor dem Hintergrund der Staatskritik des Buches verstanden werden kann und diese an sich schon etwas ist, das den Glaubenden die erwartete Situation (s.o. 2.) zu bewältigen hilft, ist zunächst auf sie einzugehen. Die Apokalypse entlarvt die Machtgeschichte des Imperium Romanum als gottlose Geschichte und stellt sie als Zerfallsgeschichte hin569. Während Gott und Christus das wahre Sein, die Fülle des Lebens sind (nach 1,4.8 ist Gott ό ών και ό ην και δ έρχόμενος 570 , nach l,17f. Christus ό πρώτος και ό έσχατος και ό ζών, ... ζών ... είς τους αιώνας τών αιώνων), haben die Widersacher Gottes (der Drache, das Tier, der falsche Prophet, die mit dem Tier Verbündeten usw.) kein dauerhaftes

569

Vgl. Füssel, Zeichen 29, der j e d o c h meint, J o h verstünde jede Machtg e s c h i c h t e als Zerfallsgeschichte. Doch dies ist aus zwei Gründen unrichtig: Erstens nimmt der Apokalyptiker außer zur Macht des Imperium Romanum zu keiner anderen politischen Macht der W e l t g e schichte Stellung (wenn man von der Babylons absieht, mit der er die r ö m i s c h e identifiziert); zweitens bejaht er die (immanent g e d a c h t e ) politische Macht der Glaubenden im Millennium ( 2 0 , 1 - 6 ) und die des neuen J e r u s a l e m (21,1-22,5). - Nach Lohse soll mit Apk 13 „staatliche Ordnung nicht schlechthin als satanisch hingestellt w e r d e n " (Ethik 122), vielmehr wende sich Joh gegen den Anspruch eines Staat e s , der von seinen Bürgern über den Gehorsam gegenüber den B e hörden hinaus göttliche Verehrung des Imperators beansprucht (vgl. ebd.); ähnlich ebenfalls Schulz, Ethik 544f.550. Auch an diese Auslegung L o h s e s und Schulz' ist die Frage nach ihrer Begründung im Text der Apk zu richten, denn sie reflektiert im B e r e i c h der W e l t g e s c h i c h t e andere Formen politischer Macht als die in Kap. 13 dargestellte nicht (wieder abgesehen von der Babylons, mit der er die römische identifiziert); nach Ablauf der W e l t g e s c h i c h t e wird allerdings mit dem Millennium und dem neuen J e r u s a l e m eine gottgemäße Form immanent-politischer Macht auf dem Plan sein, die Joh b e f ü r w o r t e t .

570

Vgl. Füssel, Zeichen 65f.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

Sein571; sie tragen „eine Logik des Zerfalls"S72 in sich. Dies wird am Beispiel der Hure Babylon Kap. 17 deutlich573: Die Frau sitzt auf dem Tier (V. 3) - mit ihrer geschichtlichen Aktualität beruht sie also auf widergöttlicher politischer Macht aber das Tier haßt sie (V. 16). So wird das Imperium Romanum am Ende genau durch das zerstört werden, was es zur Herrschaft gebracht hat; dank widergöttlicher politischer Macht regiert es, und genau diese wird es auch vernichten574. Die Apokalypse ist die präzise Situationsanalyse eines ideologiekritischen Theologen575, denn die himmlischen Gesichte 571

572 573 574

575

Vgl. ebd., wobei Füssel von 17,8 (τό θηρίον ... ην και ούχ Ρστιν και μέλλει άναβαίνειν) ausgehend den Widersachern Gottes jede Seinsstruktur abspricht: Die „Bestie aus dem Abgrund, die von ihr gezeugten Götzen ... haben kein Sein, sie waren und tauchen immer wieder auf, aber sie sind nicht" (ebd. 66; Hervorhebungen von mir). Das ην και ούκ £στιν και μέλλει άναβαίνειν ist zwar möglicherweise in bewußtem Kontrast zu der Gottesprädikation in 1,4.8 formuliert, sagt über die Ontologie des Tieres aber nur aus, daß es, im Gegensatz zu Gott und Christus, nicht ewig existiert (nicht aber, daß es nicht existiert) und die Herrschaft über die Welt im Gegensatz zu diesen nur vorübergehend ausübt. Ferner will bedacht sein, daß 17,8 im Kontext von 17,7-11 primär Auskunft darüber geben will, daß das Tier z.Z. der Abfassung der Apk noch nicht anwesend ist (= ούκ εστίν), aber schon einmal auf dem Plan war (= ην) und wieder kommen wird (μέλλει άναβαίνειν). Ebd. 66. Das Folgende nach Füssel, Zeichen 62, der es Ellul, Offb 186 entnimmt. Anders als Füssel bzw. Ellul, die hier von politischer Macht allgemein reden, wendet sich Joh in der Apk konsequent nur gegen ein widergöttliches Imperium; im Bereich der Weltgeschichte reflektiert er über andere Formen politisch-staatlicher Macht oder über Macht im allgemeinen oder grundsätzlichen nicht, und die immanent gedachte politische Macht der Glaubenden im Millennium und die des neuen Jerusalem bejaht er (vgl. Anm. 569). Vgl. Füssel, Zeichen 36, der hier Joh freilich als „ideologiekritischen politischen Theologen" (Hervorhebung von mir) bezeichnet. Leider definiert er weder das Wort „politisch" in diesem Zusammenhang noch teilt er mit, was „politische" von „unpolitischen" Theologen unterscheidet. Der Begriff „politischer Theologe" ist für den Apokalyptiker m.E. problematisch, da er seine Stellungnahmen zu politischen Fragen nicht an die πόλις, sondern die έπτά έκκλησίαι Kleinasiens, also eine gesellschaftliche (und damit politische) Randgruppe, adressiert. In diesen erzielt er zwar eine politische Wirkung, die auch nach außerhalb der Gemeinden getragen wird (s.u.), aber diese mittelbare Wirkung in die Gesellschaft hinein ist zu gering, um ihn als

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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und Stimmen sind zu einem großen Teil nichts anderes als „ganz bestimmte Lektüreweisen der irdischen Wirklichkeit"576, insbesondere eine Kritik an im wahrsten Sinne des Wortes bestialischer Herrschaft 577 : Das Tier kommt nach Apk 13,1 aus dem Meer, also aus dem Ort des ChaosS78; es ist eine Chaosmacht, welche die gesamte Schöpfung bedroht 579 . In ihm verkörpert sich reale Macht, nämlich die des Imperium Romanum, die nicht von Gott (vgl. Rom 13), sondern vom Teufel eingesetzt istS8°. Apk 13 arbeitet daran, die faktische Macht dieses Imperiums als Betrug, weil Nachäffung der wahren Herrschaft Gottes, zu entlarven 581 . Die Antwort auf die bange Frage der Christen, wie es neben Gott eine so gewaltige Eigenmacht geben kann, wird in diesem Kapitel geliefert 582 : Die Herrschaft des Drachen und des Tieres ist Imitation der Herrschaft Gottes583; es gibt also „nur scheinbar zwei Mächte, denn die zweite Macht beruht auf Trug"584. Apk 13 zeigt, wie trügerisches, falsches Bewußtsein entsteht und sich machterhaltend auswirkt585. Es ist dem Johannes äußerst wichtig, diesen Mechanismus und seine Konsequenzen „mit Verstand", wie er hervorhebt, zu entlarven 586 und auf diese Weise der bestialischen Macht Anerkennung und Legitimation zu entziehen 587 .

„politischen Theologen" bezeichnen zu können. Außerdem ist sein Hauptanliegen nicht die Politik, sondern die Tröstung der angefochtenen Minderheit der Christen, vgl. Schnackenburg, Botschaft 2 261: „Das prophetische Buch (sc. die Apk) will zuerst und vor allem ein Trostbuch für die bedrängte und verfolgte Kirche auf Erden sein" (Hervorhebung im Original); s. auch o. S. 97-99 „a) Das Stiften von Vertrauen". 576 Füssel, Zeichen 37. 577 Vgl. ebd. 578 Ygj Füssel, Zeichen 42. Zur Vorstellung des Wassers als Raum der Dämonen siehe Böcher, Dämonenfurcht 50-53; ders., Christus 22-24. 579 Vgl. Füssel, Zeichen 42 (s. auch ebd. 47). 580 Vgl. ebd. 42. 581 Vgl. ebd. 53. 582 Vgl. ebd. 583 Vgl. Ebach, Apk 51; Füssel, ebd. 584 Ebach, ebd.; vgl. Füssel, ebd. 54. 585 Vgl. Füssel, ebd. 586 Vgl. ebd., wobei Füssel meint, Joh würde „dauernd" (ebd.) von einer verstandesmäßigen Durchdringung der aufgezeigten Strukturen reden; er tut dies aber nur in 13,18 und 17,9.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

Genau dieser Entzug von Anerkennung und Legitimation läßt sich als „subversive Praxis"5** bezeichnen. Denn er geschieht nicht nur im Kopf des Johannes, sondern soll auch von den Empfängern seines Buches vorgenommen werden. Mit seiner Staatskritik will der Apokalyptiker bewirken, daß die Leser bzw. Hörer ihr Bekenntnis zur Herrschaft Gottes und Christi als Protest gegen alle ihr widersprechende Herrschaft begreifen lernen589. Mit der Weitergabe des Zeugnisses für den allein herrschenden Gott nach außerhalb der Gemeinden wird diese Subversion in die nichtchristliche Welt hinausgetragen, so daß die Staatskritik der Apokalypse auch in das Imperium Romanum hineinwirkt. ß) Zuendebringen der Leidenszeit In Apk 6,11 bringt Johannes zum Ausdruck, daß die Zahl der christlichen Märtyrer bald vollendet sein werde590; dieser Gedanke entstammt dem antiken Judentum, wo man sich die Weltregierung Gottes so vorstellte, „daß er alles nach Maß, Zahl und Zeit vorher genau bestimmt habe"591 (vgl. neben den in Anm. 590 genannten Belegen 4 Esr 4,36f.592). Nach der Vorstellung des Johannes ist das Ende des alten Äons also genau dann erreicht, wenn die von Gott festgesetzte Zahl christlicher Märtyrer erfüllt ist593. Damit sagt er aus, daß das Ende mit jedem weiteren Martyriumsfall in den angeschriebenen Gemein-

587

588 589

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591 592 593

Vgl. ebd. - Im Blick auf die Staatskritik der Apk äußert sich Schüssler Fiorenza, Buch 155 ähnlich: „Die Johannesoffenbarung liefert die Vision einer anderen Welt, um die Hörerinnen zu motivieren und ihren Widerstand angesichts der überwältigenden Bedrohung ... zu stärken" (Hervorhebungen von mir). Füssel, ebd. (Hervorhebung von mir). Vgl. Wengst, Pax Romana 166, wobei Wengst den Gottesdienst der angeschriebenen Gemeinden als den Ort beschreibt, wo die Macht Gottes besungen und damit Subversion begründet wird; an die Gemeindegottesdienste erinnere Joh mit den in der Apk vorfindlichen hymnischen Stücken, vgl. ebd. 165f. Das πληρωθωσιν bedeutet nicht ihre sittliche Vollendung, sondern entsprechend 4 Esr 4,35; syrBar 30,2; äthHen 47,4 das Vollwerden der Zahl der Märtyrer (vgl. Hadorn, Offb 86; Bousset, Offb 272). Bousset, Offb 272. Vgl. ebd. Vgl. U.B. Müller, Offb 171.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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den näher herbeirückt S94 , mit anderen Worten: „The death of each martyr brings the eschaton nearer" 595 . Das Martyrium, das bestimmte Christen während der Verfolgung durch das Imperium Romanum erdulden müssen, fördert also die Beseitigung desselben, weshalb dem zu erwartenden Getötetwerden ein leicht aktiver Zug eignet. Dabei ist es aber wichtig festzuhalten, daß die Glaubenden durch ihr Martyrium das Ende nicht beschleunigen können, denn es ist ja von Gott festgesetzt. Wohl aber können sie an jedem Martyriumsfall ablesen, daß das Eschaton ein Stück näher gekommen ist. Deshalb sind die Glaubenden am Zuendegehen der Leidenszeit ursächlich mitbeteiligt, ohne daß sie jedoch das Kommen des Endes - dessen Zeitpunkt von Gott festgesetzt ist - tatsächlich beschleunigen könnten. So ist es nicht die Intention des Johannes, den Adressaten das Martyrium als ein Mittel zur Herbeiführung des Eschatons nahezulegen 596 ; er beschreibt lediglich die Wirkung des Martyriums, um die Adressaten zu trösten 597 . γ) Heiliger Krieg In der Apokalypse finden sich unverkennbar Splitter der Tradition des Heiligen Krieges der Endzeit, an dem auch Christen teilnehmen werden: Die κλητοί καί εκλεκτοί και πιστοί 17,14, die zusammen mit dem Messias-Widder die zehn Vasallenkönige des Tieres besiegen werden 598 , können schwerlich andere sein als Glaubende 599 , was auch für die άγιοι 20,9 gilt600, welche auf dem Zionsberg in einem Kriegslager601 versammelt sind. Auch werden sich die στρατεύματα τά έν τω ούρανω 19,14, 594

Vgl. Stuhlmann, Maß 161. A.Y. Collins, Political Perspective 252. 596 Vgl. Stuhlmann, Maß 162. 597 Letzteres vgl. ebd. 161; das Motiv vom numerus martyrum bringt nämlich zum Ausdruck, daß das Leiden der Opfer einen positiven Sinn hat, vgl. ebd. 162. 598 Die δέκα κέρατα deutet Joh 17,12 im Anschluß an Dan 7,24 auf δέκα βασιλείς, vgl. Roloff, Offb 171. 599 Deshalb ist Karrer, Joh-Offb 223 zuzustimmen: Die Adressaten der Apk „können und sollen sich ... in den ... im Text indirekt gehaltenen Aussagen über diejenigen, die zu Gott und Jesus gehören, wiederfinden. ... Sie vernehmen, wie das Tier gegen die Heiligen ... den Sieg davonträgt (13,7), bis der Kampf seine Wendung zum Sieg des Lammes hin nimmt, das sie als sein Gefolge begleiten (s. z.B. 17,14)". 600 "Αγιοι als Bezeichnung für die Glaubenden 13,7.10; 14,12 u.ö. 595

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

die dem über alle Welt siegreichen Christus (vgl. 19,11-16) folgen, nicht nur aus Engeln rekrutieren602, sondern auch aus Christen. Denn die Gewänder dieser Streitenden sind so beschaffen wie die der Braut Christi 19,7f.603, die nach der Botschaft der Apokalypse mit der christlichen Gemeinde zu identifizieren ist604, weshalb man bei 19,14 an Teile dieser Gemeinde oder an ihre Gesamtheit zu denken hat; außerdem ist den Christen 2,27 mit exakt denselben Worten verheißen, was nach 19,15 der siegreiche Jesus mit der widergöttlichen Menschenwelt tut: ποιμανει αύτούς έν βάβδω σιδηρςκ605. - Schließlich handelt 14,1-5 von der Sammlung der Anhänger des Messias zum Endkampf auf dem Berg Zion606, was alttestamentlicher, antik-jüdischer und apokalyptischer Tradition entspricht607 und im Zusammenhang der erwähnten Stellen der Apokalypse deutlich ist: Das άκολουθουντες 14,4 entspricht dem ήκολούθει 19,14608, der δρος Σιών 14,1 der πόλις ήγαπημένη, also Jerusalem (vgl. 20,9), und wie 17,14 sind die Begleiter des άρνίον 14,4 ganz in seiner Nähe609. 601

602 603 604 605 606 607

608

Παρεμβολή wird in ntl.-frühchristlichen Texten stets als militärischer terminus technicus gebraucht, vgl. BA 1263. Siehe dazu auch die Entsprechungen in 1 QM 3,5; 4,9; 7,1-8 (vgl. Giesen, Apk 164; Böcher, Stadt 119). So aber Bousset, Offb 432; U.B. Müller, Offb 327. Vgl. 19,14: βύσσινον λευκον καθαρόν und 19,8: βύσσινον λαμπρόν καθαρόν. Vgl. 12,1.4.6.13-17; 19,7f. Vgl. Charles, Rev 2 135. Vgl. Böcher, Apk 63; ders., Stadt 113. Der Universalherrscher wird nach Ps 2,6 von Gott auf dem Berg Zion eingesetzt (vgl. Sickenberger, Apk 137), der nach 4 Esr 13,1-11.30-35 Ziel des Sturmes der Völker und Ort der endzeitlichen Entscheidungsschlacht sein wird (vgl. Böcher, Stadt 122). Beim Kampf Gottes gegen die Gottlosen streiten die Gerechten mit: äthHen 38,5; 90,19; 91,12 (vgl. Lohmeyer, Offb 144). U.B. Müller, Offb 264 weist darauf hin, daß άκολουθοΰντες 14,4 Part Praes ist, obwohl 14,1-5 das in der Zukunft liegende Heil der in endzeitlichen Anfechtungen standhaft gewesenen Christen andeutet (letzteres vgl. ebd. 261); nach seiner Auffassung meint das άκολουθουντες die zurückliegende, irdische Nachfolge der Vollendeten (vgl. ebd. 264). - Das Part Praes άκολουθουντες läßt sich allerdings besser verstehen, wenn man vom endzeitlich-militärischen Aspekt des Textes ausgeht: In der Schau der eschatologischen Streitmacht 14,1-5 hat das Part Praes nicht die irdische Nachfolge der Glaubenden im Blick, sondern meint ihre militärische Folgeleistung bei der Äonenwende oder dem Endkampf nach dem Millennium.

2. D a r s t e l l u n g u n d A n a l y s e d e r Ethik

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Auch wenn Johannes diese Vorstellungen nicht breiter entfaltet, so werden seine Leser doch damit zu rechnen gehabt haben, bei der für die allernächste Zukunft erwarteten Äonenwende oder nach dem Millennium entweder in ihrem irdischen oder in postmortalem Zustand in verschiedenen Schlachten Kriegsdienst zu leisten: Gegen die zehn Könige (17,14), gegen die gesamte widergöttliche Menschenwelt (19,14) und schließlich gegen den allerletzten Ansturm der Feinde Gottes (20,9). Es ist daher verfehlt, unter Berufung auf den von Johannes empfohlenen Gewaltverzicht die Aufnahme von Traditionselementen des heiligen Krieges in die Apokalypse zu verneinen. Vielmehr gilt nach der Vorstellung des Johannes für seine Leser beides: Gewaltverzicht bis zur Äonenwende, Kriegsdienst bei oder nach dieser, freilich unter dem Oberkommando des Christus und in der unumstößlichen Gewißheit, mit ihm zu siegen. e) Ethische Motive, die nicht in die bisherigen Bereiche integrierbar sind 1. Tapferkeit Diese spielt in der Apokalypse eine sehr große Rolle, wird doch im Lasterkatalog 21,8 den δειλοις eindringlich eschatologisches Unheil in Form der λίμνη καιομένη angesagt. Den Katalog hat Johannes wahrscheinlich aus urchristlicher Tradition übernommen, durch Veränderungen und Erweiterungen jedoch seiner eigenen Aussageabsicht angepaßt610. Es fällt auf, daß eingangs nicht die großen Laster des Heidentums (vgl. dazu die Lasterkataloge Rom 1,29-32; 1 Kor 6,9-11; Gal 5,19-21), sondern Feigheit und Treulosigkeit genannt611 und damit in besonderer Weise hervorgehoben werden. Durch diese Betonung, aber auch durch die Nennung der δειλοί im gleichen Atemzug mit φονεΐς, πόρνοι usw. macht Johannes deutlich, daß Feigheit ein Schwerstverbrechen ist; umgekehrt ist die Tapferkeit eine hohe Tugend. - Dies ist auch an 12,11 er609

610 6,1

Vgl. 14,4: οί ά κ ο λ ο υ θ ο υ ν τ ε ς τφ άρνίω δπου α ν ύ π ά γ η und 17,14: ol μετ'αύτοΰ (= του άρνίου). Vgl. Roloff, Offb 201. Vgl. ebd.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

sichtlich, wo von den vorbildlichen Glaubenden ausgesagt wird: ουκ ήγάπησαν τήν ψυχή ν αυτών δχρι θανάτου. Mit Tapferkeit meint Johannes demnach vor allem das tapfere Aushalten in der Bedrängnis. Darüber hinaus ist οί δειλοί 21,8 aber auch „als Gegensatz zu ό νικών" 612 des vorangegangenen Verses relevant für alle Stellen der Apokalypse, die vom Kampf reden. Denn kein Kampf kann ohne Tapferkeit gewonnen werden, weshalb diese in allen vom νικαν der Glaubenden handelnden Stellen der Apokalypse mitschwingt613. Damit erfährt das Motiv der Tapferkeit eine Ausweitung über das Thema „Verfolgung" hinaus, denn νικαν meint auch das allgemeine Rechtverhalten der Glaubenden614. In einem ganz bestimmten Kampf werden die Glaubenden sehr viel Tapferkeit benötigen: im Heiligen Krieg der Endzeit. Da Johannes ihre Teilnahme daran zum Ausdruck bringt und von ihrem Sieg unter dem Oberkommando Christi ausgeht615, unterstellt er ihnen auch tapferen Kampf. Somit ist die Tapferkeit in der Verfolgungssituation der Glaubenden, im sittlichen Kampf des einzelnen im Zusammenhang allgemeinen Rechtverhaltens und in seiner Teilnahme an den Gefechten des Heiligen Krieges der Endzeit eine vom Apokalyptiker nachdrücklich geforderte Tugend. 2. Tröstung Nach der Auffassung R. Schnackenburgs will die Apokalypse „zuerst und vor allem ein Trostbuch für die bedrängte und verfolgte Kirche auf Erden sein"616. Diese Auffassung erweist sich auch dann als zutreffend, wenn man bedenkt, daß in der Apokalypse sonst im Neuen Testament gebräuchliche Worte für „trösten" nicht vorkommen (etwa παρακαλέω oder παραμυθέομαι, vgl. unter anderem Mt 5,4; Joh 11,19). Dem Johannes und damit auch den Empfängern der Apokalypse ruft der erhöhte Christus in l,17f., also bereits in der Bucheinleitung617, zu: μή φοβου- έγώ είμι ό πρώτος και ό 612 613 614 615 616

Lohmeyer, Offb 169. Siehe dazu oben B.2.1.a)3. Siehe ebd. S.o. Schnackenburg, Botschaft 2 261; Hervorhebung im Original.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

109

έσχατος, begründet den Trost also mit seiner Unendlichkeit und Macht. Dieses Schema findet sich in der Apokalypse auf Schritt und Tritt, z.B. in dem wiederkehrenden antizipatorischen Preisen der Siegermacht Gottes und Christi (vgl. nur 11,15 ff.) oder der Schilderung des gottgewirkten Untergangs der Hure Babylon (18,1-19,10). In der Apokalypse wird die Ermutigung ausgedrückt, daß sich über die verschlossen erscheinende Weltsituation hinweg die Souveränität Gottes und sein endzeitliches sieghaftes Handeln durchsetzen werden618. Diese Ermutigung geht in der Apokalypse mit Schuldaussage, Einweisung in die Gerichtsdoxologie und den Gehorsam gegenüber Gott619 einher, ist diesen gegenüber aber höher gewichtet620. Dies ist gut an 18,1-19,10 erkennbar, wo ausführlich und tröstend der Untergang Babylons geschildert wird, aber mit 18,4 - im Verhältnis zur gesamten Schilderung jedoch auffallend knapp - die Empfänger der Apokalypse mahnend angesprochen werden. 3. Demut Von Demut redet die Apokalypse nicht unter Verwendung einer bestimmten Terminologie. So finden sich die im Griechischen dafür gebräuchlichen Wörter und Ausdrücke τό μέτριον φρόνημα, ή ταπεινότης und ή ταπεινοφροσύνη 621 genauso wenig wie die für Hochmut verwendeten ή μεγαλοφροσύνη, ή ύπερηφανία, τό φρόνημα, ή ύβρις622. Das Motiv von Demut und Hochmut jedoch spielt eine große Rolle, drückt doch etwa 3,17, wo die laodizenische Gemeinde zitiert wird: πλούσιος είμι και πεπλούτηκα και ουδέν χρείαν εχω, deren „stolze(s) Pochen auf ... angeblichen geistlichen Besitz"623 aus. Der 617 618 619 620

621 622 623

Diese Gliederung nach U.B. Müller, Offb 7. S.o. B.1.2. und Brandenburger, Verborgenheit 84.153.197. Vgl. ebd. 84. So gewichtet Schnackenburg, Botschaft 2 261f. Tröstung und Ermahnung in der Theologie und Ethik der Apk richtig: „zuerst und vor allem" ist die Apk „ein Trostbuch" (261; Hervorhebung des Originals weggelassen), zugleich „aber auch ein Mahnschreiben" (262; Hervorhebung des Originals weggelassen); entsprechend verhandelt er zuerst Trost, dann Mahnung (vgl. ebd. 261-266). Vgl. MG (gr.) 2,112. Vgl. ebd. 260. Roloff, Offb 64.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

Hochmut des antichristlichen Tieres, das sogar die Anbetung der Menschen fordert, ist in Kap 13 ebenso mit Händen zu greifen wie die Hybris der Hure Babylon in Kap 17f. (z.B. ist wiederholt die Rede von Βαβυλών ή μεγάλη oder ähnlichem, vgl. 17,5; 18,2.10.21). Umgekehrt äußert sich Demut vor allem in der Bewährung in der Verfolgungssituation: durch den Verzicht auf φ α γ ε ΐ ν είδωλόθυτο: και πορνευσαι (in Kap. 2 ausgedrückt) riskiert der demütige Christ massive soziale Benachteiligung und Tod, wie denn auch das ούκ ή γ ά π η σ α ν την ψυχήν αύτών &χρι θ α ν ά τ ο υ 12,11 als ideales Demutsverhalten ausgewiesen wird" 4 . Somit ist das demütige Verhalten nach der Botschaft der Apokalypse im wesentlichen von der Bereitschaft geprägt, gegenüber den antichristlichen Mächten standhaft zu bleiben. 2. Darstellung und Analyse der ethischen Vorstellungen im Kontext wesentlicher Theologumena der Apokalypse a) Ethik und alttestamentliche, antik-jüdische Gesetzestradition 1. Bewahrt die Apokalypse den Bezug zur Tora? Das Wort ό νόμος fehlt in der Apokalypse. Daraus werden in der Forschung verschiedene Schlüsse gezogen: - Nach P. Althaus unterscheidet Johannes „mit theologischer Strenge zwischen .Gesetz' und ,Gebot'" 625 : Das Gesetz gelte nur den Juden, die Gebote als Ausdruck des ewigen Willens Gottes gelten den Christen 626 . - Nach R. Schnackenburg stehen in der Apokalypse jüdische Gesetzeswerke „außerhalb des Blickfeldes" 627 . - Ähnlich folgert W. Schräge aus dem „Fehlen einer Bekehrung zur Mosethora", „daß dem Gesetz in der Offb. keinerlei zentrale Bedeutung zukommt" 628 . 624 625 626 627 628

Man beachte außerdem 5,12 (das geschlachtete Lamm ist würdig); 14,4 (demütige Imitatio agni); 15,4 (Gottesfurcht). Gebot 9. Vgl. ebd. Botschaft 2 264. Ethik 337.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

111

Doch muß gefragt werden, ob die Apokalypse nicht den Bezug zur Tora bewahrt, auch wenn das Wort ό νόμος in ihr nicht begegnet 629 . - Und diese Frage ist eindeutig zu bejahen. Die Apokalypse bezeichnet nämlich Christen als τηρουντες τ ά ς έντολάς του θεου (12,17; 14,12), verwendet also einen typisch alttestamentlichen, antik-jüdischen Gesetzesterminus (vgl. Sir 29,1; TestDan 5,1; FEz 186,6). Weiterhin finden sich in ihr Begriffe wie άδικέω/άδίκημα (18,5; 22,11; vgl. Lev 16,16; 19,13; TestAss 2,5; grHen 104,6), αμαρτία (1,5; 18,4f.; vgl. Lev 4,3; Num 5,15; VitAd 19,3; grEsr 5,11), δίκαιος/δικαιοσύνην ποιειν/δικαίωμα (19,8; 22,11; vgl. Ex 23,7; Lev 25,18; 2 Chr 9,8; grHen 1,8; TestLev 13,5; TestJud 13,1), außerdem solche, die mit ritueller bzw. kultischer Reinheit im Zusammenhang stehen (s.u.). Schließlich werden in der Apokalypse immer wieder τό £ργον bzw. τά εργα der Menschen genannt (14,13; 16,11; 18,6; 20,12f.; 22,12), womit Johannes einen typischen Gesetzesterminus des Alten Testaments und antiken Judentums gebraucht (vgl. Ps 16,4; 32,15; 2 Chr 15,7; grHen 1,9; PsSal 2,16; Sib 3,233). Wenn die Apokalypse also den Bezug auf die Tora offensichtlich bewahrt, auch ohne expressis verbis von ό νόμος zu reden, so ist zu untersuchen, wie sie dies im einzelnen tut. 2. Rituelle Anweisungen und Vorstellungen sind teilweise relevant Rituelle Terminologie ist in der Apokalypse häufig anzutreffen. So erscheinen Apk 22,11 die Begriffe ρυπαρός/ρυπανθήτω und δ γ ι ο ς / ά γ ι α σ θ ή τ ω , welche an dieser Stelle mit anderen identifiziert werden: £υπαρός/ρυπανθήτω entspricht dem άδικών/άδικησάτω, und α γ ι ο ς / ά γ ι α σ θ ή τ ω dem δίκαιος/δικαιοσύνην ποιησάτω. Daraus folgt, daß δίκαιος/ δικαιοσύνην ποιησάτω bzw. άδικών/άδικησάτω auch ein ritueller Aspekt eignet. Ein ähnlicher Sachverhalt ist Apk 14,5 anzutreffen: Der rituelle Begriff αμωμοί είσιν wird mit der ethischen Feststellung έν τ φ στόματι αυτών ούχ ευρέθη ψευδός identifiziert; die Freiheit von der Lüge bedeutet demnach rituelle Reinheit. Deshalb ist im Blick auf den Gebrauch ritueller Termini etwa in den Lasterkatalogen und ähnlichen Reihungen (vgl. 21,8: 629

Vgl. Holtz, Werke 440.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

έβδελυγμένοι; 21,27: κοινός, ποιεΐν βδέλυγμα; 22,15: κ ύ ν ε ς ) , wo der Kontext wenig zur Aufhellung der Begriffe hergibt, entsprechendes anzunehmen; die ethischen Kategorien und die rituellen gehören zusammen, so daß ethisches Verhalten immer eine rituelle Qualität besitzt. Diesem Sachverhalt entspricht, daß Johannes mit dem Verbot des φ α γ ε ΐ ν είδωλόθυτα και πορνευσαι (2,14.20) zwei rituelle Forderungen an die Adressaten weitergibt 630 ; auch diese (in den Augen des Johannes frevelhaften) Taten sind rituell und ethisch zu verstehen. Wie im Aposteldekret Act 15,28f. haben diese Ritualgebote den Sinn, daß sich im Zusammenleben von Heiden- und Judenchristen in den Gemeinden letztere nicht rituell verunreinigen 631 . Im Ganzen ist zu sagen, daß als konkrete ritualgesetzliche Anweisungen nur φ α γ ε ΐ ν είδωλόθυτα και πορνευσαι erscheinen, ethisch einwandfreies oder abzulehnendes Verhalten aber den Menschen auch allgemein rituell qualifiziert. 3. Moralische Ge- und Verbote des Alten Testaments sind voll umfänglich relevant Daß der Inhalt des Dekalogs, des Kernstücks der alttestamentlichen moralischen Weisungen, im Zusammenhang der Ethik der Apokalypse eine große Rolle spielt, wurde in B.2.1.b) herausgearbeitet: Der Apokalyptiker greift Dekaloggebote zum Teil auf - jedoch ohne sie wörtlich zu zitieren - (vgl. die drei Lasterkataloge 9,20f.; 21,8; 22,15), zum Teil stehen sie hinter seiner Kritik an abzulehnendem Verhalten (vgl. das zum zehnten Gebot Gesagte B.2.1.b)10., S. 76-78). Dabei ist es wichtig festzuhalten, daß nirgends ein Einzelgebot der Tora respektive des Dekalogs direkt erwähnt wird632 und daß der Einfluß des Dekalogs selbst in den Lasterkatalogen ein traditionell vermittelter und durch andere Elemente erweiterter ist 633 . Dennoch zeigt der Einfluß des Dekalogs auf die Ethik der Apokalypse, daß die moralischen Ge- und Verbote des Al630

631 632 633

Deshalb ist Bultmann, Theologie 525 zuzustimmen: „Unter den g e f o r derten ε ρ γ α (sc. in der Apk) ist ein reines Verhalten verstanden, und zwar nicht nur gemäß sittlichen Geboten ..., sondern auch gemäß rituellen G e b o t e n {2,14.20)" (Hervorhebung von mir). Vgl. Schulz, Ethik 537. Vgl. Holtz, Werke 440. Vgl. ebd. zu 9,21.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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ten Testaments für den Absender und die Adressaten relevant sind. Diese Relevanz wird durch die Verwendung einer entsprechenden Terminologie (s.o. unter 1.) verstärkt; hierbei kommt der Bezeichnung von Christen als τηρουντες τάς έντολάς του θεου (12,17; 14,12) eine besondere Bedeutung zu, werden sie damit doch als solche bezeichnet, welche die Toragebote einhalten 634 ; daran ist ferner ersichtlich, daß Johannes die Inhalte der moralischen Weisungen des Alten Testaments als erfüllbar voraussetzt. Der Einfluß der moralischen Ge- und Verbote des Alten Testaments auf die Ethik der Apokalypse ist allerdings ein traditionell vermittelter und - was am Beispiel des Dekalogs im Zusammenhang der Lasterkataloge der Apokalypse deutlich zu sehen ist - durch andere Elemente erweiterter (s.o.). Denn neben dem von den moralischen Weisungen des Alten Testaments Übernommenen finden sich in der Apokalypse zum einen typisch urchristliche Tugenden, die auch in anderen neutestamentlichen Schriften vorkommen: κόπος, υπομονή (2,2; vgl. 1 Thess 1,3), α γ ά π η , πίστις, διακονία (υπομονή) (2,19; vgl. Tit 2,2; 2 Tim 4,11); zum anderen sind von Johannes empfohlene Verhaltensweisen, die mit der spezifischen historischen Situation von Absender und Empfänger im Zusammenhang stehen, anzutreffen (vgl. u.a. B.2.1.a), S. 39-52 und B.2.1.d), S. 93-107). Auch dient ihm der ethisch einwandfreie Lebenswandel Jesu von Nazareth als Vorbild und Leitlinie für das Verhalten der Christen 635 . Der Apokalyptiker verwendet moralische Ge- und Verbote des Alten Testaments demnach als eine von mehreren Quellen für seine ethischen Weisungen, aus der er das ihm wichtig Erscheinende auswählt; die anderen Quellen sind ethische Traditionen des Urchristentums, eigene Reflexionen 636 und der beispielgebende Lebenswandel Jesu von Nazareth.

634

635

Im jüdisch-hellenistischen Sprachgebrauch, den die LXX bestimmt und mit dem das ntl. Verständnis von έντολή/-αί im Zusammenhang steht, begegnet die Tora dem Menschen als έντολή, die sich wiederum in den έντολαί, den Einzelgeboten, entfaltet (vgl. Limbeck, έντολή 1122). In einem ähnlichen Sinn können Paulus und der Hebr έντολ ή / - α ί verwenden (vgl. ebd. 1124f.), und es besteht keine Veranlassung, einen solchen Gebrauch der Apk abzusprechen (anders Karrer, Joh-Offb 210; Schrenk, έντολή 552). S.u. zu „Werke", B.2.3.b).

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

b) Ethik und Christologie 1. Christus, der Geber der Ethik der Apokalypse Eindringlich stellt Johannes heraus, daß alle Worte der Apokalypse Worte des Auferstandenen sind: Die Überschrift des Buches lautet Άποκάλυψις Ίησοΰ Χρίστου631 (1,1), und am Schluß der Apokalypse verbürgt sich Jesus Christus für deren ganzen Inhalt (vgl. 22,16)638; auch mit der christologischen Bezeichnung ό μάρτυς ό πιστός (1,5; 3,14; ähnlich auch 19,11: πιστός και αληθινός) bezeugt sich Christus den Glaubenden stets als der zuverlässige Offenbarer 639 . Insbesondere erscheinen die sieben Sendschreiben als Rede des Erhöhten 640 , wie die Botenformeln 2,1.8.12.18; 3,1.7.14 deutlich zeigen. Auch lassen die in der 1. Pers Sing Fut gehaltenen Verheißungen der Überwindersprüche 2,7.17.26-28; 3,5.12.21 erkennen, daß Christus der Geber der Heilsgüter ist641; gleiches findet sich ebenso im apokalyptischen Hauptteil: nach 7,17 wird das Lamm, Christus, die Vollendeten zu den Quellen des Lebenswassers führen; in 19,7-9 wird die endgültige Vollendung als Hochzeitsmahl des Lammes dargestellt; nach 21,9-14 erscheint die endzeitliche Gemeinde als seine Braut usw.642 Weil die ganze Apokalypse Wort des Christus ist, ist es die in ihr enthaltene Ethik ebenso. Der Auferstandene ist Geber der Ethik, und er wird das rechte Verhalten der Glaubenden belohnen.

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Die Relevanz der dem Apokalyptiker eigenen ethischen Reflexionen ist gerade im Bereich der Sozialkritik und der politischen Ethik der Apk erkennbar; so ist seine Ablehnung der Sklaverei und des Imperium Romanum durchaus ein Novum in der Ethik des Urchristentums (siehe dazu oben B.2.1.c) und B.2.1.d). Vgl. Pesch, Offenbarung 17. Vgl. U.B. Müller, Offb 370. Vgl. Wolff, Gemeinde 187. Vgl. Lohse, Ethik 24: „In den Sendschreiben der Apokalypse wird jede der sieben kleinasiatischen Gemeinden ... durch autoritative Anrede des erhöhten Herrn zu gehorsamem Wandel ermahnt". Vgl. Wolff, Gemeinde 196 mit dem richtigen Hinweis, daß von den Überwindersprüchen der Sendschreiben nur 2,11 anders formuliert ist. Vgl. ebd.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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2. Christus, das Vorbild der Ethik der Apokalypse Betont kommt die Vorbildfunktion Christi für das ethische Verhalten der Christen im letzten Überwinderspruch der Sendschreiben zum Ausdruck, der besonderes Gewicht hat, da er die Heilszusage der bisherigen Verheißungen abschließend zusammenfaßt643: Ό νικών δώσω αύτφ καθίσαι μετ' έμου έν τφ θρόνω μου, ώς κάγώ ένίκησα ... (3,21). Wie gezeigt wurde, eignet νικάω in der Apokalypse die allgemeine Bedeutung des sittlich rechten Verhaltens644, für welches Jesus an dieser Stelle als Beispiel und Vorbild dargestellt wird. Somit gilt dem Apokalyptiker der ethisch einwandfreie, sündlose Lebenswandel Jesu von Nazareth als paradigmatisch für das sittliche Verhalten der Glaubenden645. Auch 14,4 drückt mit der Charakterisierung der Christen als oi άκολουθουντες τω άρνίω δπου &ν ύπάγη deren Imitiatio Christi aus, was ebenfalls an der parallelen Bezeichnung Jesu als έσφαγμένος (5,6.12; 13,8) und christlicher Märtyrer als έσφαγμένοι (6,9)646 deutlich wird. Mit dieser Parallelität kommt die Imitatio agni, die Leidensnachfolge Christi647, als ein besonderer, über die erwähnte, allgemein-sittliche Vorbildfunktion Jesu hinausreichender Aspekt ins Blickfeld, die sich auch an der oben genannten Stelle 3,21 findet: Die gegenwärtige Standhaftigkeit der Glaubenden und ihr Dulden stellt eine Entsprechung zum Christusgeschehen dar648 (man beachte den letzten Teil des Überwinderspruches: ... και έκάθισα μετά του πατρός μου έν τφ θρόνω αύτου) und wird daher „dem Christusgeschehen gemäß auch in Auferstehen und Herrschen münden (20,4)"649. - Man kann aber auch unabhängig von der mit dem Martyrium der Glaubenden zusammenhängenden Leidensnachfolge den gesamten Weg der Kirche als eine Nach-

643

644 645 646 647 648 645

Letzteres vgl. Roloff, Offb 64f. sowie Karrer, Joh-Offb 214: Die Zusage von 3,21 bildet „Ziel und Abschluß der Verheißungen, gewissermaßen ihre Summa". S.o. B.2.1.a)3., S. 48f. S. dazu o. B.2.2.a), S. 113. Vgl. Wolff, Gemeinde 195. Vgl. Schulz, Ethik 552 im Zusammenhang von Apk 14,4f. Vgl. Lampe, Apokalyptiker 104. Ebd.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

Zeichnung des Weges Christi erkennen650, denn wie Jesus leben auch die Glaubenden in einer von widergöttlichen Mächten bestimmten Welt; wie er haben sie sich darin zu bewähren, wie er den Sieg über die Finsternis zu erlangen (vgl. wieder das ώς κάγώ ένίκησα 3,21). Dies ist durch das im Wort νικάω enthaltene Motiv des Siegens im Kampf offenkundig, hinter dem die Vorstellung steht, daß alles Geschehen in dieser Welt ein schwerer Kampf zwischen Gott und den widergöttlichen Mächten ist651. 3. Christus, der Grund der Ethik der Apokalypse In der vom Standpunkt des Apokalypse-Autors zurückliegenden Vergangenheit hat Jesus durch seinen Tod die christliche Gemeinde geschaffen652; durch seine liebende Hingabe ist sie zum auserwählten, endzeitlichen Gottesvolk geworden653: Τω άγαπώντι ήμας και λύσαντι ήμας έκ των αμαρτιών ήμών έν τω αϊματι αύτου, και έποίησεν ήμας βασιλείαν, ίερεΐς τω θεω (l,5f.; vgl. 5,9f., besonders das έποίησας V 10). Die Grundlage der Entstehung der Gemeinde und des Christwerdens jedes einzelnen ist also die vergangene, einmalige Tat Jesu, nämlich sein Sterben am Kreuz. Wenn aber dieses Heilshandeln für das Sein der Glaubenden konstitutiv ist, dann ebenso für ihr sittliches Verhalten, das von diesem Sein nicht gelöst werden kann; deshalb gründet auch ihr Ethos letztlich in Christus. Aber nicht nur das vergangene, sondern auch das gegenwärtige Handeln Jesu ist für die Gemeinde - und damit für jeden einzelnen Glaubenden und sein Ethos - konstitutiv. Denn das Präskript der Apokalypse, vor allem l,5f., läßt erkennen, „daß das gegenwärtige ... Sein der Gemeinde vom gekreuzigten und auferstandenen Christus bestimmt ist"654. Dies wird durch die Beauftragungsvision 1,9-20 bestätigt, deren eigentliche Vision V. 12-20 durch die Erwähnung der sieben Leuchter, welche die sieben kleinasiatischen Gemeinden symbolisie-

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Vgl. Schnackenburg, Botschaft 2 268. Siehe dazu oben B.2.1.a)3., S. 49f. 652 Ygi Münchow, Buch 378, der auf die Verbindung der „Lammeschristologie" der Apk mit ihren Aussagen über die Gemeinde hinweist. 653 Vgl. H. Zimmermann, Christus 187. 654 Wolff, Gemeinde 189. 651

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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ren, eröffnet (V. 12) und beschlossen wird (V. 20)6SS. In der Mitte der Leuchter befindet sich der Menschensohn (V. 13: έν μέσω των λυχνιών ομοιον υ'ιόν άνθρωπου), weshalb es in dieser Vision um die Bedeutung Christi für die Gemeinde geht; „er ist ihr Mittelpunkt ..., ihr Orientierungszentrum" 656 . Nach den Aussagen der Apokalypse wird auch das zukünftige Handeln Jesu für die Glaubenden und ihr Ethos grundlegend sein, denn Christus ist nicht nur in der Gegenwart Mittelpunkt und Orientierungszentrum der Gemeinde, sondern bleibt dies dauerhaft: Er ist nämlich τό &λφα και τό ώ, ό πρώτος και ό έσχατος, ή άρχή και τό τέλος (22,13) und sagt von sich: ζών είμι εις τους αιώνας τών αιώνων (1,18). - Seine Herrschaft ist in der Gegenwart der angeschriebenen Gemeinden noch eine verborgene; sie wird aber bei seinem Kommen, welches das Ende der Weltgeschichte und antichristlichen Machtgeschichte herbeiführen wird, eine sichtbare sein (vgl. 1,7). Diese sichtbare Machtergreifung Christi hat auch insofern ethische Relevanz, als sie nicht ohne kriegerische Handlungen verlaufen wird; bei diesen werden auch Christen Militärdienst leisten 657 . Noch aus einem weiteren Grund ist das zukünftige Handeln Jesu für die Ethik der Apokalypse fundamental; er ist nämlich derjenige, welcher das ethische Verhalten der Glaubenden belohnen oder bestrafen wird. Dies ist deutlich daran zu erkennen, daß beispielsweise in den Sendschreiben fast alle Verheißungen der Uberwindersprüche 658 und sämtliche Strafandrohungen659 in der 1. Pers Sing des redenden Christus gehalten sind. Ein Belohnen der ethisch recht Handelnden durch den kommenden Christus der Zukunft ist auch durch ihre Teilhabe am Millennium gewährleistet, denn neben den auferstandenen Blutzeugen dürfen auch jene, die gegenüber der Bedrängnis durch das Tier standhaft geblieben sind, daran teilnehmen 660 . Durch Jesu vergangenes Heilshandeln am Kreuz sind die Christen zum auserwählten, endzeitlichen Volk Gottes geworden. Die Gemeinde ist „unterwegs hin auf den Christus" 661 , welcher sich in der Zukunft machtvoll auf der ganzen Welt 655 656 657 658 659 660 661

Vgl. ebd. Ebd. S.o. B.2.1.d)3. zum Thema Heiliger Krieg. Vgl. 2,7.17.26-28; 3,5.12.21. Vgl. 2,5.16.22f.; 3,3.16. S.o. B.2.1.a)2., S. 46f. Holtz, Christologie 215.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

durchsetzen wird. Bis dahin (und darüber hinaus) bleibt der gegenwärtige Jesus Mittelpunkt und Orientierungszentrum der Glaubenden. Somit ist das vergangene, gegenwärtige und zukünftige Handeln Christi Grundlage der Existenz der Glaubenden und damit auch ihres Ethos'. Aus dieser christologischen Grundlegung der Ethik ergibt sich ein Doppeltes: a) Weil Jesus in seinem Heilshandeln am Kreuz die Christen aus ihren Sünden der Vergangenheit gelöst hat, sind sie zu einem entsprechenden Lebenswandel aufgefordert 662 ; sie sind „zum Gehorsam gewiesene Knechte, als aus den Sünden Gelöste weiterhin zu den rechten Taten verpflichtete Heilige"663. Dies zeigt besonders deutlich das wiederholt vorkommende Motiv von τό Ιμάτιον/τά Ιμάτια: Es stellt den Heilsstatus im irdischen Leben der Glaubenden dar, den sie durch ihr sittliches Verhalten bewahren oder verlieren können (vgl. 3,4; 16,15)664; Geber des Gewandes ist aber niemand anderes als Christus selbst (vgl. 3,18). b) Weil Jesus die Christen belohnen oder bestrafen wird, ist eine Ausrichtung auf ihn, ein Orientieren des Ethos an seinem Willen erforderlich. Auch in diesem Sinne ist der Makarismus 1,3 zu verstehen, welcher die Leser und Hörer der Apokalypse (Jesu Christi, vgl. V. 1)66S selig preist, die das darin Geschriebene bewahren; dies ist um so mehr der Fall, als der Makarismus mit dem Hinweis auf die unmittelbar bevorstehenden Endereignisse 666 schließt (ό γαρ καιρός έγγυς). 4. Christus, der eigentliche „Überwinder"? H.-D. Wendland hebt sehr die präsentische Wirksamkeit Jesu in der Apokalypse hervor: „Im Geiste ist der Herr und Richter der Kirche schon gegenwärtig" 667 ; das „Siegen" der Christen „geschieht nicht aus der religiösen oder moralischen Kraft der Christen heraus, sondern aus seiner (sc. des Christen) Gemeinschaft mit Christus ... . Es ist also eigentlich ein Mitsiegen 662 663 664 665

666 667

Vgl. Karrer, Joh-Offb 210. Ebd. Vgl. Holtz, Christologie 73 und U.B. Müller, O f f b 126 zu 3,4. Hier sei noch einmal daran erinnert, daß alle W o r t e der Apk Worte des Auferstandenen sind, s.o. S. 114. Vgl. Roloff, O f f b 30. Ethik 120.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

119

mit dem Sieger Christus" 668 . - Grundsätzlich trifft es zwar zu, daß der Christus präsens in der Apokalypse eine nicht geringe Rolle spielt - man denke nur an das in 3,19f. Gesagte, was an die ansonsten schwer getadelte Gemeinde von Laodizea gerichtet ist669. Aber daß Jesus der eigentliche Überwinder sei, an den sich die Glaubenden sozusagen nur noch anhängen müssen, ist exegetisch nicht haltbar 670 . Nach den Aussagen der Apokalypse ist jeder einzelne Christ aufgerufen, sich in der Nachfolge Christi zu bewähren; sein Verhalten wird von Jesus dereinst belohnt oder bestraft werden. Dies schließt nicht aus, daß der gegenwärtige Christus die Glaubenden stärkt - in Wort und Sakrament. c) Ethik und Eschatologie 1. Präsentische und futurische Eschatologie der Apokalypse H. Zimmermann kritisiert die folgenden Ausführungen E. Lohses: „Vergeblich suchen wir in den Sendschreiben nach einer Theologie des Kreuzes, nach der Rechtfertigung aus Glauben und dem Zuspruch des gegenwärtigen Heils. Für Johannes liegt das Heil noch in der Zukunft (vgl. die Überwindersprüche). Was die Gegenwart erfüllt und bestimmt, ist eben die auf das Kommende gerichtete gewisse Hoffnung. Die Äonenwende ist noch nicht eingetreten..., sondern steht noch bevor"671. Nach Zimmermanns Auffassung wird dagegen „das ganze apokalyptische Buch ... von der sicheren Gewißheit getragen, daß die Äonenwende eingetreten und die letzte Zeit angebrochen ist'672. An dieser Kritik Zimmermanns ist richtig, daß in der Apokalypse präsentische Eschatologie begegnet: Nach 5,5 hat der Sieg über alles Widergöttliche bereits stattgefunden 673 (ένί668 669

670 671

672

Ebd. (Hervorhebung von mir.) Deshalb sind Positionen wie die Münchows, der in der Apk eine „Vernachlässigung der Gegenwart Christi um seiner Zukunft willen" (Buch 378) ausmacht, oder Schulz', der behauptet: „Nirgends wird ... die präsentische Wirksamkeit Christi wie bei Paulus und seiner Gemeinde auch nur angedeutet" (Mitte 253), ausgesprochen fraglich. Wendland führt an dieser Stelle auch keinen Beleg aus der Apk an. H. Zimmermann, Christus 197, Anm. 54 = Lohse, Offb 32 (1. Aufl. 1960; in späteren Aufl. anders); Hervorhebungen von mir. H. Zimmermann, ebd. (Hervorhebungen von mir.)

120

Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

χησεν ό λέων ό έκ της φυλής Ιούδα), und die hymnischen Stücke der Apokalypse sprechen antizipierend vom Sieg Christi und dem Untergang Babels674. Auch gibt es in den Sendschreiben neben den von Lohse angeführten Überwindersprüchen, die das zukünftige Heil ansagen, auch Erinnerung an das, was den Gemeinden schon gegeben worden ist (vgl. 3,3)67S. Aber von einem Eingetreten-Sein der Äonenwende kann nicht gesprochen werden, denn diese liegt mit den bevorstehenden kosmischen Katastrophen und der Parusie Christi durchaus noch in der Zukunft. Man hat die Eschatologie der Apokalypse deshalb als eine sowohl präsentische als auch futurische zu beschreiben, wobei die futurische wegen der Apokalyptizität der Johannes-Apokalypse häufiger zur Sprache kommt676. Diese Doppelheit der Eschatologie kommt sehr anschaulich in folgender Aussage über die Glaubenden zum Ausdruck: Christus hat sie zu Königen gemacht (5,10a: και έποίησας αυτούς τω θεω ήμών βασιλείαν και ίερεΐς) und sie werden auf Erden herrschen (5,10b: και βασιλεύσουσιν έπί της γης). 2. Präsentische Eschatologie und Ethik in der Apokalypse Durch die Erlösungstat Jesu am Kreuz sind die Christen zu Königen und Priestern geworden (vgl. 1,6; 5,10); sie gehören als aus ihren Sünden Gelöste voll zum Herrschaftsbereich Gottes677. Doch wie weit geht der Heilsbesitz der Glaubenden? Hier scheint die Auffassung zumindest eines Teiles der angeschriebenen Gemeinden eine andere zu sein als die des Johannes. Die Christen von Laodizea behaupten nämlich von sich, reich zu sein, womit sie wahrscheinlich neben ihrem materiellen Reichtum auch ihren spirituellen meinen678 . Von 1 Kor 4,8 673 674 675 676

677 678

Vgl. Böcher, Johanneisches 6; ders., Verhältnis 298. Vgl. Schräge, Ethik 333. Vgl. ebd. 335. Vgl. Böcher, Verhältnis 291 im Zusammenhang des Verhältnisses der Apk zum Johannesevangelium und den -briefen: „Daß freilich in der Apokalypse die Belege futurischer Eschatologie weitaus am zahlreichsten sind, beruht auf ihrer literarischen Eigenart". Vgl. Karrer, Joh-Offb 210. Vgl. ebd. 207 mit dem Hinweis, daß in der Apk Worte des Stammes πλους-/πλουτ- materiellen Reichtum bezeichnen können (vgl. 6,15; 13,16; 18,3.15.17.19), „aber auch übertragen die Heilsfülle, und dies gerade im Sendschreibenkontext (2,9!)". - Siehe auch oben B.l.l.c).

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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her ist es überdies gut vorstellbar, daß mit dem präterial gefaßten πλουτεΐν (Apk 3,1V) eine realisierte Esckatologie ausgedrückt werden konnte679; dafür spricht außerdem das ουδέν χρείαν ?χω, eine Wendung, die in der Apokalypse sonst nur in der Darstellung der Heilsvollendung gebraucht wird (vgl. 21,23; 22,5)680. Diese Selbsteinschätzung der laodizenischen Christen entlarvt Johannes als Täuschung: Die Gemeinde ist in Wirklichkeit ταλαίπωρος, έλεεινός, πτωχός, τυφλός und γυμνός (3,17), und ihr droht das eschatologische Gericht (V. 16: μέλλω σε έμέσαι έκ του στόματος μου)681. Mit dieser Gerichtsankündigung vollzieht er gleichzeitig eine Korrektur der Vorstellung einer realisierten Eschatologie der Laodizener. Doch wie verhalten sich präsentische bzw. realisierte Eschatologie und Ethik in der laodizenischen Gemeinde zueinander, und wie sieht Johannes deren Zusammenhang? In der - fälschlichen - Gewißheit, das Heil als gesicherten Besitz erhalten zu haben, vergaßen die laodizenischen Christen, daß das gegebene Heil zu Gehorsam gegenüber Christus verpflichtet682 - mit anderen Worten: Sie faßten Heilsbesitz als „Freiheit von ethischer Verbindlichkeit"683 auf. Jedoch handelte es sich dabei anscheinend nicht um einen völligen ethischen Libertinismus, denn Johannes spricht in 3,16 lediglich die Lauheit ihres Verhaltens an684. Wie Johannes das Verhältnis von präsentischer Eschatologie und Ethik versteht, ist an verschiedenen Stellen der Apokalypse erkennbar: Eine erste Gruppe von Belegen macht deutlich, daß es darum geht, den (präsentischen) Heilsbesitz im allgemeinen Sinne zu bewahren: 2,13 spricht vom κρατεΐν des „Namens Jesu", womit abgesehen vom Kontext der Verfolgung der Gemeinde ganz allgemein die enge Verbundenheit685 der Glaubenden mit Jesus ausgedrückt wird. Ähnlich ist auch die κρατέω-Stelle 3,11 zu verstehen: Das Objekt der Aufforderung κράτει ο έχεις ist der im weiteren Textverlauf genannte στέφανος, welcher ein Bild für das „gegenwärtige Heil der 679 680 681 682 683 684 685

Vgl. ebd. 207f. Vgl. ebd. 208. Vgl. U.B. Müller, Offb 136. Vgl. Roloff, Offb 64. Karrer, Joh-Offb 208. Vgl. ebd. mit Anm. 297. Vgl. BA 911 mit dem Hinweis auf das κρατών την κεφαλήν (= Christus) Kol 2,19.

122

Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

Christusgemeinschaft" 686 ist. - Auch mit dem Verb τηρειν wird das Bewahren des gegenwärtigen Heilsbesitzes ausgedrückt, wie der dritte Makarismus der Apokalypse deutlich zeigt: μακάριος ό γρήγορων και τηρών τά ιμάτια αύτου (16,15). Das Verb τηρειν erscheint in der Apokalypse außerdem in einer zweiten Gruppe von Belegen, die etwas konkreter als die von der Bewahrung des allgemeinen Heilsbesitzes sprechenden die ethischen Inhalte dessen ausdrücken, was es zu bewahren gilt: Als Objekt zu τηρειν erscheint 2,26 τά £ργα μου, womit ausgesagt ist, daß die Glaubenden dieselben Werke tun sollen, „wie sie Jesus als Vorbild vorgelebt und als seine Werke verordnet hat"687. In eine ähnlich Richtung weisen die beiden Stellen, welche die Christen als οί τηρουντες τάς έντολάς του θεου bezeichnen (12,17; 14,12), als Menschen also, welche die Toragebote einhalten688. Alle drei Belege qualifizieren τά £ργα und αϊ έντολαί als etwas, das den Glaubenden wie der erwähnte präsentische Heilsbesitz in einem indikativischen Sinn als Schatz anvertraut ist, den es in einem Imperativischen aber auch zu hüten gilt689. In demselben indikativisch-imperativischen Sinn spricht schließlich eine dritte Gruppe von Stellen der Apokalypse davon, die Inhalte der allgemeinen urchristlichen Tradition sowie der Apokalypse selbst zu bewahren: Mit μνημόνευε ουν πώς είληφας και ήκουσας και τήρει (3,3) erinnert Johannes an das innerhalb der allgemeinen urchristlichen Tradition Mitgeteilte, denn als Objekt zu λαμβάνω erscheinen im Neuen Testament μαρτυρία Jesu (Joh 3,32f.), έντολή (2 Joh 4) und έπίγνωσις της άληθείας (Hebr 10,26), als Objekt zu άκουω λόγος Jesu (Joh 5,24; 8,43), λόγος της άληθείας (Eph 1,13) und εύαγγέλιον (ebd. und Kol 1,23). In Mk 4,16 par. finden sich sowohl άκούω als auch λαμβάνω, die λόγος zum Objekt haben. - Die Aufforderung, das durch die Apokalypse selbst Mitgeteilte zu bewahren, ergeht in 1,3; 22,7.9: in 1,3; 22,7 eindringlich in der Form einer Seligpreisung, in 22,9 indirekt in der Beschreibung des Engels als eines Wesens, das zu denje-

686 687 688 689

Roloff, Offb 62. Hadorn, Offb 55. Siehe dazu oben B.2.2.a) 3., S. 113 mit Anm. 634. Beides fügt sich in die Bedeutungsbreite von τηρειν in der urchristlichen Literatur ein; s. dazu BA 1624f.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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nigen gehört, των τηρούντων τους λόγους του βιβλίου τούτου. Zusammenfassend läßt sich zum Thema präsentische Eschatologie und Ethik in der Apokalypse sagen, daß gefordert ist, den präsentischen Heilsbesitz und τά £ργα/τάς έντολάς sowie die Inhalte der urchristlichen Tradition und der Apokalypse zu bewahren; dies alles ist den Glaubenden als ein Schatz anvertraut (indikatisches Moment), den es zu hüten gilt (imperativisches Moment). 3. Transzendent-futurische Eschatologie und Ethik in der Apokalypse Im weiteren Verlauf der Untersuchung wird konsequent zwischen transzendent-futurischer Eschatologie und immanentfuturischer Eschatologie unterschieden, weshalb jedem der beiden ein eigener Abschnitt (3. und 4.) gewidmet ist. Die Apokalypse kennt nämlich sowohl Aussagen, welche sich auf das Eschaton beziehen, als auch solche, welche die Zeit zwischen der Gegenwart des Verfassers (und der angeschriebenen Gemeinden) und dem Anfang des Eschatons im Blick haben. Als Beginn des Eschatons verstehe ich das Weltgericht Apk 20,11-15, mit welchem die völlige Selbstdurchsetzung Gottes in der Welt ausgedrückt ist; das vorher beschriebene Millennium (20,1-6) und der letzte Kampf (20,7-10) sind nämlich noch Ereignisse vor der letztgültigen Machtergreifung Gottes. Im Zusammenhang der Ethik kommt weitaus häufiger als die präsentische Eschatologie die futurische in den Blick. Dies ist bereits daran ersichtlich, daß an vielen der im Zusammenhang von präsentischer Eschatologie und Ethik genannten Stellen futurische Eschatologie erwähnt wird: Die Nähe des Eschatons wird in 1,3 mit ό γαρ καιρός έγγύς und in 3,11; 22,7 mit άρχομαι ταχύ betont und dient als Motivation des dort beschriebenen bzw. geforderten - und mit der Gegenwart des Heils in Verbindung gebrachten - Verhaltens. Ähnlich wird in 16,15 mit der Selbstaussage Christi: άρχομαι ώς κλέπτης sein unvorhersehbares 690 , unverhofftes 691 , stets mögliches692 Kommen angekündigt. - Auch in 2,26 stehen eine präsentisch690 691 692

Vgl. U.B. Müller, Offb 282. Vgl. Roloff, Offb 164. Vgl. Karrer, Joh-Offb 277

124

Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

eschatologische und eine futurisch-eschatologische Aussage nebeneinander und sind logisch miteinander verknüpft: dem τηρών δχρι τέλους τα £ργα μου verheißt der Redende, Christus: δώσω αύτω έξουσίαν έπι των έθνών κτλ (die V 27 und 28 führen die Verheißung weiter). Außer an diesen Stellen findet sich in der Apokalypse futurische Eschatologie im Zusammenhang der Ethik auf Schritt und Tritt: a) In der Rahmung der Apokalypse (Kap. 1; 22,6-21): neben den bereits erwähnten Stellen 1,3; 22,7 noch 22,12.14f.l7.19. b) In den Sendschreiben (Kap. 2f.): außer den schon angeführten Stellen 2,26-28; 3,11 noch 2,7.10f.l7; 3,3-5.12.16.20f.; c) Im apokalyptischen Hauptteil (4,1-22,5) neben der bereits erwähnten Stelle 16,15 noch 5,10; 6,11; 7,9.14-17; 11,18; 14,1-5.9-13; 15,2-4; 19,8f.; 20,6.15; 21,1-22,5. Ist somit festgestellt, wo überall in der Apokalypse futurische Eschatologie im Zusammenhang der Ethik vorkommt, wird im weiteren Arbeitsfortgang das Verhältnis beider zueinander anhand der beiden folgenden Fragestellungen untersucht: a) Wird das von Johannes beschriebene oder gewünschte Verhalten positiv (mit der Aussicht auf jenseitigen Lohn, jenseitige Freuden usw.) oder negativ (mit der Aussicht auf jenseitige Bestrafung, Nachteile usw.) motiviert? b) Motiviert die Nähe des Eschatons bzw. das unerwartete Kommen Jesu stärker als das eschatologische Heil bzw. Unheil oder umgekehrt? Zu a) Rein quantitativ überwiegen bei weitem diejenigen Stellen, die dem ethisch richtig Handelnden jenseitigen Lohn, jenseitige Freuden u.a. verheißen. Positive Motivierung findet sich nämlich in 1,3; 2,7.10f.l7.26-28; 3,4f.l2.20f.; 5,10; 6,11; 7,9.14-17; 11,18; 14,1-5.13; 15,2-4; 16,15; 19,8f.; 20,6; 21,1-7. 9-26; 22,1-5.7.12.14.17, negative nur in 3,3.11.16; 11,18; 14,9-12; 16,15; 20,15; 21,8.27; 22,12.15.19. Dieses Übergewicht von Stellen mit positiver Motivierung ist beispielsweise an dem langen Abschnitt 21,1-22,5 ersichtlich, wo lediglich in 21,8.27 das Verhalten und die Bestrafung der Frevler in den Blick kommt; ansonsten ist aber nur von der Herrlichkeit des himmlischen Jerusalem die Rede, welche für die ethisch recht Handelnden bereitsteht. Aber auch in qualitativer Hinsicht, d.h. von der Intensität der Textaussagen her betrachtet, ist dem so: Die sie-

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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ben Überwindersprüche, die pointiert am Ende der jeweiligen Sendschreiben vorfindlich und gleichmäßig aufgebaut sind, motivieren ebenso wie der achte in 21,7 durchgängig positiv, ebenso die (absichtsvoll auf diese Zahl gebrachten und gleichförmig stilisierten) sieben Makarismen 693 . Diese Durchgängigkeit eignet den Stellen nicht, die negativ motivieren; so zielen selbst die Lasterkataloge nicht alle auf eschatologische Bestrafung 694 . Zu b) In quantitativer Hinsicht überwiegen diejenigen Stellen, welche durch die Schilderung der jenseitigen Herrlichkeit (bzw. der jenseitigen Leiden) zu ethisch rechtem Verhalten motivieren gegenüber denen, die dies durch die Betonung der Nähe des Eschatons bzw. des unerwarteten Kommens Jesu tun. In ersterem Sinne sind zu nennen: 1,3; 2,7.10f.l7.26-28; 3,4f.l2.16.21; 5,10; 6,11; 7,9.14-17; 11,18; 14,1-5.9-13; 15,2-4; 16,15; 19,8f.; 20,6.15; 21,l-22,5.7.14f.l7.19, in letzterem lediglich 1,3; 3,3.11.20; 16,15; 22,7.1269S. Auch qualitativ, von der Intensität der Textaussagen her gesehen, ergibt sich dieses Bild: Wieder sind die für die Ethik der Apokalypse so bedeutsamen Überwindersprüche zu nennen, die durchgängig (mit dem achten Überwinderspruch 21,7) durch die Schilderung jenseitiger Herrlichkeit und ähnlichem motivieren; Vergleichbares gilt für die Makarismen, wobei hier eine Einschränkung zu machen ist: drei von ihnen haben neben dem eschatologischen Heilszuspruch μακάριος nämlich auch einen Hinweis auf die Nähe des Eschatons bzw. das unerwartete Kommen Jesu696, motivieren also durch beides. Dennoch sind die Makarismen in ihrer Gesamtheit als eine für die Theologie der Apokalypse zentrale Textgattung wichtige Vertreter der erstgenannten Gruppe. Eine nähere Analyse der in der zweiten Gruppe aufgeführten Belege ergibt, daß außer 3,20; 22,12 alle genannten Stellen bereits im Zusammenhang von präsentischer Eschatologie und Ethik zur Sprache kamen. Bei ihnen geht es um das Behalten 693

694 695

696

Lediglich bei dem Makarismus 16,15 tritt zu der Heilszusage eine Drohung hinzu, vgl. Giesen, Heilszusage 86-88.97. 9,20f. hat nämlich diesseitige Plagen im Blick. 1,3; 16,15; 22,7 sind in beiden Gruppen aufgeführt, da sie sowohl durch den eschatologischen Heilszuspruch μακάριος, als auch durch den Hinweis auf die Nähe des Eschatons bzw. das unerwartete Kommen Jesu motivieren (1,3: ό γαρ καιρός εγγύς; 16,15: ιδού έρχομαι ώς κλέπτης; 22,7: ιδού έρχομαι ταχύ). Siehe die vorangegangene Anm.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

dessen, was den Glaubenden gegeben ist 697 . Daraus folgt als inhaltliches Kriterium für die Zugehörigkeit von ethischen Motiven zu der ersten oder zweiten Gruppe: Bei der zweiten wird das Bewahren von bestimmten Dingen gewünscht und mit dem Hinweis auf die Nähe des Eschatons bzw. das unerwartete Kommen Jesu sowohl dringlich gemacht, als auch als erfüllbar qualifiziert; denn das geforderte Verhalten gilt ja nur für die kurze Zeit bis zum Kommen des Eschatons. Bei der ersten Gruppe steht das Motiv des Bewahrens nicht im Vordergrund. Zusammenfassend ist demnach zu sagen, daß Johannes stärker mit der Schilderung jenseitiger Zustände (Herrlichkeit/ Leiden) motiviert als mit der Nähe des Eschatons bzw. dem unerwarteten Kommen Jesu; letztere werden nahezu ausschließlich im Kontext des Bewahrens bestimmter Dinge erwähnt. 4. Immanent-futurische Eschatologie und Ethik in der Apokalypse Immanent-zukünftiges positives oder negatives Ergehen findet sich in der Apokalypse äußerst ausgedehnt, denn neben den immanenten Straf- und Lohnankündigungen der Sendschreiben (Strafe: 2,5.16.22f.; 3,19; Lohn: 2,24; 3,8-10.19) lassen sich weite Abschnitte des apokalyptischen Hauptteils als eine immanente Strafdrohung primär an die nichtchristliche Weltbevölkerung, aber auch an die Christen verstehen. Die erstgenannte Zielgruppe ist leicht auszumachen, denn über sie ergeht das Zorngericht Gottes in Form der Katastrophen, die in den Visionen der sieben Siegel (6,1-8,1), Posaunen (8,2-11,19) und Schalen (15,1-16,21) sowie der vom Untergang der Hure Babylon (17,1-19,10) angekündigt sind. Daß mit diesen Visionen aber auch die Christen angesprochen werden, ist auf Grund folgender Beobachtungen evident. 18,4 fordert die Christen auf, die gottlose Stadt Babylon zu verlassen, 'ίνα μή συγκοινωνήσητε τ α ΐ ς άμαρτίαις αύτης, και έκ των πληγών αυτής ίνα μή λάβητε. Die der Hure Babylon angedrohten Plagen können also auch die Christen treffen, wenn sie sich nicht von Babylon fernhalten, die nicht nur die Weltstadt Rom und das Imperium Romanum, sondern die 697

Siehe oben und die Verben τηρέω in 1,3; 3,3; 16,15, 22,7 und κρατέω in 3,11.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

127

gottfeindliche Welt überhaupt darstellt 698 . Wer sich als Christ auf diese und ihre Sünden einläßt, wird wie sie in der immanenten Zukunft hart bestraft werden. In dieselbe Richtung weist 22,18, wo den Hörern der Apokalypse angedroht wird: έάν τις έπιθη έπ' αυτά 699 , έπιθήσει ό θεός έπ' αυτόν τ ά ς π λ η γ ά ς τ ά ς γ ε γ ρ α μ μ έ ν α ς έν τ φ βιβλίω τούτω. Damit wird wieder auf das immanente Strafgericht Gottes verwiesen, das jedem droht, der die Apokalypse durch Zusätze verfälscht. Neben der Drohung, dem immanenten Strafgericht Gottes anheimzufallen, kennt die Apokalypse aber auch Verheißungen an die Glaubenden, die ihnen Schutz und Bewahrung in endzeitlichen Drangsalen zusprechen. So wird Christus die Gemeinde in Philadelphia έκ της ώρας του πειρασμού της μελλούσης £ρχεσθαι έπί της οίκουμένης δλης bewahren (3,10b), womit die furchtbare Zeit des Tieres (vgl. Apk 13) gemeint sein dürfte 700 ; Grund für diesen besonderen Schutz der Gemeinde ist ihre Treue zu Jesus in der Vergangenheit (3,10a: οτι έτήρησας τον λόγον της ύπομονής μου). - Auch mit der Versiegelung (vgl. 7,1-8) ist den Christen grundsätzlich der Schutz vor dem kommenden Gericht Gottes verheißen, während die nicht versiegelten Menschen diesem anheimfallen (vgl. 9,4). Allerdings muß man von 3,10 her, wo der Schutz der Gemeinde in deren Treue zu Jesus begründet und damit von dieser abhängig ist, und von 18,4; 22,18 her, wo den Christen für den Fall ethisch unzureichenden Handelns immanente Bestrafung angekündigt wird, annehmen, daß die Versiegelung sie nur solange vor dem immanenten Strafgericht Gottes schützt, wie sie seinen Willen erfüllen. Die Verheißung der Apokalypse für die Frommen im Zusammenhang immanent-futurischer Eschatologie erstrecken sich allerdings nicht nur auf die Zusage der Bewahrung, sondern auch auf die der machtvollen Herrschaft über die Welt. Denn im 20,4-6 vorgestellten Millennium ist nicht nur den auferstandenen Blutzeugen, sondern auch den dann lebenden Frommen, die standhaft geblieben sind701, das βασιλεύειν μετά του Χρίστου χίλια £τη (V. 4) verheißen. 698 699

700 701

Vgl. Hadorn, Offb 178. Gemeint sind die vorher genannten λόγοι της προφητείας του βιβλίου τούτου. S.o. B.l.l.c), S. 28 und B.2.1.d)2. Zu diesen Personengruppen s.o. B.2.1.a)2., S. 46f. mit Anm. 239.

128

Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

Neben Bewahrung und machtvoller Herrschaft mag den Frommen für die immanent-eschatologische Zukunft auch die Beglückung durch den kommenden Jesus verheißen sein, worauf das Brautmotiv hinweisen könnte: 19,7 drückt mit χαίρωμεν και άγαλλιώμεν die Vorfreude himmlischer Wesen auf die Hochzeit des Lammes Christus mit seiner Braut, der Gemeinde, aus; entsprechend läßt sich vermuten, daß die Parusie Jesu für die Glaubenden eine beglückende und freudige Angelegenheit sein wird; dies legt auch das £ρχου κύριε Ίησου 22,20 nahe.

3. Komplexe theologische Aspekte im Sachzusammenhang der Ethik der Apokalypse a) Sünde, Sündenvergebung und Umkehr 1. Der philologische Befund zu Sünde(n) Nur dreimal finden sich in der Apokalypse Wörter des Stammes άμαρτ-, nämlich in 1,5 und 18,4f.; in allen Fällen ist von cd άμαρτίαι die Rede. Während die Christen nach 1,5 durch die Heilstat Jesu am Kreuz von den Sünden erlöst sind, spricht 18,5 von den vielfältigen Sünden Babylons, welche δχρι του ούρανου reichen. Der vorangegangene Vers warnt die Christen davor, mit Babylons Sünden Gemeinschaft zu haben: έξέλθατε ό λαός μου έξ αυτής 'ίνα μή συγκοινωνήσητε τ α ΐ ς άμαρτίαις αυτής (18,4). Obwohl also explizit von ά μ α ρ τ ά ν ω κ τ λ nur selten die Rede ist, machen diese wenigen Stellen Grundsätzliches zum Thema Sünde deutlich: Im Gegensatz zur widergöttlichen Menschenwelt, die gewissermaßen in Sünde erstickt, sind die Christen davon erlöst. Sie sollen sich unbedingt von dem Fehlverhalten der Welt fernhalten; ansonsten ereilt sie dasselbe Schicksal wie das dem Untergang geweihte Babylon (18,4c: και έκ των πληγών αύτής Υνα μή λάβητε). Mit diesen Stellen ist auch ausgedrückt, was inhaltlich unter ά μ α ρ τ ά ν ω κ τ λ zu verstehen ist: das Fehlverhalten der Hure Babylon nämlich, das in Apk 17,1-19,10 zum Ausdruck kommt. Daß sich die inhaltliche Bedeutung von ά μ α ρ τ ά ν ω κ τ λ darauf nicht verengen läßt, ist von der allgemeinen philologischen Bedeutung des Wortes „fehlen, sündigen v. d. Verfehlungen gegen d. relig. u. sittl. Ordnungen Gottes" 702 her deutlich.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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Über diese Feststellung hinaus, daß ά μ α ρ τ ά ν ω κτλ in der Apokalypse inhaltlich das Fehlverhalten der Hure Babylon und allgemein das Fehlverhalten coram deo meint, ist aber zu fragen, ob die Apokalypse nicht auch Wörter jenseits des Stammes άμαρτ- verwendet, wenn sie von Sünde(n) spricht, und um welche Sünden es sich dabei konkret handelt. An der bereits genannten Stelle Apk 18,5 wird τά άδικήματα mit at άμαρτίαι synonym gebraucht 703 , weshalb alle Stellen des Stammes δικ- in die Untersuchung einbezogen werden müssen. Da in 22,11 δ γ ι ο ς / ά γ ι ά ζ ω mit δίκαιος/δικαιοσυνην ποιέω und ρυπαρός/£ιυπαίνω mit άδικέω identifiziert werden, sind weiterhin nicht nur alle Wörter des Stammes άγι- in dieser Analyse mit zu berücksichtigen, sondern auch alle, die wie ίιυπαρός/φυπαίνω „unsauber", „befleckt" 704 und ähnliches bedeuten. Dabei ergibt sich im Blick auf Wörter des Stammes δικ- folgendes Bild: δίκαιος ist sowohl ein Attribut Gottes (15,3 nennt seine Wege „gerecht", 16,7; 19,2 seine Gerichte, 16,5 ihn selbst) als auch der Glaubenden (vgl. 22,11: ό δίκαιος δικαιοσυνην ποιησάτω ετι). Als οί άγιοι verrichten sie δικαιώματα (vgl. 19,8); da ihnen in 14,12 die υπομονή sowie das Halten der Gebote Gottes und des Glaubens an Jesus zugeschrieben bzw. aufgetragen 705 werden, hat man diese positiven Verhaltensweisen unter den δικαιώματα zu verstehen. - Zudem meint δικαίωμα wegen seiner allgemeinen philologischen Bedeutung „Rechtstat" 706 alle für den Apokalyptiker sittlich einwandfreien Taten coram deo. Bei der Analyse von geforderten oder festgestellten Handlungen im Zusammenhang des Stammes άγι- fällt auf, daß neben dem erwähnten τηρεΐν τάς έντολάς του θεοΰ και την πίστιν Ίησου (letztere findet sich - ohne den Gen obj Ίησου - auch in 13,10) fast nur noch die Standhaftigkeit der Glaubenden in der Verfolgung genannt wird. Johannes fordert von den άγιοι nämlich die υπομονή (vgl. 13,10; 14,12)707 und erwähnt wiederholt das von ihnen bei Verfolgungen vergossene Blut (vgl. 16,6; 17,6; 18,24); in dieselbe Richtung weist die Se702 703 704 705 706 707

BA 82 (Hervorhebungen des Originals weggelassen). Vgl. Schrenk, άδικος 163. So die Bedeutung von £>υπαρός in übertragenem Sinne, vgl. BA 1477. Zu diesem Vers s.o. B.2.1.a) S. 42f. BA 398. Siehe dazu oben B.2.1.a)l.

130

Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

ligpreisung 20,6, welche die Teilhaber an der „ersten Auferstehung", die vorher als oi πεπελεκισμένοι beschriebenen Blutzeugen, als μακάριος και &γιος bezeichnet 7 0 8 . - Darüber hinaus wird von den δγιοι ausdrücklich nur noch die Teilnahme am Heiligen Krieg der Endzeit ausgesagt (vgl. 20,9: τήν παρεμβολήν των άγιων) 7 0 9 . - Außerdem wird mit δγιος wegen seiner allgemeinen philologischen Bedeutung „gottgeweiht, heilig, gottgemäß" 710 die coram deo allgemein sittlich einwandfrei handelnde Person bezeichnet. Im Blick auf Wörter, die im Zusammenhang von „befleckt", „unrein" und ähnlichem ein ethisch unzulängliches Verhalten ausdrücken, ergibt sich folgendes Bild: a) Befleckung und ähnliches als Ausdruck allgemeiner Sündhaftigkeit In 22,11 werden £>υπαρός/£>υπαίνω mit άδικέω identifiziert, ohne daß ein konkretes Fehlverhalten ausgesprochen wird, φυπαρός/ρυπαίνω ist hier (wie άδικέω) ein Ausdruck für allgemein-sündiges Verhalten, wobei die rituelle Verunreinigung durch das sittliche Fehlverhalten mitgedacht ist. Dasselbe trifft auf βδελυσσομαι 21,8, βδέλυγμα 21,27, κύων 22,15 und κοινός 21,27 zu. Ähnlich verhält es sich mit τα βδελύγματα 17,4f. und τά άκάθαρτα της πορνείας αυτής 17,4 und μολύνω 3,4, wo auch an allgemeines Fehlverhalten gedacht ist 711 ; hinzu kommt allerdings eine sexuelle Komponente, doch siehe dazu unten c). b) Befleckung und ähnliches als Ausdruck des verlorenen Heils Über ihre Bedeutung des Sündigens im allgemeinen hinaus eignet den genannten Wörtern an den aufgeführten Stellen allerdings auch die Bedeutung „Heilsverlust". Denn den έβδελυγμένοι 21,8 ist die λίμνη καιομένη, das ist ό θάνατος ό δεύτερος (ebd.) bestimmt, wie auch die κύνες 22,15 außerhalb des von Gottes Gegenwart erfüllten himmlischen Jerusalems, 708 709 710 711

Zu Apk 2 0 , 4 - 6 s.o. B.2.1.a)2., S. 46f. mit Anm. 239. Zum Thema Heiliger Krieg s.o. B.2.1.d) 3. BA 16. Zu 3,4 s.o. B.l.l.c), S. 27; B.2.1.b)7., S. 68.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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also in eschatologischer Finsternis, existieren müssen. Genausowenig haben die κοινοί und die ποιουντες β δ ε λ ύ γ μ α τ α von 21,27 Zugang zur Gottesstadt und erleiden dasselbe Schicksal wie alle anderen, die μή γ ε γ ρ α μ μ έ ν ο ι έν τω βιβλίω της ζωής του άρνίου (21,27) sind: das Gequältwerden im Feuersee (vgl. 20,15); natürlich trifft auch die Hure Babylon mit ihren β δ ε λ ύ γ μ α τ α 17,4f. das in 21,17 beschriebene Schicksal der ποιουντες β δ ε λ ύ γ μ α τ α . - Aber auch Christen können durch Befleckung ihr Heil verlieren, denn diejenigen Gemeindeglieder in Sardes, die nicht zu denjenigen gehören, α ουκ έμόλυν α ν τ α ιμάτια αύτών (3,4), werden als tot verstanden, da Johannes den auferstandenen Christus sagen läßt: στήρισον τ α λοιπά α εμελλον άπο&ανεΐν (3,2). c) Befleckung und ähnliches als Ausdruck spezieller Sünden Zu 3,4; 17,4f. wurde bereis oben unter a) festgestellt, daß μολύνω (3,4) und τ α β δ ε λ ύ γ μ α τ α 17,4f. neben der Bedeutung allgemeiner Sündhaftigkeit auch eine sexuelle Komponente eignet. Dies ist bei μολύνω von 14,4 (οί μετά γ υ ν α ι κ ώ ν ουκ έμολύνθησαν), einer Stelle, an der μολύνω ausschließlich sexuell verstanden wird, und von Jud 23 (τον άπό της σαρκός έσπιλωμένον χ ι τ ώ ν α ) her evident. In dieselbe Richtung weist die Parallelisierung von τ ά β δ ε λ ύ γ μ α τ α mit τ α α κ ά θ α ρ τ α της πορνείας αυτής 17,4 bzw. τών πορνών 17,5. Von diesem Befund her läßt sich aussagen, daß die Apokalypse mit Beflekkung auch konkrete Sünden im Bereich der Sexualität ausdrückt; dies wird dadurch bestätigt, daß πορνεία als Unreinheit gilt (vgl. wieder τά άχά&αρτα τής πορνείας αυτής 17,4), die inhaltlich mit Befleckung weitgehend identisch ist. Eine weitere spezielle Sünde wird mit einem Ausdruck umschrieben, der zu den im Kontext von Befleckung und ähnlichem verwendeten gehört: In 14,5 wird αμωμοί είσιν durch die ethische Feststellung έν τω στόματι α ύ τ ώ ν ούχ ευρέθη ψευδός identifiziert. Dem Apokalyptiker gilt also Lüge als etwas, das ähnlich den Makeln eines Opfertieres 712 den Menschen sozusagen „befleckt".

712

In seinem nicht-übertragenen Sinn bedeutet άμωμος „untadelig" im Zusammenhang der Fehlerlosigkeit von Opfertieren; vgl. BA 93.

132

Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

2. Der philologische Befund zu Sündenvergebung Ist demnach von Sünde(n) in der Apokalypse auch jenseits der Verwendung von άμαρτάνω κτλ häufig die Rede, so überrascht die Feststellung, daß Sünden Vergebung deutlich weniger thematisiert ist. Die im NT sonst gebräuchlichen Worte dafür fehlen in der Apokalypse völlig: Weder findet sich das Substantiv δφεσις noch wird das dazugehörige Verb άφίημι im Sinne von „vergeben" gebraucht. Ähnliches gilt für άπολύτρωσις/άπολύω, χαρίζομαι, καθαρισμός/καθαρίζω und πάρεσις, welche in der Apokalypse überhaupt nicht vorkommen. Nur vereinzelt wird auf die Sündenvergebung als ein in der Vergangenheit liegendes Erlösungswerk Christi hingewiesen: er ist der λύσας ήμας έκ των άμαρτιων ήμων έν τω αϊ ματι αύτου (1,5) und wird besungen mit ήγόρασας τω θεψ έν τφ α'ίματί σου (5,9) usw. Von der Vergebung der Sünden, die den Glaubenden nach ihrer Bekehrung zu Christus unterlaufen, scheint nirgends die Rede zu sein. Aber vielleicht wird bei der Analyse derjenigen Bilder der Apokalypse, in denen das Motiv von Sünde und Sündenvergebung vorkommt, ein anderer Sachverhalt deutlich. 3. Der metaphorische Befund zu Sünde und Sündenvergebung Die entscheidende Metapher des Johannes, mit der er die (Sünden-) Reinheit der Glaubenden ausdrückt, ist das Gewand713. Die dafür verwendeten griechischen Wörter sind die folgenden: τό Ιμάτιον (vgl. 3,4f.l8; 16,15), ή στολή (vgl. 6,11; 7,9.13f.; 22,14), βύσσινος (19,8.14), λευκός (3,4). Bei näherer Betrachtung der Verwendung des Kleidermotivs ergibt sich folgendes Bild:

713

Zum Thema „Gewand" vgl. Wilckens, στολή und Radi, Ιμάτιον. - Im Zusammenhang der Gewandmetaphorik sind folgende ntl. Belege von Bedeutung: Mk9,3; Lk 5,36; Rom 13,14; IKor 15,53f.; 2Kor 5,3; Gal 3,27; Eph 4,24. Auch dem jüdischen (und paganen) Umfeld des NT ist diese Vorstellung nicht fremd, wie PsSal 11,7; Philo, SpecLeg 1,84-97; VitMos 2,117-135 und Lukian, Somn 19 zeigen. Im Gattungszusammenhang mit der Johannes-Apokalypse spielen äthHen 62,15f. und syrBar 49,3 als Belege der antik-jüdischen Apokalyptik eine besondere Rolle.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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a) Die Christen έπλυναν τ ά ς στολάς αυτών και έ λ ε ύ κ α ναν αύτάς έν τω αΓματι του άρνίου (7,14). Die beiden Aoriste έπλυναν und έλεύκαναν weisen wegen ihres punktuellen Aspekts auf ein abgeschlossenes Geschehen der Vergangenheit hin, nämlich auf die mit ihrer Umkehr zu Christus verbundene Sündenvergebung am Anfang des Glaubenslebens der Christen. Dies entspricht sachlich und grammatisch der in 1,5 beschriebenen Lösung von den Sünden (λύσαντι = Part Aor mit punktuellem Aspekt) und dem 5,9 mit ήγόρασας (= Ind Aor, wieder mit punktuellem Aspekt) ausgedrückten Loskauf entspricht. b) Ihr Kleid, das ein Bild für ihren Heilsstand ist, können die Christen beflecken oder verlieren. Die Befleckung ist 3,4 ausgedrückt (μολύνειν τά ιμάτια) und 22,14 vorausgesetzt (πλύνειν τάς στολάς), der Verlust des Gewandes wird 3,18 (άγοράσαι ... Ιμάτια λευκά 'ίνα περιβάλη και μή φανερωθη ή αισχύνη της γυμνότητας σου) und 16,15 (μακάριος ό ... τηρών τά ιμάτια αύτου, 'ίνα μή γυμνός περιπατη και βλέπωσιν την άσχημοσύνην αύτου) thematisiert. Dabei liegt das Gewicht allerdings nicht auf der Befleckung, sondern auf dem Verlust des Gewandes. Denn direkt wird erstere nur 3,4 ausgesagt, ist dort aber im Kontext des gesamten Sendschreibens als Heilsverlust zu verstehen (s.o. l.b). Lediglich das indirekte Zeugnis 22,14, wo vom πλυνειν der στολαί die Rede ist, setzt deren Befleckung voraus. c) Entsprechend dem durch den Verlust des Kleides ausgedrückten Heilsverlust besteht für die Glaubenden die Möglichkeit des Neuerwerbs ihrer Gewänder und damit des Heils: άγοράσαι ... Ιμάτια λευκά ϊ ν α ... μή φανερωθη ή αισχύνη της γυμνότητός σου (3,18); entsprechend ihrer Befleckung haben sie wiederholt die Möglichkeit des πλυνειν (22,14; man beachte den durativen Aspekt des Part Praes πλύνοντες!). Es fällt demnach auf, daß auch im Zusammenhang des Kleidermotivs von der Vergebung der Sünden, die den Glaubenden nach ihrer Bekehrung zu Christus unterlaufen - und die in diesem Zusammenhang mit „Befleckung" des Gewandes ausgedrückt werden - nur wenig die Rede ist; Johannes betont stärker den Verlust des Gewandes. Daraus läßt sich der Schluß ziehen, daß für ihn ethisches Fehlverhalten sehr schnell zum Heilsverlust führt. Die oben im Zusammenhang von Befleckung und ähnlichem gemachte Feststellung, daß sündigen mit dem Verlust des Heils identisch sein kann, wird vom metaphori-

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

sehen Befund zu Sünde und Sündenvergebung also deutlich bestätigt. 4. Umkehr Dazu, daß die Apokalypse die Vergebung der aktuellen Sünden der Glaubenden fast nicht kennt, paßt sehr gut der Gebrauch des Verbums μετανοέω. Μετάνοια meint im Neuen Testament sonst überwiegend die Bekehrung714, also die radikale Lebenswende des Menschen zu Beginn seines Christseins. Wenn die Apokalypse das Verb μετανοεΐν gebraucht, um die Rückkehr der Christen zum ursprünglichen Tun zu beschreiben715, so ist dies kein Zufall: Verfehltes Tun der Glaubenden ist nach der Meinung des Johannes nicht einfach nur Sünde, deren Vergebung den reumütigen Christen zugesprochen wird, sondern bedeutet den völligen Heilsverlust; dieser kann nur mit einer erneuten ganzheitlichen Umkehr zu Christus aufgehoben werden, was Johannes mit μετανοέω ausdrückt. Das dürfte auch der Grund dafür sein, daß das Verb in der Apokalypse nie absolut gebraucht wird; vielmehr wird immer genau beschrieben, wovon man sich abzuwenden habe; hierfür drei Beispiele: - Nach 2,5 sollen die Christen in Ephesus vom „Verlassen der ersten Liebe" umkehren und τά πρώτα £ργα tun; - in 2,15f. ist den Gemeindemitgliedern in Pergamon die Umkehr von der διδαχή των Νικολαϊτών aufgetragen; - nach 2,20-23 sollen Isebel und ihre Anhänger von deren Lehre des πορνευσαι και φαγεΐν είδωλόθυτα umkehren. Das an diesen Stellen genau beschriebene ethische Fehlverhalten ist also nicht αμαρτία, sondern bedingt den Heilsverlust; nur durch μετανοεΐν kann der ursprüngliche Heilszustand der Glaubenden wiederhergestellt werden. Wird die Umkehr nicht vollzogen, droht das Strafgericht 716 .

714 715 716

Vgl. Merklein, μετάνοια 1030. Vgl. ebd. Vgl. dazu besonders das εί δε μή in den Sendschreiben, aber auch 9,20f.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

135

b) Die Bedeutung der „Werke" 1. Der lexikalische Befund Τό £ργον/τά £ργα erscheint in der Apokalypse 20mal; die Pluralform überwiegt mit 19 Belegen bei weitem (Sing nur in 22,12). Gehäuft findet sich τά £ργα in den Sendschreiben, nämlich zwölfmal; davon sind fünf τά ίργα-Belege in der otδα-Formel 2,2.19; 3,1.8.15 anzutreffen. Im apokalyptischen Hauptteil (4,1-22,5) ist siebenmal von τά £ργα die Rede: Dreimal kommen die bösen Werke der Heiden in den Blick (9,20; 16,11; 18,6), einmal die guten Werke der Frommen (14,13); zweimal ist vom allgemeinen Gericht nach den Werken die Rede (20,12f.), einmal von den Schöpfungswerken Gottes (15,3). Für die folgende Untersuchung ist die letztgenannte Stelle nicht relevant; wichtig sind aber die 19 Belege, die von Werken bzw. dem Werk der Menschen sprechen. 2. Die inhaltliche Füllung von τό £ργον/τά £ργα a) Die inhaltliche Füllung im allgemeinen Nach H.-D. Wendland bedeutet „Werke" in den Sendschreiben „das gesamte Leben der Gemeinde, das in den Werken Gestalt annimmt"717; dennoch ist es neben diesem generellen Verständnis von τά £ργα durchaus geboten (und auch möglich!), den Begriff inhaltlich zu füllen718. Da, wie oben gezeigt wurde719, die Apokalypse den Bezug zur Tora bewahrt, liegt es nahe anzunehmen, daß mit τό £ργον/τά £ργα menschliche Taten im Sinne alttestamentlicher moralischer oder ritueller Weisungen gemeint sind. Von 2,26 her wird dies bestätigt: Das νικαυ der Christen vollzieht sich im τηρεΐν άχρι τέλους τά £ργα μου; dieser Ausdruck „ist eine ... Kombination aus τηρεΐν τάς έντολάς μου und ποιειν τά £ργα μου"720, ein „Schulbeispiel für einen prägnanten Aus-

717 718 719 720

Ethik 119. Vgl. ebd. S.o. B.2.2.a)l. Lohmeyer, Offb 29.

136

Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

druck: die Werke sind die Ausführungen der Gebote"721. Zu den εργα der Apokalypse gehört demnach eindeutig das Halten der alttestamentlichen Gebote722. Doch ist mit τό εργον/τά εργα noch anderes gemeint als dieses toragemäße Verhalten, was an dem μου der zitierten Stelle 2,26 deutlich wird: Es drückt nicht nur aus, daß toragemäße Handlungen dem erhöhten Christus entsprechen, sondern daß zu ihnen Werke hinzutreten, „deren Verwirklichung Jesus vorgelebt hat"723. Damit ist der ethisch einwandfreie, sündlose Lebenswandel Jesu von Nazareth als paradigmatisch für das sittliche Verhalten der Christen und ihre εργα ausgedrückt724. Mit τό £ργον/τά εργα sind außerdem Verhaltensweisen gemeint, die allgemeinen urchristlichen Tugenden entsprechen, denn in 2,2.19 werden solche unter den Begriff τά εργα subsumiert und damit als „Werke" bezeichnet: κόπος, υπομονή, αγάπη, πίστις, διακονία (2,2.19)72S. Schließlich versteht die Apokalypse unter τά εργα Verhaltensweisen, die mit der spezifischen historischen Situation von Absender und Empfänger im Zusammenhang stehen726, denn auch die bösen Taten der Nikolaiten und der Isebel werden als τά £ργα bezeichnet (vgl. 2,6.22).

Trotz alledem hat T. Holtz mit seiner Feststellung ein Stück weit recht, daß in den Sendschreiben „das, was inhaltlich über die ,Werke' ... ausgesagt wird, recht vage"727 bleibt. Es findet sich hier nämlich keine längere Auflistung tugendhafter oder lasterhafter Verhaltensweisen, und das soeben Dargestellte ist ja Ergebnis eines Herausarbeitens dessen, was die Apokalypse unter τά εργα versteht. In gewisser Hinsicht steht sich Holtz aber auch methodisch selbst im Wege, denn er richtet seinen Blick zu sehr auf die Sendschreiben728. Zwar trifft es zu, daß

721 722 723

724 725 726 727 728

Kraft, Offb 71. Vgl. Böcher, Glaube 66 und Schulz, Ethik 539. Schräge, Ethik 338, der jedoch der Auffassung ist, daß dem Gesetz in der Apk keine zentrale Bedeutung zukomme (vgl. ebd. 337). S.o. B.2.2.a)3. Vgl. dazu 1 Thess 1,3; Tit 2,2; 2 Tim 4,11. Siehe dazu auch oben B.2.2.a)3. Werke 434. „Die zentrale Bedeutung der .Werke', εργα, für die Bestimmung des Seins der Menschen bzw. der durch sie gebildeten Gemeinschaften

2. Darstellung und Analyse der Ethik

137

sich hier die meisten Belege für τά εργα finden729 , aber es ist in der Apokalypse auch dann von „Werken" die Rede, wenn der Begriff τδ £ργον/τά £ργα nicht verwendet wird, wie man an 19,8 sehen kann: Hier werden die guten Taten der Heiligen nicht mit τά £ργα, sondern mit τά δικαιώματα bezeichnet. So sind wie die explizit als τά £ργα bezeichneten Tugenden 2,2.19 auch die Laster, welche in den Katalogen 9,20f.; 21,8; 22,15 und an anderer Stelle (z.B. 21,27) zum Ausdruck kommen, als „Werke" zu begreifen. Und ganz allgemein ist nach dem Verständnis des Johannes sicher all das ein gutes Werk, was dem in der Apokalypse empfohlenen Verhalten entspricht, und all das, was diesem zuwiderläuft, ein schlechtes 730 ; gerade im Zusammenhang mit der Hure Babylon wurde ja sichtbar, wie sehr das Verhalten auch der sündigen Welt für die Christen relevant ist (man denke immer wieder an die für die Ethik so bedeutsame Stelle 18,4!)731. b) Die inhaltliche Füllung im besonderen α) Die „ersten Werke" (2,5) Die Aufforderung des Johannes: τά πρώτα εργα ποίησον in 2,5 ist parallel zu dem Tadel in V. 4 (άλλα εχω κατά σου δτι την άγάπην σου την πρώτην άφήκες) gestaltet; die πρώτα £ργα sind also nichts anderes als die αγάπη ή πρώτη. Wenn diese primär als die Liebe der Glaubenden zu Gott und Christus begriffen werden muß732, so mag es erstaunen, daß sie den Glaubenden als ein Werk aufgetragen werden kann. Wenn man sich aber vergegenwärtigt, daß im Urchristentum die Gottes- und Christusliebe durchaus gefordert wird (vgl. etwa Mt 22,37 parr.) und, daß darüber hinaus in der Apokalypse selbst die πίστις als ein Werk erscheint (vgl. 2,19), so ist es verständlich, daß Johannes die Liebe zu Gott und Christus von den Empfängern verlangt. Daß mit dieser die Liebe zu den

729 730 731

732

ergibt sich für Apk grundlegend aus der Rolle, die sie in den Sendschreiben Kap. 2 - 3 spielen" (Werke 426). Vgl. ebd. und oben, 1. Der lexikalische Befund. In B.2.1. wurden diese herausgearbeitet. Siehe dazu oben B.2.1.b)10., S. 76-78; B.2.1.c)l., S. 78-84; B.2.3.a)l., S. 128-131. S.o. B.2.1.b)l., S. 53f.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

Brüdern einhergeht - allerdings erst sekundär - wurde bereits herausgearbeitet 733 . ß) Die Liebe als das hervorragende Werk? In der Literatur wird dies immer wieder behauptet, so z.B. von W. Schräge: „Inhaltlich sind mit den Werken wahrscheinlich vor allem die Liebeswerke gemeint"734. Doch ist diese Auffassung exegetisch weder mit dem Hinweis auf 2,4f. haltbar, noch mit 2,19, wo ebenfalls von άγάπη die Rede ist73S. Denn erstens spricht die Apokalypse nur hier (also insgesamt lediglich zweimal) von άγάπη und an keiner Stelle vom άγαπαν als positivem Verhalten der Christen, was auch die Befürworter der genannten Auffassung bemerken736; im Vergleich dazu spielt etwa υπομονή eine weit wichtigere Rolle, das allein in den Sendschreiben doppelt so oft wie άγάπη genannt wird (vgl. 2,2f.l9; 3,10). Zweitens meint άγάπη in 2,4 mehr die Liebe zu Gott und Christus als die zum Bruder, womit ein wichtiger άγάπη- Beleg für die skizzierte Auffassung entfallen kann, sofern „Liebeswerke" nur auf Menschen zielen. Und drittens findet sich in der Apokalypse nicht das in urchristlicher Literatur sonst vorfindliche Phänomen der Betonung der Bruderliebe auf Grund äußerer Bedrängnis (vgl. JohEv; 1 Petr: φιλαδελφία). Die Liebe der Menschen oder christlichen Brüder und Schwestern untereinander erscheint in der Apokalypse demnach nicht als hervorgehobenes Werk. γ)

„Das

Werk" ?

Wie erwähnt findet sich in der Apokalypse der Sing τό £ργον nur einmal: Ιδού άρχομαι ταχύ, και δ μισθός μου μετ' έμου άποδουναι έκάστφ ώς τό έργον έστιν αύτου (22,12). Nach Τ. Holtz ist der „Bezug von 22,14 auf V. 12 ... für das Ver733 734

735 736

Vgl. ebd. Ethik 338; ähnlich auch Holtz, Werke 433: Für die Apk hat „die .Liebe' als christliche Verhaltensweise grundlegende Funktion". So die Argumentation von Holtz; vgl. ebd. Vgl. Holtz, ebd.; auch Schräge, ebd. stellt fest, daß 2,4 und 2,19 „die beiden einzigen Stellen sind, wo von der Agape der Christen die Rede ist". (Man beachte aber, daß vom ά γ α π α ν der Glaubenden in 12,11 gesprochen wird, freilich nicht im Sinne der Liebe zu Gott, Christus, dem Bruder oder Nächsten.)

2. Darstellung und Analyse der Ethik

139

ständnis des ,Werkes', dessen Lohn das Heil ist, fundamental. Das ,Werk' besteht im Waschen der Gewänder" 737 , was „die Annahme der Heilstat Christi"738 ausdrückt. Doch diese Exegese von Apk 22,12.14 scheitert ganz einfach daran, daß die beiden Verse im Text nicht miteinander verbunden sind. Nicht nur steht V 13 zwischen ihnen, sondern nirgends ist auch davon die Rede, daß τό έργον von V. 12 und πλυνοντες von V. 14 miteinander etwas zu tun hätten. Außerdem eignet dem Part Praes πλυνοντες ein durativer Aspekt, womit eine wiederholte Handlung ausgedrückt wird, was kaum zu dem singularischen τό έργον V. 12 paßt 739 . 3. Glaube und Werke Das Substantiv ή πίστις findet sich in der Apokalypse viermal (2,13.19; 13,10; 14,12), das Adjektiv πιστός achtmal (1,5; 2,10. 13; 3,14; 17,14; 19,11; 21,5; 22,6) und das Adjektiv άπιστος einmal (21,8); das Verb πιστευειν fehlt allerdings, wie auch weitere Wörter des Stammes πιστ-. Ή πίστις steht dreimal im Zusammenhang mit der υπομονή (2,19; 13,10; 14,12), einmal im Zusammenhang einer zurückliegenden Verfolgung der Glaubenden (2,13)740. Πιστός wird als Attribut der Christen nur dreimal gebraucht (2,10.13; 17,14), da es sonst zur Beschreibung Jesu (1,5; 3,14; 19,11) bzw. der Worte der Apokalypse (21,5; 22,6) verwendet wird; die άπιστοι werden in dem Lasterkatalog 21,8 als eine Gruppe von Frevlern genannt, denen der θ ά ν α τ ο ς ό δεύτερος bestimmt ist. An zwei der drei Stellen, die πιστός im Zusammenhang der Christen nennen (nämlich 2,10.13), ist das Wort mit „treu" wiederzugeben, da es hier im Zusammenhang mit dem Martyrium begegnet 741 . Parallel dazu bedeutet πίστις, da es im Kontext von υπομονή und der Verfolgung der Glaubenden gebraucht

737 738 739

740 741

Werke 428. Ebd. Daß ein Teil der Handschriften in V. 14 ποιοΰντες τάς έντολάς αύτοϋ liest, könnte zwar von ό μισθός (V. 12) her beeinflußt sein (so ebd. Anm. 12); aber sicher ist dies nicht, und außerdem ist πλύνοντες τάς στολάς αυτών textkritisch besser bezeugt; deshalb ist dieses Argument von Holtz unbrauchbar. Vgl. Böcher, Glaube 58. Vgl. Barth, πιστός 232.

140

Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

wird, vor allem die Treue, die es zu bewähren gilt742. - Ob πιστός 17,14 und άπιστος 21,8 mit gläubig/ungläubig oder mit treu/untreu wiederzugeben ist, muß indessen offenbleiben. Im ganzen gesehen bedeutet πίστις also, anders als etwa bei Paulus, mehr „Treue" als „Glaube". Dieser Begriff „Treue" läßt sich noch weiter präzisieren: Da nach 2,13 die πίστις in der Verfolgung nicht verleugnet werden soll und der πίστις Ίησου von 14,12 die μαρτυρία Ίησου 12,17 entspricht, „ist πίστις Ίησου offenbar das treue Bekenntnis zu Jesus, wie es in der Verfolgung auch unter Lebensgefahr ,geduldig' festgehalten und ausgesprochen werden muß"743. Von hier aus betrachtet, nimmt es nicht wunder, daß πίστις in 2,19 unter die £ργα subsumiert wird. Deshalb kann nach dem Verständnis der Apokalypse πίστις gar nicht in Konkurrenz zu τά £ργα treten, „sondern ist selbst ein ,Werk', nicht anders als der Toragehorsam (Apk 12,17b; 14,12)"744. Ein Gegensatz von Glaube und Werke ist der Apokalypse demnach fremd. Daß ihr πίστιςBegriff von dem des Paulus weit entfernt ist745 - wie auch ihr Verständnis von τό εργον/τά εργα - , liegt auf der Hand. 4. Das Gericht nach den Werken Mit Blick auf 14,13 stellt H.-D. Wendland fest, „daß die Werke der Gemeinde nichts Verlorenes sind"746. In der Tat haben sie auch jenseits der irdischen Existenz des Einzelnen und der Gemeinde eine Bedeutung, wie neben der genannten Stelle auch 19,8 deutlich macht747. Konkret faßbar wird die Bedeutung der „Werke" im Zusammenhang des Endgerichts, denn sie sind hierbei für alle Menschen der Maßstab (vgl. 20,12f.). Auch wenn in dessen Zusammenhang vom βιβλίον ... της ζωής die Rede ist (20,12) und es in 21,27 heißt, daß nur die darin Ver742 743 744

745 746 747

Vgl. Böcher, Glaube 58; ähnlich Bultmann, πιστεύω 208. Böcher, ebd. 60 (Hervorhebung im Original). Ebd. - Daß allerdings nach 2,2.5.19; 3,1.8.15 „das absolut gebrauchte ,Werke tun' sachlich gleichbedeutend mit .glauben'" (Schulz, Ethik 540) sein soll, geht an der Textaussage vorbei; τά δργα wird nur 2,19 mit πίστις in Zusammenhang gebracht, wobei πίστις hier aber nur als eines von mehreren Werken bezeichnet wird. Vgl. Böcher ebd. Ethik 122. Anders als in 14,13 werden die Taten der Glaubenden hier aber als τά δικαιώματα bezeichnet, was an der Sache aber nichts ändert.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

141

zeichneten Zugang zur Gottesstadt haben werden, so ist damit noch nicht ausgesagt, daß die Christen vom Gericht nach den Werken ausgenommen wären. Die Eintragung ins Lebensbuch kann nämlich von ihnen durchaus verspielt werden, wie der Überwinderspruch 3,5 zeigt: ό νικών ... και ού μή έξαλείψω τό δνομα αύτου έκ της βίβλου της ζωής. Die Werke haben also auch für die Christen heilsnotwendige Bedeutung748, und die empfangenen Heilsgaben sind keine Garantie für ihre Rettung im Endgericht749; denn „ob die an die Heilsgaben geknüpften Verheißungen ... auch wirklich im kommenden Endgericht eintreffen ... werden, das hängt von den Werken bzw. dem Halten der Gebote ... ab"750. Ja, noch mehr: Johannes fordert vollkommene Werke (vgl. 3,2: τά £ργα πεπληρωμένα) 751 , und nicht vollkommene bedeuten den geistlichen und eschatologischen Tod; die Sünder in der Gemeinde von Sardes sind nämlich „gestorben" (vgl. das άποθανεΐν in demselben Vers), und die ganze (!) Gemeinde wird als νεκρός bezeichnet, dies übrigens im Zusammenhang mit τά £ργα (vgl. 3,1). Entsprechend verspielen die Christen ihr Heil nicht erst durch grobe Verfehlungen, sondern schon die Lauheit führt zu der furchterregenden Drohung, daß Christus sie aus seinem Munde ausspeien wird (vgl. 3,15f.)7S2. So unbefangen, wie die Apokalypse vom Gericht nach den Werken spricht, redet sie auch vom eschatologischen Lohn des Menschen (vgl. 22,12: μισθός) bzw. seiner eschatologischen Bestrafung (vgl. 20,15). Bedenkt man all dies, so erweist sich die Aussage von W. Schräge, die Werke in der Apokalypse hätten keine Verdienstlichkeit753, als unzutreffend. Zwar sind sie nicht Grund für das Heil der Christen - dies ist vielmehr die Erlösungstat Jesu am Kreuz (vgl. l,5f.; 5,9f.) - , aber ebendieses Heil steht und fällt mit ihrem Tun bzw. Lassen der geforderten Werke. Mit anderen Worten: Der Indikativ des Heils wird zwar unmißverständlich herausgestellt, aber „durch den Imperativ der verdienstlichen Werke als Bedingung für die künftige Vergeltung ... verdrängt" 754 . 748 749 750 751 752 753

Vgl. Schulz, Mitte 253; ders., Ethik 539. Vgl. ders., Ethik 543 Ebd. Vgl. ebd. 539. Vgl. ebd. 543. Vgl. Ethik 338.

142

Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

c) Heilsindikativ und -imperativ 1. Einführung und exegetische Analyse Das Verhältnis von Heilsindikativ und -imperativ wurde implizit bereits an verschiedenen Stellen dieser Untersuchung angesprochen und ansatzweise beschrieben. So wurde im Zusammenhang von Ethik und Eschatologie herausgearbeitet, daß den Christen das Heil vollgültig zugesprochen ist, daß sie es aber auch bewahren müssen; ferner wurde dargestellt, wie transzendent- und immanent-futurische Eschatologie zur Motivation des sittlichen Handelns der Glaubenden verwendet werden755, demnach nichts anderes als Grundlage des Heilsimperativs sind. Bei der Analyse von Sünde, Sündenvergebung und Umkehr in der Apokalypse (B.2.3.a) wurde ermittelt, daß bereits „Befleckung" und ähnliches den Heilsverlust der Christen bedeuten, und daß dieser durch das Motiv des Gewandes betont ausgedrückt wird. Auch ließ der Befund zu μετανοέω erkennen, wie leicht nach der Meinung des Johannes das Heil verspielt und nur durch eine ganzheitliche Umkehr wieder erlangt werden kann 7 ". Im Abschnitt über die Bedeutung der „Werke" in der Apokalypse (B.2.3.b) wurde gezeigt, daß Johannes von den Christen vollkommene Werke fordert und sie - wie alle Menschen nach ihren Werken gerichtet werden. Dabei kam der Zusammenhang von Heilsindikativ und -imperativ bereits konkret in den Blick, denn nach der Apokalypse wird der Heilsindikativ zwar deutlich herausgestellt, jedoch durch den Imperativ der verdienstlichen Werke verdrängt 757 . Diese (im Zusammenhang der „Werke") getroffene Aussage deckt sich mit dem zu „Ethik und Eschatologie" (B.2.2.c) sowie „Sünde, Sündenvergebung und Umkehr in der Apokalypse" (B.2.3.a) gemachten; denn hier kommt überall der Heilsindikativ klar zum Ausdruck, aber gleichzeitig droht den Christen

7S4

75s 756 757

Schulz, Mitte 255. - Näheres zum Thema Heilsindikativ/-imperativ s. im folgenden Kap. S.o. B.2.2.c)3. und 4., S. 123-128. S.o. B.2.3.a), S. 128-134. S.o. B.2.3.b), S. 141f.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

143

der Heilsverlust - und das oft schon bei geringem Anlaß. Obwohl bereits diese Bestimmung des Verhältnisses von Heilsindikativ und -imperativ auf der Analyse vieler und wesentlicher Teile der Apokalypse gründet, soll sie im folgenden noch einmal anhand zweier für dieses Thema entscheidender Aussagereihen überprüft werden: der Texte zum Thema „Lebensbuch" und der sieben Makarismen. Vom βιβλίον bzw. βίβλος της ζωής spricht die Apokalypse sechsmal, nämlich in 3,5; 13,8; 17,8; 20,12.15 und 21,27. Nach 3,5 wird Jesus den Namen des „Siegers" keinesfalls (ού μή) aus dem Buch des Lebens ausstreichen; nach 13,8 und 17,8 huldigen (13,8: προσκυνήσουσιν) dem antichristlichen „Tier" bzw. verwundern sich (17,8: θαυμασθήσονται) darüber alle Menschen, ών ού γέγραπται τό δνομα επί τό βιβλίον της ζωής άπό καταβολής κόσμου (17,8)758. Nach 20,12.15 ergeht über alle Toten das Gericht nach den Werken: Nur derjenige, welcher ευρέθη έν τή βίβλω τής ζωής γεγραμμένος, bleibt vor dem Feuersee, das ist nach V. 14 ό θάνατος ό δεύτερος, verschont (V. 15). Mit 21,27, der letzten Stelle in der Apokalypse, wo vom Lebensbuch die Rede ist, ergeht eine Warnung an die Christen: καί ού μή (!) είσέλθη εις αύτήν κτλ. Die in diesem Vers enthaltene Paränese, eine direkte Anrede der Empfänger der Apokalypse, ist unüberhörbar 7S9 . Auf keinen Fall kommen παν κοινόν καί ό ποιών βδέλυγμα καί ψευδός in die Gottesstadt, sondern nur οί γεγραμμένοι έν τω βιβλίω τής ζωής του άρνίου. Im Hintergrund dieser Warnung steht die Möglichkeit, daß die Namen derjenigen Christen, welche nicht die vor Gott erforderlichen Werke aufweisen, aus dem Lebensbuch gestrichen werden können (vgl. 3,5). Ihnen droht dann genauso wie den Nichtchristen, die nicht im Lebensbuch verzeichnet sind, der Feuersee als der „zweite Tod" (vgl. 20,14f.). 758

759

13,8 formuliert etwas anders: ου ού γέγραπται τό δνομα αύτοΰ έν τώ βιβλίω της ζωης του άρνίου του έσφαγμένου άπό καταβολής κόσμου. Die Ausleger sind sich uneins, ob του άρνίου του έσφαγμένου als eine Glosse zu streichen (so Bousset, Offb 364; U.B. Müller, Offb 252) oder beizubehalten ist (so Hadorn, Offb 140; Lohmeyer, Offb 112). Da es textkritisch keine Lesart ohne του άρνίου κτλ gibt, ist von der Ursprünglichkeit des Textes auszugehen; grammatisch ist dann aber άπό καταβολής κόσμου auf γέγραπται zu beziehen (vgl. Bousset ebd., Hadorn ebd. 141), vgl. 17,8. Vgl. dazu Roloff, Offb 207; Reader, Stadt 135.

144

Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

Überblickt man all dies, so ergibt sich im Zusammenhang von Heilsindikativ und -imperativ folgendes Bild: Die Christen sind zwar als vor Urzeiten im Lebensbuch des Lammes Vermerkte zum Heil prädestiniert (vgl. 13,8; 17,8), diese Vorherbestimmung ist aber nicht statisch gedacht. Vielmehr bedeuten die Freiheit der Menschen und die Relevanz ihrer sittlichen Entscheidungen, daß ihnen dieses Heil wieder aberkannt werden kann, was durch das Motiv des Herausgestrichenwerdens aus dem Lebensbuch deutlich wird760. Dadurch bestätigt sich der oben angeführte Befund, der in früheren Zusammenhängen (Ethik und Eschatologie; Sünde, Sündenvergebung und Umkehr; die Bedeutung der „Werke") sichtbar wurde: Der Indikativ des Heils wird zwar in aller Deutlichkeit ausgedrückt, durch den Imperativ des sittlich einwandfreien Handelns der Christen jedoch verdrängt. Bleibt nun die Frage, ob sich dieses Bild bei einer Analyse der sieben Makarismen der Apokalypse bestätigen wird oder nicht. Die Makarismen der Apokalypse finden sich in 1,3; 14,13; 16,15; 19,9; 20,6; 22,7.14. Von entscheidender Bedeutung für unsere Untersuchung ist die von W. Bieder gemachte Feststellung, man könne in den Seligpreisungen eine „Zwischenform zwischen Aussagewort und Mahnwort" 761 erkennen; hierbei wird einerseits auf das, was bereits positiv vorhanden ist, geblickt, andererseits auf das, was noch nicht da ist und geschehen soll762. In eine ähnliche Richtung weist die von H. Giesen vorgeschlagene Bestimmung der Makarismen als Gratulationsformeln mit mahnendem Charakter 763 : Der „ermahnende Charakter bleibt insofern gewahrt, als die Gratulation nur solange gilt, wie die Voraussetzung dafür gegeben ist" 764 . Damit ist bereits der Zusammenhang von Heilsindikativ und -imperativ erreicht, denn die Gratulation ,,μακάριος/-οι" beglückwünscht den Glaubenden zu dem, was er besitzt, während die Vorausset-

760 761 762 763 764

Vgl. Kraft, Offb 219. Seligpreisungen 25f. Vgl. ebd. 26. Vgl. ders., Heilszusage 73f. und Apk 27f. Ders., Apk 28 (Hervorhebungen von mir); ähnlich ders., Heilszusage 73: Der „Makarismus ist immer zugleich eine Aufforderung dazu, die vorausgesetzte Disposition seitens des Beglückwünschten aufrechtzuerhalten".

2. Darstellung und Analyse der Ethik

145

zungen heilsimperativisch daran erinnern, was er auch weiterhin zu tun hat, um den Indikativ aufrechtzuerhalten. Mit anderen Worten: er kann das Heil auch wieder verlieren! Im folgenden soll mit einer Analyse der Makarismen der Apokalypse ermittelt werden, ob bei jedem von ihnen Heilsindikativ und -imperativ gleichermaßen zum Ausdruck kommen oder ob sich hier signifikante Unterschiede ausmachen lassen; zum anderen, ob bei einer Gesamtbewertung aller Makarismen letztlich der Indikativ oder aber der Imperativ überwiegt. 1,3 preist denjenigen bzw. diejenigen „selig", ό άναγινώσκων καί οι άκούοντες τους λόγους της προφητείας και τηρουντες τά εν αύτη γεγραμμένα; mit letzterem ist die Voraussetzung für die Gratulation benannt, welche es zu erfüllen gilt. Eine über das μακάριος an sich hinausgehende Verheißung findet sich ebensowenig wie eine Drohung vor Verlust oder Verminderung des Heilsstandes; die Ausleitung des Makarismus765: ό γαρ καιρός έγγυς verschafft dem in der Seligpreisung Gesagten Nachdruck. Der dem Makarismus in 14,13 vorangehende Kontext verschafft der Seligpreisung eine bedrohliche Dringlichkeit, schildert er doch - mit ähnlichen Worten wie der Makarismus, der die νεκροί ol έν κυρίω αποθνήσκοντες άπ' αρτι selig preist und ihnen das eschatologische άναπαύεσθαι zuspricht - das Schicksal derer, die nicht in enger Verbindung mit dem Herrn Jesus gestorben sind: ουκ εχουσιν άνάπαυσιν ημέρας καί νυκτός (V. 11). Die Einleitung der Seligpreisung: καί ηκουσα φωνής εκ του ούρανου λεγουσης· γράψον hebt die Wichtigkeit des Makarismus unüberhörbar hervor. Dieser benennt mit οί νεκροί ol έν κυρίω αποθνήσκοντες άπ' αρτι die für die Gratulation zu erfüllende Voraussetzung. Zusätzlich zu der Verheißung des μακάριοι tritt die des άναπαύεσθαι έκ των κόπων αυτών hinzu, eine Drohung vor Verlust oder Verminderung des Heilsstandes kommt im Makarismus nicht vor. Die Einleitung der Seligpreisung 16,15: Ιδού έρχομαι ώς κλέπτης weist auf das unvorhersehbare Kommen Jesu hin und macht so die Seligpreisung dringlich. Diese spricht dem, ό 765

Unter Ausleitung verstehe ich das Gegenstück zur Einleitung, die sich bei verschiedenen Makarismen findet (z.B. in 14,13: καί ήκουσα φωνής έκ του ουρανού λεγούσης· γράψον); eine Ausleitung kommt aber nur einmal, nämlich in 1,3 vor.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

γρήγορων και τηρών τά Ιμάτια αύτου, das Heil zu, womit gleichzeitig die zu erfüllende Voraussetzung für dieses Heil genannt ist; über das μακάριος selbst hinausgehende Verheißungen finden sich nicht. Im Gegenteil: mit 'ίνα μή γυμνός περιπατη και βλέπωσιν την άσχημοσύνην αύτου erfolgt eine unmißverständliche, harte Drohung, die nichts anderes als den Heilsverlust desjenigen, der die vorher genannte Bedingung nicht erfüllt, ankündigt. Mit και λέγει μοι· γράψον, der Einleitung zum Makarismus 19,9, wird das Folgende besonders betont. Der Makarismus preist diejenigen selig, ol εις τό δεΐπνον του γάμου του άρνίου κεκλημένοι, womit keine Bedingung für die Gratulation ausgedrückt ist; Berufung ist nämlich keine menschliche Tat, sondern ein Handeln Gottes. Über das μακάριοι hinausgehend wird den Seliggepriesenen eschatologische Mahlgemeinschaft mit Jesus verheißen; eine Drohung wird nicht ausgesprochen. Mit dem nachfolgenden και λέγει μοι· ούτοι ol λόγοι άληθινοί του θεου είσιν wird der ganze Makarismus noch einmal als bedeutsam hervorgehoben. 20,6 preist denjenigen, ό εχων μέρος έν τη άναστάσει τη πρώτη nicht nur μακάριος, sondern auch δγιος; durch die Hinzufügung des letzteren erfolgt eine besondere Heilszusage. Das ό £χων κτλ gibt die Voraussetzung für die Gratulation an, die es zu erfüllen gilt. Über das μακάριος και άγιος hinausgehend erfolgt mit dem langen Rest des Verses (έπί τούτων κτλ) eine wahre Kette von Verheißungen; Drohungen kommen nicht zur Sprache. Die Einleitung des Makarismus 22,7: και ίδού άρχομαι ταχύ macht mit dem Hinweis auf das baldige Kommen Jesu die Seligpreisung dringlich. Diese spricht dem, ό τηρών τους λόγους της προφητείας του βιβλίου τούτου, das Heil zu, womit gleichzeitig die zu erfüllende Voraussetzung für dieses Heil genannt ist; über das μακάριος selbst hinausgehende Verheißungen finden sich nicht, auch Drohungen werden nicht genannt. Der Makarismus 22,14 preist diejenigen selig, οί πλύνοντες τάς στολάς αυτών, womit die Voraussetzung für die Gratulation benannt ist, die es zu erfüllen gilt. Mit ίνα £σται ή έξουσία αύτών κτλ erfolgen zwei über das μακάριοι hinausgehende Verheißungen. Diesen folgt jedoch mit V. 15 eine mindestens ebenso gewichtige Drohung.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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Bündelt man das Gesagte im Blick auf die Frage nach dem Zusammenhang von Heilsindikativ und -imperativ, so ergibt sich folgendes Bild: In 19,9 findet sich der gegenüber allen anderen Makarismen intensivste Heilszuspruch, denn hier wird nicht nur auf eine Drohung, sondern sogar auf die sonst übliche Voraussetzung für die Gratulation verzichtet; im Blick auf die Betonung des in den Seligpreisungen zum Ausdruck kommenden Heilsindikativs nimmt 19,9 daher die erste Stelle ein. In dieser Rangliste folgt an zweiter Stelle der Makarismus 20,6, der ebenfalls auf eine Drohung verzichtet; eine Bedingung für das μακάριος wird zwar genannt, der Heilsindikativ durch die Zufügung des άγιος und die „Kette von Verheißungen" (s.o.) aber äußerst stark herausgestellt. Auch hier wird die durch μακάριος ausgedrückte Gratulation also verstärkt, wenn auch weniger intensiv als in 19,9. Deutlich geringer Heil zusprechend ist die Seligpreisung 14,13, welche deshalb auf Platz drei der Rangliste des Heilsindikativs zum Stehen kommt. Mit den beiden erstgenannten Makarismen hat dieser zwar das Fehlen einer Drohung innerhalb der Seligpreisung selbst gemein, aber der 14,13 vorangehende Kontext hat bedrohlichen Charakter und wirkt daher auf den Makarismus im heilsindikativischen Sinn mindernd. Eine noch weitergehende Abnahme des Heilszuspruches ist bei den beiden Makarismen 1,3 und 22,7 festzustellen, da sie (anders als die Seligpreisung der Plätze eins bis drei) keine über μακάριος hinausgehenden Verheißungen kennen; daher nehmen sie in der Rangliste des Heilsindikativs gemeinsam die vierte Stelle ein. Eine noch stärkere Minderung des Heilszuspruches ist bei den Seligpreisungen 16,15 und 22,14 festzustellen, wo zwar mit μακάριος/-οι der Grundton einer Gratulation erklingt, dieser aber in 16,15 durch die oben genannte Drohung des 'ίνα-Satzes innerhalb des Makarismus und in 22,14 durch den Kontext der Seligpreisung (V. 15) völlig zum Verstummen gebracht wird. Dabei kommt in 16,15 der Heilsindikativ trotz keiner über μακάριος hinausgehenden Verheißung etwas stärker zur Sprache als in 22,14, denn der angedrohte Heilsverlust erscheint weniger endgültig als in 22,14f. An dieser Stelle nämlich ist das Urteil über diejenigen, welche als κυνες κ τ λ das Gegenteil des πλυνειν τ ά ς στολάς tun, absolut endgültig: Sie sind εξω der Gottesstadt, was im Kontext von 21,8 nichts anderes

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

als ihren Aufenthalt in dem als „zweiter Tod" bezeichneten Feuersee bedeutet. Dagegen ist 16,15 im Kontext von 3,18 zu lesen, und der dort angedrohte Heilsverlust erscheint wegen der hier ausgedrückten Möglichkeit des Neuerwerbs des Gewandes und damit des Heils766 nicht irreversibel. 16,15 nimmt somit den fünften Platz in der Rangliste des Heilsindikativs ein, 22,14 den sechsten. Nach dieser Analyse der Makarismen lassen sich die beiden oben angeführten Fragen beantworten: Erstens kommen Heilsindikativ und -imperativ in den sieben Seligpreisungen keineswegs gleichermaßen zum Ausdruck, vielmehr lassen sich - wie gezeigt wurde - sechs verschiedene Intensitäten des Heilszuspruchs ausmachen. Dabei ist es wichtig festzuhalten, daß nur einmal, nämlich in 19,9, eine bedingungslose Seligpreisung und damit ein uneingeschränkter Heilszuspruch erklingt, während alle anderen Makarismen durch Bedingungen und zum Teil sogar durch zu den Bedingungen hinzukommende Drohungen den Indikativ abschwächen oder (wie in 16,15 und 22,14) im Grunde auslöschen. Zu der anderen oben formulierten Frage läßt sich zweitens sagen, daß bei den Makarismen zwar der Heilsindikativ durch das μακάριος/-οι selbst (in 20,6 durch μακάριος και ά γ ι ο ς ) und durch einzelne Verheißungen betont wird; außer in 19,9 ist die Heilszusage aber durchgängig an Bedingungen geknüpft, die jene wieder in Frage stellen. Die Drohungen innerhalb des Makarismus 16,15 und im Kontext der Seligpreisungen 14,13; 22,14 verstärken diese Reduktion des Indikativs erheblich. Somit bestätigen die Seligpreisungen der Apokalypse in ihrer Gesamtheit den oben genannten, in anderem Zusammenhang sichtbar gewordenen Befund (s.o. B.2.3.b), S. 141f.). Dieser sei hier noch einmal als Ergebnis aller bisherigen Untersuchungen formuliert: In der Apokalypse wird zwar der Heüsindikativ in aller Deutlichkeit ausgedrückt, jedoch durch den Imperativ des sittlich einwandfreien Handelns der Christen verdrängt; so wird die Ethik zum „zweiten konstitutiven Teil der Erlösungf 767.

766 767

S.o. B.2.3.a), S. 132-134. Schulz, Ethik 543.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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2. Abgrenzung gegenüber den Thesen anderer Exegeten Diese von mir herausgearbeitete Position deckt sich im wesentlichen mit der von S. Schulz768; sie ist in der Forschung aber keineswegs communis opinio, wie die folgenden Ausführungen zeigen werden. So findet sich eine erste Linie in der exegetischen Literatur, welche im Zusammenhang von Heilsindikativ und -imperativ ersteren über Gebühr hervorhebt. H.-D. Wendland etwa betont sehr stark das Mitwirken Christi beim sittlichen Verhalten der Glaubenden: Das „Siegen" geschehe nicht aus der moralischen oder religiösen Kraft des Christen heraus, „sondern aus seiner Gemeinschaft mit Christus . . . . Es ist also eigentlich ein Mitsiegen mit dem Sieger Christus"769. Da eine solche synergistische Funktion Christi in der Apokalypse nirgends ausgedrückt wird, scheitert diese These an ihrer exegetischen Unhaltbarkeit 770 . Auch ist Wendlands Satz: „von Leistungsethik (ist) keine Spur zu entdecken" 771 zu falsifizieren. Die bisherigen exegetischen Analysen haben ja zur Genüge erwiesen, daß durchaus die sittliche Leistung der Glaubenden heilsnotwendig ist. Ähnlich dem soeben angeführten Zitat Wendlands berufen sich viele andere Exegeten auf 19,8, wofür die Auslegung dieser Stelle durch Th. v. Zahn ein besonders gutes Beispiel ist: Hier sei „jeder pelagianischen und jeder auf eigener Einbildung beruhenden Werkgerechtigkeit ... im voraus jede Berechtigung abgesprochen durch die Worte έδόθη αύτη, Γνα περιβάληται βύσσινον λαμπρόν καθαρόν. Auch die größte sittliche Vollkommenheit eines Christen ist ein Gnadengeschenk Gottes" 772 . - Doch darf 19,8 nicht ohne den Gesamtzusammenhang des Kleidermotivs gesehen werden, in welchem Reinheit oder Befleckung des Gewandes Ausdruck sittlich zu-

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771 772

Vgl. ders., Mitte 255 und Ethik, 543. Ethik 120 (Hervorhebung von mir). S.o. B.2.2.b) 4., S. 118f. Zu Recht stellt deshalb Münchow, Buch 380 im Blick auf die Paränese der Apk fest: „Es fehlt die Verbindung der Mahnungen zu dem, was Christus für seine Gemeinde getan hat und für sie bedeutet". Wendland, Ethik 120. Offb 583. Ähnlich auch Schräge, Ethik 338, jedoch mit Einschränkung; etwas indirekter Schnackenburg, Botschft 2 265.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

länglichen oder unzulänglichen Verhaltens der Glaubenden sind. Das Passivum divinum έδόθη 19,8 bedeutet nicht, daß die Reinheit geschenkt wird, sondern daß das durch sittlich einwandfreies Verhalten rein gehaltene Gewand (vgl. τό γαρ βύσσινον κτλ 19,8) bei der Hochzeit des Lammes getragen werden darf. Eine zweite Gruppe von Exegeten gewichtet den Heilsimperativ stärker als die eben Genannten. So sieht beispielsweise T. Holtz zwar im Nebeneinander von Indikativ und Imperativ der Apokalypse eine Nähe zur paulinischen Theologie 773 , stellt aber auch fest, daß die Apokalypse deutlicher als Paulus erkennen läßt, „daß auch derjenige, der in den Heilsbereich Christi eingegliedert ist, in der Gefährdung steht, das Heil zu verlieren" 774 . Dem ist von den bisherigen exegetischen Untersuchungen her grundsätzlich zuzustimmen, wiewohl der Imperativ zu wenig in seiner ganzen Strenge dargestellt wird. Die Ethik ist nämlich der zweite konstitutive Teil der Erlösung, und bereits vergleichsweise geringe Sünden wie die Lauheit führen zum Heilsverlust775. In einer dritten Richtung der Forschung, für welche als ein Beispiel die Position C. Münchows gelten kann, wird - anders als bei den beiden genannten - der Indikativ unter- und der Imperativ überbetont. So hat nach Münchow der „Gedanke von der Gegenwärtigkeit des Heils ... in der Offenbarung keinen wirklichen Platz"776. Diese These ist exegetisch allerdings nicht zu halten, wie in den Ausführungen zu „Ethik und Christologie" sowie „Ethik und Eschatologie" deutlich wurde. Dasselbe gilt für die folgende Aussage zu Strafe und Gericht in der Apokalypse: Die „Schilderung der Pein der Gottlosen (soll) die Gerechten trösten; es ist eine Form des Heilszuspruchs" 777 .

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775 776 777

Vgl. Werke 430. Ebd. Ähnlich auch Karrer, Joh-Offb 210: Der Apk-Autor verwehrt „konsequent im Imperativ jede Auffangmöglichkeit verfehlten Handelns von Christen über ein Nachwirken ihres vormaligen Sünderseins". Vgl. Schulz, Ethik 543. Buch 380. Ebd.

3. Zusammenfassung

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3. Zusammenfassung Im Folgenden wird die Ethik der Apokalypse zusammengefaßt. Am Ende erfolgt eine „Generalskizze der Ethik der Apokalypse", welche die Ergebnisse der Zusammenfassung bündelt und auswertet. Bevor die Ethik der Apokalypse dargestellt und analysiert wurde, war zunächst ihre historische Voraussetzung mit der zeitgeschichtlichen Einordnung der Apokalypse zu beschreiben gewesen. Die Apokalypse wurde um 95 n. Chr. verfaßt. Ihr Autor, Johannes, befindet sich auf der Sporadeninsel Patmos, auf die er zur Strafe für seine christliche Verkündigungstätigkeit verbannt worden sein dürfte. Von hier aus richtet er diese Schrift an die christlichen Gemeinden von sieben kleinasiatischen Städten. Die Adressaten sind von einer unübersichtlichen Fülle heterogener religiöser Phänomene umgeben und werden von der Judenschaft und den staatlichen Behörden angefeindet, führen also einen Zweifrontenkrieg. Diesem ist bereits ein Christ zum Opfer gefallen, weitere Angriffe auf die Gemeinden stehen bevor, und für die Zukunft erwartet Johannes eine weltweite Notzeit mit massiver Bedrängnis der Christen. Die interne Situation der Gemeinden ist zum Teil ein Spiegelbild des Außenverhältnisses. Die in ihnen teilweise erfolgreichen christlich-libertinistischen Lehrer geben φ α γ ε ΐ ν είδωλόθυτα και πορνευσαι frei, was den Christen unter anderem die Möglichkeit böte, dem lebensgefährlichen Druck der Behörden zu entgehen. Würde Johannes diese Lehre tolerieren oder gar den Adressaten empfehlen, würde deren religiöse Identität gegenüber der nichtchristlichen Bevölkerung in den Hintergrund treten oder gänzlich verleugnet werden, und es käme zwischen den Juden- und Heidenchristen in den Gemeinden zum offenen Bruch. Im Blick auf die Propaganda der christlichen Libertinisten muß man deshalb von einer ethischen Bedrohung der Adressaten sprechen, die zu den Bedrängnissen von außen hinzutritt. Als theologische Voraussetzung war die Frage zu klären, was die Apokalypse zur Apokalypse macht. Von der dem Text bestimmenden theologischen Mitte, der theologischen Problemlage der Apokalypse her, ließ sie sich als eine Apokalypse beschreiben, als eine Offenbarungsschrift also, die in einer verschlossen erscheinenden Weltsituation, in der Gottes weltord-

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nendes Walten unter überkommenen Glaubens- und Verstehensvoraussetzungen nicht mehr einsichtig war, himmlisches Offenbarungswissen vermittelt; und zwar als geheime, der verschlossenen Weltsituation gegenüber jenseitige Weisheit, welche die Welt von ihrem Ende her entschlüsselt und auf dies Ende in Heil und Unheil hin orientiert. Wegen ihrer starken christologischen Akzentsetzung wurde die Apokalypse näherhin als eine christliche Apokalypse bezeichnet. In der Untersuchung der ethischen Motive der Apokalypse waren auf Grund ihrer im Text des Buches massiven Präsenz als erstes diejenigen ethischen Motive, die unmittelbar mit der Verfolgungssituation zusammenhängen, zu analysieren. Hierbei trägt Johannes mit großem Nachdruck den Empfängern υπομονή auf, die vor allem Standhaftigkeit in Verfolgung und Leiden bedeutet, die er durch die Bedrängnisse von nichtchristlicher Seite an die Gemeinden herangetragen sieht. Konkret bedeutet υπομονή, die Anbetung des „Tieres" bzw. seines Bildes und die Annahme seines Malzeichens an Stirn oder Hand zu verweigern, selbst wenn dies mit Gefängnis oder Tod bestraft werden sollte. Auch das Einstehen für λόγος του θεου und μαρτυρία Ίησου, also die Treue zur christlichen Offenbarung mit allen Konsequenzen, ist den Empfängern aufgetragen. Die möglichen Folgen solchen Handelns werden mit der Strafe der Verbannung und der Todesstrafe deutlich aufgezeigt. Dabei stellt Johannes die völlige Lebenshingabe als empfehlenswertes, nicht aber als unbedingt erforderliches Verhalten dar. Schließlich ist den Empfängern νικάω aufgetragen, das neben der allgemeinen Bedeutung des rechten Verhaltens vor allem das „Überwinden" in Verfolgungssituationen bedeutet; dieses wird zum Beispiel darin vollzogen, sich dem Kaiserkult kompromißlos zu widersetzen. Da das Bestehen oder Nichtbestehen des Glaubenden in der Verfolgungssituation dessen Verhältnis zu Gott und Christus widerspiegelt, ist in den genannten Verhaltensempfehlungen im wesentlichen die Aufforderung zur Treue zu Gott ausgedrückt. Diese läßt sich wegen der Dominanz der ethischen Motive, die mit der Verfolgungssituation zusammenhängen, als „Hauptgebot" der Apokalypse bezeichnen. Die an diese Untersuchung anschließende Analyse der ethischen Motive aus dem Bereich des Dekalogs ergab folgendes Bild:

3. Zusammenfassung

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Auch wenn das erste Gebot in seinem Wortlaut der Septuaginta in der Apokalypse nicht vorkommt, so spielt es doch der Sache nach eine große Rolle. Implizit steht es hinter den dargestellten Verhaltensempfehlungen im Zusammenhang der ethischen Motive, die unmittelbar mit der Verfolgungssituation zusammenhängen, kommt in diesen doch wesentlich die Treue zu Gott zum Ausdruck. Explizit kommt das erste Gebot dadurch zur Sprache, daß Johannes die Störung des Verhältnisses zu Gott und Christus der Angehörigen verschiedener angeschriebener Gemeinden kritisiert. Außerdem verbietet er ausdrücklich die Anbetung von δαιμόνια sowie die Ausübung der Magie (φαρμακεία) und den Abfall von Gott (metaphorisch durch πορνεία ausgedrückt). Auch lehnt er kategorisch sämtliche Handlungen im Zusammenhang des Kaiserkults wiederholt und mit Nachdruck ab. Schließlich untersagt er die Verehrung von Engeln. Das zweite Gebot wird in der Apokalypse deutlich durch die Verurteilung von είδωλα und das Verbot der Anbetung des „Bildes" des antichristlichen Tieres zum Ausdruck gebracht. Das dritte Gebot kommt in der Apokalypse nirgends zur Sprache. In ihr erscheint das vierte Gebot nicht in seinem Wortlaut. Da Johannes aber an der κυριακή ήμέρα in Verzückung gerät, ist offensichtlich die Feier des Herrentages vorausgesetzt; hieraus darf man ableiten, daß Johannes diesen als Feiertag analog zum alttestamentlichen, antik-jüdischen Sabbat empfiehlt. Auch finden sich kidtische Motive in der Apokalypse: In ihren hymnischen Stücken erscheinen Lobgesang, Jubel und ähnliches. Hier sind sie zwar oft himmlischen Wesen in den Mund gelegt, aber dennoch auch den Empfängern der Apokalypse aufgetragen. Lobgesang und Jubel spielen in der Ethik der Apokalypse eine sehr große Rolle, was sich auch an der breiten Textbasis der hymnischen Stücke zeigt. Im Zusammenhang von beten, bitten ist προσκυνέω zu nennen, das in der Apokalypse auffallend häufig erscheint. Für sie ist das Anbeten Gottes und das Nicht-Anbeten anderer Wesen, z.B. des „Tieres", ein wesentlicher Bestandteil der Ethik. Hier tritt wieder zutage, daß die Ethik der Apokalypse sehr stark von der Verfolgungssituation der Empfänger geprägt ist. - Die Apokalypse empfiehlt auch das Beten im allgemeinen durch

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

die an verschiedenen Stellen als besonders kostbar ausgewiesenen Gebete der „Heiligen". Das Thema Opfer ist für die Ethik der Apokalypse unbedeutend, denn sie kennt nur das zurückliegende Sühneopfer Jesu. Auch besitzt der Jerusalemer Tempel für sie keine aktuelle Bedeutung mehr. Allerdings empfiehlt sie den angeschriebenen Gemeinden das Entzünden von Räucherwerk bei ihren Gottesdienst· und Gebetsversammlungen, die aber keine Opfer darstellen. Mit den genannten hymnischen Stücken nimmt die Apokalypse häufigen Bezug auf die Gottescäenslfeiern der angeschriebenen Gemeinden. Außerdem erwähnt sie immer wieder himmlische Feiern dieser Art und spricht von der künftigen, ideal dargestellten Mahlgemeinschaft der Frommen mit Christus. Somit empfiehlt die Apokalypse die Feier des Gottesdienstes und Herrenmahles. Im weiteren Verlauf der Untersuchung ethischer Motive aus dem Bereich des Dekalogs war festzustellen, daß das fünfte Gebot in der Apokalypse nirgends zur Sprache kommt. Anders das sechste Gebot: Ausdrücklich wird in den drei Lasterkatalogen der Apokalypse darauf Bezug genommen und damit den Empfängern des Buches eingeschärft; den Mörder erwarten im Eschaton Höllenstrafen. Zum siebten Gebot: πορνεία, die dieses Gebot wiedergibt, wird unter anderem mit den drei Lasterkatalogen den Empfängern der Apokalypse nachdrücklich verboten. Indirekt läßt sich über die Ablehnung des Verhaltens der Negativ-Person Hure Babylon, der πορνεία zugeschrieben wird, die positive Bewertung von νυμφίος und νύμφη und das ekklesiologische Brautmotiv den Adressaten eine Empfehlung der Ehe und ehelichen Treue ausmachen. Ehelosigkeit oder Sexualaskese sind nicht Bestandteil der Ethik der Apokalypse. Das achte Gebot, das den Diebstahl verbietet, bringt die Apokalypse in einem der Lasterkataloge deutlich zur Sprache und thematisiert es über das Verhalten der Negativ-Person Hure Babylon indirekt. Bis zu einem gewissen Grade wird man in der von Johannes empfohlenen Tugend der διακονία das ethische Gegenstück zum Diebstahl erblicken dürfen. In seinem engeren Sinn der Falschaussage gegen den Mitmenschen erscheint das neunte Gebot nicht. Wiederholt und mit direktem Bezug auf die Leser wird jedoch τό ψευδός, das in den Bereich dieses Gebots gehört und zumeist die ganz kon-

3. Zusammenfassung

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krete Lüge - auch im Sinne der Alltagslüge - meint, als ein abzulehnendes Verhalten dargestellt und dem Lügner eschatologisches Unheil angedroht. Im Wortlaut der Septuaginta erscheint das zehnte Gebot nicht in der Apokalypse, jedoch der Sache nach: Kap 18 thematisiert das έπιθυμεΐν der Negativ-Person Hure Babylon ganz massiv, die nach allem Besitz der unterjochten Völker giert und selbst vor „Körpern und Seelen von Menschen" nicht haltmacht. Damit wird der Inhalt des zehnten Gebots den Empfängern der Apokalypse als normativ vermittelt. Im Zusammenhang der ethischen Motive aus dem Bereich des Sozialen ist in der Apokalypse ein kritischer Standpunkt gegenüber dem Imperium Romanum deutlich vernehmbar. So thematisiert sie immer wieder Reichtum und Armut direkt oder indirekt und sagt unter anderem aus, daß die ohnehin vorhandene soziale Benachteiligung der ernsthaften Christen in der bedrohlichen Zukunft noch gesteigert werden und somit ihre Armut zunehmen wird; andererseits ist der gottlose Reichtum der Hure Babylon dem Untergang geweiht. Ein regelrechtes Armutsideal ist der Apokalypse jedoch fremd. - Wiederholt findet sich in ihr eine allgemeine Kritik an sozialen Verhältnissen des Imperium Romanum; gerade die oberen Zehntausend sind Gegenstand der Anklage des Apokalyptikers. Johannes, der mit diesen Auffassungen in der Tradition der alttestamentlichen Propheten steht, entwickelt mit Apk 21f. eine soziale Utopie, die von Gerechtigkeit geprägt ist. Außerdem lehnt die Apokalypse die Sklaverei ab. Es findet sich in ihr in ganz geringem Umfang eine gewisse Hochwertung der Frau, deutlicher aber die Ansätze zu einer Umweltund Tierschutzethik; Johannes hat hierbei die zu bewahrende Schöpfung klar im Blick. Zum Thema Ethische Motive aus dem Bereich des Politischen wurde festgestellt, daß die Adressaten der Apokalypse innerhalb der multireligiösen Gesellschaft des Imperium Romanum zu einer Minorität mit geringem politischen Gewicht gehörten. Bereits zur Zeit der Abfassung der Apokalypse hatten sie unter recht starken Pressionen seitens der staatlichen Behörden und der Juden zu leiden. - Johannes begreift das Weltgeschehen als einen Kampf zwischen Gott und widergöttlichen Mächten, womit der sittliche Kampf des einzelnen verbunden ist (der Mensch kann den widergötlichen Mächten unterliegen oder sie besiegen).

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Die in Bälde erwartete politische Situation schildert Johannes als für die Empfänger der Apokalypse äußerst gefährlich. Er erwartet ein totales Terrorregime, das den Christen Gefängnis oder Tod, wirtschaftliche Boykottierung und Verelendung bringen kann. Diese Situation läßt sich einerseits durch Vertrauen bewältigen, das Johannes zu stiften versucht: Die Apokalypse ist.von einem optimistischen Grundzug durchdrungen. Neben anderem wirken die Erwartung des Untergangs Roms, das begrenzte Maß der Leidenszeit der Glaubenden und ihre Versiegelung vertrauenstiftend. Andererseits erfolgen auch konkrete ethische Weisungen, um die Empfänger die erwartete Situation bewältigen lassen zu können: Johannes fordert eindringlich Standhaftigkeit, Einstehen für die christliche Offenbarung und Sieg über die widergöttlichen Mächte. Betont setzt er sich von einer in den Gemeinden zum Teil rezipierten Position ab, die zwischen gottfeindlicher Gesellschaft und christlicher Gemeinde zu vermitteln sucht. - Im speziellen sind hier zu nennen: Subversion, Zuendebringen der Leidenszeit und Heiliger Krieg. Die subversive Praxis des Verfassers und ihre Vermittlung an die Adressaten ist erkennbar, die sich im Entzug von Anerkennung und Legitimation darstellt. Die Glaubenden sind am Zuendebringen der Leidenszeit ursächlich mitbeteiligt, ohne daß sie das Kommen des Endes tatsächlich beschleunigen könnten. Im Heiligen Krieg der Endzeit werden nach der Vorstellung der Apokalypse die Glaubenden mitkämpfen. Wegen der in diesen ethischen Motiven enthaltenen aktiven Anteile ist für die politische Ethik der Apokalypse der Begriff des passiven Widerstands unangemessen. Im Anschluß an die Untersuchung ethischer Motive aus dem Bereich des Politischen erfolgte eine Analyse derjenigen, die nicht in die bisherigen Bereiche integrierbar waren. Dabei erscheint die Tapferkeit in der Apokalypse als eine hohe Tugend, die Johannes eindringlich fordert; den δειλοΐς werden nämlich schwerste eschatologische Strafen angekündigt. Primär bedeutet Tapferkeit das tapfere Aushalten von Bedrängnis; da Feigheit aber auch das Gegenteil von νικαν darstellt, hat Tapferkeit auch im sittlichen Kampf des einzelnen im Zusammenhang allgemeinen Rechtverhaltens seine Bedeutung. Weiterhin vermittelt die Apokalypse sehr intensiv Tröstung: sie drückt die Ermutigung aus, daß sich über alle Finsternis des Weltgeschehens hinweg Gottes Macht spannt und durch-

3. Zusammenfassung

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setzen wird. Dieser entschiedene Zuspruch geht mit Schuldaussage, Einweisung in die Gerichtsdoxologie und den Gehorsam gegenüber Gott einher, ist ihnen gegenüber aber deutlich höher gewichtet. Von Demut und Hochmut redet die Apokalypse nur indirekt, das Motiv jedoch spielt eine große Rolle. So sind z.B. der Hochmut des antichristlichen Tieres und die geforderte Demut im Zusammenhang der Leidensnachfolge Christi offensichtlich. Demütiges Verhalten ist nach der Apokalypse im wesentlichen von der Bereitschaft geprägt, gegenüber den antichristlichen Mächten standhaft zu bleiben. Zum Thema Ethik und alttestamentliche, antik-jüdische Gesetzestradition, dem ersten der drei unter Darstellung und Analyse der ethischen Vorstellungen im Kontext wesentlicher Theologumena der Apokalypse untersuchten Topoi, wurde folgendes ermittelt: Zwar fehlt das Wort ό νόμος in der Apokalypse, aber daraus darf nicht geschlossen werden, daß „Gesetz" der Sache nach nicht in ihr vorkommt. Andere Wörter oder Ausdrücke, wie z.B. τηρεΐν τάς έντολάς του θεου, legen die Relevanz des Gesetzes für die Apokalypse nahe. - In ihr sind rituelle Anweisungen und Vorstellungen teilweise, moralische Ge- und Verbote des Alten Testaments aber voll umfänglich relevant. Deren Erfüllbarkeit setzt die Apokalypse voraus, und der Inhalt des Dekalogs als wesentlicher Bestandteil der moralgesetzlichen Weisungen des Alten Testaments hat in ihr eine große Bedeutung. Der Verfasser greift Dekaloggebote auf, jedoch ohne sie wörtlich zu zitieren; außerdem stehen sie zum Teil hinter seiner Kritik an abzulehnendem Verhalten. Neben dem von alttestamentlichen moralischen und rituellen Weisungen Vermittelten finden sich in der Apokalypse typisch urchristliche Tugenden, die auch in anderen neutestamentlichen Schriften vorkommen, außerdem von Johannes empfohlene Verhaltensweisen im Zusammenhang der spezifischen historischen Situation von Absender und Empfänger. Schließlich dient dem Verfasser der ethisch einwandfreie Lebenswandel Jesu von Nazareth als Vorbild und Leitlinie für das Verhalten der Christen. Zu Ethik und Christologie, dem zweiten unter der genannten Überschrift untersuchten Topos, wurde herausgearbeitet, daß in der Ethik der Apokalypse die Christologie eine entscheidende Rolle spielt. Jesus Christus erscheint als Geber der Ethik, denn das ganze Buch ist Wort des erhöhten Christus,

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

weshalb auch die darin enthaltenen ethischen Weisungen von ihm stammen. Weiterhin ist er Vorbild der Ethik der Apokalypse, denn der sündlose Lebenswandel Jesu von Nazareth gilt als paradigmatisch für das Verhalten der Glaubenden, und die Imitatio agni stellt einen sehr wichtigen Topos dar. Schließlich ist Jesus Christus der Grund der Ethik der Apokalypse, denn das vergangene, gegenwärtige und zukünftige Handeln Christi ist Grundlage der Existenz der Glaubenden und damit auch ihres Ethos. Auch wird Christus als Richter breit dadurch vorgestellt, daß er das ethische Verhalten der Christen nicht nur belohnt, sondern auch bestraft. - Außerdem ist das rechte sittliche Verhalten der Glaubenden Bedingung für deren Teilhabe am messianischen Zwischenreich; die im Konflikt mit dem Staat standhaft Gebliebenen werden durch die Teilnahme am Millennium belohnt. Zu Ethik und Eschatologie, dem dritten Topos unter der genannten Überschrift, wurde ermittelt, daß die Eschatologie der Apokalypse eine sowohl präsentische als auch futurische ist; wegen der Apokalyptizität der Johannes-Apokalypse kommt die futurische allerdings stärker zum Ausdruck. Die Doppelheit präsentischer und futurischer Eschatologie wird sehr anschaulich in 5,10 zum Ausdruck gebracht. Das Verhältnis von präsentischer Eschatologie und Ethik in der Apokalypse läßt sich folgendermaßen beschreiben: es ist gefordert, den präsentischen Heilsbesitz, gottgefällige Werke und die Toragebote sowie die Inhalte der urchristlichen Tradition und der Apokalypse zu bewahren; dies alles ist den Glaubenden als ein Schatz anvertraut (indikativisches Moment), den es zu hüten gilt (imperativisches Moment). Im Zusammenhang der Ethik der Apokalypse ist transzendent-futurische Eschatologie sehr häufig zu finden. Die Frage nach positiver Motivierung des menschlichen Handelns (mittels der Verheißung jenseitigen Lohns usw.) oder negativer (mittels der Ankündigung jenseitiger Bestrafung usw.) fällt eindeutig aus: die Apokalypse motiviert eindeutig mehr positiv als negativ. - Zu der Frage, was stärker motiviert: die Nähe des Eschatons bzw. das unerwartete Kommen Jesu oder das eschatologische Heil oder Unheil, ist zu sagen, daß letzteres überwiegt. Die Belege zu ersterem waren fast alle bereits im Zusammenhang von präsentischer Eschatologie und Ethik relevant; das Bewahren der dort genannten Dinge wird mit dem Hinweis auf die Nähe des Eschatons bzw. das unerwartete

3. Zusammenfassung

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Kommen Jesu sowohl dringlich gemacht als auch als erfüllbar qualifiziert. Weiterhin spielt immanent-futurische Eschatologie im Zusammenhang der Ethik eine Rolle. Immanent-eschatologische Belohnung und Bestrafung des sittlichen Handelns des Menschen findet sich nämlich äußerst ausgedehnt und mit einem direkten Bezug auf die Leser. So wird die Bestrafung der Unfrommen durch die endzeitlichen Plagen ausdrücklich auch den Empfängern des Buches angedroht. Aber auch die Bewahrung der Frommen - etwa durch ihre Versiegelung - wird ausgedrückt. Hinzu tritt das Motiv der machtvollen Herrschaft der Frommen im Millennium; ihre Beglückung durch den Messias läßt sich vermutungsweise erheben. Sünde, Sündenvergebung und Umkehr war der erste Unterpunkt unter komplexe theologische Aspekte im Sachzusammenhang der Ethik der Apokalypse. Von Sünde spricht die Apokalypse eher indirekt mit άμαρτάνω κτλ analogen Wörtern und unter der Verwendung der Metapher vom Gewand. Allgemein qualifiziert sie Sünde als im Gegensatz zum Willen Gottes stehendes Handeln. Sie nennt jedoch auch konkrete Einzelsünden beim Namen bzw. das Gegenteil von Sünde als agendum (vor allem empfiehlt sie hier mit Vehemenz die Tugenden, die in den Zusammenhang der Verfolgungssituation der Gemeinde gehören). Sündenvergebung im Blick auf die Sünden des Christen nach seiner Bekehrung wird expressis verbis überhaupt nicht ausgesprochen, und im Zusammenhang der Metapher des Gewandes steht der Heilsverlust im Bilde des Verlustes des Gewandes durch sündiges Verhalten im Vordergrund, der durch dessen Neuerwerb ausgeglichen werden kann. Ethisches Fehlverhalten bewirkt nach ihrer Botschaft also nicht nur eine Schädigung des religiösen Zustande des Menschen, die durch Vergebung beseitigt werden kann, sondern den Verlust des Heils. - Dem entspricht der Befund zum Thema Umkehr in der Apokalypse: Sie gebraucht dazu das Verb μετανοεϊν, das sonst im Neuen Testament überwiegend die Bekehrung des Menschen, seine radikale Lebenswende zu Beginn seines Christseins, ausdrückt. In der Apokalypse ist ethisches Fehlverhalten nicht nur Sünde, sondern bedingt Heilsverlust; nur durch μετανοεΐν kann der ursprüngliche Heilszustand der Glaubenden wiederhergestellt werden.

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Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

Unter der genannten Überschrift wurde als nächstes die Bedeutung der „Werke" ermittelt. Inhaltlich meint die Apokalypse mit „Werke" Taten entsprechend alttestamentlichen moralischen und rituellen Weisungen; außerdem gelten die von Jesus vorgelebten Taten als empfehlenswerte Werke, ebenfalls Verhaltensweisen, die allgemeinen urchristlichen Tugenden entsprechen. Schließlich dürfte alles, was dem von Johannes empfohlenen Verhalten entspricht, ein gutes, und alles, was diesem zuwiderläuft, ein schlechtes Werk sein. - Im besonderen meint die Apokalypse mit τά πρώτα £ργα primär die Liebe der Glaubenden zu Gott und Christus; die Liebe der Menschen oder christlichen Brüder und Schwestern untereinander oder die Annahme der Heilstat Christi erscheinen in ihr nicht als hervorragende Werke. Der Apokalypse ist ein Gegensatz von Glaube und Werke fremd, und der Glaube kann als ein Werk verstanden werden. Πίστις bedeutet jedoch mehr Treue als Glaube und ist sehr stark auf die Verfolgungssituation von Absender und Empfänger bezogen. - Das eschatologische Endgericht ist für die Apokalypse eine Selbstverständlichkeit, ebenso, daß darin jeder Mensch für seine guten oder schlechten Werke ganz persönlich verantwortlich ist. Genauso unbefangen, wie sie vom Gericht nach den Werken redet, spricht sie auch vom eschatologischen Lohn des Menschen bzw. seiner eschatologischen Bestrafung. Auch erscheinen die Werke als heilsnotwendig, wobei folgende Präzisierung vorzunehmen ist: Der Grund des Heils ist die Erlösungstat Christi, doch steht und fällt dieses Heil mit dem Tun bzw. Lassen der geforderten Werke. Heilsindikativ und -imperativ, die als letztes unter der genannten Überschrift verhandelt wurden, kamen in den Untersuchungen zur Ethik der Apokalypse ansatzweise schon in vorhergehenden Kapiteln in den Blick. Dabei war deutlich, daß der Indikativ zwar klar zum Ausdruck kommt, den Christen aber gleichzeitig der Heilsverlust droht und somit eine deutliche Betonung heilsimperativischen Denkens erfolgt. - Trotz dieser recht klaren Bestimmungen ließ sich eine letzte Präzisierung des Zusammenhangs von Heilsindikativ und -imperativ in der Apokalypse durch die Analyse von für ihre Theologie entscheidenden Texten gewinnen; dies sind diejenigen zum Lebensbuch sowie die sieben Makarismen. Das Ergebnis dieser Analyse stellte sich folgendermaßen dar: in der Apokalypse wird der Heilsindikativ in aller Deut-

3. Zusammenfassung

161

lichkeit ausgedrückt, durch den Imperativ des sittlichen Handelns der Christen jedoch verdrängt; die Ethik wird somit zum zweiten konstitutiven Teil der Erlösung. Generalskizze der Ethik der Apokalypse Die Ethik der Apokalypse durchziehen zwei Hauptlinien: das Bestehen in der Verfolgungssituation und die Eschatologie. Ersteres ist wegen der häufigen diesbezüglichen Äußerungen des Buches offensichtlich und wurde deshalb auch an den Beginn der Untersuchung der ethischen Motive der Apokalypse gestellt, letzteres kam bei nahezu jedem untersuchten Einzeltopos deutlich in den Blick. Somit stellt sich die Ethik der Apokalypse im wesentlichen als eine von der Verfolgungssituation und der erwarteten Äonenwende mit dem heil- oder unheilvollem Ausgang des individuellen Schicksals geprägte dar. Als Hauptgebot der Apokalypse läßt sich die Forderung der Treue zu Gott bezeichnen, weil das Bestehen oder Nichtbestehen des Glaubenden in der Verfolgungssituation dessen Verhältnis zu Gott und Christus widerspiegelt. Neben diesem Hauptgebot ist für die Ethik der Apokalypse eine deutliche allgemeine Strenge bezeichnend, die sämtliche für die Ethik relevanten Äußerungen durchdringt. Diese kommt vor allem in den drei komplexen theologischen Aspekten Sünde, Sündenvergebung und Umkehr, Werke und Heilsindikativ/-imperativ zum Ausdruck. Hier wurde festgestellt, daß Sünde nicht nur eine Schädigung des religiösen Zustandes des Menschen bewirkt, sondern dessen Heilsverlust bedeutet; auch spricht die Apokalypse völlig unbefangen vom Gericht nach den Werken; schließlich findet sich in ihr eine Verdrängung des Heilsindikativs durch die Forderung des einwandfreien sittlichen Handelns des Menschen. Die vielen ethischen „Nebengebote" neben dem erwähnten Hauptgebot brauchen hier nicht wiederholt dargestellt zu werden. Im ganzen hat sich die Apokalypse als reich an ethischen Motiven gezeigt, und die direkte Anrede der Empfänger kam immer wieder in den Blick. Von diesem Befund her ist es eindeutig, daß die Apokalypse einen entscheidenden Beleg gegen die These von der Unvereinbarkeit von Apokalyptik und Ethik darstellt.

162

Β. Die Ethik der Johannes-Apokalypse

Abschließend sei noch auf das überwiegend motivierende Moment der Ethik der Apokalypse hingewiesen. Der Verfasser entwickelt nämlich keine eigene, neue Ethik, sondern setzt im wesentlichen die bekannte, vom Alten Testament und Urchristentum her festgelegte voraus. Das Einhalten dieser macht er auch durch die beschriebene Strenge dringlich.

C. Die Ethik des 4. Esra 1. Voraussetzungen der Ethik 1. Historische Voraussetzung: Einleitendes zum 4 Esr und seine zeitgeschichtliche Einordnung a) 4 Esr als Pseudepigraph in der antik-jüdischen Esratradition Die pseudepigraphe Schrift ist nach Esra benannt (vgl. 3,1: ego Salathihel qui et Ezras), der bekannten Gestalt des Alten Testaments. Der alttestamentliche Esra ist „mit Sicherheit eine historische Person gewesen - und keine legendarische Figur"1. Die alte Esra-Überlieferung ist weniger an der Person Esras als vielmehr an seinen religiösen Funktionen interessiert: er wird als „Priester" (Esr 7,llf.; Neh 8,2.9) oder „Schreiber" (Esr 7,6.11f.; Neh 8,1.9.13) bezeichnet und durch das „Gesetz des Himmelsgottes" (Esr 7,12-21) näher beschrieben. - So wird Esra, der persische Bevollmächtigte (vgl. Esr 7,12ff.), stark auf das geistige Erbe seines eigenen Volkes bezogen, vor allem auf das Gesetz des Mose bzw. Jahwes (vgl. Esr 7,6.10). Dies gibt ihm die autoritative Grundlage seiner Unterweisung (vgl. Esr 7,10) bzw. seiner Reform (vgl. Esr 10). So wird die Doppelrolle als Gelehrter und Lehrer des überlieferten Gesetzes betont herausgestellt. Schließlich hat sich Esra - wie einst Mose - mit seinem Volk und dessen Schuld solidarisiert und ist in Buße und Gebet für das Heil Israels eingetreten (vgl. Esr 9,1-10,6)2. Dieses Bild Esras als des gesetzestreuen Reformers wird im apokryphischen 3. Esrabuch, spätestens in der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts n. Chr. entstanden 3 , weiter ausgemalt. Hier wird er als unbestrittener Erneuerer des religiösen Lebens auf der Grundlage des Gesetzes nicht nur als ιερεύς 1 2 3

Saeb0, Esra 380 (gegen Fruin, Ezra 121-128). Vgl. ebd. 380f. Vgl. Rost, Einleitung 73.

164

C. Die Ethik des 4. Esra

και άναγνώστης του νόμου (9,42) vorgestellt, sondern sogar als amtierender Hohepriester (άρχιερεύς: 9,40.49). Dieses Esrabild des 3 Esr hat auf die spätere Esratradition nachhaltig eingewirkt 4 . So gibt es zwischen dem 4 Esr und den Schriften der älteren Esra-Überlieferung (Esr, Neh, 3 Esr) markante Berührungspunkte: Nicht nur wird Esra als der von Esr/Neh her bekannte Esra des fünften vorchristlichen Jahrhunderts eingeführt (vgl. 4 Esr 3,Iff.), sondern er erscheint wie in der alten Überlieferung als ein neuer Mose (vgl. Kap. 14), als ein Weiser (vgl. ebd. [v.a. V. 50] sowie visio 1-3) und Vorbeter für Israel (vgl. 3,27ff. u.ö.). Bezieht man die apokalyptische Gestaltung des 4 Esr in diese Überlegungen zur traditionsgeschichtlichen Bestimmung der Esrafigur mit ein, läßt sich 4 Esr „mit einem gewissen Recht als weisheitlich-apokalyptische Neuinterpretation der älteren Esra-Überlieferung bezeichnen" 5 . Seiner theologischen Botschaft verleiht der näher nicht bekannte Verfasser (s.u. C.l.l.f), S. 173f.) durch die Verwendung des Pseudonyms „Esra" eine besondere Qualität. Damit reiht sich der 4 Esr in die pseudepigraphe Literatur des Alten Testaments ein. Darunter werden antik-jüdische Schriften verstanden, die „unter erborgten Namen umliefen"6. Dabei handelt es sich zum Teil um Fromme des Alten Testaments, zum Teil um Namen, die im nichtjüdischen Umfeld einen guten Klang hatten 7 . Wie L. Rost gezeigt hat 8 , bleibt die Abgrenzung der Pseudepigraphie fließend. Die antik-jüdische Literatur außerhalb des Bibelkanons enthält nämlich weitere Schriften, die durch den Namen Pseudepigraphie nicht gedeckt werden. Diese sind zum Teil anonymen Ursprungs, zum Teil keinem Großen der Vergangenheit in den Mund gelegt. Insbesondere durch Neuentdeckungen und Textfunde der gleichen zeitlichen Periode weitet sich der Begriff aus 9 . So verwundert es nicht, daß in der neueren Literatur die Anzahl der pseudepigraphischen und verwandten antik-jüdischen Schriften deutlich zunimmt: Während Kautzsch 1900 zwölf Pseudepigraphen bietet10, kommt 4 5 6 7 8 9

Vgl. Saeb0, Esra 381. Vgl. ebd. 382, dem ich auch im Vorangegangenen gefolgt bin. Baumgartner, Pseudepigraphen 692. Vgl. ebd. Vgl. Rost, Einleitung 22-24. Vgl. ebd. mit dem besonderen Hinweis auf die Qumranfunde.

1. Voraussetzungen der Ethik

165

J.H. Charlesworth 1992 auf 63 Schriften11. Die Abgrenzung dieser Texte (und damit auch des 4 Esr!) gegenüber anderen Gruppen antik-jüdischer Schriften - etwa den Apokryphen oder dem Bibelkanon - bleibt problematisch. Wie andere Pseudepigraphen sucht auch 4 Esr, sich unter dem Pseudonym eines alttestamentlichen Gottesmannes Gehör zu verschaffen. Aus dem geborgten Namen läßt sich via negationis schließen, daß die Funktion und Situation des Verfassers innerhalb der Religionsgemeinschaft anscheinend nicht völlig unbestritten oder anerkannt war; sonst hätte er sein Anliegen unter seinem eigenen Namen vortragen können12. b) Abgrenzung und Gliederung des 4 Esr Die Zählung als „Viertes Buch Esra" verdankt es der Reihenfolge der Esrabücher in der Vulgata. Hier wird mit Esdras I das kanonische Esrabuch, mit Esdras II das Buch Nehemia, mit Esdras III die oben erwähnte apokalyptische Schrift und mit Esdras IV die von den christlichen Büchern V (= Kap. lf.) und VI (= Kap. 15f.) gerahmte apokalyptische Schrift bezeichnet. Deshalb beginnt die - von der Vulgata eingeführte - Kapitelzählung mit Kap. 3 und endet mit Kap. 14. In ihr gibt der Apokalyptiker Esra sieben Visionen wieder, die er im 30. Jahr nach dem Untergang Jerusalems (587 v. Chr.) in Babylon empfangen habe. Die ersten drei Visionen sind dabei formell Dialoge, welche mit knappen Angaben über das visionäre Erleben gerahmt sind. Visionen im eigentlichen Sinne sind visio 4-6, in denen Esra Gesichte mit verschiedenen Inhalten schaut. Das Schlußkapitel visio 7 handelt von der unmittelbaren Beauftragung Esras durch Gott, das Geschaute niederschreiben zu lassen, sowie von seiner Entrückung13. Üblicherweise werden die sieben Visionen folgendermaßen textlich abgegrenzt und überschrieben 14 :

10

11 12 13 14

Vgl. Kautzsch, Apokryphen 2 V und pass. Dieser Hinweis vgl. Rost, ebd. 23. Vgl. Charlesworth, Pseudepigrapha 538. Vgl. Brandenburger, Verborgenheit 14. Bis hierher nach Schreiner, 4 Esr 291f. Vgl. ebd. und Plöger, Esrabücher 698 (mit minimalen Abweichungen in der textlichen Abgrenzung der Visionen).

166 visio 1 visio 2 visio visio visio visio visio

C. Die Ethik des 4. Esra 3,1-5,19 5,20-6,34 6,35-9,25 9,26-10,59 10,60-12,49 12,50-13,56 13,57-14,48

Dialoge zwischen E s r a und dem Offenbarungsengel Zionvision Adlervision Menschensohnvision Schlußkapitel

}

Der Inhalt der Visionen sei im folgenden kurz skizziert 15 : Im Dialogteil kreisen die Dispute zwischen E s r a und dem Offenbarungsengel um Esras Fragen, weshalb Zion - zwar trotz des Gesetzes nicht sündlos, doch auf keinen Fall böser als Babel - entgegen der Erwählung Gottes verworfen worden ist, und warum die um Israels willen erschaffene Welt nicht dem Volk Gottes gehört. In den Offenbarungsreden des Engels wird auf die Unfaßbarkeit der göttlichen Wege und auf den neuen Äon verwiesen, welcher als eine dem Diesseits weit überlegene Zeit dann kommen wird, wenn die Zahl der Gerechten voll ist. Daraufhin erlebt Esra in visio 4 (Zionvision), die ihm durch den Angelus interpres gedeutet wird, die kommende Verherrlichung Zions in der Gestalt einer zunächst trauernden, dann aber zu einer herrlichen Erscheinung Jerusalems verwandelten Frau. Als Gesprächspartner der Frau gibt E s r a dabei - in überraschendem Kontrast zu seiner Position im Dialogteil dem Entschluß Gottes recht, sein Gericht über Israel zu verhängen. Visio 5 handelt von der Erscheinung eines aus dem Meer kommenden Adlers sowie eines aus dem Wald hervorkommenden Löwen. Beides stellt die Macht des vierten Weltreichs, sein Vergehen und sein Ende unter dem Gerichtswort des Messias dar. In der darauffolgenden Menschensohnvision sieht E s r a einen Menschen, den messianischen Erlöser 1 6 , aus dem Meer aufsteigen. Dieser ruft nach der Vernichtung eines feindlichen Heeres die zehn Stämme Israels zu sich und beschützt sie.

15 16

Vgl. Schreiner, ebd. und Plöger, ebd. Da 4 Esr diesen auf verschiedene Art bezeichnet (filius meus [13,32.37.52; 14,9], filius mens Christus [7,28f.l, unctus [12,32], „Gestalt des Menschen" [13,3 S], homo [ebd. und V. 5.12], vir [V. 25.32.51]), verwende ich analog zu „Redeemer" in Stone, 4 Ezra 207-213 u.ö.

1. Voraussetzungen der Ethik

167

In visio 7, dem Schlußkapitel, wird Esra in einer Erscheinung Gottes seine bevorstehende Entrückung angekündigt. Die Gottesstimme beauftragt ihn mit der schriftlichen Aufzeichnung der ihm geoffenbarten Geheimnisse. Nach einer letzten Rede Esras an das Volk wird die Ausführung des göttlichen Auftrages geschildert: Die fünf Schreiber Esras verfassen 94 Bücher, von denen 70 geheimgehalten und 24 veröffentlicht werden sollen. Zum Schluß wird die Entrückung Esras kurz berichtet. c) Der Text 1. Die Übersetzungen In der gegenwärtigen Forschung ist die Auffassung weit verbreitet, daß 4 Esr ursprünglich in Hebräisch abgefaßt17 und später ins Griechische übertragen wurde18. Letzteres ist von der Beobachtung her, daß sich Textverderbnisse, textliche Mißverständnisse oder sprachliche Eigenheiten in den späteren Übersetzungen einwandfrei von einer griechischen Vorlage her erklären lassen, sehr wahrscheinlich19. Von dem hebräischen Original gibt es keinen erhaltenen Textzeugen, von der griechischen Übersetzung lediglich „a tiny scrap of papyrus..., dating from about the fourth century" 20 .

17

18

19

20

„messianischer Erlöser". Zum Ganzen s. Stone, ebd. u. ders., Features 106-133, zur Konjektur christus in 7,28 meine Ausführungen S. 248f. mit Anm. 296. S.u. S. 174f. mit Anm. 71. Eine aramäische Urfassung wird seltener angenommen. Gegen sie sprechen, wie Metzger, Ezra 520 darstellt, die in der Sprache des 4 Esra klar zutage tretenden Hebraismen (wie etwa der Inf abs). Neben dieser Vorstellung eines hebräischen Originals und einer griechischen Übersetzung bleibt es „immer möglich, eine stark hebräisch beeinflußte griechische Urform anzunehmen" (Klijn, Text 10). Denn: „Die Zeit ist vorüber, da ein mangelhafter griechischer Text als Übersetzung angesehen wurde" (ebd.). Vgl. Metzger, Ezra 519f. Metzger weist darauf hin, daß die lateinische Übersetzung des 4 Esr teilweise griechische grammatische Konstruktionen verwendet (z.B. den Gen abs), die dem Lateinischen fremd sind. Vgl. die Beispiele im Index grammaticus: Klijn, Text 100-108. Metzger, ebd., 519. Anders Klijn, Text 11, der auf vier griechische Fragmente hinweist.

168

C. Die Ethik des 4. Esra

Ganz anders verhält es sich mit der lateinischen Version des 4 Esr, die eine große handschriftliche Verbreitung erfahren hat21. Sie stellt eine Übersetzung der griechischen Fassung dar. Weitere Übersetzungen aus dem Griechischen sind zunächst die syrische, die äthiopische und die georgische 22 . Der Ursprung dieser ist zwar von keinem Übersetzer erwähnt worden, „doch ist bei allen ... die unmittelbare Abstammung aus dem Griechischen sichergestellt" 23 . Neben diesen „vier Hauptübersetzungen" 24 gibt es noch weitere: zwei arabische und die armenische, deren Text aber stark von dem in den vier Hauptübersetzungen abweicht2S. Hier hat es keine gemeinsame Textfamilie als Vorlage gegeben, vielmehr handelt es sich „um jeweils selbständige Rezensionen mit einer eigenen Textgeschichte"26. Der lateinische Text des 4 Esr bildet die Grundlage der folgenden Untersuchungen, und zwar aus zwei Gründen: Erstens handelt es sich um einen qualitativ hochwertigen Textzeugen, nämlich einen guten Repräsentanten der erwähnten vier Hauptübersetzungen, die eine gemeinsame griechische Vorlage hatten 27 . Zweitens ist die lateinische Übersetzung durch ihre große textgeschichtliche Verbreitung bis hinein in moderne Vulgata-Ausgaben vielfältig bezeugt und bestens zugänglich. Selbstverständlich werden im folgenden - wo notwendig auch andersprachige Textzeugen berücksichtigt. 2. Näheres zur lateinischen Übersetzung Terminus a quo der Anfertigung der lateinischen Übersetzung ist die oben erwähnte Abfassungszeit des hebräischen Originals 95 n. Chr. Terminus ante quem ist die Zeit Tertullians, der in PraesHaer 3,7 den Text 4 Esr 8,20 zitiert. Tertullian ist übrigens der erste Kirchenvater, der 4 Esr wörtlich anführt 28 . Mithin steht die zeitliche Spanne von ca. 95 bis 205 n. Chr. zur Verfügung, da Tertullian vor 207/08 sich von der Großkir21 22 23 24 25 26 27

Vgl. Klijn, Text pass. Vgl. ders., Esr-Apok XIV. Ders., Text 13. Ders., Esr-Apok XIV. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. ebd. - Schreiner, 4 Esr 296 geht noch weiter: „Am treuesten ... bezeugt sicherlich Lat den ursprünglichen Text".

1. Voraussetzungen der Ethik

169

che abwendet 29 . Allerdings müssen nach 95 n. Chr. einige Jahre abgerechnet werden, in denen die griechische Übersetzung des hebräischen Originals noch nicht ins Lateinische übertragen worden ist. 4 Esr erlebt also einen ähnlichen Traditionsprozeß wie die griechischen Schriften des Neuen Testaments, denn wie 4 Esr wird auch das Neue Testament im 2. Jahrhundert ins Lateinische übersetzt. So ist Tertullian bekanntermaßen auch ein Textzeuge der neutestamentlichen Schriften. Wie diese ist 4 Esr möglicherweise infolge des Gebrauchs im christlichen Gottesdienst ins Lateinische übersetzt worden30. Der Verlust der griechischen Fassung bleibt - trotz begründeter Vermutungen (s.u.) - „mysterious"31. Wiewohl 4 Esr ein durch und durch jüdisches Buch ist, hat das damalige Judentum sich davon - wie auch von anderen apokalyptischen Schriften - getrennt 32 . Vielleicht ist der Untergang der griechischen Übersetzung ein Beweis dafür, daß auch die griechische Kirche sich von der der Mythologie verdächtigen Apokalyptik abwandte33. Solcherart vom Judentum und der griechischen Kirche gemieden, erhielt sich 4 Esr „vornehmlich in den das Buch schützenden Randkirchen des Ostens und Westens"34. Damit ist 4 Esr aber mitnichten zu einem christlichen Buch geworden. Auch stellt die lateinische Übersetzung keinesfalls eine christliche Redaktion des vormals jüdischen Materials dar. Für eine solche Vermutung bietet der Text keinen Anhalt35, sie wird in der Literatur zum 4 Esr auch nirgends geäußert. Im übrigen ist die lateinische Übersetzung nicht „christlicher" als die anderssprachigen Textzeugen. Dies belegt die Liste von A.F.J. Klijn mit denjenigen Stellen im 4 Esr, wo andere 28 29

30

31 32 33 34 35

Vgl. Stone, 4 Ezra 4. Vgl. Heussi, Kompendium 65. Karpp, Tertullian 700, datiert die Hinwendung Tertullians zum Montanismus auf ca. 203 n. Chr. Für die ntl. Schriften vermutet dies etwa Thiele, Bibelübersetzungen 1196. Stone, Esdras 612. Vgl. Plöger, 4. Esrabuch 698. Vgl. ebd. Ebd. Ein christlicher Redaktor hätte mehr als nur zweimal (nämlich 7,28; 9,12 - s.u.) in den Text eingegriffen.

170

C. Die Ethik des 4. Esra

Textzeugen gegenüber den lateinischen bevorzugt werden können36: Mit 7,28 und 9,12 lassen sich lediglich zwei christliche Zusätze oder Beeinflussungen in der lateinischen gegenüber den anderssprachigen Überlieferungen feststellen 37 . Zum Verhältnis des 4 Esr zur Vulgata ist folgendes zu sagen: Erstens kann 4 Esr selbstverständlich nicht alt- oder neutestamentliche Texte aus der Vulgata zitieren, weil diese viel später abgefaßt wurde als jener (nämlich um 400 n. Chr.38). Wenn zweitens in der folgenden exegetischen Untersuchung der Vulgata-Wortlaut von Dekaloggeboten angeführt wird, dann als vergleichender Hinweis darauf, wie die Vulgata ins Lateinische übersetzt und wie 4 Esr das jeweilige Gebot möglicherweise in lateinischer Sprache darstellen würde. d) Abfassungszeit Communis opinio ist die Datierung der Schrift „auf den Ausgang des 1. Jh. n. Chr."39. Vom inneren Befund40 der Schrift her ist dies auf Grund von 3,lf. wahrscheinlich: Esra verfaßt sein Buch Anno tricesimo ruinae civitatis, in welchem vidi desertionem Sion. Man darf im Gesamtzusammenhang des Buches mit Β. M. Metzger davon ausgehen, daß „this Statement is intended to refer cryptically to the fall of Jerusalem in A.D. 70"41 und somit auf das Ende des ersten Jahrhunderts n. Chr. kommen. Noch etwas genauer kann die späte Regierungszeit Domitians als Abfassungszeit angenommen werden. Denn die drei Häupter, von denen in der Adlervision (10,60-12,50) die Rede ist, lassen sich wegen der dort gemachten historischen Anspielungen kaum anders als auf Vespasian, Titus und Domitian deuten: Eines der Häupter super lectum suum morietur (12,26), was 36 37

38 39 40

41

Esr-Apok XVfflf. Damit befindet sich der lateinische Text in einem deutlichen Kontrast etwa zum syrischen, der viel eher zu Paraphrasen und Zusätzen neigt (vgl. Schreiner, 4 Esr 297). Vgl. Parker, Vulgate 860. Saeba, Esra 381. Da „lelxternal criteria for dating the book ... sparse" (Stone, Features 1) sind, ist man auf den inneren Befund des 4 Esr angewiesen (vgl. ebd. 2). Ezra, 520 mit dem Hinweis auf 6,19 und 10,48, die ebenfalls den Untergang Jerusalems reflektieren.

1. Voraussetzungen der Ethik

171

unmißverständlich auf Vespasian weist, der nach SuetVesp 24 tatsächlich in seinem Bett starb 42 . Das danach beschriebene Ende des nächsten Herrschers durch das „Schwert seines Gefährten" (12,28a) spielt auf Titus an, der in der historischen Realität zwar nicht von Domitian ermordet wurde, was man aber in der damaligen Zeit gerüchteweise annahm 43 . „Für die Zukunft erwartet der Verfasser Domitians Tod"44, was V. 28b zum Ausdruck kommt: sed tarnen et hie gladio in novissimis cadet. - Somit dürfte 4 Esr ca. 95 n. Chr. verfaßt worden sein. e) Die historische Situation Domitian war ein „determined opponent of the Jews"45. Dies zeigte sich an seinem Verhalten gegenüber den Juden im allgemeinen und den Konvertiten zum Judentum im besonderen. Zum ersten: Sueton berichtet, daß unter Domitian der Fiscus Judaicus mit allerhöchstem Rigorismus verwaltet wurde und Leute, die ihre jüdische Nationalität verheimlichten und damit die Steuer zu umgehen suchten, verfolgt wurden. Sueton selbst war als junger Mann Zeuge, wie ein 90jähriger Greis gezwungen wurde, vor den Augen vieler zu zeigen, ob er beschnitten war 46 . Mit Ε. M. Smallwood wird man der Auffassung zuneigen dürfen, daß von solchen Methoden am ehesten folgende drei Gruppen betroffen waren: solche praktizierenden Juden, die aus Protest gegen eine Steuer, die heidnische Kulte unterstützte, dieser auszuweichen suchten, oder Menschen, die einmal Juden waren, sich von dieser Religion aber wieder entfernt hatten, oder Judenchristen 47 . Hingegen erlebten Juden, die ihren Glauben offen praktizierten, solche Maßnahmen nicht. Als „brutally humiliating methods" 48 waren sie dennoch eine Beleidigung der Allgemeinheit der Juden und der ihrer Religion und Kultur Nahestehenden.

42 43 44

45 46 47 48

Vgl. Gunkel, Esra XXVI. Vgl. Gunkel, ebd; Stone, 4 Ezra 368 mit Anm. 47. Gunkel, ebd; vgl. Stone, Esdras 612: die Adlervision „does not know of Domitian's death". Schürer, History 1 528. Vgl. Smallwood, Jews 376 und SuetDom 12,2. Vgl. ebd. Ebd. 377.

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C. Die Ethik des 4. Esra

In diesem Zusammenhang muß ferner bedacht werden, daß die Ausweitung der Veranlagung zum Fiscus Judaicus auch auf Menschen, die sich zum Judentum hingezogen fühlten, ohne schon Juden zu sein, die Tür zum Mißbrauch öffnete 49 . Daß es während der Regierungszeit Domitians zu Mißbräuchen kam, steht fest: Unter Nerva wurden Münzen mit der Aufschrift „fisci Judaici calumnia sublata" geprägt, welche die Aufhebung nicht des Fiscus Judaicus selbst, sondern der calumnia, „false charges" 50 , dokumentieren. Domitians Ausweitung der Steuerpflicht machte es offensichtlich möglich, daß man seinen Feind bei den Behörden als Anhänger des Judentums denunzieren konnte sl . Neben der Münzaufschrift weist auch die Äußerung Dios, daß unter Nerva niemand einen Mitbürger der ασέβεια oder eines 'Ιουδαϊκός βίος beschuldigen durfte, auf eine entsprechende frühere Unrechtspraxis hin52. Waren von dieser juristischen Willkür praktizierende und bekennende Juden zwar nicht betroffen, so mußte sie dennoch - ähnlich den oben genannten Sachverhalten - als Affront gegen alle Juden und ihrer Kultur und Religion verbundenen Menschen empfunden werden. Zum zweiten: Für diejenigen, die sich zum Judentum hingezogen fühlten, aber noch keine Mitglieder der jüdischen Kultgemeinde waren, wurde die Situation unter Domitian prekär. Denn anders als unter seinen Vorgängern Vespasian und Titus dehnte Domitian den Fiscus Judaicus auch auf diese Gruppe ausS3. Aber mehr noch als dies: unter Domitian kam es zu verleumderischen Anzeigen, in denen Menschen beschuldigt wurden, ein jüdisches Leben zu führen; die Strafe dafür konnte „far graver than tax-payment" 54 sein, wie das Beispiel von Flavius Clemens und Flavia Domitilla zeigt: Dio berichtet, wie Domitian gegen Ende seiner Regierungszeit, nämlich im Jahre 95, seinen Cousin Flavius Clemens exekutierte und seine Nichte Flavia Domitilla exilierte55. Sie wurden des Atheismus bezichtigt, weswegen auch viele andere, die sich dem Judentum

49 50 51 52 53 54 55

Vgl. ebd. 377. Ebd. 378; zur Münzaufschrift s. Mattingly, Coins 3,15.17.19. Vgl. Smallwood ebd. Vgl. ebd. und DioHist 68,lf. Vgl. ebd. 377. Ebd. 378. Vgl. ebd. und DioHist 67,14.

1. Voraussetzungen der Ethik

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zuwandten, bestraft wurden. Manche erlitten dafür die Todesstrafe, andere die Konfiskation ihres Besitzes; Domitilla wurde lediglich nach Pandateria verbannt". „Clearly here the adoption of Jewish ways' ... constituted .atheism'. ... [Dt appears ... that in the last years of Domitian the .atheism' involved in conversion to Judaism became a criminal offence" 57 . Dieses konnte unter Umständen zu schwerster Bestrafung führen. Nach alledem ist die Situation der bekennenden Juden in der letzten Zeit der Regierung Domitians als belastet, aber nicht als existenziell bedrohlich anzusehen. Daß jedoch auf Grund der genannten Dinge die Zukunftserwartung der Juden äußerst düster gewesen sein muß, wird an anderer Stelle gezeigt werden 58 . f) Verfasser Daß es sich bei dem unter dem Pseudonym „Esra"59 Schreibenden um einen jüdischen Autor handelt60, ist selbstverständlich. Doch welcher Gruppe im damaligen Judentum er zuzurechnen ist, läßt sich äußerst schwer sagen, denn: „No source external to 4 Ezra provides any information about its authors, and little can be learned within the book itself" 61 . Eine gewisse Nähe zu rabbinischer Theologie wird verschiedentlich angenommen62, doch sicher ist nur, „daß er zu jenen .Frommen' gehörte, die mit apokalyptischen Vorstellungen die Probleme ihrer Zeit zu bewältigen suchten und ihrer Hoffnung auf die kommende Gottesherrschaft Ausdruck verliehen"63. Vielleicht darf man in ihm den „Exponent des Kreises der apokalyptischen Weisen"64 sehen. 56

57 58 59 60 61 62 63 64

Vgl. Smallwood, ebd. und Dio, ebd. - Smallwood, ebd. 381f. widerlegt mit guten Gründen, daß Clemens und Domitilla Konvertiten zum Christentum gewesen wären. Ebd. 378f. S.u. C.2.1.d)2. Vgl. u.a. Schreiner, 4 Esr 291. Vgl. u.a. Lang, Esraschriften 600. Stone, 4 Ezra 40. So z.B. ebd. 38. Schreiner 4 Esr 302. Brandenburger, Verborgenheit 159.

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C. Die Ethik des 4. Esra

In der Forschung ist die Frage umstritten, ob bzw. wieweit dem im 4 Esr Beschriebenen persönliche Erlebnisse des Verfassers zugrunde liegen. M. E. Stone ist der Auffassung, daß „the religious experiences described in 4 Ezra were real religious experiences, and it is our view that they were the actual experiences of the author"". Zu Recht weist allerdings Ε. Brandenburger darauf hin, daß der unentschiedene innere Kampf des Verfassers im 4 Esr keineswegs noch gegenwärtig ist66; denn eine Wende wie die in der Zionepisode 9,38-10,24 ausgedrückte „stellt man dar, wenn die Krise durchmessen und überwunden ist. Und eine Offenbarungsschrift ohne klare, eindeutig lösende Botschaft wäre überdies ein Widerspruch in sich selbst'". In diesem Zusammenhang kann man lediglich fragen, ob der Autor des 4 Esr seine eigene Wende von einem törichtnichtigen Denken und Reden zu einem weisen Verhalten rückblickend darstellen wollte; dies läßt sich aber nicht sicher entscheiden68. g) Abfassungsort Außerhalb des Buches existiert kein Hinweis auf den Ort seiner Abfassung. Im 4 Esr selbst gibt es nur zwei Stellen, die zur Klärung der Frage herangezogen werden könnten: 3,1.29 (vgl. 12,40.50). Die erste verweist auf Esras Anwesenheit in Babylon und die zweite auf seine dortige Ankunft. Von diesen Stellen aus haben einige Gelehrte angenommen, man könne auf Rom als Abfassungsort schließen, denn Babylon entspricht im 4 Esr Rom, wie auch Esra dem Verfasser entspricht. Die Frage darf selbstverständlich gestellt werden, ob diese pseudepigraphe Schrift einen geheimnisvollen Schlüssel enthält, der Stück um Stück die aktuelle Situation des Verfassers erklären und auf Rom als Abfassungsort weisen würde69. Aber es ist doch sehr fraglich, ob diese Annahme zutrifft. Auf sichererem Grund bewegt man sich, wenn man die nachweisbare Nähe zum syrBar und die wahrscheinlich hebräische 65 66 67 68 69

4 Ezra 33; s. auch ebd. 32. Vgl. ders., Verborgenheit 156. Ebd. (Hervorhebungen von mir.) Vgl. ebd. Bis hierhin nach Stone, 4 Ezra 10.

1. Voraussetzungen der Ethik

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Urfassung des 4 Esr angemessen berücksichtigt 70 . Beides, gerade auch das sprachliche Argument71, weist doch eher auf Palästina als Abfassungsort 72 . h) Empfänger „Yet we do not know how the book functioned and to whom it was directed" 73 . Jedoch läßt sich unter Beachtung der Leitfunktion der Eingangsklagen des 4 Esr und seines literarischen Konzeptes als Adressat das „Volk", „Israel" ausmachen74. Der 4 Esr weist „historisch auf das Gegenüber zwischen dem Verfasser als Exponent des Kreises der apokalyptischen Weisen und dem gegenwärtigen Israel hin"7S, und die Problemlage des Buches läßt sich als Krise der Judenschaft im Umfeld des Verfassers begreifen 76 . Worin diese Krise bestand und welche Problemlösung der Verfasser dem Volk anbietet, sei im folgenden dargestellt. 2. Theologische Voraussetzung: Die Grundproblematik des 4 Esr Das literarische und theologische Rätsel des 4 Esr77 entschlüsselt sich von visio 4 her: Bis in den Beginn dieser Vision hinein steigert sich die Disputationshaltung Esras als Widerpart der Offenbarungsreden des Engels; die literarische Zuspitzung des Dialogteils ist in der Eingangsklage von visio 4 also prä-

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Auf beides weist ders., ebd. hin, beschreibt aber Rom und Palästina als gleichermaßen mögliche Abfassungsorte. (Mischna-) Hebräisch war in Judäa bis gegen Ende des zweiten christlichen Jahrhunderts eine gesprochene Sprache, vgl. Werner, Hebr 511. Vgl. Metzger, Ezra 520: „the obviously Semitic coloration of the work rather suggests Palestine as the place of writing and publication of the Hebrew original." Stone, 4 Ezra 40. Vgl. Brandenburger, Verborgenheit 157 mit einer ausführlichen Begründung 157f. Ebd. 159. Vgl. ebd. Das Folgende gem. Brandenburger, Verborgenheit pass.

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C. Die Ethik des 4. Esra

sent. - Vom anderen Ende her schiebt sich in visio 4 die Rolle Esras als Repräsentant der apokalyptischen Weisheit herein. Zugleich wird dieses spannungsvolle, von zwei Seiten her aufeinander treffende Gegenüber im Mittelteil der Zionvision durch das Mysterium der Verwandlung Esras zur Lösung gebracht. Der Abbruch des Gesprächs zwischen Esra und dem Offenbarungsengel (mit dem Ende des Dialogteils) ist nötig, um offenkundig zu machen, daß sich heilvolles Ergehen für den Offenbarungsempfänger nur durch einen Bruch mit seinem bisherigen Verhalten hindurch vollziehen kann. Erst der so durch wunderbaren Zugriff des Offenbarungsgeschehens zum Einstimmen in die weltordnende Weisheit veranlaßte Esra ist fähig geworden, weitere eschatologische Geheimnisse zu schauen. Damit ist nicht nur die Zionvision, sondern auch das Visionsgeschehen in visio 5 und 6 sowie die Erscheinung Gottes selbst in visio 7 in der Einheit von literarischer und theologischer Konzeption vorbereitet. An visio 7 „lassen sich das Ziel dieser Apokalypse und der eigene Standpunkt des Verfassers ablesen"78. Zur Problemlage des 4 Esr und dem Lösungsversuch des Verfassers ist folgendes zu sagen: Der 4 Esr weist historisch auf das Gegenüber zwischen dem Verfasser als Exponent des Kreises der apokalyptischen Weisen und dem gegenwärtigen Israel hin. Die Problemlage des 4 Esr ist als die Krise der Judenschaft im Umkreis des Verfassers zu begreifen. Der Verfasser begegnet mit seinem Werk einer tiefgreifenden Krisensituation in seinem engeren Lebenskreis, der jüdischen Gemeinde. Er hat das Werk wahrscheinlich als Vertreter des Kreises der Weisen geschrieben. Diese Verwurzelung des Autors und der durchgehend greifbare Offenbarungsanspruch des Werkes zeigen deutlich: der 4 Esr ist in erster Linie nicht der Darstellung des Zweifels, der Krise selbst oder gar der Darlegung eines unlösbaren Problems gewidmet. Vielmehr läßt der Verfasser Ursachen und Äußerungen der Krise darum so breit zu Wort kommen, weil er die lösende Antwort darauf zu geben und die Wende herbeizuführen beabsichtigt.

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Münchow, Ethik 85. - Das Folgende wieder gem. Brandenburger, ebd.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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2. Darstellung und Analyse der Ethik 1. Untersuchung der ethischen Motive a) Gesetzesgehorsam Da dieses Thema den 4 Esr durchzieht und immer wieder eindringlich zur Sprache gebracht wird, ist es im Rahmen der Untersuchung der ethischen Motive des 4 Esr an erster Stelle zu verhandeln. Von lex (Gesetz) spricht 4 Esr an folgenden Stellen: 3,19f.22; 4,23; 5,27; 7,17.20.24.72.79.81.89.94.133; 8,12.29.56; 9,11.19.31f.36f.; 13,38.54; 14,21f.30. Neben lex gebraucht er im Zusammenhang von Gesetz in alttestamentlichem und antikjüdischem Sinn folgende Wörter, bei denen der Ton aber stärker als bei lex auf den einzelnen Bestimmungen des Gesetzes liegt: constitutio u.ä. (7,45: beati qui ... observantes quae a te constitutae sunt), via (vgl. 7,88: vias [Dei] servare; vgl. 7,79: spernere et non servare viam Altissimi), legitima (vgl. 9,32: legitima non custodire; vgl. 13,42: legitima observare/servare), diligentia (3,19: ut dares [,DeusJ ... generation Israel düigentiam; vgl. 7,37: düigentias [Dei] spernere)·, mandatum (vgl. 3,33: non memorare mandata [Dei]\ vgl. 7,72: mandata non servare)·, dispositio (4,23: dispositiones scriptae nusquam sunt). Der dargestellten breiten Bezeichnung des Willens Gottes durch lex, constitutio, via. usw. entsprechen vielfältige Begriffe, welche die Stellung des Menschen zum Willen Gottes ausdrükken. Das in diesem Sinne positive Verhalten wird mit den Verben audire, intendere, facere, observare, custodire, adprehendere, servire und dem Substantiv pudicitia ausgedrückt (vgl. 5,34; 6,32; 7,21.89.98; 8,27; 9,30). Das dem Gesetz und Willen Gottes gegenüber negative Verhalten beschreibt 4 Esr mit peccare, spernere, neglegere, contradicere, dem Substantiv corruptela und den Adjektiven corruptus und falsus (vgl. 6,28; 7,22; 7,37.99; 8,28; 9,19.36). Analog zum somit dargestellten Beschreiben des dem Willen und Gesetz Gottes konformen bzw. zuwiderlaufenden Verbaltens findet sich im 4 Esr zuhauf die entsprechende Charakterisierung der Menschen. Während zum Beschreiben des Verhaltens eine recht breite Palette von Ausdrücken verwendet wird, erfolgt die Charakterisierung der so handelnden Men-

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C. Die Ethik des 4. Esra

sehen mit nur wenig unterschiedlichen Wörtern. Hierbei verwendet 4 Esr fast ausschließlich iustus und impius, die zumeist einander kontrastiv gegenübergestellt werden (vgl. 7,17.51; 9,13; 14,35). Eine nähere Präzisierung von Gesetz erfolgt im 4 Esr nicht; der Verfasser setzt offenbar voraus, daß die Empfänger seiner Schrift wissen, was es bedeutet. - An verschiedenen Stellen des 4 Esr wird allerdings deutlich, daß mit Gesetz primär die Tora mit ihren Einzelbestimmungen gemeint ist; dies ist an Parallelisierungen wie lex/düigentia (vgl. 3,19), lex/mandatum (vgl. 7,72) usw. und an Ausdrücken wie legem non custodire/ transgredi (vgl. 14,30) oder legem contemnere (vgl. 8,56) ersichtlich. Daneben meint Gesetz 14,21, wo als Inhalt von lex angegeben wird: quae a te [JJeusJ facta sunt vel quae incipient opera, the whole of sacred scripture 79 und wird 13,38 als Mittel zur Vernichtung der den messianischen Erlöser anstürmenden Menschenmenge dargestellt. Da 4 Esr immer vom Gesetz als einem Ganzen spricht und neben moralischen auch kultische Motive enthält, sind für den Verfasser alle alttestamentlichen, antik-jüdischen Gesetzesinhalte bindend und die Grundlage der Ethik des 4 Esr. Das Gesetz (lex) gibt es nach dem 4 Esr zwar erst seit der Gesetzesoffenbarung am Sinai (vgl. 9,31f.; 14,30), aber schon Adam übertrat die constitutiones Gottes (7,11). Diese seine Sünde gereichte nicht nur zu seinem eigenen Fall (casus), sondern zu dem aller seiner Nachkommen (7,118)80. Wie bereits der erste Mensch das cor maligmtm in sich trug, so auch alle späteren (3,20f.). Das cor malignum war nicht nur die Ursache für den Fehltritt Adams, sondern auch bei den späteren Menschen dafür, daß das Gesetz in ihnen keine Frucht brachte (ebd.). Und zu diesem Fruchtbringen war in der Vergangenheit und ist in der Gegenwart des 4 Esr das Gesetz in der Lage: ecce enim ego semino in vobis legem meam, et faciet in vobis fhictum (9,31), sprach Gott bei der Gesetzesoffenbarung in der Wüste; so empfing Israel das lex vitae (14,30), durch das der Fromme

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Stone, 4 Ezra 427. Wichtig ist hierbei der Hinweis Harnischs, daß in diesem Zusammenhang 4 Esr den Anschein vermeidet, als seien alle Menschen Objekte eines unabwendbaren Sündenverhängnisses (vgl. ders., Verhängnis 145). Zu diesem Thema s. u. C.2.3.a), Sünde, Sündenvergebung und Umkehr, S. 260-268.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

179

in Ewigkeit Ruhm erwerben kann (vgl. 9,31). Wie an diesen Stellen erkennbar ist, geht der Verfasser des 4 Esr grundsätzlich davon aus, daß das Gesetz keine unzumutbaren Forderungen enthält; prinzipiell wird die Bedingung, von deren Einhaltung die Teilhabe am kommenden Äon abhängt, als erfüllbar vorausgesetzt" (vgl. 14,22). - Auch zur Zeit Esras und in der Zukunft hat das Gesetz seine lebenspendende Kraft nicht verloren: Nachdem es verbrannte, bittet Esra Gott, es erneut niederschreiben zu dürfen (14,21f.), ut possint homines invenire semitam, et qui voluerint vivere in novissimis vivant (V. 22). Von großer Bedeutung für die Ethik des 4 Esr ist der Zusammenhang von Gesetz und eschatologischem Leben. An der Stellung zum Gesetz nämlich, die der Mensch im alten Äon einnimmt, entscheidet sich sein Ergehen im kommenden, neuen Äon (vgl. u.a. 7,79-99). Das Gesetz ist für den 4 Esr die unparteiische Norm des Gerichts82, nach der das sittliche Verhalten des einzelnen bewertet und die Entscheidung über sein eschatologisches Ergehen getroffen wird" (vgl. 14,27-35). Nach dem 4 Esr gilt das Gesetz nicht nur Israel, sondern allen Menschen. Es ist das Mittel, mit dem Gott seine Geschöpfe erzieht (8,12), es ist ab omnibus probata lex (5,27), also entweder das Gesetz, das von allen erprobt ist, oder das von allen als gut anerkannte Gesetz. - Daß das Gesetz wirklich allen Menschen (und nicht nur Israel) gilt, wird an 8,55-57 im Zusammenhang mit 5,29 deutlich: Die rmdtitudo eorum qui pereunt (8,55) accipientes libertatem spreverunt Altissimum et legem eius contempserunt (V. 56) et iustos eius conculcaverunt (V. 57); letzteres ist nach 5,29 (im Kontext der vorangegangenen Verse) die Tat der Fremdvölker, die also auch 8,55-57 gemeint sind und denen nach V. 56 auch das Gesetz Gottes gilt. Obwohl das gute, lebenspendende Gesetz Gottes sowohl für Israel als auch für die Heidenvölker Geltung hat, wurde und wird es immer wieder von Israeliten und Nichtisraeliten mißachtet: In der Vergangenheit wurde es von Angehörigen aller möglichen Völker übertreten: gemartert werden diejenigen, welche die Wege Gottes proiecerunt in contemptu (9,9); diejenigen, welche fastidierunt legem, müssen nach dem Tod in

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Vgl. Harnisch, Verhängnis 152f. Ebd. 325. Vgl. ebd.

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C. Die Ethik des 4. Esra

der Marter zur Erkenntnis kommen (9,llf.)- Nichtisraeliten haben dem göttlichen Gesetz zuwider gehandelt (8,56f.), aber auch Israeliten: Patres nostri accipientes legem non servaverunt (9,32; vgl. 14,29f.), quem etvos post eos transgressi estis (14,30). Doch auch in der Gegenwart des 4 Esr sind die Verhältnisse nicht besser, denn in allen Völkern gibt es Menschen, qid nunc abusi sunt vias meas (9,9), und im Volk Israel ist die Ablehnung des Gesetzes der Väter weit verbreitet (14,29-35). Für die Zukunft ist nach dem 4 Esr eine deutliche Abnahme des Gesetzesgehorsams zu erwarten, wiewohl im lexikalischen Umfeld von lex keine Ausdrücke zu finden sind, die sich speziell auf die künftige Gesetzesobservanz beziehen. Während 4 Esr nämlich früheren und gegenwärtigen Mangel an Gehorsam dem Gesetz gegenüber eher allgemein mit Begriffen wie lex, via, mandatum etc. ausdrückt (s.o.), verwendet er im Kontext künftiger ethischer Zusammenhänge eher direkte Beschreibungen: multiplicabitur iniustitia (5,2), amici ... ipsos expugnabunt (V. 9), multiplicabitur ... incontinentia (V. 10). Vielleicht will der Verfasser mit dieser konkreteren Art der Beschreibung die Massivität der Ablehnung des Gesetzes in der Endzeit zum Ausdruck bringen. Auf der anderen Seite gab und gibt es auch Gerechte, für die Esra ein Beispiel ist: Er wird mirabüis coram Altissimo sein (8,48), weil er sich gedemütigt und sich nicht unter die Gerechten gezählt hat (V. 49); er hat das Seinige verlassen und sich göttlichen Dingen zugewandt, d.h. Gottes Gesetz erforscht (13,5484). Damit erscheint Esra als ein Vorbild und Beispiel für das Tun des Gerechten 85 . Nach der Auffassung des 4 Esr entsprechen sich sittlich positives Verhalten bzw. Gesetzesgehorsam und Weisheit, denn den erwähnten ethisch unzulänglichen Taten der Zukunft stellt er weisheitliche Begriffe gegenüber: auf amici ... ipsos expugnabunt folgt in 5,9 et abscondetur tunc sensus, et intellectus separabitur in promptuarium suum, und auf ähnliche Weise steht der in V. 2 angekündigten Zunahme von iniustitia die Abnahme von

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Dereliquisti enim tua et circa mea vacasti et legem meam exquisisti\ das zweite et ist wohl explikativ im Sinne von „und zwar" zu verstehen. Diese Vorbild- und Beispielfunktion Esras hat Münchow richtig erkannt: „mit der Gestalt Esras [wird dasl Bild des Gerechten ... gezeichnet" (Ethik 92).

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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Veritas und fides gegenüber (V. 1). Die gleiche Zuordnung von ethisch einwandfreiem Handeln und Weisheit findet sich explizit in 13,54-56 im Zusammenhang des Gesetzesgehorsams Esras: Gott lobt den Seher, weil er sein Gesetz erforschte, was mit Weisheit und Einsicht identifiziert wird (legem meam exquisisti. Vitam enim [!] tuam disposuisti in sapientiam, et sensum tuum vocasti matrem, V. 54f.); solch weises Verhalten wird denn auch genau wie fromme, dem Gesetz entsprechende Taten von Gott mit Lohn bedacht (et propter hoc [!] ostendi tibi haec, merces apud Altissimum, V. 56). Mit 13,54-56 wird außerdem Esra als der Prototyp des Weisen dargestellt. Er ist also nicht nur Vorbild und Beispiel für das Tun des Gerechten, sondern auch der Weise schlechthin. Dies wird außer an 13,54-56 noch an verschiedenen Stellen des 4 Esr deutlich: Esra sagt von sich: Dum enim vivo loquar et dum sapio respondeam (8,25), wo also vivere und sapere miteinander parallelisiert und identifiziert werden. Sein Herz eructabatur intellectum und in seiner Brust increscebat sapientia (14,40); in den von ihm verfaßten Büchern est vena intellectus et sapientiae fons et scientiae flumen (V. 47). So wird er denn auch Schreiber der Erkenntnis des Höchsten (Schluß S) bzw. Schreiber der Weisheit des Höchsten (Schluß Ä) genannt bis in Ewigkeit der Ewigkeit(en) (Schluß S und Ä)86. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß 4 Esr von lex und äquivalenten Begriffen sehr häufig spricht, sich aber keine nähere Präzisierung von Gesetz findet; der Verfasser setzt offensichtlich die Kenntnis der Bedeutung voraus. Es ließ sich jedoch auch zeigen, daß er mit Gesetz primär die Tora mit ihren Einzelbestimmungen meint. - Alle alttestamentlichen bzw. antik-jüdischen Gesetzesinhalte, die als erfüllbar vorausgesetzt werden, sind gemäß dem 4 Esr bindend und Grundlage seiner Ethik. Dieses lebenspendende Gesetz Gottes gilt sämtlichen Menschen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Grundlage ihres Ethos, wurde und wird jedoch von ihnen immer wieder übertreten. Da das Gesetz die unparteiische Norm des Endgerichts ist, entscheidet sich das eschatologi86

Saeba, Esra 382, macht zu Recht deutlich, daß auch die ersten drei Visionen (3,1-9,25) Esra als einen Weisen schildern: Der weise Apokalyptiker kämpft wie Hiob in einem „irdisch-himmlischen Lehrdialog" (Koch, Vision 56-59) mit der Theodizeefrage in „angestrengtester theologischer Bemühung" (v.Rad, Weisheit 352).

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C. Die Ethik des 4. Esra

sehe Ergehen des Menschen an seiner Stellung zum Gesetz. An Israel, den Empfänger des 4 Esr, ergeht deshalb die dringende Mahnung, angesichts des kurz bevorstehenden Endgerichts Gesetzesgehorsam zu üben. Dieser wird als weises Verhalten charakterisiert, und Esra selbst erscheint als Vorbild und Beispiel des weisen Gerechten. Mit der expliziten Mahnung zur Gesetzestreue durch entsprechende Imperative wie mit der impliziten durch die Vorstellung Esras als Prototyp des weisen Gerechten wird Israel zu ethisch einwandfreiem Handeln angehalten. Dabei wird nicht auf Einzelgebote der Tora verwiesen, sondern allgemein auf lex, via, mandatum usw. Der Verfasser geht offensichtlich davon aus, daß die Inhalte des Gesetzes bekannt sind und deshalb von ihm nicht erneut zur Sprache gebracht werden müssen. 4 Esr empfiehlt mit der Forderung des Gesetzesgehorsams als Hauptgebot die Treue zu Gott. Denn Gott ist der Geber des Gesetzes, und der Mensch bestimmt mit seinem Verhalten gegenüber dem Gesetz seine Stellung gegenüber Gott als dem, der zum Einhalten des Gesetzes auffordert. - Außer diesem Hauptgebot finden sich im 4 Esr eine ganze Reihe weiterer ethischer Motive, die im folgenden untersucht werden. b) Ethische Motive aus dem Bereich des Dekalogs 1. Zum ersten Gebot Im 4 Esr wird das erste Gebot nicht wörtlich angeführt (vgl. die Vulgatafassung Ex 20,2f.: ego sum Dominus Deus tuus ... non habebis deos alienos coram me). Im Grunde ließ sich der unter C.2.1.a) dargestellte Gesetzesgehorsam unter dem ersten Dekaloggebot verhandeln, denn mit der Gesetzesobservanz fordert 4 Esr nichts anderes als die Treue zu Gott. Somit steht das erste Gebot hinter der Forderung nach Gesetzesgehorsam. Im Folgenden wird darüber hinaus nach konkreten Aussagen des 4 Esr zum ersten Gebot gefragt. Es fällt auf, daß diese nur selten vorkommen. So werden die Menschen weder zur Achtung der maiestas noch zu der der dignitas Dei explizit aufgerufen. Honor etc. wird lediglich an einer Stelle mit Gott in Verbindung gebracht und als ethisch relevant thematisiert: 9,45. Hier berichtet die Frau der Zionvision von der lange erbetenen Geburt ihres Sohnes, über die

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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sie sich mit ihrem Mann und ihren Nachbarn freute und sie alle Gott die Ehre gaben (honorificare). - Von der gloria Dei und seinem glorificari hingegen ist häufiger die Rede: so heißt es in 7,60, daß die wenigen, die im jenseitigen Gericht gerettet werden, schon jetzt, also zur Zeit ihres Erdenlebens, Gottes Ruhm (gloria) befestigen. Auch wird Esra, der ja ein Beispiel und Vorbild für die rechte Gesetzeserfüllung ist, in 13,57 als rruiltwn glorificans et laudans Altissimum vorgestellt87. Während Götzendienst (lat.: cidtus deorum falsorum, idololatria)iS und Aberglaube (lat.: superstitio, vana/falsa religio) im 4 Esr nirgends thematisiert werden, ist gelegentlich von der Leugnung Gottes die Rede. So haben die Verlorenen in ihrem Herzen gesprochen, non esse Deum (8,58), und den auferweckten Völkern wird im Endgericht Gott selbst sagen: videte et intellegite quem negastis (7,37). 2. Zum zweiten Gebot Das zweite Dekaloggebot (vgl. Ex 20,4-6 [Vg.]: non fades tibi sculptile neque omnem simüitudinem ...) kommt im 4 Esr nirgends explizit oder implizit zur Sprache. 3. Zum dritten Gebot Zwar wird das dritte Gebot in seinem eigentlichen Wortlaut im 4 Esr nicht erwähnt (vgl. Ex 20,7 [Vg.]: non adsumes nomen Domini Dei tui in vornan ...), wohl aber in einem weiteren Sinn thematisiert. So bringt 8,60 den Mißbrauch des Gottesnamens zur Sprache. Dort heißt es von den Menschen, die im Eschaton verloren gehen werden (vgl. 8,55: qui pereunt), daß sie den Namen ihres Schöpfers befleckten (coinquinaverimt nomen eius qui fecit eos). Hier ist der enge Zusammenhang zwischen erstem und drittem Gebot in der Ethik des 4 Esr sehr gut ersichtlich, denn von derselben Personengruppe heißt es in V. 58, sie hätten gesagt, non esse Deum (s.o.). Auf ähnliche Weise stellt sich der Zusammenhang der beiden ersten Dekaloggebote auch in 7,60 dar, wo vom positiven Pendant zum Mißbrauch des Gottesnamens die Rede ist: Durch diejenigen, die im eschatologischen Gericht gerettet werden, wird schon jetzt - also zu ih87 88

Zur Anbetung Gottes s.u. unter „Beten, bitten". Vgl. MG (lat.) 2, 275.

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C. Die Ethik des 4. Esra

ren Lebzeiten - der Name Gottes genannt (nomen ... nominatum est); damit ist die Ehrung des Gottesnamens gemeint. Der Zusammenhang von erstem und drittem Gebot ist auch hier evident, denn das im Rahmen des ersten Gebots untersuchte per quos nunc nomen meum nominatum est des gleichen Verses (s.o.) ist parallel zu dem qui gloriam meam nunc dominattonem fecerunt gestaltet. Der Mißbrauch des Gottesnamens wird außer an der oben genannten Stelle 8,60 noch in 10,22 thematisiert: durch den Untergang Jerusalems ist nomen quod nominatum est super nos paene profanation. Durch 4,25, wo der Name, quod invocatum est super nos, eindeutig der Gottes ist, wird deutlich, daß 10,22 die Profanierung des Namens Jahwes meint. Täter dieser Profanierung sind die Feinde Israels, im Munde Esras diejenigen, qui nos oderunt (10,23). 4. Zum vierten Gebot Das vierte Gebot (vgl. die Vulgata-Fassung von Ex 20,8-11: memento ut diem sabbati sanctifices ... septimo ... die sabbati Domini Dei ...) kommt im 4 Esr nigends zur Sprache. Weder findet sich das Wort sabbatum, noch dies in Verbindung mit sabbatum8$, noch sanctum dies'0 noch dies septimusAuch erscheinen Wörter und Konstruktionen, die im Lateinischen für Feiertag(e) gebraucht werden, wie dies festus, dies feriatus, otium, feriae92 im 4 Esr nicht. Ein memento, wie es die Vulgata-Fassung des vierten Gebots kennt (vgl. Ex 20,8 [Vg.]), findet sich im 4 Esr nicht. Andere Wörter um memorare / memoria finden sich im Kontext anderer Sachverhalte, nicht jedoch im Zusammenhang des Sabbats. Letzteres trifft auch auf das sanctifices (vgl. Ex 20,8) und auf sanctificatio zu.

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Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

dazu dies sabbati Ex 20,8 u.ö. dazu 2 Makk 5,25: sanctum dies dazu Gen 2,2 u.ö. MG (lat.) 2, 213.

sabbati.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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Anhang (am Ende der Gebote eins bis vier): kultische Motive im 4 Esr a) Lobgesang, Jubel und ähnliches Während durch die Zerstörung Jerusalems der Lobgesang (ftymraenientur\ 6,22-24: subito apparebunt seminata loca non seminata ...et venae fontium stabicnt ut non decurrant in horis tribus), als in höchstem Maße unerfreulich, die Menschen bedrängend und Gottes Ordnungen zuwiderlaufend empfunden111. Daraus läßt sich für die Ethik des 4 Esr ableiten, daß der Apokalyptiker auch schon im Hier und Jetzt, vor der letzten Zeit des alten Äons, ein friedvolles Miteinander der Menschen wünscht; zu diesem gehört selbstverständlich auch die Einhaltung des sechsten Gebots. Bestätigt wird diese friedensorientierte, das Leben des Mitmenschen in Schutz stellende Haltung durch zwei Tugenden innerhalb der Ethik des 4 Esr: zum einen die der Liebe (vgl. diligere und desiderare Gottes 5,27.33; 8,32), zu der auch die Liebe zur Schöpfung Gottes (vgl. 8,47) und somit zum Mitmenschen als Geschöpf gehört; zum anderen die der Sanftmut und Milde, denn die mansueti werden 11,42 in einer Linie mit den verum dicentes und solchen, qui fructificabant als Opfer des Unrechtsregimes des Adlers genannt112. Aus alledem folgt: 4 Esr erwähnt das sechste Gebot nicht, wünscht und empfiehlt seinen Lesern jedoch ein friedvolles Miteinander, das von der Liebe zur Schöpfung und von Sanftmut geprägt ist; deshalb dürfte das sechste Gebot trotz seiner Nichterwähnung selbstverständlicher Bestandteil der Ethik des 4 Esr sein.

110 111

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Vgl. ebd. Vgl. 5,9f.: abscondetur tunc sensus, et intellectus separabitur in promptuarium suum ... et multiplicabitur iniustitia et incontinentia super terram; 6,24: expavescet terra cum his qui inhabitant in earn. MG (lat.) 1, 458 übersetzt mansuetus mit „sanftmütig, sanft, milde, gelassen, harmlos, friedlich, ruhig" und mansuetudo mit „Sanftmut, Milde, Güte, Gelassenheit" (Hervorhebungen im Original).

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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7. Zum siebten Gebot Eine Nennung des siebten Gebots (vgl. Ex 20,14 [Vg.]: non moechaberis) erfolgt im 4 Esr nicht. Wie moechari, das in der lateinischen Bibel häufig für „ehebrechen" verwendet wird (vgl. neben den genannten Stellen des Dekalogs unter anderem Lev 20,10; Mt 5,27; Apk 2,22), fehlen andere Verben, Substantive und Adjektive, die in der Vulgata und im sonstigen lateinischen Sprachgebrauch für a) ehebrechen, b) Ehebruch, c) unzüchtig, d) Unzucht, e) huren, f) Hurerei und g) Hure stehen: a) adidterare (vgl. Jer 7,9; Rom 13,9), b) adulterium (vgl. Sir 23,33; Joh 8,3), c) formcarius (vgl. 1 Kor 5,9; 1 Tim 1,10) bzw. impudicus (vgl. Apk 22,15), d) formcatio (vgl. Act 15,20; Apk 2,21), e) fornicari (Ez 23,43; Hos 3,3), f) formcatio (vgl. Weish 14,12; Apk 2,21), g) scortum (vgl. Gen 34,31) bzw. meretrix (vgl. Ez 16,31; Apk 19,2). Lediglich concupiscentia und concupiscere, die in der Vulgata in den Zusammenhang sexuellen Begehrens gebracht werden können (vgl. Gal 5,24; 2 Petr 2,10; 1 Joh 2,16), erscheinen im 4 Esr je einmal (concupiscentia 6,44; concupiscere 4,43), jedoch in einem von „Ehebruch" und „Unzucht" verschiedenen Sachzusammenhang. Allerdings erscheinen im 4 Esr vier Hapaxlegomena (nämlich: abstinentia, incontinentia, intemperantia und caste), die in jeweils unterschiedlicher Intensität sexuelle Bedeutungsinhalte besitzen; diese werden in der Forschung jedoch teilweise zu hoch veranschlagt. Im einzelnen: Nach 7,125 wird im Eschaton das Gesicht derer strahlen, die in ihrem Erdenleben abstinentiam habuerunt. Dies wird von H. Gunkel mit die „Reinen"113 übersetzt, man sollte es im Deutschen aber anders wiedergeben; bei „rein" erscheinen nämlich sexuelle Konnotationen als zu stark. Abstinentia bedeutet viel allgemeiner als in der erwähnten Übersetzung Gunkels „das Sich - Enthalten, Enthaltsamkeit"114; näherhin meint es insbesondere „das Hungern, Fasten"115 und danach „Einschränkung in Bedürfnissen, Genügsamkeit"116, „Uneigennützigkeit, Un-

113 114 us 116

Esra 33. MG (lat.) 1,5 (Hervorhebungen des Originals weggelassen). Ebd. - Deshalb wurde abstinentia auch oben unter „Fasten" aufgeführt, s.o. S. 188f. MG (lat.) 1,5 (Hervorhebungen des Originals weggelassen).

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C. Die Ethik des 4. Esra

sträflichkeit, Unbestechlichkeit"117. Für „rein" im moralischen Sinn verwendet der Lateiner die Adjektive purus, castus, integer, innocens, insons, sanctus oder incorruptus1™. Anstelle von mit „die Reinen" sollte man qui abstinentiam habuerunt deshalb - wie A.F.J. Klijn dies tut - mit „die enthaltsam waren"119 übersetzen und sich dabei darüber im klaren sein, daß auch sexuelle Enthaltsamkeit gemeint sein kann, diese aber mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht betont ist. Gemäß 5,10 werden sich in der letzten Zeit der (immanenten) Weltgeschichte iniustitia et incontinentia super terram vervielfachen. Der sexuelle Aspekt von incontinentia wird hierbei von C. Münchow, der das Wort in den Zusammenhang von „Unkeuschheit" stellt120, stark übertrieben. Vielmehr bedeutet incontinentia (viel allgemeiner und weniger einseitig als „Unkeuschheit") „Unenthaltsamkeit, Ungenügsamkeit, Eigennutz"121. Übrigens sind die im Lateinischen für „Unkeuschheit" verwendeten Begriffe impudicitia, impuritas, libidines122. Aus diesen Gründen sollte incontinentia in 4 Esr 5,20 nicht mit „Unkeuschheit" wiedergegeben werden, sondern mit „Unenthaltsamkeit", die sich neben anderem auch auf die Sexualität beziehen kann. Dieser Bezug dürfte ein klein wenig stärker sein als bei abstinentia, denn bei dieser liegt der Ton eher auf Hungern, Fasten. Noch etwas stärker in Richtung auf Sexualität geht die 7,114 als ethisches Fehlverhalten genannte intemperantia, denn anders als bei abstinentia liegt hier keine Betonung nicht-sexueller Betätigungen (bei abstinentia der Genuß von Nahrungsmitteln) vor, und gegenüber incontinentia ist der Triebaspekt stärker hervorgehoben123. Intemperantia ist im Deutschen mit „Mangel an Mäßigung od. Selbstbeherrschung, Unmäßigkeit, Zügellosigkeit, Übermut, meton. Sittenlosigkeit"124 wiederzugeben, 117 118 119 120 121 122 123

124

Ebd. (Hervorhebungen des Originals weggelassen). Vgl. MG (lat.) 2, 475. Esr-Apok 61; ähnlich auch Schreiner, 4 Esr 359. Vgl. ders., Ethik 137. MG (lat.) 1, 372 (Hervorhebungen des Originals weggelassen). Vgl. MG (lat.) 2, 621. Dies bestätigt die syrische Version des Textes, die anstelle von intemperantia rCi\c\jjL>ii, liest; damit ist jedoch keine allgemeine „Abwertung des Leiblichen" ausgedrückt, wie Münchow, Ethik 136 meint, sondern verfehlte Sexualität. MG (lat.) 1, 396 (Hervorhebungen des Originals weggelassen).

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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so daß die Übersetzung J. Schreiners („Zuchtlosigkeit")125 und A.F.J. Klijns („Unmäßigkeit")126 als gelungen zu bezeichnen sind. Aber auch hier gilt das im Zusammenhang von abstinentia und incontinentia Gesagte, nämlich daß das Sexuelle nur ein Aspekt bei intemperantia ist, der hier jedoch stärker als bei abstinentia und incontinentia durchscheint. Am intensivsten kommt das Thema Sexualität bei dem vierten der hier zu untersuchenden Hapaxlegomena in den Blick, bei caste. 7,122 spricht vom göttlichen Schutz derer, qui caste conversati stmt, womit dies als ethisch richtiges Verhalten bezeichnet ist. Zwar hat das Adverb caste die übergeordnete, allgemeine Bedeutung „sittenrein, unschuldig, fleckenlos"127, meint aber innerhalb dessen zu einem erheblichen Teil den keuschen, züchtigen, schamhaften Umgang im Bereich des Geschlechtlichen128. Zusammenfassend läßt sich demnach zu den vier Hapaxlegomena sagen, daß mit ihnen unter anderem auch der Anspruch sexuell disziplinierten Verhaltens zum Ausdruck kommt, dies aber nicht bei allen vier Begriffen gleichmäßig. Darüber hinaus ist zu fragen, ob der Apokalyptiker etwa eine völlige Geschlechtsabstinenz empfiehlt, was von den vier genannten Begriffen her denkbar wäre. Diese alleine reichen zu der These sexueller Totalenthaltsamkeit aber schon deswegen nicht aus, weil sich ihre Bedeutung nicht auf Sexualität beschränkt. Hinzu kommt, und dies ist neben der Frage völliger Sexualaskese auch für den großen Rahmen des siebten Gebots sehr wichtig, daß 4 Esr die Institution Ehe als etwas Normales voraussetzt: Die Frau der Zionvision ist verheiratet, und ganz selbstverständlich sucht sie für ihren Sohn eine Gemahlin und richtet den Hochzeitstag zu; der plötzliche Tod des Sohnes im Brautgemach führt zu heftigster Klage der Frau (vgl. 9,43-10,4). Abschließend und zusammenfassend sei zum Thema des siebten Gebots im 4 Esr festgestellt, daß dieses nicht erwähnt wird, jedoch von der als üblich vorausgesetzten Institution der Ehe und von ethisch relevanten Begriffen, die unter anderem eine disziplinierte Sexualität empfehlen, her als impliziter Be125 126 127 128

4 Esr 357. Esr-Apok 60. MG (lat.) 1,111 (Hervorhebungen des Originals weggelassen). Vgl. MG (lat.) ebd. und Georges 1,1018.

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C. Die Ethik des 4. Esra

standteil seiner Ethik anzusprechen ist. Deshalb gilt das non moechaberis auch den Lesern des 4 Esr. 8. Zum achten Gebot Im 4 Esr erscheint weder der Wortlaut des achten Gebots (vgl. Ex 20,15 [Vg.]: non furtum fades), noch die im lateinischen Sprachgebrauch für „Stehlen" verwendeten Begriffe und Ausdrücke furari, furtum facere, furto subducere und subripere129. Lediglich auferre, das im Lateinischen ebenfalls für „stehlen" gebraucht wird130, kommt im 4 Esr an zwei Stellen vor: in 3,20 sagt Esra, Gott habe das böse Herz nicht von den Menschen weggenommen (non abstulisti ab eis cor mälignum); in 14,32 ist davon die Rede, daß Gott von den Israeliten das wieder nahm, was er ihnen geschenkt hatte (.abstulit a vobis ... quod donaverat), womit das Land Israel gemeint ist (vgl. V. 31). Daß auferre beide Male nicht „stehlen", sondern „wegnehmen" bedeutet131 und die beiden Stellen sachlich nichts mit dem achten Gebot zu tun haben, liegt auf der Hand. Auch sonst wird „Diebstahl" im 4 Esr fast nicht thematisiert. Die einzige Stelle, wo dieser anklingen mag, ist 10,22f.: Bei der Eroberung Jerusalems wurde die Bundeslade geraubt (area testamenti ... direpta est), die Leviten wurden in die Gefangenschaft geführt (Levitae ... in captivitate abierunt), die Gerechten verschleppt (iusti ... rapti sunt), die Kinder entführt (parvuli ... proditi sunt), junge Männer versklavt (iuvenes ... servierunt), und Zion wurde in die Hände derer, welche die Israeliten hassen, ausgeliefert (.Sion ... tradita est in mambus eorum qui nos oderunt). Aber damit werden Raub, Gefangennahme, Verschleppung usw. nicht generell als Fehlverhalten angeprangert, denn der Ton liegt auf der Wut des Apokalyptikers wegen der Demütigung Zions: et quod omnium malus, signaculum Sion (V. 23). Demnach kommt das achte Gebot im 4 Esr wörtlich und sachlich nicht zur Sprache. Dem Diebstahl entgegengesetzte,

129 130 131

Vgl. MG (lat.) 2, 559. Vgl. ebd. Die Übersetzungen J. Schreiners (3,20: „Aber du hast das böse Herz nicht von ihnen weggenommen"; 14,32: [Gott] „nahm ... euch ... wieder, was er geschenkt hatte") und A.F.J. Klijns (3,20: „Und du nahmst das böse Herz nicht von ihnen"; 14,32: [Gott] „hat ... euch entzogen ..., was er euch geschenkt hatte") sind zutreffend.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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positive Verhaltensweisen hingegen werden mit donare und vulnificus (vgl. 7,135132.138; 14,32) und vielleicht auch mit bonitas und düigere/desiderare (vgl. 5,27.33; 7,138; 8,36) zum Ausdruck gebracht. Mitnificus und donare stellt 4 Esr in einen betonten Gegensatz zu exigere: Gott ist munificus, quoniam quidem donare vidt pro exigere, 7,135. - Wegen dieser dem Diebstahl entgegengesetzten, positiven Verhaltensweisen dürfte der Inhalt des achten Gebots zum Bestand der Ethik des 4 Esr gehören. 9. Zum neunten Gebot In seinem Wortlaut (vgl. Ex 20,16 [Vg.]: non loqueris contra proximicm tuum falsum testimonium) kommt das neunte Gebot im 4 Esr nicht vor, auch der unmittelbare Sinnzusammenhang der Falschaussage gegen den Mitmenschen nicht. An zwei Stellen wird jedoch „Lüge" thematisiert133, nämlich 14,17 und 11,42. In 14,17a heißt es im Blick auf die nahe Zukunft Esras und der Welt: Prolongavit enim magis veritas et adpropinquavit mendacium; „Lüge" wird demnach als Charakteristikum der letzten Zeit des alten Äons verstanden, was durch 5,1 bestätigt wird (ecce dies venient, et adprehendentur qui inhabitant super terram in excessu midto, et abscondetur veritatis via). Als Begründung des adpropinquare der Lüge wird 14,17b - und dies deckt sich mit dem dargestellten Befund von 14,17a; 5,1 - die Ankunft des Adlers genannt: Iam enim festinat aquila venire; zu dessen Regime gehört gemäß 11,40-42 die Lüge als fester Bestandteil. Der Löwe, der den messianischen Erlöser darstellt, klagt hier den Adler nämlich an, er habe orbem terrarum cum dolo bewohnt, terram non cum veritate gerichtet, die verum dicentes gehaßt und die mendaces geliebt. 11,42 ist mit der Nennung der mendaces demnach die zweite Stelle im 4 Esr, wo „Lüge" ausdrücklich thematisiert ist. Beide Male erscheint sie als frevelhaftes Tun am Ende des alten Äons, in welchen der Adler alle Macht innehat. Daß umgekehrt die veritas Bestandteil des neuen, von Gott gesetzten Äons sein wird, ist aus 6,28 ersichtlich: in ihm florebit... fides et vincetur corruptela, et ostendebitur veritas.

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Mit Bensly und vg lese ich 7,135 munificus; vgl. Klijn, Text 55. Zu übersetzen ist munificus mit dems., Esr-Apok 63 mit „der Geber". Zum Zusammenhang von neuntem Gebot und Lüge vgl. Spr 6,19 (proferentem mendacia testem fallacem, Vg.) und Spr 14,5 (testis fidelis non mentietur, Vg.).

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C. Die Ethik des 4. Esra

„Wahrheit" ist nach dem 4 Esr überhaupt diejenige Tugend, welche der Lüge und der der Lüge nahestehende Hinterlist in allen vier Belegen, wo diese vorkommen, kontrastiv gegenübergestellt wird: Nach 14,17 entfernt sich Veritas, während mendacium sich nähert; dem Adler wird 11,42 vorgeworfen, die verum dicentes gehaßt, die mendaces aber geliebt zu haben; er habe die Welt cum dolo bewohnt, aber nicht cum veritate gerichtet (ll,40f.); im neuen Äon jedoch wird dolus ausgelöscht werden und Veritas erscheinen (6,27f.). Das neunte Gebot klingt außer an diesen zu „Lüge" und „Hinterlist" besprochenen noch an drei weiteren Stellen des 4 Esr an: 7,23 spricht innerhalb einer Aufzählung der Taten sündiger Menschen davon, daß diese proposuerura sibi circumventiones delictorum, was am besten mit „sie nahmen sich verbrecherische Täuschungen vor"134 zu übersetzen ist. Dem ist 8,28 ähnlich, wo von den Sündern gesagt wird, daß sie vor Gott false conversati sunt, hierbei kann das Adverb false135 durchaus mit „trügerisch" übersetzt werden136, wenn auch philologisch das allgemeinere „schlecht"137 möglich ist138. In 7,72 klingt „Trug" noch etwas eindeutiger an: die allgemeine Sündhaftigkeit der Menschen drückte sich schon immer darin aus, daß sie die Gebote empfingen und nicht beachteten et legem consecuti fraudaverunt earn. Fraudare hier nur mit „brechen"139 oder „verletzen"140 wiederzugeben, läßt die beiden Hauptbedeutungen des Wortes zu wenig zur Geltung kommen; diese sind „betrügen" und „unterschlagen"141. „Das Gesetz betrügen" kann kaum anderes bedeuten als „das Gesetz in betrügerischer Weise brechen" oder „(häufig und massiv) dem Gesetz 134

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139 140 141

Leider bleiben die Übersetzungen von Schreiner und Klijn an dieser Stelle defizitär, denn proponere heißt nicht, wie Klijn, Esr-Apok 44 übersetzt, „ersinnen" (dafür verwendet der Lateiner excogitare, irtvenire oder fingere, vgl. MG (lat.) 2,201), und circumventiones bedeutet nicht, wie Schreiner, 4 Esr 344 meint, „Machenschaften", sondern circumventio ist präziser mit „Umgarnung, Hintergehung, Täuschung" (Georges 1, 1174) wiederzugeben. Vgl. Georges 1, 2678. So Schreiner, 4 Esr 366. So Klijn, Esr-Apok 68. Zu den verschiedenen Bedeutungen von falsus siehe MG (lat.) 1, 289 und Georges 1, 2679f. Vgl. Schreiner, 4 Esr 351f. Vgl. Klijn, Esr-Apok 52. Vgl. MG (lat.) 1, 311.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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zuwiderlaufende Betrugssünden zu begehen"; „das Gesetz unterschlagen" meint wohl, seine Kenntnisnahme oder Befolgung zu be- oder verhindern. Zusammenfassend ist zu sagen, daß im 4 Esr weder das neunte Gebot wörtlich zur Sprache kommt noch der Sinnzusammenhang der Falschaussage gegen Mitmenschen. Jedoch werden Verhaltensweisen, die zum sachlichen Kontext des neunten Gebots gehören, direkt (so Lüge und Hinterlist) oder andeutungsweise (so der Bereich von Täuschung und Betrug) als ethisches Fehlverhalten qualifiziert. Als positives Pendant zu Lüge und Hinterlist wird die Wahrheit genannt. Entsprechend dürfte das neunte Gebot für den 4 Esr in Geltung sein. 10. Zum zehnten Gebot Das zehnte Gebot erscheint im 4 Esr nicht in seinem Wortlaut (vgl. Ex 20,17 [Vg.]: non concupisces domum proximi tui nec desiderabis uxorem eins non servum non ancülam non bovem non asinum nec omnia quae illius sunt). Die hier für „begehren" verwendeten Verben concupiscere und desiderare kommen im 4 Esr nur selten vor (concupiscere einmal, nämlich 4,43, und desiderare dreimal, nämlich 4,4; 5,27; 8,32), jedoch kein einziges Mal im Sachzusammenhang des zehnten Gebots. Ähnliches trifft auch auf andere, in der Vulgata oder dem sonstigen lateinischen Sprachgebrauch verwendeten Verben oder Ausdrücke für „begehren" zu142: cupere, cupidum esse, avidum esse, optare, exoptare, petere, adpetere, avere, postulare, poscere und contendere erscheinen im 4 Esr überhaupt nicht; lediglich velle findet sich siebenmal (4,23; 7,5 [zweimal]; 8,29.59; 13,34; 14,22), aber immer in anderem Zusammenhang als dem des zehnten Gebots. Ähnliches trifft auf expetere, requirere, adfectare und gestire zu, die wie andere lateinische Verben, die hier unter „begehren" untersucht wurden, im Deutschen mit „wünschen" wiedergegeben werden können143. Expetere, adfectare und gestire kommen im 4 Esr überhaupt nicht vor, requirere lediglich einmal (14,36); der sachliche Kontext ist aber ein anderer als der des letzten Dekaloggebotes.

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Zu den allgemeinen lateinischen Verben und Ausdrücken für „begehren" vgl. MG (lat.) 2, 96. Vgl. MG (lat.) 2, 713.

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C. Die Ethik des 4. Esra

Was für die Verba regentes von Ex 20,17 gilt, trifft auch für ihre Objekte zu: domus, uxor, servus, ancilla, bos, asinus, und omnia sind teilweise im 4 Esr zu finden144, jedoch nie im Zusammenhang des zehnten Gebots. Fast dieselbe Beobachtung macht man bei für diese Wörter synonymen oder sinnverwandten Substantiven wie aedes oder aedificium für domus, mulier oder femina für uxor, puer oder famulus für servus, und taurus oder iumentum für bos 14S; lediglich mulier und habitatio, die an einer Stelle mit „Haus" wiedergegeben werden kann146, könnten vom Verfasser des 4 Esr vielleicht je einmal im Zusammenhang einer Anspielung auf das zehnte Gebot genannt werden (s.u.). Ist der philologische Befund zum zehnten Gebot bislang also durchaus negativ, bleibt in seinem Zusammenhang nur noch zu fragen, ob das quaerere von 5,10, das exquirere von 13,54 und das scrutare von 12,4 etwas mit dem letzten Dekaloggebot zu tun haben könnten. Denn die diesen lateinischen Verben in der Septuaginta entsprechenden griechischen (ζητέω, έκ/έπιζητέω, περιεργία), können „begehren" nicht unähnlich dem έπιθυμεΐν des zehnten Gebots ausdrücken (vgl. Apk 9,6; Sir 24,47 [LXX: V. 341; 1 Makk 7,13; Sir 41,27 [LXX: V. 24]). Legt man für quaerere, exquirere und scrutare an den genannten Stellen die Bedeutung „begehren" zugrunde, so handeln sie von dem erstrebenswerten Verlangen nach intellectus (5,9f.), lex (Dei) (13,54) und viae Altissimi (12,4). Vielleicht läßt sich unter Berücksichtigung auch dieser philologischen Beobachtungen sagen, daß 4 Esr das zehnte Gebot, welches das Begehren der Besitztümer des Mitmenschen verbietet, nicht erwähnt, aber umgekehrt das Verlangen des Menschen nach den Ordnungen Gottes und - damit identisch147 - nach Einsicht und Vernunft148 empfiehlt.

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Domus: 3,11; 9,24; 10,51; 12,46.49; 14,13; uxor: 9,47; servus: 3,23; 5,45.56; 6,12; 7,75.102; 8,6.24; 10,37; 12,8; 13,14; ancilla: 9,45; omnia: 6,33.55; 8,41 (zweimal).44; 11,6.40; 12,37; 13,3.10. Bos und asinus kommen im 4 Esr nicht vor. Diese synonymen oder sinnverwandten Wörter nach MG (lat.) 2,149 (s.v. Diener). 227 (s.v. Frau). 294 (s.v. Haus). 481 (s.v. Rind). Vgl. die Übersetzung Schreiners, 4 Esr 387 und Klijns, Esr-Apok 91 von 11,42. S.o. die Beschreibung des Gesetzesgehorsams als weises Verhalten, C.2.1.a), S. 180-182.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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Bleibt - abgesehen von den drei letztgenannten Stellen der philologische Befund zum zehnten Gebot negativ, so ist zu fragen, ob das Motiv des Begehrens des Eigentums anderer im 4 Esr zur Sprache kommt. Die Antwort lautet Nein, außer daß zu prüfen ist, ob dieses Motiv vielleicht in 10,21-23 und 11,40-42 anklingt. Denn in 10,21-23 wird ausgesagt, daß bei der Zerstörung Jerusalems alles, was den Israeliten gehörte, vernichtet oder geraubt wurde, wobei die eigentlichen Besitzverhältnisse durch die konsequente Hinzufügung von noster hervorgehoben sein könnten149; an dieser Stelle mag insbesondere das midieres nostrae vim passae sunt an das non concupisces uxorem proximi tui erinnern150. Da jedoch in diesem Abschnitt der Ton auf der Wut des Apokalyptikers liegt (s.o. S. 196), wird er kaum das zehnte Gebot im Blick haben. - Nach 11,40-42 hat der Adler auf der Welt eine Gewaltherrschaft geführt, innerhalb derer er auch Eigentum anderer vernichtete (destruxisti habitationes eorum qui fructificabant, et humiliasti rnuros eorum qui te non nocuerunt); vor allem das destruxisti habitationes mag ein Anklang an das non concupisces domum proximi tui sein. Jedoch ist an dieser Stelle die Zerstörung des Adlers das Thema, nicht aber seine widergesetzliche Aneignung; die Stelle trägt für das zehnte Gebot demnach nichts aus. 4 Esr spielt mit diesen beiden Stellen demnach wohl kaum auf das zehnte Gebot an. Nach der Erhebung des philologischen Befundes und der Frage nach dem motivischen Vorkommen des zehnten Gebots im 4 Esr sind abschließend weitere Belege für das letzte Dekaloggebot zu suchen. Tatsächlich sind diese auch vorhanden, und zwar in Form der bereits im Zusammenhang des siebten Gebots untersuchten vier Hapaxlegomena: abstinentia, incontinentia, intemperantia und caste (vgl. 7,125; 5,10; 7,114; 7,122). Da alle vier Hapaxlegomena in ihrer Grundbedeutung im Zusammenhang von Enthaltsamkeit, Sittenreinheit stehen1S1, spielen sie auch im Kontext des zehnten Gebots eine Rolle; denn Enthaltsamkeit üben ist von non concupiscere sachlich nicht allzu148

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Mit beidem läßt sich intellectus 5,9 übersetzen (Klijn, Esr-Apok 22: „Vernunft"; Schreiner, 4 Esr 325: „Einsicht"). Sanctificatio nostra deserta ... altare nostrum demolitum ... area testament! nostri direpta ... iusti nostri rapti. Zu den in 10,21-23 eventuell anklingenden Eigentumsdelikten siehe auch oben die Ausführungen zum achten Gebot, S. 196f. S.o. S. 193-195.

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C. Die Ethik des 4. Esra

weit entfernt. Wenn 4 Esr die vier Hapaxlegomena nicht explizit in den Kontext des letzten Dekaloggebots bringt, so lassen sie sich doch wegen ihrer sachlichen Nähe zu diesem dem zehnten Gebot hinzurechnen. Nach alledem ist zusammenfassend zum letzten Dekaloggebot zu sagen, daß 4 Esr es nicht nennt, wohl auch kaum darauf anspielt. Der Sache nach bringt 4 Esr es indirekt mit den angeführten vier Hapaxlegomena zum Ausdruck und empfiehlt möglicherweise kontrastiv zum non concupisces ... das Begehren der Ordnungen Gottes und (damit identisch) das Verlangen nach Einsicht bzw. Vernunft. c) Ethische Motive aus dem Bereich des Sozialen Im 4 Esr finden sich sozialethische Motive nur in Spuren oder auf implizite Art und Weise. Wenn der Apokalyptiker beispielsweise von dem ethischen Fehlverhalten der Menschen unmittelbar vor der Äonenwende spricht, so erscheinen sozialethisch relevante Sachzusammenhänge nur ganz am Rande in Form von radikal veränderten Wirtschaftsbedingungen (Landwirtschaft und Vorräte auf den Kopf gestellt: 6,22; Menschen strengen sich an, erreichen aber nichts: 5,12) oder aggressiven Konflikten (amici omn.es semet ipsos expugnabicnt. 5,9; cogitabunt bellare, civitates civitatem et locus locum et gern ad gentem et regnum adversus regnum: 13,31). Deren soziales Problempotential wird jedoch überhaupt nicht entfaltet, weshalb diese Texte auch nur hergeben, daß das jeweils Umgekehrte (normale Landwirtschaft und Vorräte, belohnte Anstrengung, friedliche Koexistenz auf individueller und kollektiver Ebene) dem Apokalyptiker als sozialethisch positiv gilt. Dadurch, daß 4 Esr Zion als „Mutter" bezeichnet (vgl. 10,7) und die Frau der Zionvision weitgehend positiv darstellt (vgl. 9,43-10,3), wird eine gewisse Hochwertung der Frau vollzogen. Bei der Schilderung der Freveltaten Roms kommt Soziales fast nicht in den Blick. Es mag erwogen werden, in der Erwähnung der versklavten jungen Männer 10,22 eine Kritik an der Sklaverei zu erblicken, sicher ist es jedoch nicht. Denn das iuvenes nostri servierunt ist in keiner Weise hervorgehoben, sondern eines von vielen Gliedern einer Kette von angeprangerten allgemeinen Kriegs- und Plünderungshandlungen. Eher

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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läßt sich bei dem mansueti 11,42 ein sozialethischer Sachzusammenhang vermuten, denn damit sind möglicherweise nicht nur sanftmütige Menschen gemeint, sondern auch elende (= sozial Niedrigstehende, vgl. mansuetus in Vg. Ps 24,9; Jes 11,4; 61,1 u.ö.). Hinzu kommt die Satzstellung des Wortes am Anfang einer Reihe von Personengruppen, die unter dem Terrorregime des Adlers zu leiden hatten; diese Anfangsstellung mag die mansueti als sozial Deklassierte besonders hervorheben. Ausgesagt wird damit dann, daß Rom die sozial Schwachen in besonderer Weise unterdrückt und, falls das tribulasti im Sinne von „tributpflichtig machen" wiedergegeben wird, finanziell ausbeutet152. Ebenfalls im Zusammenhang der Freveltaten Roms wird das Motiv der Schändung der Erde gebraucht, das im weiteren Kontext sozialethischer Thematik zu sehen ist: Der Adler, das Imperium Romanum wird direkt mit den Worten angeredet: non apparens non appareas, tu aquila ... uti refrigeret omrüs terra et relevetur liberata de tua vi et speret iudicium et misericordiam eius qui fecit earn (ll,45f.). Das Wort terra ist hier in zwei Bedeutungen zu verstehen, nämlich einerseits als Bezeichnung der Erde, andererseits als Bezeichnung der auf ihr lebenden Menschen. In beiden Fällen ist eine sozialethische Relevanz der Aussage des 4 Esr unverkennbar. Denn eine geschändete Erde (der Adler hat ihr Gewalt [vis] angetan) vermag den Menschen nicht mehr die lebensnotwendigen Naturgüter zu liefern, erzeugt also soziale Probleme; und eine gewaltsam unterjochte Menschheit wird man sich nicht als mit hohem sozialen Standard ausgestattet vorzustellen haben. - Auch ist mit ll,45f. ein umweit- und tierschutzethischer Ansatz des 4 Esr gegeben.

d) Ethische Motive aus dem Bereich des Politischen 1. Die Situation zur Zeit der Abfassung des 4 Esr Die im Römischen Reich um 95 n. Chr. lebenden Juden hat man sich als eine Minorität innerhalb einer multireligiösen und 152

Allzusehr darf man Esras Kritik an der Unterdrückung sozial Schwacher von 10,22 her nicht betonen, denn hier nennt er auch die ungute Behandlung der „Edlen" als eine Schandtat Roms, kritisiert also gerade den negativen Umgang Roms mit sozial .Hochgestellten.

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C. Die Ethik des 4. Esra

-ethnischen sowie ihnen feindlich gesonnenen Gesellschaft vorzustellen, deren politisches Gewicht gering zu veranschlagen ist. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß es vereinzelt von der römisch-hellenistischen Kultur geprägte Juden in höherer sozialer Stellung gab, die über mehr Einfluß verfügten als ihre auf Abgrenzung von allem Nichtjüdischen bedachten Brüder und Schwestern (wie z.B. der nach 100 n. Chr. in Rom verstorbene Flavius Josephus153). Wie bereits dargestellt, war Domitian - besonders in seinen letzten Regierungsjahren - alles andere als ein Freund der Juden154; um 95 n. Chr. war deren Situation deutlich schlechter und ihr politisches Gewicht weitaus geringer als unter den Flavischen Kaisern vorher und Nerva nachher. Auch wenn man nicht von einer existentiellen Bedrohung sprechen kann, mußten ihnen die Geschehnisse dieser Zeit Anlaß zu größten Befürchtungen im Blick auf die Zukunft gegeben haben155, auch in politischer Hinsicht. Exkurs: Das Weltgeschehen als Kampf im 4 Esr 4 Esr stellt das Weltgeschehen als einen Kampf zwischen Gott und widergöttlichen Mächten dar. Dies wird insbesondere in der Adlervision sichtbar, wo das Imperium Romanum als das vierte Danielische Weltreich verstanden wird (vgl. 12,11); es wird so als das letzte Glied einer Kette antigöttlich wirkender Weltreiche gesehen, in dem Schlimmeres als je zuvor geschehen wird (12,13: erit timoratior omnium regnorum quae fuerunt ante earn). Auch die Menschensohnvision ist durchtränkt vom Kampfesmotiv, wie ein Blick auf 13,5-11 zeigt: eine gewaltige Menschenmenge stürmt gegen den messianischen Erlöser an, die von den von ihm ausgehenden Flammen vertilgt wird.

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154 155

Vgl. Mayer, Josephus 258. - Josephus, der zwar sein Leben in Rom gegenüber dem in Palästina als „sozialen Abstieg empfinden" (ebd. 259) mußte, besaß aber immerhin als Entschädigung für seinen Jerusalemer Besitz von Titus überlassene Ländereien, die Domitian „noch durch eine Schenkung vermehrt hatte" (ebd. 260). Im ganzen hat man sich „Josephus in bescheidenem Wohlstand lebend vorzustellen, der ihm Recherchen und die Anschaffung einer Bibliothek erlaubte" (ebd.). S. o. C.l.l.e), S. 171-173. Vgl. ebd. und unten 2.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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Adler- und Menschensohnvision verdeutlichen also, daß das Weltgeschehen in der Vorstellung des 4 Esr ein Kampf ist. Bemerkenswerterweise vollzieht 4 Esr eine Ethisierung des Kampfmotivs. So ist erstens der Kampf des Menschen nirgends auf das vom Kampf durchdrungene Weltgeschehen bezogen: Die wenigen Male, wo 4 Esr von vincere spricht, handelt es sich fast immer um den Zusammenhang von Sünde und Gericht: der erste Adam verging sich und wurde (von der Sünde) besiegt (3,21); vom Besiegen des bösen Triebes hängt Leben oder Tod ab (7,92); im eschatologischen Gericht kann niemand den stürzen, der gewonnen hat (7,115); der Mensch, der auf Erden siegreich gekämpft hat, erhält im Jenseits Lohn (7,128). Nur an einer Stelle wird im Zusammenhang allgemeiner Umordnung des Kosmos beim Weltende vom Besiegen der corruptela gesprochen: delebitur enim malum, et extinguetur dolus. Florebit autem fides et vincetur corruptela, et ostendebitur Veritas quae sine fructu fuit tantis temporibus (6,27f.). Das vincere kommt also fast ausschließlich im Zusammenhang der Ethik zur Sprache. Zweitens deutet 4 Esr in 13,37f. das endzeitliche Feuergericht des messianischen Erlösers, das vorher in 13,9-11 beschrieben wurde, teilweise ethisch: ignis, in 13,10f. ganz dinglich als Mittel vorgestellt, durch das die anstürmenden Völker in Brand gesetzt werden, wird 13,38 mit dem Gesetz156 identifiziert; die dadurch erfolgte Ethisierung des Kampfmotivs ist unverkennbar. Aus diesem Befund ist zu folgern, daß das als als Kampf zwischen Gott und widergöttlichen Mächten verstandene Weltgeschehen nichts mit dem Kampf des einzelnen zu tun. Das Kampfesmotiv findet sich im 4 Esr wesentlich im Blick auf das individuelle Ethos, so daß man von einer Ethisierung des Kampfmotivs sprechen kann.

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Dazu ist die Textüberlieferung nicht einheitlich. Zum einen ergibt der lateinische Text et legem (Hs. c per legem, vgl. S) keinen Sinn, zum anderen fehlt „Gesetz" in Ä („mit ihrer Sünde"). S hat „durch sein Gesetz". Ä erklärt sich plausibel aus einer anderen Worttrennung von διαυομου: als δι' άνόμου Ä, als δια νόμου S (und L). Der Vergleich von Gesetz und Feuer ist traditionell (s. Dtn 33,2 und Scriba, Geschichte 93 mit Anm. 29). Insofern ist S (und L) der Vorzug zu geben, et in L ist wohl für per verlesen.

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C. Die Ethik des 4. Esra

2. Die in Bälde erwartete Situation Auf Grund der im Rahmen dieser Untersuchung skizzierten Situation der Juden und Christen am Ende der Regierungszeit Domitians läßt sich die in Bälde erwartete Situation der Juden zunächst vermutungsweise erheben: Bereits die Tatsache, daß ihre Situation in den letzten Regierungsjahren Domitians deutlich schlechter war als vorher, dürfte zu ernsten Befürchtungen der Judenschaft im Blick auf ihre Zukunft geführt haben157. Die menschenverachtende juristische Willkür Domitians, die im Zusammenhang des Judentums wirksam wurde, dürfte solche Befürchtungen erheblich verstärkt haben. Eine derartige Stimmung mußte geradezu in Angst umschlagen, wenn die Juden das Ergehen der Christen wahrnahmen, die unter Domitian mit dem Testopfer vor der Kaiserstatue und daher mit der Todesstrafe für ihre religiöse Überzeugung rechnen mußten. Davon waren die Juden zwar nicht betroffen, die Situation um 95 n. Chr. könnte sie aber ein analoges Vorgehen gegen Angehörige ihrer Religion befürchten lassen158. Gibt es für diese auf Vermutung basierende Skizze historische Belege? Ε. M. Smallwood verweist in diesem Zusammenhang auf ActJoh 2-4, wo berichtet wird, daß Domitian alle Juden aus Rom vertreiben wollte, durch einige couragierte Juden aber davon abgehalten wurde159. Auch gibt es in der jüdischen Literatur verschiedene Hinweise auf einen Rombesuch vier führender Rabbis gegen Ende des ersten und Anfang des zweiten Jahrhunderts. Dort angekommen, fanden sie in einem mit dem Judentum sympathisierenden Senator einen Verbündeten160, „who helped to get an order of Domitian for the extermination of the Jews or their expulsion from the Roman world rescinded but lost his life in consequence"161. Smallwood ist

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In diesem Sinne fragt Smallwood, Jews 383: „If gentile adherents of Judaism were attacked late in Domitian's reign, what of the Jews themselves?" Vgl. dazu ebd. 383: „But once converts (i.e. to Judaism) were under attack, there was obviously a grave fear that Domitian might ultimately rescind the Jewish privilege of exemption from participation in the imperial cult". Vgl. ebd. mit Anm. 98. Vgl. ebd. Ebd. 384; vgl. DevR 2,24 zu 4,25: Smallwood, ebd.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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der Auffassung, daß es sich bei letzterem um eine der aus ActJoh angeführten Stelle parallele Schilderung handelt, deren Details „patently absurd"162 sind. „But the story has some value nevertheless as reflecting natural alarm in Palestine at reports of events in Rome and an understandable interpretation of Domitian's measures against converts as the prelude to an attack on the Jews themselves1,163. Nach alledem läßt sich vermuten, daß auch der Verfasser des 4 Esr erhebliche Befürchtungen oder sogar Ängste im Blick auf die in Bälde erwartete Situation der Juden in sich trug. Deshalb ist zu fragen, wie sich für ihn die nahe Zukunft darstellt. Eines der letzten Offenbarungsworte an Esra lautet: Prolongabit enim magis Veritas et adpropinquabit mendacium. Iam enim festinat aquila venire, quam vidisti in visionem (14,17). Die Stellung dieses Satzes am Ende der Apokalypse, der Rückverweis auf die Adlervision 10,60-12,50 und vor allem die Ankündigung eines herbeieilenden, neuen, von Lüge geprägten Abschnittes der Weltgeschichte machen dieses Offenbarungswort besonders dringlich und eine Beantwortung der Frage nach dem, was 4 Esr an unmittelbarer politischer Zukunft erwartet, unerläßlich. Dabei liefert der Vers selbst schon wesentliche Informationen: - Das, was bevorsteht, ist eine von Lüge geprägte Ära, in der sich die Wahrheit entfernt hat. Es handelt sich also um eine sehr unerfreuliche Zeit. - Durch die parallelen Formulierungen adpropinquat mendacium und festinat aquila venire werden mendacium und aquila miteinander in Zusammenhang gebracht, ebenso durch die Konjunktion enim vor festinat aquila venire sowie durch die textliche Nähe der beiden Versteile 17a und 17b zueinander. Das erwartete Reich des Adlers ist mithin von Lüge geprägt, ein böses Reich also. - Und dieses böse Reich kommt bald! Denn adpropinquat mendacium und festinat aquila venire. Die Adlervision samt ihrer Deutung läßt das Bild des bevorstehenden Schreckensreiches noch deutlicher vor den Augen des Lesers des 4 Esr erscheinen: 162 163

Ebd. Ebd. Hervorhebungen von mir.

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C. Die Ethik des 4. Esra

- Mit dem Adler ist tatsächlich ein Reich gemeint, wie in der Deutung der Adlervision klar ausgesagt wird: aquüam quam vidisti ... hoc est regnum quartum, quod visum est in visu Darähelo (12,11). - Dieses Reich ist timoratior omnium regnorum quae fuerunt ante earn (12,13). - Die Furchtbarkeit dieses Reiches wird denn auch deutlich beschrieben: labor, im Deutschen am besten mit „Drangsal" wiederzugeben164, wird in diesem Zusammenhang dreimal genannt: 11,32.40; 12,24, wobei es sich jedesmal um generalisierende Beschreibungen der Schreckensherrschaft des Adlers handelt. In allen drei Fällen ist mit labor ein Adjektiv verbunden, das die Härte der Drangsal betont (11,32: cum labore multo; 11,40: cum labore pessimo; 12,24: cum labore mtdto). - Mit tremor findet sich in 11,40 ein zweites, labor nahestehendes Substantiv zur Charakterisierung des Reiches des Adlers, das im Deutschen mit „Schrecken"165 wiederzugeben ist. - Als drittes tritt zu labor und tremor noch dolus hinzu, der sich ebenfalls in 11,40 findet. Die in der Adlervision aufgeführten Schandtaten des Imperium Romanum lassen sich labor, tremor und dolus zuordnen: Iudicasti terram non cum veritate ... odisti verum dicentes et däexisti mendaces (ll,41f.) entspricht dolus; die Belastung der Erde, wie sie in ll,45f. zum Ausdruck kommt, drückt labor aus. So werden dolus und Zaöor ein wenig erklärt. Die anderen Schandtaten des Imperium Romanum (tribulasti ... mansuetos et laesisti quiescentes ...et destruxisti habitationes eorum qui fructificabant, et humüiasti muros eorum qui te non nocuerunt, 11,42) entsprechen labor und tremor, die durch die Aufzählung dieser Freveltaten etwas erläutert werden. Im Blick auf die zu erwartende Situation der Juden ergibt sich von hier aus ein sehr unerfreuliches Bild. Denn die Zerstörung Jerusalems (vgl. 10,20-23) ist als ein Beispiel für die Bosheit des Adlers zu verstehen. Wenn dessen Frevel in der vor Esra liegenden Zeit aber als noch weiter zunehmend ge164

165

So die Übersetzung von labor in 11,40 von Schreiner und Klijn (vgl. Schreiner, 4 Esr 387; Klijn, Esr- Apok 91) und in 11,32 von Klijn (vgl. Esr-Apok 90). Vgl. Klijn, Esr-Apok 91; Schreiner, 4 Esr 387.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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dacht wird (vgl. 14,17), so ist damit indirekt auch die Zunahme von Pressionen gegenüber den Juden ausgedrückt. Außerdem ist mit Blick auf die allerletzte Zeit des alten Äons 13,23 ausgesagt: Qui adferet periculum in illo tempore, ipse custodibü qui in periculo inciderint, qui habent operas et fidem ad Fortissimum. Hier wird demnach Gott als derjenige dargestellt, welcher sowohl letztlich hinter den endzeitlichen Pressionen - ebenfalls hinter denen gegen die Juden - steht, als auch diejenigen Angehörigen seines Volkes Israel bewahrt, die ihm treu ergeben sind; vorausgesetzt werden massive Bedrängnisse der Juden in den letzten Tagen des alten Äons. 3. Die Bewältigung der erwarteten Situation a) Das Stiften von Vertrauen Im Zusammenhang von 4 Esr 4,36b-43 schreibt E. Brandenburger: „Gott regiert die Zeiten, das ermöglicht Vertrauen und Geduld"166. Sicher kommt das vertrauenstiftende Walten Gottes im Zusammenhang der hier ausgedrückten mensura temporum in besonderer Weise zum Ausdruck; dies ist aber auch an vielen anderen Stellen des 4 Esr der Fall. Bereits die häufige Gottesbezeichnung „Altissimus1,167 drückt seine Hoheit und 166 167

Verborgenheit 190. Mit 68 Belegen (siehe s.v. altissimi, -mo, -um, -us in LechnerSchmidt, Wortindex) ist Altissimus fast ein Lieblingswort des 4 Esr. An dieser Gottesbezeichnung wird erstens erkennbar, daß 4 Esr eine genuin jüdische Schrift ist. Zweitens läßt sich daran der Weg vom hebräischen Original des 4 Esr über seine griechische Übersetzung bis hin zur lateinischen nachvollziehen. Drittens macht das Wort Altissimus die enge sprachliche und geistige Nähe zu anderen pseudepigraphen jüdischen Texten, namentlich zum syrBar, evident. Ad 1: Altissimus gibt präzise das hebräische wieder, das sich als Gottesprädikat im AT häufig findet (z.B. Gen 14,9 }V7Ö ^X, Ps 7,18: p ^ ü m n \ Jes 83,19: f P ^ y ) . Dem entspricht das aramäische welches Dan 4,14 u.ö. vorkommt. Nach Wehmeier, Π^ΰ 286 verbinden sich damit u.a. die folgenden alttestamentlichen Vorstellungen: Jahwe ist der Schöpfer des Himmels und der Erde, der Herrscher über die ganze Welt. Seine Machtlosigkeit ist nur eine scheinbare, denn er ist der Weltenherrscher, welchem Lob gebührt. Ad 2: So, wie die LXX f T ^ y mit ύψιστος wiedergibt, so die Vulgata mit Altissimus (vgl. nur Dtn 32,8; Num 24,16; Ps 9,3). Auch wenn zu früherer Zeit als die Vulgata entstanden, liegt wohl eine analoge Situation beim 4 Esr vor: das hebräische Original verwandte it 2 ? y, die

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C. Die Ethik des 4. Esra

Souveränität aus: Er steht über allen Dingen; von diesen ist die Zeit ein zwar wesentliches, aber eben doch nur eines. Andere sind z.B. Mächte und Geschichte. Demnach läßt sich sagen, daß durch die Bezeichnung Gott als „Altissimus" seine Souveränität und Hoheit ausgedrückt werden, welche für die Angehörigen seines Volkes Israel angesichts ihrer unruhigen und gefahrvollen Zukunft vertrauenstiftend sind. Innerhalb dieser Hoheit und Souveränität ist das Maß der Zeiten ein wesentlicher Punkt, der Vertrauen und Geduld bewirkt. Dieses kommt außer an der erwähnten Stelle 4,36b-43 an vielen Stellen des 4 Esr zum Ausdruck, wenn auch nicht immer so explizit und ausführlich wie in 4,33-43. Solche sind z.B. 7,74 (Altissimus providit tempora), 11,44 (et respexit Altissimus super sua tempora, et ecce finita sunt et saecula eius conpleta sunt) oder 13,58 (gubernat tempora et quae stmt in temporibus inlata). Als Altissimus ist Gott also der imperator temporum. Darüber hinaus ist er außerdem rex historiae, creator, gubernator, revelator und iudex. Als rex historiae läßt er seinen messianischen Erlöser genau dann in Erscheinung treten, wann er will (13,26), oder läßt die weltlichen Könige emporkommen und verschwinden, wie und wann es ihm beliebt (12,23.30). Als craetor hat er nicht nur die sichtbare, geschichtlich erfahrbare Welt erschaffen (vgl. 5,44; 6,38 u.ö.), sondern auch die unsichtbare: Sein Werk ist nicht nur dieser eine, sondern sind beide Äonen (7,50: non fecit Altissimus imum saecidum sed duo)us; vor der Erschaffung der sichtbaren Welt erfolgte durch ihn die „precreation of the eschatological things"169, vgl. 7,70 (et quando Altissimus faciens faciebat saeculum ..., primum prae-

168 169

griechische Übersetzung ύψιστος und die lateinische Altissimus. Ad 3: „Der Gottesname Eljon erfreut sich in den Apokryphen ... und Pseudepigraphen (Hen, Jub und 4Esr) großer Beliebtheit" (Wehmeier, Π2?^ 290). Strack-Billerbeck, Kommentar 100 verweist detaillierter auf äthHen 10,1; 46,7; 94,8; 98,7.11; AssMos 10,7; 4 Esr 3,3; 4,2.11; 5,4.22; syrBar 64,6.8; 77,4.21. Generell ist für die Pseudepigraphen und Apokryphen der Name des Höchsten gleichsam die Zusammmenfassung der jüdischen Gottesvorstellung und kann deshalb vollgültig an die Stelle JHWHs treten (Zobel, fT^Ö 151). Man beachte die Parallelität von Aussagen des 4 Esr und syrBar über den „Höchsten" (syrBar verwendet für p ^ S das syrische rC^aui»): Er ist Schöpfer (4 Esr 7,50.70; syrBar 77,21), die Ungläubigen verachten sein Gesetz bzw. übertreten seine Gebote (4 Esr 7,81; syrBar 77,4). Vgl. Stone, 4 Ezra 231. Ebd. 234.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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paravit iudiciian et quae sunt iudicü). Aber bei der schöpfungswirksamen Arbeit des Altissimus ist es nicht geblieben, denn er gubernat ... quae sunt in temporibus irüata (13,58). Dazu gehört auch, daß er den Menschen das Leben schenkt: plasmatio nos sumus manuum tuarum (8,7). Disponere, enutrire, erudire und corripere beschreiben in diesem Zusammenhang die Tätigkeiten, die Gott dem auf die Welt gekommenen Menschen gubernatorisch zukommen läßt (vgl. 8,7-13, v.a. V. llf.). Der Gedankengang wird abgeschlossen durch et mortificabis eum (= id quod plasmatum est, V 11) ut tuam creaturam et vivificabis eum ut tuum opus, womit die Souveränität des Altissimus jedwedem Geschöpf gegenüber ausgedrückt ist170. Zudem ist der Altissimus auch revelator, der dem Esra revelabit ... mysteria midta (10,38) und ostendet ... visiones somniorum (V. 59); er ist es, der den fünf Schreibern des Apokalyptikers dedid intellection ... et scripserunt quae dicebantur ... notis quas non sciebant (14,42). Auch das revelatorische Handeln Gottes zeigt seine Erhabenheit und wirkt vertrauenstiftend. Beides, Erhabenheit und Vertrauenstiftung, wird schließlich in besonderer Weise durch die Eigenschaft des Altissimus als iudex zum Ausdruck gebracht bzw. bewirkt, eine Eigenschaft, die sich im 4 Esr auf Schritt und Tritt findet: Am Ende der Zeiten revelabitur Altissimus super sedern iudicii (7,33), er wird excitatas gentes (V. 37) zur Rechenschaft ziehen (ebd. und V. 38); sein Gericht erstreckt sich also über sämtliche Menschen, die jemals gelebt haben. Letzteres sowie der Aspekt der Erlösung der Schöpfung durch Gottes Gericht kommen in 11,46 schön zum Ausdruck: uti refrigeret omnis terra et relevetur liberata de tua vi et speret iudicium et misericordiam eins qui fecit earn. Das ausstehende Gericht ist demnach etwas, was in jedem Fall die machtvolle Durchsetzung göttlichen Heils und göttlicher Gerechtigkeit bewirkt. Letztere wird auch durch 14,32 verdeutlicht, wo Gott als iustus iudex bezeichnet wird. Zusammenfassend läßt sich demnach sagen, daß bereits die Bezeichnung Gottes als Altissimus seine Hoheit und Souveränität ausdrückt, die Vertrauen und Geduld bewirken. Wie bereits oben im Zusammenhang der Gottesbezeichnung „Altissimus" herausgearbeitet wurde, ist dieser der imperator 170

Die gubematio Gottes kommt auch 5,4 zum Ausdruck, wo zu Esra gesagt wird, er werde apokalyptische Erscheinungen der letzten Tage des alten Äons sehen, si autem tibi dederit Altissimus vivere.

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C. Die Ethik des 4. Esra

temporum und rex historiae. Dies führt zu einem weiteren, für das Thema „Vertrauen" maßgeblichen Sachverhalt: alle Zukunftsereignisse, auch die unter der Herrschaft der Finsternismächte (!), sind Gott unterstellt. Sie führen kein Eigenleben, sind nicht selbständig wirksam, sondern unmittelbare Ausläufer des Willens Gottes. Deshalb kann 4 Esr sogar sagen, daß Gott es ist, qui adferet periculum in illo tempore (13,23)171; er suscitabit die letzten tria regna (12,23) des Imperium Romanum. Sozusagen spiegelbildlich zu diesen beiden Aussagen sind folgende zu verstehen: wie die drei bösen endzeitlichen Könige von Gott erweckt werden, so bewahrt er den heilbringenden messianischen Erlöser genau bis zu dem Termin seines vorgesehenen Erscheinens auf (vgl. 12,32; 13,26); wie er adferet periculum in illo tempore, so ipse custodibit qui in periculo inciderint (13,23). Betrachtet man diese zweimal zwei Aussagen des 4 Esra zusammengenommen, so erblickt man ein vertrauenstiftendes Geschichtskonzept für die gesamte, vor Esra und seinen Adressaten liegende Zeit: Gott führt auch die dunkelsten Zukunftsereignisse herbei, bewahrt in diesen jedoch und wendet zu einem festgesetzten Termin alles Böse zum Guten. Vertrauen stiftet der Verfasser des 4 Esr auch dadurch, daß er die machtvolle Durchsetzung Gottes am Ende der Zeiten immer wieder betont hervorhebt. Nach Zeiten voller Unruhe und Angst wird der messianische Erlöser seine Gegner vor Gericht stellen und dann vernichten (vgl. 12,33) bzw. die anstürmende Menge mit Feuersbrunst zu pulvis cineris et fumi odor verwandeln (vgl. 13,9-11). Er wird danach 400 Jahre lang mit den Seinen auf Erden herrschen (vgl. 7,28). Schließlich kommt Gottes endgültiges Heil und das Ende des alten Äons: delebitur ... malum et extinguetur dolus. Florebit autem fides et vincetur corruptela, et ostendebitur Veritas quae sine fructus fuit tantis temporibus (6,27f.). Von hier aus erscheint es verfehlt, im 4 Esr „pessimism"172 auszumachen. Das genaue Gegenteil ist der Fall, denn durch den wiederholten Hinweis auf Gottes Souveränität und sein

171

172

Daß hier nur die messianischen Wehen gemeint sein sollen, wie Stone 401 sagt, kann ich nicht sehen. Mit periculum sind doch bestimmt alle Gefahren der Zukunft bis zur Durchsetzung Gottes in der Welt ausgesagt! J.J. Collins, Imagination 169.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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machtvolles Durchsetzen am Ende der Zeiten ist der 4 Esr von einem optimistischen Grundzug durchdrungen. Im Besonderen wirken im 4 Esr der Hinweis auf den bevorstehenden Untergang Roms, das begrenzte Maß der Leidenszeit der Glaubenden sowie ihre Versiegelung vertrauenstiftend. Der Untergang Roms wird in 5,3 etwas abstrakt und in 12,1-3 vermittels eines in seiner Massivität unüberbietbaren Bildes beschrieben. Bereits der Wortlaut der erstgenannten Stelle: et erit incomposito vestigio quam nunc vides regnare regionem, et videbunt earn desertam macht deutlich, daß „eine geschichtliche Größe, nämlich das gegenwärtige Weltreich"173 gemeint ist. M.E. Stone weist auf den Gegensatz zwischen der von Esra erfahrenen Größe Roms und seinem hier angekündigten Untergang hin: „the wealth of Rome which is so offensive to the seer (3:33), is turned to desolation"174. Bei der zweiten Stelle (12,1-3) ist die meisterhafte Dramaturgie des Verfassers unübersehbar, ist doch der Untergang Roms „the chief point of Vision 5"17S, auf den der Verfasser mit einem kunstvollen Spannungsbogen hinarbeitet: Die einzelnen Körperteile des Adlers waren über die gesamte Vision hinweg Symbole für bestimmte römische Machthaber und hatten somit eine erhebliche Bedeutung für die im 4 Esr vorgestellte Machtgeschichte des Imperium Romanum. Dies wird an dem Ekel vor den Körperteilen des Adlers, der in 11,45 zum Ausdruck kommt, besonders deutlich: non apparens non appareas, tu aquila et alae tuae horribiles et pennacula tua pessima et capita tua maligna et ungues tui pessimi et omne corpus tuum vanum. Und dieser ekelerregende Körper fällt in sich zusammen: omne corpus aquilae incendebatur, das römische Terrorregime wird also ein Raub der Flammen. Für die von Rom unterdrückte Erde ist der Anblick des brennenden Adlers etwas Entsetzliches, wie der Verfasser des 4 Esr mit excavescebat terra valde fortführt. Und dieses Entsetzen packt nicht nur die Menschheit in der Vision des Apokalyptikers, sondern auch ihn selbst: et ego a multo excessu mentis et α magno timore vigilavi. Esra ist demnach äußerst betroffen, ja regelrecht verstört. Und diese Verstörung ist nicht nur eine seelische, sondern umfaßt auch 173 174 175

Gunkel, Esra 74, Anm 5) zu S. 9. 4 Ezra 110. Ebd.

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C. Die Ethik des 4. Esra

den Geist, wie die folgenden Aussagen des 4 Esr deutlich machen (V 3b-9). Es sind demnach zwei Dinge, welche diesen Abschnitt als einen der wesentlichsten des 4 Esr ausweisen: der über den Körper bzw. die Körperteile des Adlers gezogene Spannungsbogen und das unbeschreibliche Entsetzen des Kosmos sowie des Apokalyptikers. Damit wird in einer ganz massiven Weise ausgedrückt, daß die Machtgeschichte des Imperium Romanum ein geschichtlich fixierbares Ende haben wird und daß dann endlich das geschehen kann, was 4 Esr in 11,46 - also unmittelbar vor der Schilderung des Untergangs Roms - angekündigt wird: Erholung und Befreiung der Welt. Gerade für die jüdischen Leser mußte der als Feuerball untergehende Adler als unverhofftes Aufsprengen ihrer Fesseln empfunden werden, denn sie hatten unter dem Imperium Romanum in besonderer Weise zu leiden; dies wurde an der Stelle 11,42, die sich in engstem Kontext mit 12,1-3 befindet, bereits deutlich176. Entsprechend hat die mit 12,1-3 erfolgte Beschreibung des Unterganges Roms für die Empfänger des 4 Esr vertrauenstiftende Wirkung. „Das Motiv vom eschat. Maß spielt ... eine beherrschende Rolle in 4Esr"177. An zwei Stellen des Buches kommt es betont zum Ausdruck: 7,74 und 4,36cf. Die erstgenannte Stelle lautet: Quantum enim tempus, ex quo longanimitatem habuit Altissimus his qui inhabitant saeculum, et non propter eos, sed propter ea quae providit tempora. Hier drückt der Verfasser des Buches die Setzung des Maßes der Weltzeit betont aus178; er hat ein besonderes Interesse an der Theonomie der Maßsetzung und an ihrer Irreversibilität179. „Selbst das Ausbleiben des Strafgerichts, die Zeit göttlicher Langmut, ist weder in menschlichen Taten, noch in Gottes Barmherzigkeit begründet, sondern allein in seiner irreversiblen Präfixierung dieser Gnadenfrist"180. Die zweite Stelle, 4 Esr 4,36cf., „könnte (man) geradezu ... als locus classicus der Vorstellung vom eschat. Maß bezeichnen"181. Sie lautet: quoniam in statera pondaverit saeculum et 176 177 178 179 180 181

S.o. C.2.1.b)6., S.191f. und C.2.1.d)2., S. 206-209. Stuhlmann, Maß 40. Vgl. ebd. Vgl. ebd. 41. Ebd. Ebd.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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mensura mensuravit tempora et numero numeravit tempora, et non commovet nec excitabit usque dum impleatur praedicta mensura. Hier wird in „einem dreifachen synonymen Parallelismus membrorum ... mit drei verschiedenen Metaphern ausgesprochen, daß Gott die Zeit terminiert hat"182. Damit will 4 Esr den Empfängern vermitteln, daß die Zeit unter Gottes Regierung steht; dies ermöglicht ihnen Vertrauen und Geduld183. Die mensura temporum, die in 4 Esr 4,36cf.; 7,74 zum Ausdruck kommt, bedeutet im Blick auf die in Bälde erwartete leidvolle Situation der Empfänger des 4 Esr: Von allem Anfang an ist ihr Leid der Macht Gottes untergeordnet; es ist deshalb nicht endlos, sondern begrenzt 184 . Die Hervorhebung des begrenzten Maßes der Leidenszeit der Glaubenden im 4 Esr wirkt so unmittelbar vertrauenstiftend. Schließlich wirkt auch der Hinweis des 4 Esr auf die Versiegelung der Frommen vertrauenstiftend. Von dieser ist in 6,5 im Zusammenhang „einer Reihe von Aussagen, die allesamt Gottes vorzeitliches Tun hymnisch beschreiben"185, die Rede: Et antequam ... consignarentur qui fidem thesaurizaverunt. Die Heilsgemeinde, die hier kontrastiv zu den „Sündern" als qui fidem thesaurizaverunt umschrieben ist, wird vorab versiegelt und dadurch von den übrigen Menschen abgegrenzt 186 ; somit handelt es sich um eine festumrissene Größe187. R. Stuhlmann ist der Auffassung, daß über „Zweck und Ziel der Versiegelung ... in 4 Esr nichts zu erkennen"188 sei und der „Vf. ... offensichtlich eine (auch den Lesern) bekannte Tradition"189 aufnehme. Während letzterem wegen des nicht seltenen Motivs der Versiegelung in antik-jüdischer Literatur beizu182 183 184

185 186 187 188 189

Ebd. 42. Vgl. Brandenburger, Verborgenheit 190. Vgl. Stuhlmann, Maß 162. Ähnlich Harnisch, Verhängnis 283ff., der zudem die Unmöglichkeit der menschlichen Berechnung des Endtermins hervorhebt: „Der Apokalyptiker sucht unter Hinweis auf den festliegenden göttlichen Plan den Leser davon zu überzeugen, daß es weniger darauf ankommt zu erfahren, wann das erwartete Ende dieses Äons eintrifft, sondern darauf zu wissen, daß es zur festgesetzten Zeit - nach Ablauf einer bestimmten Frist - mit Notwendigkeit eintreffen wird" (ebd. 287; Hervorhebungen im Original). Stuhlmann, Maß 195. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Ebd. Ebd.

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C. Die Ethik des 4. Esra

pflichten ist190, so läßt sich im Blick auf den ersten Satz doch zeigen, daß 4 Esr Zweck und Ziel der Versiegelung zum Ausdruck bringt. Zunächst ist fidem thesaurizare zu erklären. Von 7,77 her, wo von thesaurus operum repositus apud Altissimum die Rede ist, läßt es sich nicht anders verstehen als das Ansammeln guter Werke, die im Glauben vollbracht wurden bzw. als das Haben von Werken und Glauben; diese bilden im 4 Esr keinen Gegensatz191. 6,5 handelt also von der Versiegelung derer, die Glauben und Werke besitzen. Und genau diese Personengruppe steht unter dem besonderen und für unseren Zusammenhang entscheidend wichtigen Verheißung, bei den endzeitlichen Wehen und Schrecknissen von Gott bewahrt zu werden. So heißt es in 9,7f.: Omnis qui ... poterit effugere per opera sua vel per fidem in qua credidit, is relinquetur de praedictis pericidis; und in 13,23: Qui adferet pericidum in illo tempore, ipse custodibit qui in periculo inciderint, qui häbent operas et fidem ad Fortissimum. In der Zusammenschau der Stellen 6,5; 9,7f. und 13,23 wird deutlich, daß Versiegelung nach dem 4 Esr den Schutz der Frommen in den bevorstehenden endzeitlichen Nöten meint. Damit deckt sich das Verständnis des 4 Esr mit der Stelle PsSal 15,6f., die „Versiegelung" folgendermaßen erklärt: δτι τό σημειον του θεου έπί δικαίους εις σωτηρίαν. Λιμός και ρομφαία και θάνατος άπό δικαίων μακράν, φεύξονται γαρ ώς διωκόμενοι πολέμου άπδ όσίων. Stärker als an dieser Stelle ausgedrückt hebt 4 Esr die Bedingung für Versiegelung hervor: Glaube und Werke. Im Blick auf die bevorstehenden Drangsale wirkt auf die Leser des 4 Esr die Möglichkeit, als solche, die genügend Glauben und Werke haben, unter dem Schutz der Versiegelung zu stehen, unbedingt vertrauenstiftend. b) Die konkreten ethischen Weisungen des 4 Esr Bevor auf die speziellen Themen Subversion, Zuendebringen der Leidenszeit und Heiliger Krieg eingegangen wird, frage ich nach allgemeinen Verhaltensempfehlungen des 4 Esr im Zusammenhang der Bewältigung der erwarteten politischen Situation. Diese finden sich nur indirekt, denn an nur einer ein190 191

Siehe z.B. Jes 44,5; Ez 9,4; Weish 2,5; PsSal 15,6f.9. S.u. C.2.3.b)3., S. 270-272.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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zigen Stelle (nämlich 11,42) wird Ethisches mit künftigen politischen Erscheinungen in Verbindung gebracht. Ganz vereinzelt kommt im 4 Esr die Standhaftigkeit zur Sprache, wobei die entsprechenden lateinischen Substantive firmitas und constantia sowie der Ausdruck aequus animus'''2 nicht zu finden sind. Lediglich an einer Stelle erscheint das Adjektiv firmus, jedoch nicht in politischem Zusammenhang: Gottes verbum ist nach 8,22 firmum, woraus sich die firmitas als eine aus dem Wesen Gottes abgeleitete Tugend ergibt, die auch den Empfängern des 4 Esr gilt; diese hat natürlich politische Implikationen, zum Beispiel Standhaftigkeit in einer eventuellen Verfolgungssituation. Etwas stärker, jedoch ebenfalls nicht in politischem Zusammenhang, kommt das Motiv der Standhaftigkeit im Blick auf die Person Esras zur Sprache, ohne daß dabei die oben genannten Begriffe verwendet würden. So schildert Esra seinen Zustand nach einem Offenbarungsempfang folgendermaßen: Et evigilavi, et corpus meum horruit valde, et anima mea laboravit, ut deficeret (5,14), um dann fortzufahren: Et tenuit me qui venit angelus, qui loquebatur in me, et confortavit me et statuit me super pedes (V. 15). Das Stehen des Propheten - und damit in weitestem Sinne die Standhaftigkeit - wird demnach als etwas Positives dargestellt. Gleiches gilt für 10,29f., wo Esr sagt: et ecce venit ad me angelus ... et ecce eram positus ut mortuus et intellectus meus alienatus erat, et tenuit dexteram meam et confortavit me et statuit me super pedes meos. Daß es nicht zu weit gegriffen ist, in solchem Stehen des Propheten Esra einen Zusammenhang mit der Tugend der Standhaftigkeit zu sehen, wird an der Engelrede an Esra in 10,33 deutlich. Hier drückt der knappe Imperativsatz: Sta ut vir ganz eindeutig aus, daß das aufrechte Stehen und damit die Standhaftigkeit eine (männliche) Tugend ist. Daß diese auch den Empfängern des 4 Esr gilt, ist von der Funktion Esras als Vorbild und Beispiel in ethischen Belangen her selbstverständlich193. Etwas intensiver als „Standhaftigkeit" thematisiert 4 Esr „Geduld", die ebenfalls als Tugend im Bereich der politischen Ethik denkbar ist; aber ähnlich wie „Standhaftigkeit" wird „Geduld" nicht oft (nämlich nur einmal: 11,42) mit der Bewälti192

193

Mit diesen drei gibt MG (lat.) 2, 556 das deutsche Wort „Standhaftigkeit" wieder. Zur Vorbild- und Beispielfunktion Esras s.o. C.2.1.a), S. 180f.

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C. Die Ethik des 4. Esra

gung der erwarteten politischen Situation in Zusammenhang gebracht. Die lateinischen Substantive patientia, tolerantia und perseverantia, die wie der Ausdruck aequus animus dem deutschen „Geduld" entsprechen 194 , kommen im 4 Esra nicht vor. Allerdings finden sich das Verb perseverare und eventuell das Adjektiv perseverans an zwei Stellen, nämlich 7,123 und 8,22, und das Verb pati zehnmal (4,12; 7,18.99.126.128; 8,8; 9,42; 10,22 [zweimal].50). Doch folgen zunächst Ausführungen zu perseverantia etc. Während perseverare 7,123 in keinem ethischen Zusammenhang steht195, läßt sich perseverantia indirekt von 8,22 her, wo Gottes dicta als perseverantia beschrieben werden, als eine aus dem Wesen Gottes abgeleitete Tugend erschließen, die auch den Empfängern des 4 Esr gilt. Im Deutschen mit „Beharrlichkeit", „Ausdauer"196 oder - in weiterem Sinne - mit „Geduld"197 wiederzugeben, mag perseverantia im Rahmen der politischen Ethik des 4 Esr das geduldige Aushalten von eventuellen staatlichen oder sonstigen Bedrängnissen oder das beharrliche Jude-Sein auch in eventuell religiös intoleranten Zeiten ausdrücken und den Empfängern des 4 Esr als Tugenden empfehlen. Von den zehn Belegen des 4 Esr, die von pati reden, erscheinen drei im weiteren Kontext politischer Zusammenhänge: 9,42 und 10,22 (zweimal pati) sprechen von dem Leid Zions und seiner Einwohner im Rahmen des Untergangs Jerusalems. Spricht Esra in 9,42 die Frau der Zionvision ganz allgemein auf ihr Leid an: Quid passa es, die mihi!, beschreibt 10,21f. das Leid im Detail: Sanctificatio nostra deserta effecta est et altare nostrum demolitum est ... et liberi nostri contumeliam passi sunt, ...et mulieres nostrae vim passae sunt. Eine Tugend der patientia läßt sich daraus aber aus zwei Gründen nicht ableiten: Erstens erscheint pati in keiner Weise als idealisiert - etwa als zum Wesen Gottes gehörend - , und zweitens ist das Leid Zions das, was 4 Esr als in höchstem Maße defizitär empfindet; an der Krise Israels entzündet sich ja die gesamte theologische Problemstellung des Buches198.

194 195

196 197

Vgl. MG (lat.) 2, 243. Der Text lautet: et quoniam ostendetur paradisus, cuius fruetus ruptus perseverat, in quo est saturitas et medella. Vgl. MG (lat.) 1, 562. Vgl. MG (lat.) 2, 243.

incor-

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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Die lateinischen Verben exspectare, manere und quiescere, die im Deutschen mit „sich gedulden" wiedergegeben werden können199, werden im 4 Esr folgendermaßen verwendet: exspectare kommt überhaupt nicht vor, manere elfmal (jedoch nie im Zusammenhang von „sich gedulden" o.a.), quiescere achtmal. Bei letzterem ist nur das laesisti quiescentes 11,42 für unseren Zusammenhang von Belang, denn quiescere heißt unter anderem „Ruhe halten, ruhig bleiben, sich ruhig verhalten = nichts unternehmen, bes. im Staate"200, eine Bedeutung, die sich weitestgehend mit dem deckt, was in demselben Vers mit mansueti und qui te (= aquilam) non nocuerunt ausgesagt wird201. Dadurch, daß die quiescentes an dieser Stelle mit den mansueti verum dicentes, den qui fructificabant und den qui te non nocuerunt parallelisiert werden, ist quiescere eindeutig als eine Tugend (und zwar vom Kontext [v.a. V. 40f.] her politische!) ausgewiesen. Außerdem ist es eine Tugend, die nach dem Verständnis des 4 Esr auch in der Zukunft geübt werden soll. Denn einerseits weist das humiliasti muros zurück auf die Zerstörung bzw. besser: Erniedrigung Jerusalems202, andererseits aber das Hervorheben der Unwahrheit des Adlers und seiner Herrschaft mit iudicasti terram non cum veritate (V 41) und odisti verum dicentes et dilexisti mendaces (V. 42) auf die in Bälde erwartete politische Situation vor203. Somit erweist sich 11,42 als die einzige Stelle des 4 Esr, die eindeutig die politische Ethik des Buches im Blick hat. Hier wird mit der Empfehlung der drei Tugenden: mansuetus esse, 198 199 200 201 202

203

S.o. C.I.2., Theologische Voraussetzung: Die Grundproblematik des 4 Esr, S. 175f. Vgl. MG (lat.) 2, 243. Georges 2, 2160 (Hervorhebungen des Originals weggelassen). Zu mansueti s.o. C.2.1.b), S. 192;, C.2.1.c), S. 202f.; C.2.1.d), S. 208. Denn humiliare und humilitas verwendet 4 Esr bevorzugt im Zusammenhang der Erniedrigung Zions: 6,19; 9,41.45; 10,7.22; 12,48; bes. deutlich ist 10,7: Quoniam Sion mater nostra omnium in tristitia contristatur et humilitate humilata est. - Auch ist humiliare muros kein üblicher lateinischer Ausdruck (statt humiliare erwartet man eher solo [adjaequare, delere, diruere, disicere, complanare [vgl. MG (lat.) 2 507 s.v. schleifen]). Dies erweckt den Anschein, als ginge es 4 Esr bei humiliare muros 11,42 eher um Erniedrigung als um Zerstörung. Denn die in Bälde erwartete politische Situation wird ganz stark von Lüge geprägt sein (s.o. 2., S. 206-209), wie 14,17 zu Esra gesagt wird: Prolongabit enim magis Veritas et adpropinquabit mendacium. Iam enim festinat aquila venire, quam vidisti in visionem.

220

C. Die Ethik des 4. Esra

quiescere, (aquilam) non nocere ein eher passiv-quietistisches Verhalten im Bereich der politischen Ethik empfohlen. Nachdem die Frage nach den allgemeinen Verhaltensempfehlungen des 4 Esr im Zusammenhang der Bewältigung der erwarteten politischen Situation behandelt wurde, gehe ich im folgenden auf die speziellen Themen Subversion, Zuendebringen der Leidenszeit und Heiliger Krieg ein. α) Subversion Da die subversive Wirkung des 4 Esr und seiner Leser nur vor dem Hintergrund der Staatskritik des Buches verstanden werden kann und diese an sich schon etwas ist, das den Glaubenden die in Bälde erwartete Situation (s.o. 2.) zu bewältigen hilft, ist zunächst auf sie einzugehen. 4 Esr entlarvt die Machtgeschichte des Imperium Romanum als gottlose Geschichte und stellt sie als Zerfallsgeschichte hin. Auf der einen Seite ist Gott (und - weniger betont - auch der messianische Erlöser) das wahre Sein, die Fülle des Lebens: Gott, der Altissimus (3,3 u.ö.), war und wirkte vor aller Zeit und wird dies auch am Ende aller Zeiten tun (vgl. 6,1-6) und ist der vivificans (5,45); durch den messianischen Erlöser liberabit (Altissimus) creaturam suam (13,26). Auf der anderen Seite findet sich das Römische Reich, das kein dauerhaftes Sein besitzt, vielmehr von Zerstörung und Zerfall geprägt ist: es erscheint in der Gestalt des ungerechten, verlogenen und Unterdrückung bringenden Adlers (vgl. 11,40-42), dessen letzte Könige sich gegenseitig umbringen (vgl. 12,28204); erst nach dem Ende des Adlers kann sich die Erde erholen und zur Ruhe kommen (ll,45f.)20S. 4 Esr ist die Situationsanalyse eines ideologiekritischen Theologen, denn er durchschaut die im wahrsten Sinne des Wortes bestialische Herrschaft des Adlers. In ihm verkörpert sich reale Macht, nämlich die des Imperium Romanum, die sich gnadenlos gegen die Schöpfung, Weltbevölkerung und besonders die Juden - und mit alledem gegen das Leben an 204 205

Der lat. Text von 12,28 lautet: unius enim gladius comedet qui cum eo, sed tarnen et hie gladio in novissimis cadet. Der lat. Text von ll,45f. lautet: proptera non apparens non appareas, tu aquila ... ut refrigeret omnis terra et revertetur liberata de tua vi et speret iudicium et misericordiam eius qui fecit earn.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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sich! - wendet. Die Antwort auf die bange Frage der Juden, wie es neben Gott eine so gewaltige Eigenmacht geben kann, wird mit dem Verweis auf Gottes gubernatio und mensura temporum206 im Rahmen seiner Verborgenheit im Weltgeschehen sowie seiner Wahrheit im Gegensatz zur Lüge des Adlers geliefert: Es gibt nur scheinbar zwei Mächte, denn die zweite Macht beruht auf der vorübergehenden Verborgenheit des Höchsten und auf der ihr eigenen und ihr Wesen stark bestimmenden Lüge. Dadurch, daß 4 Esr das Imperium Romanum und seine Machtgeschichte als von Lüge, Zerfall und Vernichtung geprägt darstellt, entzieht er der bestialischen Macht Roms Anerkennung und Legitimation. Denselben Effekt haben die Aussagen des 4 Esr vom messianischen Erlöser, denn dieser prangert massiv betont die Freveltaten des Adlers an207. Genau dieser Entzug von Anerkennung und Legitimation läßt sich als subversive Praxis bezeichnen. Denn er geschieht nicht nur im Kopf des Esra, sondern soll auch von den Empfängern des Buches vorgenommen werden. Mit seiner Staatskritik will der Apokalyptiker bewirken, daß die Leser bzw. Hörer ihr Bekenntnis zur Herrschaft Gottes (und des messianischen Erlösers) als Protest gegen alle ihr widersprechende Herrschaft begreifen lernen. Mit der Weitergabe des Zeugnisses für den allein herrschenden Gott nach außerhalb der jüdischen Gemeinde wird diese Subversion auch in die nichtjüdische Welt hinausgetragen, so daß die Staatskritik des 4 Esr auch in das Imperium Romanum hineinwirkt. ß) Zuendebringen der Leidenszeit Der für diesen Zusammenhang wesentliche Text des Buches ist 4,33-37. Er lautet ab V. 35: (35) Norme de his interrogaverimt animae iustorum in promptuariis suis dicentes: Usquequo spero sie? Et quando venit jruetus areae mercedis nostrae? (36a) Et respondit ad eas Hieremihel archangelus et dixit: Quando impletus fuerit numerus simttium vobis, (36b) quoniam in statera ponderavit saeculum (37) et mensura mensuravit tempora et numero numeravit tempora, et non commovebit nec excitabit usque dum impleatur praedicta mensura. Das Kommen des neuen Äons richtet sich 206 207

Zur gubernatio und mensura temporum Dei s.o. 3.a), S. 209-216. S.u. C.2.2.a), S. 248-252.

222

C. Die Ethik des 4. Esra

demzufolge „nach der feststehenden Zahl der auserwählten Gerechten, die vor Ablauf der Zeit dieses (sie: alten) Äons erreicht werden muß"208. Der Apokalyptiker scheint auf den ersten Blick - vor allem mit der Aussage: Quando impletus fuerit numerus similium vobis den Zeitpunkt des Endes mit der Existenz der Gerechten (vgl. V. 35) zu verknüpfen. Doch dies ist nur sehr begrenzt der Fall. Denn obwohl hier der Endtermin durch die von Gott im voraus festgesetzte Anzahl der iusti determiniert ist209, ist dieser numerus iustorum doch fest mit dem Motiv der mensura temporum V. 36bf. verknüpft, genauer - mit R. Stuhlmann - gesagt: diesem „ganz untergeordnet" 210 . So ist Stuhlmann zuzustimmen, wenn er fortfährt: „Und damit unterstreicht gerade diese Weise der Kombination, daß auch der numerus iustorum - wie die mensura temporum - Gottes souveräne Setzung ist, die damit menschlicher Einsicht und Berechnung verschlossen ist, - eine irreversible Setzung ist, die damit das Ende determiniert, - eine Setzung ist, deren Erfüllung menschlichen Möglichkeiten entzogen ist. Damit ist jede Möglichkeit menschlicher Einflußnahme auf das Vollwerden des numerus iustorum und damit das Kommen des Endtermins ausgeschlossen" 211. Die letzte Feststellung entspricht genau dem im weiteren Textverlauf des 4 Esr, nämlich in den V. 38-42, Ausgesagten: Auf die Feststellung der allgemeinen Gottlosigkeit der Menschen V. 38 folgt Esras Frage, ob wegen dieser Sünden der Erdenbewohner nicht die Tenne der Gerechten, das ist der Lohn der Gerechten nach der Äonenwende (vgl. V. 35) - und damit die Äonenwende selbst - , aufgehalten werden können (V. 39). Mit dem Bildwort vom Mutterschoß V. 40-42 wird Esras Frage beantwortet: Sowenig ein Mutterschoß nach neunmonatiger Schwangerschaft den Fetus halten kann, sowenig vermögen die Kammern der Seelen in der Scheol den Zeitpunkt der Herausgabe der Seelen zu verzögern. Nach alledem ist deutlich: Das Ende der Leidenszeit, herbeigeführt etwa durch Israels Buße, das gerechte Verhalten 208 209 210 211

Harnisch, Verhängnis 278. Vgl. Stuhlmann, Maß 109. Ebd. 110. Ebd. (Hervorhebungen von mir).

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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der Glaubenden212 oder deren Martyrium, kommt im 4 Esr nicht in dem Sinne zur Sprache, daß die Frommen durch solches Tun das Ende beschleunigen könnten; wohl aber können sie an jedem Handeln dieser Art ablesen, daß das Eschaton ein Stück näher gekommen ist. Deshalb sind die Glaubenden am Zuendebringen der Leidenszeit ursächlich mitbeteiligt, ohne daß sie jedoch das Kommen des Endes - dessen Zeitpunkt von Gott festgesetzt ist - tatsächlich beschleunigen könnten. γ) Heiliger Krieg Zum Thema des Krieges der Endzeit im 4 Esr hat sich 0. Böcher wiederholt geäußert213. Seine Darstellung vom Verlauf desselben gebe ich zunächst wieder, um daran eigene Beobachtungen zu der Schilderung des endzeitlichen Krieges nach 4 Esr anzuschließen. Darauf folgen die Äußerungen Böchers, die den eschatologischen Krieg in der Vorstellung des 4 Esr, aber auch in der des antiken Judentums im allgemeinen interpretatorisch behandeln; am Schluß werde ich diese für den 4 Esr exegetisch untermauern. „Zufolge des 4. Esrabuches ... ist das alte Jerusalem zerstört, ist sein Tempel verwüstet (4Esr 9,38-10,24 [besonders 10,211; vgl. 10,48f.); Israel ist den Heiden preisgegeben (4Esr 5,28-30). Dies aber ist nicht das Letzte. Ein neues Jerusalem, zuvor präexistent im Himmel verborgen (4Esr 8,52), wird herabschweben (4Esr 7,26-44; 9,26-10,60 [10,54!]; 13,1 ff. [13,36!]) . . . . [Glewaltige Fundamente verbürgen die Sicherheit der neuen Gottesstadt (4Esr 10,27). ... [D]er Aufruhr der Völker [wird] zum Sturm gegen den Zion (4Esr 13,1-11.30-34); die Entscheidungsschlacht tobt ,an einem Punkte' (4Esr 13,5-11.33-35): dem Berge Zion (4Esr 13,35). ... Als siegreicher Welterlöser und Herr des Feuers wirkt der ,Mensch' (4Esr 13,3-13.25-38), eine Parallelfigur zum Messias (4Esr 7,28f.); die Feinde trifft 212

213

Zu beidem s. Stuhlmann, Maß llOf. Dieser warnt hier mit Recht vor einer falschen Bestimmung der insti V. 35f.: Esr „sieht die iusti also nicht so sehr unter dem Gesichtspunkt, daß sie sich gerecht verhalten und recht handeln ..., sondern in erster Linie unter dem Gesichtspunkt, daß sie Gerechtigkeit empfangen, also als Heilsempfänger. Daß sie das Heil deshalb empfangen, weil sie in ihrem Leben entsprechend gehandelt haben, ist zwar für 4Esr selbstverständlich ..., hat hier aber nicht den Ton" (Hervorhebung von mir). Vgl. Böcher, Stadt 121f.; ders., Krieg pass., bes. 49.

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C. Die Ethik des 4. Esra

Gericht und strafende Vernichtung (4Esr 13,37f. wie 4Esr 7,33-44). ... Gott [sammelt] die weggeführten Stämme der Diaspora (4Esr 13,12f.39-50)"214. Ergänzend hierzu erscheinen mir folgende zwei Beobachtungen wichtig: Erstens handelt es sich nach 13,37f. in dem Sinne um einen gerechten Krieg, als mit dem Kampf des messianischen Erlösers Recht gesprochen und Bestrafung der Feinde vollzogen werden 2is . Zweitens sind an diesem Krieg nur zwei, höchstens drei Gruppen beteiligt: ganz sicher der messianische Erlöser216 und seine Feinde (die multitude hominum, quorum non erat numerus 13,5), eventuell aber auch Auxiliartruppen des messianischen Erlösers, rekrutiert aus früher Entrückten217. Die Anwesenheit dieser Personengruppe beim Kommen des messianischen Erlösers steht von den Stellen 6,26; 7,28; 13,52 und 14,9 her außer Frage; unklar ist jedoch, ob 4 Esr sie sich kämpfend denkt. Eindeutig ist aber, daß 4 Esr nirgends die Frommen als Kampfteilnehmer vorstellt. Vielmehr ist die multitude alia V. 12 eine pacifica, die vom messianischen Erlöser beschützt wird (V. 49) und der er multa plurima portenta zeigen wird (V. 50). Auf einer mehr interpretatorischen Ebene schreibt Böcher: „Noch einmal erfahren die jüdischen Spekulationen um den Krieg der Endzeit und die neue, ewige Stadt Jerusalem eine kräftige Neubelebung: aus Anlaß der Zerstörung Jerusalems und seines Tempels durch Titus (70 n.Chr.). Jetzt ist die Vorläufigkeit des ... zweiten Tempels erwiesen, und die blutigen Auseinandersetzungen mit den heidnischen Römern werden qualifiziert als Gefechte des eschatologischen Kriegs. So beschreibt das 4. Esra-Buch nicht nur die Herrlichkeit der neuen Stadt Jerusalem und ihres Tempels (4 Esr 10,25-27.53-55), sondern auch den kriegerischen Ansturm der Völker gegen den Zion und die Entscheidungsschlacht, die zur Vernichtung 214 215

2,6

217

Böcher, Stadt ebd. (Hervorhebungen des Originals weggelassen). Den (allgemeinen) Hinweis auf die Gerechtigkeit des letzten, endzeitlichen Krieges verdanke ich Böcher, Krieg 45f. Von hier aus und dem bisher Gesagten ist Münchow zu widersprechen, der von einer „unmilitantefnl Charakterisierung des .Menschen'" (Ethik 82) im 4 Esr spricht. Daß Entrückte zusammen mit dem messianischen Erlöser am Ende der Zeiten erscheinen werden, geht aus der Zusammenschau der Stellen 6,26; 7,28; 13,52 und 14,9 unzweideutig hervor; vgl. Stone, 4 Ezra zu diesen Stellen, v.a. zu 6,26 (S. 172).

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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der Feinde und zur Sammlung des erneuerten Gottesvolks ... führt (4 Esr 13)"218. - Und zum Krieg der Endzeit im antiken Judentum generell: Dieser ist „ein Durchgangsstadium vor dem Einzug der Frommen in die glanzvoll erneuerte Gottesstadt Jerusalem. Eine bedrängte Gegenwart kann auf diese Weise eschatologisch gedeutet werden; hinter aktuellen Nöten scheint ein neues Jerusalem als Ziel aller Hoffnungen auf. Hier überall werden Kriege passiv erfahren und nachträglich eschatologisch qualifiziert"219. Und: „Der Krieg der Endzeit ist nach altjüdischer ... Lehre ... ein Deutungsschema zur geduldigen Bewältigung aktueller Nöte und Gefährdungen"220. Daß diese interpretatorischen Äußerungen Böchers, die er großenteils als allgemeine Einsichten zur Vorstellungswelt des antiken Judentums macht, auf 4 Esr zutreffen, wird am Text des Buches in zwei Sachzusammenhängen deutlich: Erstens ist in 4 Esr das vergangene Unglück Zions eng mit künftigen eschatologischen Gewalttaten verknüpft (vgl. ll,40-42) 221 , so daß man analog dazu auch den eschatologischen Krieg in Zusammenhang mit dem unlängst vergangenen Bellum Judaicum setzen darf, wie Böcher dies tut. Zweitens spricht das von Böcher in vorherigem Zusammenhang erwähnte Zionschema des 4 Esr für sich: Den verzweifelten Äußerungen: signaculum Sion, quoniam resignata est de gloria sua nunc (10,23) und (tu aquila) destruxisti habitationes eorum qui fructificabant, et humüiasti muros eorum qui te non nocuerunt (11,42) stehen antithetisch die Beschreibung des jenseitigen bzw. eschatologischen Jerusalems als Sion ... parata et aedificata (13,36) mit fundamentis'magnis (10,27), dessen splendor vel magnitude sehr beachtlich sind (V. 55), gegenüber. Äuch hier entsprechen sich die Zerstörung Jerusalems 70 n. Chr. und die endzeitliche Erscheinung der himmlischen Gottesstadt spiegelbildlich, was κατ' άναλογίαν zu dem Schluß berechtigt, daß der die Vernichtung Jerusalems herbeiführende Krieg und der Heilige Krieg der Endzeit einander ebenfalls spiegelbildlich entsprechen. Die Funktion der Darstellung des eschatologischen Krieges ist daher mit Sicherheit die von Böcher beschriebene: die Bewältigung aktueller Nöte (Theodizeefrage des 4 Esr!) und Gefährdungen in ei-

218 219 220 221

Krieg, 49 (Hervorhebungen des Originals weggelassen). Ebd. 51. Ebd. 54. Zu dieser Stelle siehe die obigen Ausführungen S. 219f.

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C. Die Ethik des 4. Esra

ner bedrängten Gegenwart, die von der Katastrophe des Jahres 70 schwer gezeichnet ist. Dadurch, daß an den kriegerischen Handlungen der Endzeit die Frommen jedoch keinerlei Anteil haben, kann das Thema Heiliger Krieg nicht im Rahmen aktiver politischer Handlungen der Glaubenden gesehen werden. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Die Hoffnung auf eine durch die militärische Macht des messianischen Erlösers herbeigeführte Wende bewirkt Geduld222, eine Tugend, an der kaum Aktives zu finden ist. e) Ethische Motive, die nicht in die bisherigen Bereiche integrierbar sind 1. Tapferkeit Die lateinischen Wörter und Ausdrücke für Tapferkeit (fortitude, virtus, animus fortis)223 und tapfer (fortis, animosus, strenuus)224 kommen im 4 Esr teilweise gar nicht vor (so fortitudo, animosus, strenuus und der Ausdruck animus fortis)·, wenn sie erscheinen, dann - wie wir sehen werden - nicht unbedingt im Sinne von Tapferkeit, tapfer. Tapfer soll die Frau der Zionvision ihr Unglück tragen: Nunc ergo retine apud temetipsam dolorem tuum et fortiter fer quae tibi contigerunt casus (10,15). 4 Esr führt damit das tapfere Ertragen von Leid als empfehlenswerte Tugend vor (auch die Frau der Zionvision ist Beispiel und Vorbild der Ethik); er spricht sie ins Herz seiner Leser, die sich als Juden nach der Katastrophe des Jahres 70 im Unglück der Frau der Zionvision wiederfinden können und sollen. Tapferkeit wird den Lesern des 4 Esr auch empfohlen durch das letzte Glied der Aufzählung 10,22: et fortes nostri invalidi facti sunt. Von der dreigliedrigen Reihung parvuli (= männliche kleine Kinder), iuvenes (junge Männer „in den besten Jahren vom 25. [od. 30.] bis etwa zum 45. Jahre")22S und fortes her läßt sich die Bedeutung „männlich-tapfer, heldenhaft" gewinnen und mit „Helden" übersetzen 226 . 222 223 224 225

S.o. und die entsprechenden Aussagen in Böcher, Krieg 49.54. Vgl. MG (lat.) 2, 578. Vgl. ebd. MG (lat.) 1, 418 (Kleindruck des Originals nicht berücksichtigt).

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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Damit sind die Belege des 4 Esr, die von Menschen Tapferkeit aussagen, auch schon genannt. Zwar ist an zwei Stellen (nämlich 5,53; 12,5) von menschlicher virtus die Rede; aber in beiden Fällen bedeutet es „Kraft": 5,53 spricht von der jugendlichen Kraft (in iuventute virtutis) des Mutterschoßes, 12,5 von der Entkräftung des Esra nach Offenbarungsempfang (nec modica est in me virtus). Ähnliches trifft auf die Bezeichnung Gottes als Fortis (vgl. 6,32; 9,45; 10,24; 11,43; 12,47) oder Fortissimus (vgl. 13,23) zu: hiermit ist nicht nur die Tapferkeit Gottes ausgesagt, sondern allgemeiner seine Kraft - oder vielleicht am treffendsten: Energie227. Da diese zum Wesen Gottes gehört, läßt sich fortis esse als eine aus dem Wesen Gottes ableitbare Tugend beschreiben, freilich primär im Sinne von kraftvoll, energiereich sein und erst sekundär im Sinne von tapfer sein. Insgesamt läßt sich demnach sagen, daß 4 Esr die Tapferkeit als tapferes Ertragen von Unglück wie auch als heldenhaftes Handeln seinen Lesern empfiehlt und daß fortis esse in der angegebenen Bedeutungsnuancierung als eine aus dem Wesen Gottes ableitbare Tugend erscheint. - Zum inhaltlich verwandten Thema der Standhaftigkeit s.o. C.2.1.d)3.b), S. 217f. 2. Tröstung Von den lateinischen Wörtern und Ausdrücken, die im Deutschen mit Tröstung und trösten wiedergegeben werden (Tröstung: consolatio, solatium] trösten: consolari, consolaüone/solacio levare/firmare, solatium dare/adferre)22*, erscheint im 4 Esr nur consolari. Objekte der Tröstung sind a) die Frau der Zionvision, b) die humiles Israels, c) Esra selbst und d) das Israel seiner Zeit. Zu a) Nach dem unerwarteten Verlust ihres mit Mühe aufgezogenen Sohnes (vgl. 9,46; 10,1) erfährt die Frau der Zionvision Tröstung durch ihre Mitmenschen: Et evertimus omnes lumina, et surrexerunt omnes cives mei ad consolandum me, et quievi usque in alium diem usque noctem. Et factum est cum omnes quievissent ut me consolarentur ut quiescerem, et surrexi nocte 226 227 228

So Schreiner, 4 Esr 379; Klijn, Esr-Apok 82. Fortis läßt sich u.a. auch mit „energisch" wiedergeben, vgl. MG (lat.) 1, 309 und Georges 1, 2824. Vgl. MG (lat.) 2, 594.

228

C. Die Ethik des 4. Esra

(10,2f.). Das mit Ritualen verbundene Trösten229 der Mitmenschen (omnes cives mei) zeigt Wirkung: et quievi. Diese hört jedoch mit dem Ende des Tröstens der Menschen (cum omnes quievissent ut me consolarentur) auf: et surrexi node; ja, die Frau gerät ganz außer sich: neque manducabo neque bibam, sed sine intermissione lugere et ieiunare, usque dum moriar (V. 4). Die Rede, die Esra nun an die Frau hält, ist von entscheidendem theologischen Gewicht für das ganze Buch230; diese theologische Dichte läßt es fraglich erscheinen, ob das, was sich auf der Ebene des menschlichen Handelns zwischen Esra und der Frau ereignet, überhaupt als für die Ethik relevant angesehen werden kann. Dies ist um so mehr der Fall, als Esra V. 5 in Zorn ausbrechend (cum iracundia ad earn) ihr antwortet (respondi; eig. wohl besser exprobravi, increpavi, increpitavi o.ä.231): Stulta super omnes mulieres, non vides ... (V. 6). Doch da Esra als Ziel seiner zornigen Rede angibt: Tu ergo excute tuam multam tristitiam et depone abs te multitudinem dolorum, ut tibi repropitietur Fortis et requiem faciat tibi Altissimus, requietionem laborum (V. 24), ein Ziel, das sich mit dem der cives mei von V. 2f. (dreimal quiescere\) deckt, dieses aber durch das Mittel des consolari erreicht wurde (wenigstens vorübergehend), ist die harte Rede Esras als consolatio - auch als Bestandteil der Ethik des 4 Esr - zu begreifen. Dies trifft um so mehr zu, als der Offenbarungsengel diese Rede in V. 41.49 als consolatio bzw. als deren Versuch bezeichnet: Et ecce vidisti simäitudinem eins, quomodo filium luget, et tu inchoasti consolare earn (V. 49); quam vidisti lugentem et inchoasti consolare earn (V. 41). Daß es dennoch nicht möglich ist, diese Rede Esras mit consolari vollständig zu identifizieren, wird an der Untersuchung des corripere und consolari von 14,13 deutlich werden. Zum Schluß von a) sei noch darauf hingewiesen, wie die Tröstung der Frau versucht wird. Die Mitbürger (cives) der Frau tun dies sicher durch rituelle Trauer- und Trostbräuche, Esra durch eine Rede - genauer: durch den Hinweis auf das noch größere Unglück Zions (vgl. 10,6-11.20-24; v.a. V. 20: consenti persuaderi, quid enim casus Sion, et consolare propter 229

230

231

S. dazu o. C.2.1.b) den „Anhang (am Ende der Gebote eins bis vier): kultische Motive im 4 Esr", S. 185-190. Sie ist integraler Bestandteil der Zionepisode 9,38-10,24; zu dieser vgl. Brandenburger, Verborgenheit pass, und bes. 72-84. Vgl. dazu MG (lat.) 2, 576 s.v. „tadeln".

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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dolorem Hierusalem)232 und die Aufforderung: Nunc ergo retine apud temetipsam dolorem tuum et fortiter fer quae tibi contigerunt casus (V. 15). Zu b) In zugleich merkwürdiger Entsprechung wie schwer erklärbarem Gegensatz zu dem unter a) im Zusammenhang der Zionepisode Gesagten steht 14,13. Am Ende der ganzen Apokalypse wird dem Esra hier in visio 7 aufgetragen: Nunc ergo dispone domum tuam, et corripe popidum tuum, et consolare humiles eorum (S bietet zusätzlich: „und belehre seine Weisen"233); er erhält also ganz konkrete Handlungsanweisungen und somit, da nach der Definition zu Beginn der Dissertation Ethik als „Bedenken des Handelns" verstanden wird, eindeutige ethische Weisungen. Einfach zu interpretieren ist zunächst das consolare humiles eorum: wie bei den „seine Weisen" (S) handelt es sich um einen Teil von populus tuus, nämlich um die - aus welchen Gründen auch immer - Niedrigen. Zwei Beispiele für solche Niedrigkeit sind mit 9,41.45 gegeben. In V. 45 sagt die Frau der Zionvision im Rückblick auf ihre Gebetserhörung: exaudivit Deus ancillae tuae et pervidit humilitatem meam ... et ded.it mihi füvum; die frühere Kinderlosigkeit der Frau ist also ein Fall von humilitas. Gleiches gilt für den Verlust eines Kindes, denn wegen des unerwarteten Todes ihres Sohnes spricht die Frau V. 41: valde amara sum animo et humilata sum valde. - Von diesen zwei Stellen her ist davon auszugehen, daß 4 Esr mit den humiles 14,13 Benachteiligte aller Art meint: kinderlose Frauen; Mütter, die ihr Kind verloren haben; geschiedene und/oder unverheiratete Frauen; Witwen; Waisen usw.234. Ungleich schwieriger ist die Zuordnung von corripere und consolari. Mit corripe populum tuum wird Esra genau das für das Volk aufgetragen, was er im Fall der Frau der Zionvision getan 232

233

234

Beachtenswert ist auch hier das consolari: Nach dem Verständnis der Zionvision ist die schroffe Rede Esras eine consolatio\ S (^μπι^71 >•>ü\ Atmcx) dürfte ursprünglich sein, denn die kürzere Lesart von L könnte durch Homoioteleuton αυτών entstanden sein (vgl. Schreiner, 4 Esra 401). Es besteht keine Veranlassung, wie Stone in dem consolare humiles eorum .„comfort in present distress by the revelation of eschatological benefits yet to come'" (4 Ezra 422), also einen übertragenen Bedeutungsinhalt zu sehen. Gerade die von Stone als Beleg hierfür angeführte Stelle 12,8 (vgl. ebd.) weist in ihrem Kontext in eine andere Richtung, s.u.

230

C. Die Ethik des 4. Esra

hat: schroffe, scharf tadelnde Zurechtweisung zu üben23S. Wurde dieses in der Zionvision als consolari verstanden236, so findet sich 14,13 die Trennung von corripere und consolari231. Daraus läßt sich der Schluß ziehen, daß 4 Esr das schroffe, scharf tadelnde Zurechtweisen der Frau der Zionvision nicht vollkommen als consolatio begreift bzw. nicht als ganz und gar deckungsgleich mit dieser. Zu c) An einer Stelle des 4 Esr ist von der Tröstung der Person Esras die Rede, wo der Apokalyptiker spricht: Et dixi: Dominator Domine, ... conforta me et ostende servo tuo mihi interpretationem et distinctionem Visus horribilis huius, ut plenissime consoles animam meam (12,7f.). Diese Stelle will in ihrem textlichen Zusammenhang beachtet werden: Esra war soeben der erste und entscheidende Teil der Adlervision geoffenbart worden, an dessen Ende die gigantische Aussage steht: et omne corpus aquüae incendebatur, et expavescebat terra valde (12,3). Die physischen, psychischen und mentalen Folgen des Visionsempfangs an sich selbst beschreibt Esra mit a multo excessu mentis et α magno timore vigilavisse, fatigatus esse animo, spiritu invalidus esse valde, nec modica esse in se virtus α multo timore quem expavisse nocte hac (vgl. V. 3-5). Wegen dieser Schwächung richtet Esra das eingangs teilweise zitierte Gebet an Gott (vgl. V. 6: ut me confortet [Altissimus]). Aus diesem und seinem genannten Kontext ergibt sich eindeutig, daß Esra in einer physisch, psychischen und mentalen Notsituation ist, aus der befreit zu werden (plenissime consolari, V. 8) er Gott bittet. Diese consolatio wird seines Erachtens durch zweierlei erreicht: durch confortare V. 6.8 (= „sehr stärken")238 und durch ostendere der Visionsdeutung V. 8. Die Ver235

236 237

238

Man könnte das et respondi 10,5 nicht nur durch die oben S. 228 mit Anm 231 angeführten Verben, sondern geradezu durch et corripui ersetzen! Corripere findet sich wie die anderen als Ersatz genannten Verben ebenfalls in MG (lat.) 2, 576 s.v. „tadeln". — Zum corripe populum tuum 14,13 s. auch unten unter „ermahnen". S.o. a). Inhaltlich lassen sich die beiden Aussagen: corripe populum tuum, et consolare humiles eorum auch nicht harmonisieren. Eine Harmonisierung wäre etwa durch die Interpretation des et vor consolare als eines explikativen denkbar; dann bliebe aber unverständlich, weshalb nur ein Teil des Volkes consolatio in Form von corripere erfahren soll. Georges 1,1460 (Hervorhebungen des Originals weggelassen).

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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wendung des confortare als eines sehr intensiven Ausdrucks für stärken (warum gebraucht 4 Esr nicht robustum/firmum facere, corroborare, firmare o. dgl. ?)239, die zweifache Anführung dieses Wortes (V. 6 und 8) und die deutliche Beschreibung seiner Beschwerden (s.o.) lassen die folgende Interpretation M.E. Stones hinfällig werden: Im Zusammenhang des consolare humiles 14,13, das er mit „comfort the lowly"240 übersetzt, schreibt er, es bedeute „,comfort in present distress by the revelation of eschatological benefits yet to come'; see 22:8 ..."241, hält diese Interpretation also auch im Blick auf 12,8 für angemessen. Sein exegetischer Fehler liegt auf der Hand: Er übersieht, daß consolatio in 12,6.8 auf den beiden Wegen des confortare und des ostendere vollzogen werden soll, und unterschlägt das im Text hoch gewichtete confortare. Dieses aber drückt die gewünschte physisch-psychisch-mentale Genesung des Apokalyptikers aus, während jenes für seine - ebenfalls consolatio bewirkende - Zunahme an Offenbarungswissen steht. Zu d) Objekt der consolatio ist nach 4 Esr schließlich das Israel seiner Zeit. Dies wird zwar nirgends direkt unter Verwendung von consolari oder ähnlichem ausgedrückt, ergibt sich aber zwingend aus dem in a) und b) Gesagten sowie aus dem Gesamtzusammenhang des Werkes. Zum ersten: Stand vor allem unter a) die menschliche Seite der consolatio im Vordergrund (die cives der Frau der Zionvision und Esra bemühen sich, sie zu trösten), so wurde auch auf die theologische Relevanz der Rede Esras an die Frau hingewiesen. Die theologische Bedeutung der Rede im Zusammenhang der consolatio Israels läßt sich folgendermaßen prägnant formulieren: Da die Frau der Zionvision ein Symbol für Israel ist, ergeht die consolatio der Rede Esras an das Israel seiner Zeit. Dies wird durch die Beobachtung, daß die schroffe, scharf tadelnde Zurechtweisung der Frau mit corripere umschrieben werden kann, genau dies aber dem Esra im Blick auf das Volk Israel (corripe populum tuicm, 14,13) aufgetragen wird (s.o.), vollauf bestätigt. 239

240 241

Diese und andere lat. Verben und Ausdrücke, die im Deutschen mit „stärken" wiedergegeben werden können nach MG (lat.) 2, 557 s.v. „stärken 1 ". 4 Ezra 414. Ebd. 422 (Hervorhebungen von mir).

232

C. Die Ethik des 4. Esra

Zum zweiten: Im Gesamtzusammenhang des Werkes spielt die consolatio Israels eine sehr große Rolle, weshalb Esra mit seiner Schrift tatsächlich ein „Trostamt"242 ausübt. Dieses wird jedoch kritisch wahrgenommen: Zur Tröstung gehört die Ermutigung, daß sich über alle Finsternis des Weltgeschehens hinweg Gottes weltordnende Weisheit spannt und durchsetzen wird. Konstitutiv damit verbunden ist aber auch die Schuldaussage, die Einweisung in die Gerichtsdoxologie und in den Gesetzesgehorsam 243 . Dies wird an der bereits erwähnten (s.o. a) Stelle 10,15 (zzgl. V. 16) sehr deutlich, die eine äußerst wichtige Rolle innerhalb der ohnehin für die Theologie des 4 Esr entscheidenden Zionepisode244 spielt. Sie ist nämlich der Höhepunkt des zweiten Gesprächsganges zwischen der klagenden Frau und Esra und der Höhepunkt des Korrigierens einer törichten Klage245. Auch wird 10,15f. in V. 24, dem Ende der Zionepisode und des gesamten Dialogs zwischen Esra und der Frau - somit an einem Brennpunkt des Geschehens, - erneut thematisch aufgenommen246. In 10,15f. wendet sich Esra an die Frau der Zionvision mit der folgenden Mahn- und Trostrede: Nunc ergo retine apud temetipsam dolorem tuum et fortiter fer quae tibi contigerunt casus. Si enim iustificaveris terminum Dei, et filium tuum recipies in tempore et in mulieribus conlaudaberis2*1. Hier wird unter anderem das gerichtsdoxologische Motiv geltend gemacht: Das wiederfahrene Unheil, die erlebte Verborgenheit Gottes im Weltgeschehen, soll als Wirken des Zornes Gottes verstanden und die Gerechtigkeit Gottes in diesem Geschehen anerkannt werden248. Zur Tröstung gehört also, wie gesagt, konstitutiv Schuldaussage und Einweisung in die Gerichtsdoxologie und in den Gesetzesgehorsam. Die Paraklese

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Brandenburger, Verborgenheit 84. Vgl. ebd. Folgende Aussage Brandenburgers ist auch für meine Untersuchungen zum 4 Esra grundlegend: „Man hat in der Zionepisode nicht nur den Kulminationspunkt von visio 4, sondern auch den des 4Esr insgesamt zu sehen" (Verborgenheit 74). Vgl. ebd. 79. Vgl. ebd. 81. Mit Brandenburger, der auf Violet und Gunkel verweist, ist si enim iustificaveris terminum Dei mit „Denn wenn du Gottes Urteil als gerecht anerkennst" (ebd. mit Anm. 46) und in tempore mit „zur (rechten) Zeit" (ebd.) wiederzugeben. Vgl. ebd.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

233

des 4 Esr umfaßt „die Zusage des Trostes, die Ermutigung ... nicht weniger als die Einweisung in den Gesetzesgehorsam als weises Verhalten"249. Von hier aus lassen sich folgende zwei Sachzusammenhänge abschließend klären: Erstens ist die consolatio des 4 Esr nicht das dominierende Moment der Paraklese des Apokalyptikers: „Die vom apokalyptischen Propheten verkündete Weisheit erschöpft sich eben nicht in der Vermittlung von Trost. ... In dem .pattern of consolation', unter dem Breech den 4 Esr als Gesamtwerk in der Einheit von Form und Sache formgeschichtlich zu begreifen sucht, findet weder der weitaus überwiegende Teil dieser Schrift noch die gerade für dieses Werk spezifische Problematik eine angemessene Berücksichtigung und Klärung. Beides sprengt diese Gattung"250. Zweitens ist das oben beschriebene, im Widerspruch zu den Aussagen der Zionvision befindliche Auseinandertreten von corripere und consolari 14,13 erklärt und der daraus gezogene Schluß bestätigt: 4 Esr begreift das schroffe, scharf tadelnde Zurechtweisen der Frau und des Volkes nicht als ganz und gar deckungsgleich mit consolatio bzw. als nicht in jedem Fall identisch mit dieser, weil zur Tröstung einerseits die Ermutigung, andererseits aber Schuldaussage und Einweisung in Gerichtsdoxologie und Gesetzesgehorsam gehören. Da corripere letzteren zwei entspricht, diese neben dem Ermutigen aber unter consolari subsumiert sind, ist corripere nur eine Teilmenge von consolatio. 3. Demut Demut erscheint 8,47-49: Esra wird gelobt, weil er sich demütigte (quoniam humiliasti te, V. 49); der Inhalt dieses Sich-Demütigens wird mit non iudicare se inter iustos (V. 49) bzw. proximare iniustis (V. 47) deutlich ausgedrückt. Demut zeigt sich also darin, daß der Mensch seine Defizite im Blick auf die Forderungen des Gesetzes ernstlich wahrnimmt und darunter leidet; die selbstverständliche Konsequenz für ihn ist eine stren249

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Ebd. 153. Vgl. auch ebd. 197: „Darauf beruht die apokalyptische Paraklese: sowohl die Vermittlung von Vertrauen, als auch die Einweisung in den Gesetzesgehorsam". Ebd. 57. Zur Darstellung und Kritik an Breech, Fragments vgl. ebd. 52-57 und Stone 4 Ezra 19.

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C. Die Ethik des 4. Esra

ge Gesetzesobservanz. Das Gegenteil davon ist mit superbia V. 50 ausgesagt: die Weltbewohner in der letzten Zeit (in novissimis) erleben viele Nöte, weil sie in großem Hochmut ( s u p e r bia) gewandelt sind; damit geht ihre Ablehnung des Gesetzes einher. 4 Esr fordert demnach ein demütiges Verhalten, das davon geprägt ist, daß der Mensch sich nicht selbst überhöht; konkret drückt es sich, wie am Vorbild Esras ersichtlich, in der Gesetzesobservanz aus. 4. Fleiß Auch wenn die lateinischen Wörter für „Fleiß" im 4 Esr entweder nicht vorkommen251 oder in einer anderen Bedeutung verwendet werden252, so erscheint doch das Thema. Nach 5,12 ist es mit den Menschen der letzten, bösen Weltzeit so, daß sie sperabunt ... et non impetrabunt, laborunt et non dirigentur viae eorum. Die Übersetzung: „And at that time men shall hope but not obtain, they shall labor but their ways shall not prosper"2S3 entspricht dem lateinischen Text im Blick auf das non dirigentur viae eorum nicht wörtlich, gibt aber den Inhalt treffend wieder. Denn ,,[t]his verse is a reversal of blessings of the hands or works of mankind"254. Für 4 Esr ist es selbstverständlich, daß menschliche Anstrengung auch von Erfolg gekrönt ist; das in 5,12 beschriebene unnatürliche Ausbleiben des Erfolgs ist nach seinem Verständnis dasselbe wie die in der letzten Zeit des alten Äons pervertierten Naturphänomene: die Pervertierung der guten Schöpfungsordnungen Gottes25s.

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So erscheinen industria, navitas, adsiduitas und sedulitas im 4 Esr nicht; die lat. Wörter für Fleiß nach MG (lat.) 2, 221. So studia 8,27 für „Machenschaften" (Schreiner, 4 Esr 366), „Thaten" (Gunkel, Esra 37), diligentia 3,7.19; 7,37 für „Gebot" (Schreiner, Klijn z. St.). Daß diligentia „nie" Fleiß bedeuten könne, wie MG (lat.) 2 ebd. sagt, glaube ich nicht; schließlich finden sich häufig industria et diligentia, diligentia industriaque, assiduitas et diligentia (vgl. Georges 1, 2166), was diligentia mit „Fleiß" sehr eng in Berührung bringt. Stone, 4 Ezra 106. Ebd. 114. Vgl. u.a. 5,1-12; 6,20-24; vor allem 6,22: et subito apparebunt seminata loca non seminata, et plena prumptuaria subito invenientur vacua·, diese Stelle zeigt den Zusammenhang von pervertierten Naturphäno-

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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Zu diesen gottgegebenen Ordnungen gehört auch das nutrire eines Kindes cum labore (multo), 9,46; 10,47, das die Frau der Zionvision bewerkstelligt hat. Nicht nur ist damit der mütterliche Fleiß bei der Erziehung des Kindes ausgedrückt und den Lesern des 4 Esr empfohlen - dieser Fleiß geht übrigens bis hin zur Suche einer Braut für den Sohn (9,47: faction est cum crevisset et venissem accipere Uli uxorem, et feci diem epidi) - sondern es steht auch in Analogie zum gubernatorischen Handeln Gottes (vgl. 8,llf.: ut nutriatur id quod plasmatum est usque tempus dliquem. Et postea ... enutristi eum tuae iusticiae). Auch läßt sich im Verhalten Esras so etwas wie Fleiß ausmachen, denn durch den Offenbarungsempfang der visio 1 gelangt er an die Grenzen seiner physischen und psychischen Belastbarkeit: Et evigüavi, et corpus meum horruit valde, et anima mea laboravit, ut deficeret (5,14); deshalb ist es kein Fehler, das laboravit mit „zerarbeitete sich"256 zu übersetzen. Esra, der den Empfängern seines Buches als Beispiel und Vorbild auch in der Ethik dient, ist also jemand, der sich „zerarbeitete", der seine Arbeit als Offenbarungsempfänger mit größtem persönlichen Einsatz, also mit Fleiß, machte2S7. Summa: Wie 5,12 zeigt, gehört nach den Vorstellungen des 4 Esr zur menschlichen Existenz das fleißige Arbeiten, das normalerweise mit Erfolg belohnt wird. Am Beispiel der Frau der Zionvision, die wie Esra Beispiel und Vorbild für das ethische Verhalten der Empfänger ist, und dem Esras selbst erfährt die allgemeine Tugend des Fleißes zwei Konkretionen. Damit ist zum Thema Fleiß aber noch nicht alles gesagt. ,,[T]he idea of the relationship between action and result"258 wird in 9,17 „by a series of proverbs"259 ausgedrückt; von den vier kurzen Sprichwörtern: (1.) Qualis ager, talia et semina, (2.) et quales flores, tales et tincturae, (3.) et qualis opera, talis et creatio, (4.) et qualis agricola, talis et area haben 3. und 4. unmittelbar mit Fleiß zu tun. Denn nachlässige opera führt zu keiner

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menen und pervertierten ökonomischen Verhältnissen sehr deutlich auf. Klijn, Esr-Apok 23. Dies bestätigen auch die 5,14 ähnlichen Stellen 10,27.30; 13,13b, wo „thlis state of mind and physical condition are similarly described" (Stone, 4 Ezra 115). Ebd. 298. Ebd.

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C. Die Ethik des 4. Esra

guten creatio, und ein fauler Bauer erwirtschaftet nur eine magere Ernte260. - Indirekt steht auch 1. mit dem Thema „Fleiß" in Zusammenhang, denn ein schlecht bewirtschafteter Acker bringt selbstverständlich nur ungenügendes Saatgut hervor. Somit folgt auch aus 9,17 die Empfehlung an die Leser des 4 Esr, fleißig zu sein. Auch unter Verwendung von Motiven des Ackerbaus wird den Lesern Fleiß ebenfalls in religiösem Sinn nahegelegt: Quoniam granum seminis mali semination est in corde Adam ab initio, et quantum impietatis generavit usque nunc et generabit usque cum veniat area (4,30). Ganz intensiv geschieht die Empfehlung religiösen Fleißes mit Ackerbau-Metaphorik durch die Verwendung von fructus und fructificare: Das Erscheinen des Lohnes (für gute Werke) und das Fruchtbringen (fructificare) der Mühe (labor) sind in 3,33 parallelisiert; sowohl Sündenfrucht (fructus impietatis, vgl. 4,31) als auch Frucht der Unsterblichkeit (inmortalitatis fructus, vgl. 7,13) gehören im 4 Esr zum Denken in den Kategorien religiösen Eifers; ebenso das Reden davon, daß das Gesetz im Menschen Frucht bringen kann (vgl. 3,20; 9,31). 5. Ermahnen, lehren, ordnen / zur Ordnung weisen a) Ermahnen Diejenigen lateinischen Verben, die im Deutschen mit „ermahnen" wiedergegeben werden können (nämlich monere, admonere, hortari, adhortari, cohortari)26i kommen allesamt nicht im 4 Esr vor. Lediglich commonere findet sich zweimal, nämlich 10,33 und 14,19. In 10,33 spricht der Offenbarungsengel zu dem erschöpften Esra: Sta ut vir et commonebo te; in 14,19 spricht der seiner Entrückung nahe Apokalyptiker: Ecce enim ego abibo sicut praecepisti mihi, et corripiam praesentem populum. Qui autem iterum nati fuerunt, quis commonebit? Daß J. Schreiner und A.F.J. Klijn an beiden Stellen nicht mit „ermahnen" übersetzen, sondern mit „belehren"262 und „unterweisen"263 ist von der Bedeutungsbreite des Wortes commonere 260

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Area bedeutet hier, wie Stone zutreffend bemerkt, „harvest" (ebd.; vgl. auch ebd. mit Anm. 64). Die lat. Verben nach MG (lat.) 2, 197. So Schreiner, 4 Esr 381; Klijn, Esr-Apok 84 (zu 10,33). So Schreiner, ebd. 402; Klijn, ebd. 107 (zu 14,19).

2. Darstellung und Analyse der Ethik

237

wie von der Parallelisierung des commonere 14,19 mit corripere her als einseitig zu werten. Denn nach der übergeordneten Bedeutung „bei sich bedenken lassen" 264 weist H. Georges aus: ,,a) jmd. an etwas denken lassen, jmd. an etw. erinnern, mahnen, etw. bei jmd. in Erinnerung bringen"265 und ,,b) jmdm. etw. zu bedenken geben, bemerklich machen, jmd. erinnern, mahnen, bedeuten, belehren, jmdm. etw. zu Gemüte führen, jmdm. etw. vorstellen, jmd. ermahnen, auffordern, absol."266; vor allem letzteres läßt die von Schreiner und Klijn vollzogene nicht-paränetische Übersetzung als einseitig erscheinen. Dies ist um so mehr der Fall, als corripere, mit dem commonere 14,19 parallelisiert ist, von seinem lexikalischen Befund her mit „mit tadelnden, scheltenden Worten über jmd. od. etw. herfallen, jmd. od. etw. herunterreißen, mitnehmen, scharf tadeln"267 wiederzugeben ist. Somit empfiehlt 4 Esr mit beiden Belegen das commonere zumindest auch im Sinne von „ermahnen": wie Esra vom Offenbarungsengel ermahnt wurde und das Volk Israel zu ermahnen ist, so sollen auch die Empfänger des 4 Esr commonere als ermahnende Weitergabe268 der göttlichen Offenbarungen praktizieren. In den Sachzusammenhang von „ermahnen" gehört auch das bereits erwähnte corripere. Zwar wird dieses Verb in MengeGüthling (lat.) 2 nicht unter „ermahnen" angeführt - und das mit gutem Grund - , aber da Schreiner und Klijn es an zwei der insgesamt vier Belegstellen (nämlich 14,13.19) mit „ermahnen" bzw. „vermahnen" wiedergeben und da es von seinem philologischen Gehalt her ein schroffes, ultimatives Tadeln bzw. Schelten269 bedeutet, was eine massive Intensivierung von „ermahnen" ist, muß es in diesem Zusammenhang verhandelt werden. 264 265 265 267 268 269

Georges 1,1320 (Hervorhebungen des Originals weggelassen). Ebd. (Hervorhebungen des Originals weggelassen). Ebd. 1321 (Hervorhebungen des Originals weggelassen). Ebd. 1711 (Hervorhebungen des Originals weggelassen). S.u. b), S. 239-243. Georges 1, 1711: „als Ankläger über jmd. herfallen, jmd. angreifen ... mit tadelnden, scheltenden Worten über jmd. od. etw. herfallen, jmd. od. etw. herunterreißen, mitnehmen, scharf tadeln"; MG (lat.) 1, 180: „(mit Scheltworten) über j-n herfallen, j-n schelten, hart anlassen, herunterreißen ... bsd. ... (vom Ankläger) j-n vor Gericht ziehen"; Sleumer 245: „schelten, zurechtweisen, züchtigen".

238

C. Die Ethik des 4. Esra

Aus folgenden Gründen ist die Übersetzung des corripere 14,13.19 Schreiners und Klijns als falsch abzulegen und durch „scharf tadeln" zu ersetzen: Erstens wird Esra exakt dasselbe aufgetragen, was er gegenüber der Frau der Zionvision getan hat (vgl.: respondi cum iracundia ad earn et dixi: Stulta super omnes mulieres, 10,5f.)270, die ja ein Symbol für das Volk Israel (populus [tuus], vgl. 14,13.19) ist. Zweitens wird die von mir vorgeschlagene Ubersetzung von dem genannten philologischen Befund her viel besser gestützt als das blasse „ermahnen"271. Drittens ist das corripere 14,19 nicht dasselbe wie das damit parallelisierte commonere, vielmehr dieses ein abgeschwächter Teilaspekt von jenem; daß Esra in 14,19b ein anderes, dem corripere irgendwie verwandtes Verb verwendet, entspricht einer bestimmten Stileigenschaft seinerseits: er liebt es, die gleiche Sachaussage mit anderen Worten zu wiederholen272; deshalb ist das corripere nicht vom commonere her zu erklären, sondern allenfalls umgekehrt. Corripere kommt an zwei weiteren Stellen des 4 Esr vor: 7,49 und 8,12. An der erstgenannten Stelle spricht der Offenbarungsengel zum Apokalyptiker: Audi me et instruam te et de sequenti corripiam te. Wieder haben wir einen Fall der besagten Stileigentümlichkeit vor uns, wobei hier die Wiederholung der Sachaussage instruam te durch corripiam te vollzogen wird. Deshalb ist das corripere ein Stück weit von instruere her zu erklären, und die Übersetzungen J. Schreiners und A.F.J. Klijns von corripere (Schreiner: „zurechtweisen"; Klijn: „unterweisen"273) sind mehr oder weniger gelungen. Schreiners Übersetzung ist jedoch besser als die Klijns, da hier sowohl der Einfluß des instruere als auch die philologische Grundbedeutung des corripere („scharf tadeln") zum Ausdruck kommen; letzteres ist bei der Übersetzung Klijns nicht der Fall. 270 271 272

273

Hervorhebungen von mir. „Vermahnen" ist schon etwas besser, aber noch nicht gut! Entsprechendes findet sich im 4 Esr auf Schritt und Tritt: et transierunt tempora et finiti sunt armi, 3,23; et mensura mensuravit tempora et numero numeravit tempora, 4,37; et abscondetur tunc sensus, et intellectus separabitur in promptuarium suum, 5,9; et de hereditate tua propter quam lugeo, et de Israel propter quem tristis sum, et de semine Iacob propter quod conturbor, 8,16; tu Israel audi me, et semen Iacob intendite sermonibus meis, 9,30; tu ergo noli timere neque expavescat cor tuum, 10,55. Vgl. Schreiner, 4 Esr 349.; Klijn, Esr-Apok 48.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

239

Die vierte und letzte Stelle des 4 Esr, in der corripere vorkommt, ist 8,12, wo Esra zu Gott über dessen gubernatio am Menschen spricht: (V. IIb) Et ... dispones eum tuae misericordiae, (V. 12) et enutristi eum tuae iustitiae, et erudisti eum in lege tua et corripuisti eum tuo intellectu. Hier besteht das exegetische Problem, daß die philologische Grundbedeutung des corripere („scharf tadeln") einfach nicht zu den sonstigen Verben paßt, die doch positive Zuwendungen Gottes ausdrücken. Doch gibt der Thesaurus Linguae Latinae als Bedeutung von corripere unter „2 de moribus" an: „i.q. aliquem vituperare, cohortari, educare"274 und verweist auf antike Texte, die παιδεύ ειν mit corripere wiedergeben (z.B.: 2 Makk 10,4; Lk 23,22; 1 Kor 11,32; Hebr 12,7). Die Übersetzung des corripuisti 8,12 von A.F.J. Klijn mit „(du) erziehst"275 ist daher als ausgesprochen gelungen zu bezeichnen. Somit empfiehlt 4 Esr mit drei der vier genannten corripere-Belegen das Ermahnen (7,49; 14,13.19); der vierte Beleg 8,12 hat hingegen das allgemeinere „Erziehen" im Blick. Mit 7,49 wird „zurechtweisen" und mit 14,13.19 „scharf tadeln" den Empfängern des 4 Esr als empfehlenswertes Tun aufgetragen: Wie Esra vom Offenbarungsengel zurechtgewiesen wurde und das Volk Israel von ihm scharf zu tadeln ist, so sollen auch die Empfänger des 4 Esr corripere als entschiedene mahnende Weitergabe göttlicher Offenbarungen praktizieren. Die ethischen Implikationen von corripere sind denen von commonere also ähnlich, mit corripere wird jedoch ein entschiedeneres Ermahnen ausgedrückt. b) Lehren Fast alle lateinischen Verben und Ausdrücke, die nach Menge-Güthling (lat.) 2 im Deutschen mit „lehren" wiedergegeben werden können, erscheinen im 4 Esr: docere, tradere, erudire, instituere, praecipere und ostendere116; es fehlen die ebd. außerdem genannten praecepta dare, imbuere und declarare. Außer instituere werden alle Verben der erstgenannten Gruppe im 4 Esr auch für „lehren" verwendet, jedoch nicht immer: tradere 3,27; 274

275 276

ThesLL IV, 1045 (Hervorhebung des Originals weggelassen, Hervorhebung von mir). Esr-Apok 66. Vgl. MG (lat.) 2, 378.

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C. Die Ethik des 4. Esra

6,58; 10,23, erudire 14,34, praecipere 7,7; 14,5.19.27, praeceptum 8,23*, und ostendere 5,43; 6,28; 7,26.35f.(zweimal).97.123; 8,54; 10,54; 13,36; 14,35 haben nicht die Bedeutung von „lehren". - Zusätzlich zu den genannten Verben der ersten Gruppe verwendet 4 Esr instruere für „lehren". Als Subjekte des Lehrens treten auf: Gott, der messianische Erlöser, der Offenbarungsengel, Esra, die Menschen und das cor malum, als Objekte Mose, die Väter in der Wüste, Israel, die Menschen allgemein, Esra, die Weisen des Volkes und das Volk des messianischen Erlösers. Mit 20 Belegen entfällt die absolute Mehrheit aller insgesamt 32 Belege für „lehren" auf die Offenbarungen, die Esra von Gott oder vom Offenbarungsengel zuteil werden. Hierbei wird Gott zwölfmal als Subjekt genannt (7,44; 10,50.52.59; 12,8f.[zweimal].39[zweimal]; 13,19277.32.51.56), der Offenbarungsengel achtmal (4,3f.[zweimal]; 5,32.37; 6,30; 7,49.76; 10,38). Inhaltlich unterscheiden sich die mitgeteilten Offenbarungen nicht. Nur in der Wortwahl gibt es Unterschiede: wenn 4 Esr vom Lehren Gottes spricht, verwendet er ausschließlich ostendere, wenn er vom Lehren des Engels redet, ostendere (viermal), docere (zweimal) und instruere (zweimal). Zudem gehören drei Belege in den Kontext der Weitergabe der empfangenen Offenbarungen durch Esra: Scribe ergo omnia ista in libro quae vidisti et pones ea in loco abscondito. Et docebis ea sapientes de poptdo tuo, quorum scis corda posse capere et servare secreta haec (12,37f.); et cum perfeceris, quaedam palam facies, quaedam sapientibus absconse trades (14,26); locutus est ad me Altissimus dicens: Priora quae scripsisti in palam pone, et legant digni et indigni. Novissimos autem LXX conservabis, ut tradas eos sapientibus de populo tuo (14,45f.). Für die Weitergabe der empfangenen Offenbarungen verwendet 4 Esr demnach zweimal tradere und einmal docere. Adressaten dieser Weitergabe sind die Weisen des Volkes und das Volk selbst; letzteres nach dem Text des 4 Esr nur begrenzt, gemäß der Rede des Apokalyptikers an das Volk 14,27-35 und der Wirkungsgeschichte des 4 Esr - das Buch wurde ja nicht geheimgehalten, sondern veröffentlicht und tradiert - jedoch vollständig. 277

Hier in 13,19 ist somnia Subjekt von ostendere; da nach antiker jüdisch-christlicher Vorstellung wahre Träume von Gott kommen (vgl. Gen 20,3.6; 31,24; Sir 40,6; Act 2,17f.), ist auch an dieser Stelle Gott als das Geber des Traumes anzusehen.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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Festzuhalten ist an dieser Stelle, daß Belehrungen an und von Esra mit 23 Belegen von allen anderen Belehrungen mit Abstand am häufigsten genannt werden. Mit sieben Belegen die nächstgrößte Gruppe im Zusammenhang von „lehren" ist die (Gesetzes-) Belehrung der Menschen: Gott enarravit dem Mose mirabilia midta und ostendit ihm temporum secreta et temporum finem (vgl. 14,5); er befahl ihm: Haec in palam facies verba et haec abscondes (V. 6); auch die Väter in der Wüste waren Objekt des ostendere Gottes: Esra sagt 9,29-31: 0 Domine, in nobis ostendens ostensus es patribus nostris in deserto, ...et dicens dixisti: Tu Israel audi me, et semen Iacob intendite sermonibus meis. Ecce enim ego semino in vobis legem meam. An Israel also war das Lehren Gottes gerichtet, was auch an der folgenden Stelle zum Ausdruck kommt, die allerdings das Nichtbefolgen der göttlichen Lehre durch Israel betont: vos et patres vestri iniquitatem fecistis et non servastis vias, quas vobis praecepit Altissimus (14,31). - Ja, zu dem universellen, nicht auf Israel allein begrenzten gubernatorischen Handeln Gottes gehört das erudire in lege (Dei) (vgl. 8,12). Ferner können, analog zu dem über die Belehrung Esras Gesagten, auch Menschen die göttlichen Lehren weitergeben, wie folgende Gebetsworte des Apokalyptikers zeigen: Neque volueris perdere qui pecorum mores habuerunt, sed respicias eos qui legem tuam splendide docuerunt (8,29). Damit ist ein wesentlicher ethischer Sachverhalt ausgedrückt: Das splendide docere des Gesetzes ist ein Handeln, dessen diesseitige und jenseitige Belohnung der Fromme erwarten kann. Abschließend ist noch auf zwei Sonderfälle im Zusammenhang von „lehren" einzugehen: 7,48 spricht Esra zu Gott: Increvit enim in nos cor malum, quod ... deduxä nos ... in itinera mortis, ostendit nobis semitas perditionis, et longe fecit nos a vita; et hoc non paucos, sed paene omnes qui creati sunt. Das cor malum/malignum, das in visio 1 und 3 eine wichtige Rolle spielt, lehrte die Menschen analog zur (Gesetzes-)lehre Gottes (vgl. 9,29-31; 14,31; auch 5,34; 14,22) - freilich in die falsche Richtung278. 278

Daß paene omnes qui creati sunt „beinahe ... alle, die erschaffen wurden" (Schreiner, 4 Esr 348) oder „fast alle, die geschaffen sind" (Klijn, Esra-Apok 48) bedeutet, ist von anderen Stellen des 4 Esr her, die vom cor malignum/malum handeln, sehr unwahrscheinlich; denn 3,19-26 spricht eindeutig davon, daß alle Nachkommen Adams das

242

C. Die Ethik des 4. Esra

Gegen Ende von visio 6 heißt es, daß der messianische Erlöser nach der siegreichen endzeitlichen Schlacht proteget qui superaverit populum. Et tunc ostendet eis multa plurima portenta (13,49f.). Letzteres wird in den Übersetzungen mit „Wunder" wiedergegeben 279 , was auch der Grundbedeutung des Wortes portentum entspricht: „das Anzeichen, Vorzeichen, Wunderzeichen"280. Es ist aber auch denkbar, daß portenta an dieser Stelle die übertragene Bedeutung „die seltsame, kühne und abenteuerliche Erdichtung, Fiktion, Phantasterei, grause Geschichte, das Wundermärchen"281 eignet und mit ostendet eis multa plurima portenta die Offenbarung wunderbaren (Geheim-?) Wissens an die geretteten Frommen ausgesagt wird. Somit hat sich „lehren" als ein häufig genannter und somit wesentlicher Topos in der Theologie des 4 Esr dargestellt. Das Lehren, die Weitergabe göttlicher Offenbarungen, legt 4 Esr den Empfängern des Buches auf zweierlei Weise nahe: erstens durch die Vorbild- und Beispielfunktion Esras, der die Inhalte seiner Offenbarungen wohldosiert weitergibt (24 Bücher für alle einsehbar, 70 nur für die Weisen des Volkes, vgl. 14,45f.; eine knappe Rede an das Volk 14,28-36, eine längere Schrift - eben der 4 Esr - als Buch veröffentlicht), zweitens durch die Empfehlung des allgemeinen splendide docere von Gottesoffenbarungen 282 . Sollte 13,50 so gemeint sein, wie ich es als Möglichkeit erwogen habe (portenta = wunderbares [Geheim·] wissen), so würde ferner durch die Vorbild- und Beispielfunktion des messianischen Erlösers den Empfängern des 4 Esr die Lehre und Weitergabe göttlicher Offenbarungen empfohlen werden.

cor malignum besaßen. Da paene zudem problemlos in seiner zweiten Bedeutung mit „gänzlich, ganz und gar" (Georges 2, 1484; Hervorhebungen des Originals weggelassen) wiedergegeben werden kann, ist mit „ganz und gar alle, die geschaffen sind" zu übersetzen. 279 So Schreiner, 4 Esr 399; Klijn, Esr-Apok 104. 280 Georges 2, 1790 (Hervorhebungen des Originals weggelassen). Ähnlich MG (lat.) 1, 581: „schreckliches od. grauenhaftes Vorzeichen, Wunderzeichen, Wunder" (Hervorhebungen und Kleindruck des Originals weggelassen). 281 Georges ebd. (Hervorhebungen des Originals weggelassen). 282 vielleicht meint splendide gerade auch eine wohldosierte Weitergabe, wie Esra sie betreibt.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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c) Ordnen / zur Ordnung weisen Von den lateinischen Verben und Ausdrücken, die im Deutschen mit „ordnen" wiedergegeben werden können283, finden sich mehrere im 4 Esr: disponere, componere, constituere, instituere; auch erscheint in diesem Buch dispositio, das im Deutschen mit „Ordnen" wiedergegeben werden kann284. Der philologische Befund um „zur Ordnung weisen" ist weniger ergiebig. Hier stehen neben den lateinischen Wörtern und Ausdrücken, die im Deutschen mit „Ordnung" wiedergegeben werden können (disciplina, modestia, certus modus, ordo, otium und officium)295 sehr viele zur Verfügung, die in den Zusammenhang von „zur Ordnung weisen" gehören: ordinem (corOservare/tenere (Ordnung halten/beobachten, s. Menge-Güthling [lat.l 2, 445), coercere aliquem (jemanden zur Ordnung weisen, vgl. ebd.), alqm in officio continere (jemanden in Ordnung halten), cancellos/is circumdare, circumscribere, certos fines/terminos constituere, modum ponere, cohibere, continere (jemanden in seine Schranken weisen, s. Menge-Güthling [lat.] 2, 515), frenare, frenos adhibere, refrenare, moderari (zügeln, s. MengeGüthling [lat.] 2, 727), comprimere, reprimere, supprimere, sedare, restringuere, mitigare, lenire (dämpfen, s. Menge-Güthling [lat.] 2, 140). Von allen diesen findet sich im 4 Esr einzig und allein coercere; allerdings verwendet 4 Esr imperare einmal und erudire zweimal für diesen Sachzusammenhang. 4 Esr kennt eine Schöpfungsordnung Gottes: Gott hat die Welt eingerichtet (vgl. die Gottesrede 5,49: ego disposui a me creatum saeculum), er hat die dispositio stellarum angeordnet (vgl. 6,45). Auch das Gericht ist eine constitutio Gottes (vgl. 7,44), die am Anfang der Schöpfung erfolgte (vgl. 7,70); vermutlich wurde auch schon damals die ordo animarum iustorum festgelegt, von der 7,88-99 die Rede ist. In den Bereich der Schöpfungsordnung gehört auch, daß Gott den Adam als ducem super omnibus factis quae fecit einsetzte (instituere), vgl.

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Nämlich: ordinäre, in ordinem redigere, disponere, digerere, dispensare, discribere, componere, constituere, instituere. Andere lat. Substantive, welche die gleiche dt. Bedeutung haben, erscheinen im 4 Esr nicht, wie instructio und ordinatio. - Zu allen lat. Wörtern s. MG (lat.) 2., 445. Vgl. ebd.

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C. Die Ethik des 4. Esra

6,54. Trotz dieses Privilegs war Adam ungehorsam, so daß Gott über ihn und seine Nachkommen den Tod anordnete (mstttuisti in eum mortem et in nationibus eius, 3,7). Im weitesten Sinn zur Schöpfungsordnung Gottes nach dem 4 Esr gehört schließlich die privilegierte Stellung Israels: Gott hat Abraham einen testamentum aeternum angeordnet (disponere) und ihm gesagt, daß er seine Nachkommen niemals verlassen werde (3,15). 4 Esr kennt ferner die gesetzliche Ordnung Gottes: Schon Adam übertrat constitutiones Gottes (7,11); in seinem Gesetz hat Gott Anordnungen getroffen (disposuisti in lege tua, 7,17). Das Gesetz ist zur Zeit Esras aber vernichtet und die geschriebenen Anordnungen nicht mehr vorhanden: Lex patrum nostrorum in inritum deducta est, et dispositiones scriptae nusquam sunt, 4,23. Dennoch preist Esra die Lebenden selig, die Gottes Anordnungen beachten: Beati qui praesentes et observantes quae a te constitutae sunt (7,45). Diese gesetzliche Ordnung Gottes ist eingebunden in seine gubernatio, wie an der Gottesanrede Esras 8,llf. und an 13,26 deutlich ist: (1) dispones eum tuae misericordiae, (2) et enutristi eum tuae iusticiae, (3) et erudisti eum in lege tua (4) et corripuisti eum tuo intellectu (8,llf.). Hier greifen Ordnung, Erziehung und Gesetz ineinander: (1) hat die gubernatorische Ordnung des geschaffenen Menschen im Blick, die von Gottes Erbarmen geprägt ist, (2) und (4) die Erziehung der Menschen in der Gerechtigkeit und Weisheit Gottes und (3) ihre Unterrichtung im Gesetz. - Das Ineinander göttlicher gubernatio-Ordnung und der Gesetzesordnung wird auch an der kurzen Aussage über den messianischen Erlöser 13,26 im Kontext der voranstehenden Verse deutlich: der messianische Erlöser ipse disponet qui derelicti sunt (13,26), wobei die derelicti in hohem Maße operas et fidem (V. 22-24) besitzen (V. 24: beatificati sunt qui derelicti sunt). In ihrer Person fließen Gesetzesordnung und gubernatorische Ordnung ineinander, da die derelicti die Gesetzesordnung erfüllen und als solche unter der göttlichen dispositio des messianischen Erlösers stehen; wie in 8,11 drückt disponere in 13,26 die gubernatorische Ordnung Gottes aus. Mit den beiden Stellen 8,llf. und 13,26 ist auch ausgesagt, daß es für den Menschen sehr gut ist, sich an den Ordnungen Gottes zu orientieren. Denn wenn der Mensch disponere, enutrire, erudire und corripere (vgl. 8,llf.) von Gott erfährt, hat er selbstverständlich auch Anteil an misericordia, iustitia, lex und

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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intellectus (vgl. ebd.). Das disponere des messianischen Erlösers hat man sich nach 7,28 als iocundare qui relicti sunt annis CCCCto und nach 13,49f. als protegere qui superaverit populum und ostendere (eis) multa plurima portenta vorzustellen. Von hier aus sind auch diejenigen Aussagen des 4 Esra einsichtig, die den Menschen zum Orientieren an den Ordnungen Gottes auffordern; diese werden im folgenden dargestellt. Von entscheidender Bedeutung für die Theologie und Ethik des 4 Esr ist die Rede Esras an das Volk 14,27-35, in der folgender Satz steht: si ergo imperaveritis sensui vestro et erudieritis cor vestrum, vivi conservati estis et post mortem misericordiam consequemini (V. 34). Hier wird zwar keines der Wörter oder Ausdrücke verwendet, die im Deutschen üblicherweise mit „ordnen" oder „zur Ordnung weisen" wiedergegeben werden (s.o.), aber imperare und erudire haben an dieser Stelle diesen Sinn. Ein zweifaches sagt sie aus: Erstens, daß es jedem, der ein Leben in Entsprechung zu Gottes Ordnungen führt - indem er Sinn und Herz „in Ordnung" hält - auf immanente Weise sehr gut geht, daß er nämlich irdischen Segen erfährt (entsprechend dem zu 8,llf. und 13,26 [in Verbindung mit 7,28; 13,49f.] Gesagten); hierbei ist das vivi conservati estis nicht nur Ausdruck allgemeinen Segensempfangs, sondern auch konkrete Verheißung, durch die Nöte der Endzeit hindurch am Leben erhalten zu werden und zum Volk des messianischen Erlösers zu gehören (vgl. 7,27f.; 13,49f.)286. Zweitens ist mit 14,34 ausgesagt, daß es jedem, der ein Leben in Entsprechung zu Gottes Ordnungen führt - indem er Sinn und Herz „in Ordnung" hält - auf transzendente Weise sehr gut geht, daß er nämlich himmlischen Segen erfährt. Mit dem post mortem misericordiam consequemini ist wie mit dem vivi conservati estis den Frommen das Leben verheißen; während vivi conservati estis mehr das irdische Leben meint, so post mortem misericordiam consequemini das ewige Leben im Jenseits.

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Gerade im Blick auf diesen Sachverhalt, aber auch im Blick auf die ganze Aussage: si ergo imperaveritis sensui vestro et erudieritis cor vestrum, vivi conservati estis befindet sich 14,34 in sauberer Übereinstimmung mit 13,23-26! Insbesondere die Entsprechung von qui habent operas et fidem ad Fortissimum und Si ... imperaveritis sensui vestro et erudieritis cor vestrum, als Bedingung für das vrvi conservati esse in den Triibsalen der Endzeit ist frappierend.

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C. Die Ethik des 4. Esra

Sachlich 14,34 entsprechend ist die göttliche Zusage an Esra, welche die rechte Ordnung seines Lebens betont: Vitam enim tuarn disposuisti in sapientiam, et sensum tuum vocasti matrem. Et propter hoc ostendi tibi haec, merces erüm apud Altissimum (13,55-56a). Esras Ordnung auf sapientia hin steht unter der Verheißung des merces Altissimi, der sich für ihn als Gabe göttlicher Offenbarung darstellt. Sachlich fällt die Ausrichtung auf sapientia und sensus zusammen mit der Einhaltung des göttlichen Gesetzes, wie V. 54, auf den sich V. 55 rückbezieht287, zeigt: Dereliquisti enim tua et circa mea vacasti et legem meam exquisisti2**. Da Esra Vorbild und Beispiel der Ethik des 4 Esr ist, wird mit 13,54-56a auch den Empfängern des Buches aufgetragen, ihr Leben gemäß dem Gesetz Gottes auf geordnete Weise zu führen, was sachlich mit weisheitlichem Verhalten identisch ist. Im Widerspruch zu der Feststellung 13,54-56, daß Esra sein Leben gemäß den Ordnungen Gottes geführt hat, steht nicht 14,13, wo der Apokalyptiker aufgefordert wird, sein Haus zu ordnen (nunc ergo dispone domwn tuam). Denn erstens und grundsätzlich wird eine Affirmation wie die 13,54-56 nicht dadurch ungültig, daß ihr Inhalt an anderer Stelle noch einmal Imperativisch aufgetragen wird (wie mit 14,13). Zweitens ist der Imperativ 14,13 bestimmt von dem unmittelbar bevorstehenden transmigrare a temporibus his (V. 14), angesichts dessen die Ordnung alles dessen, was zu Esra gehört (einschließlich seiner eigenen Person), verständlich und sachlich angemessen ist. In jedem Fall wird wegen der Vorbild- und Beispielfunktion Esras den Empfängern des Buches mit 14,13 aufgetragen, disponere domwn, also alles, was (zu) ihnen gehört (einschließlich sich selbst) gemäß den Ordnungen Gottes zu gestalten. Zeigten die untersuchten Stellen 14,34 und 13,54-56 den Zusammenhang von den Ordnungen Gottes entsprechendem Tun und dem daraus resultierenden Ergehen der Frommen positiv

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Der Bezug wird durch das enim V. 55 gesichert. Die Identität von Gesetzesobservanz und weisem Verhalten findet sich auch in 8,llf., wo misericordia, iustitia, lex und intellectus auf einer Linie zu stehen kommen und die ihnen zugeordneten Verben, die Gottes Zuwendungen ausdrücken, als untereinander austauschbar erscheinen. - Zur Identität von Gesetzesobservanz und weisem Verhalten s. o. C.2.1.a), S. 181f.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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auf, so tut dies 7,21-25 negativ. Hier ist nämlich die Rede von sündigen Menschen, die non sunt persuasi et... constituerunt sibi cogitamenta vanitatis et proposuerunt sibi circicmventiones delictorum (V. 22f.); entsprechend haben sie Strafe (V. 21: puniri) und Leere (V. 25: vacua) zu erwarten 289 . Für den Zusammenhang von „ordnen" ist constituerunt sibi cogitamenta vanitatis wichtig, denn constituere gehört in die zu untersuchenden Begriffsfelder. 4 Esr kennt schließlich im Zusammenhang von „zur Ordnung weisen" das für die Ethik sehr wichtige Gebot der coercitio: die Erde hätte Adam coercere müssen, ut non peccaret (7,116). Daraus darf eine allgemeine Pflicht der Menschen zu einer entsprechenden coercitio abgeleitet werden, denn außer Adam und Eva gab es zur Zeit des Sündenfalls keine Menschen, so daß 4 Esr terra als damaligen Inhaber der Coercitionspflicht anspricht. Da jedoch zur Zeit des Esra diese von Menschen ausgeübt werden kann, gehen Coercitionsrecht und -pflicht auf diese über. Die Bedeutung des coercere ist vom philologischen Aussagegehalt des Verbs her eindeutig: in Schranken weisen; bändigen; zügeln; im Zaum/in Ordnung halten; durch Strafe zurecht-, zur Ordnung weisen; züchtigen; strafen 290 . Diese Bedeutung des Zur-Ordnung-Weis ens wird vom letzten Satzteil ut non peccaret vollkommen gestützt: Adam hätte durch das non peccare die Ordnungen Gottes eingehalten. Entsprechend sind die Empfänger des 4 Esr verpflichtet, durch die Anwendung von coercitio das peccare in ihrer Umgebung einzudämmen und zu verhindern sowie Sünder zur Ordnung zu weisen bzw. zu strafen291.

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Zu vacua s. Gunkel, Esra 83 (Anm. 3) zu S. 23). Vgl. Georges 1, 1233f. Übrigens müssen sich die Empfänger des 4 Esr auch unabhängig von der hier vorgetragenen Argumentation zur coercitio verpflichtet fühlen, denn der Gesamtduktus des Werkes, der auf Sündenvermeidung hin orientiert ist, läßt sie diese Stelle kaum anders verstehen. Außerdem finden sich mit corripere dazu analoge Aussagen, die auch den Empfängern gelten; s.o. a) Ermahnen, S. 236-239.

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C. Die Ethik des 4. Esra

2. Darstellung und Analyse der ethischen Vorstellungen im Kontext wesentlicher Theologumena des 4 Esr292 a) Ethik und Messianologie Vom messianischen Erlöser293 redet 4 Esr in 7,28f., 11,37-12,3; 12,31-34; 13,1-52; 14,9. Ethisches kommt dabei in 7,28f., 11,37-12,3; 12,31-34; 13,9-13.25-50, also in der weit überwiegenden Mehrzahl der genannten Stellen, in den Blick. 1. Das rechte Verhalten als Bedingung für die Teilhabe am messianischen Zwischenreich 7,28f. ist Bestandteil des Abschnitts 7,26-44 294 der sich mit „Das Weltgericht"295 überschreiben läßt. Die beiden Verse handeln von dem Auftreten des messianischen Erlösers am Ende der Zeit des alten Äons kurz vor dem V. 33-44 geschilderten Gericht Gottes; vorher ist V. 27 von endzeitlichen Plagen die Rede, aus denen ein Teil der Menschheit gerettet wird: Et omnis qui liberatus est de praedictis malis, ipse videbit mirabiäa mea. Dieses videre der mirabilia wird durch V. 28 erklärt: Revelabitur emm filius metis Christus ... et iocundabit qui relicti sunt rnnis CCCCÜs296; mit dem Erscheinen des messianischen Erlösers

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Da das Thema „Gesetzesgehorsam" bereits zu Beginn dieser exegetischen Untersuchung verhandelt worden ist (s.o. C.2.1.a), S. 177-182), erübrigt sich an dieser Stelle eine Erörterung von „Ethik und alttestamentliche, antik-jüdische Gesetzestradition". Diese verbietet sich sogar, denn „Gesetz" ist für die Ethik des 4 Esr wesentlich zentraler als die im folgenden (C.2.2.a) und b) diskutierten Sachverhalte, dürfte also keinesfalls gleichgeordnet mit diesen vorgestellt werden. Zu dieser Bezeichnung s.o. C.l.l.b), S. 166, Anm. 16. Daß 4 Esr an den Stellen, wo er vom messianischen Erlöser spricht, nicht an Jesus von Nazareth denkt, ist selbstverständlich. Vereinzelte christliche Textmanipulationen (wie das Iesus der lateinischen Übersetzung in 7,28) sind natürlich sekundär. Zu 7,28 s.u. Anm. 296. Diese Textabgrenzung mit Stone, 4 Ezra 202-223 und Gunkel, Esra 23-25. Gunkel, ebd. 23. Das Iesus der lateinischen Version ist ein christlicher Zusatz des Übersetzers (vgl. Schreiner, 4 Esr 345). Mit dem I T ' I I I Y I I ,-UD des syrischen Textes (der Sache nach genauso auch Syro Arab s , ähnlich ArE - vgl. Klijn, Esr-Apok 45) halte ich „mein Sohn, der Messias" mit

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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wird demnach das videre der mirabüia möglich. V. 29 handelt schließlich vom Tod des messianischen Erlösers und aller Menschen nach dem messianischen Zwischenreich. Im Blick auf die Ethik ist die Frage wichtig, wer liberatus est de praedictis malis und in den Genuß der iucunditas des messianischen Erlösers kommt. Die 7,27 ähnliche Stelle 9,8297 erklärt in Verbindung mit 9,7, daß zum Überleben der endzeitlichen Plagen Glaube oder Werke notwendig sind298; ähnliches sagt 13,23 aus: Qui adferet periculum in illo tempore, ipse custodibit qui in periculo inciderint, qui habent operas et fidem ad Fortissimum299. - Andererseits kommen Glaube und Werke oder sonstwie Ethisches an anderen Stellen des 4 Esr, die von den Übriggebliebenen der letzten Zeit oder vom eschatologischen Volk des messianischen Erlösers sprechen, nicht in den Blick300. Dies läßt sich nicht anders erklären, als daß 4 Esr bei den letztgenannten Stellen die ethische Reinheit der Überlebenden der letzten Zeit und des eschatologischen Volkes um den messianischen Erlöser voraussetzt, ohne sie zu nennen. Demnach drückt 7,28 in Verbindung mit V. 27 aus, daß den ethisch einwandfrei Lebenden die Rettung aus den endzeitlichen Katastrophen hinein in das vierhundert Jahre dauernde Reich des messianischen Erlösers verheißen ist. Den Empfängern des 4 Esr -wird somit indirekt ein entsprechendes Verhalten dringend nahegelegt.

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Schreiner, ebd. für ursprünglich. Deshalb erfolgte der Eintrag des christus im lateinischen Zitat - bei bewußter Kleinschreibung des Wortes, die eine Identifikation mit Jesus Christus vermeidet. Vgl. Stone, 4 Ezra 215. Vgl. ebd. 296. Der lateinische Text von 9,7f. lautet: et erit omnis, qui salvus factus fuerit et qui poterit effugere per opera sua vel per fidem in qua credidit, is relinquetur de praedictis periculis et videbit salutare meum in terra mea et in finibus meis, quas sanctificavi mihi a saeculo. (Zu den textkritischen Problemen zu credidit, is und quas siehe Klijn, Text z.St. und ders., Esr-Apok z.St.) Zum textkritischen Problem des custodibit siehe Klijn, Text z.St. sowie ders., Esr-Apok z.St. In 13,16-20 ist von den derelicti im Sinne von Zeitzeugen der letzten eschatologischen Ereignisse die Rede, ohne daß ihr Leben am Ende der Zeit mit ihrem sittlichen Verhalten in Zusammenhang gebracht würde; ähnlich auch 13,49f., wo keine Bedingungen (z.B. ethischer Art) zur Teilhabe am eschatologischen Volk um den messianischen Erlöser genannt werden.

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C. Die Ethik des 4. Esra

2. Der messianische Erlöser als vorwiegend richtendstrafende, aber auch segnende Gestalt In 11,37-12,3, das durch 12,31-34 erklärt wird, hält der messianische Erlöser den beiden letzten Königen des Imperium Romanum (12,29f.) ihre ungerechten Taten vor (12,31f.), stellt sie vor Gericht, überführt und vernichtet sie (V. 33)301. In 13,9-13 wird geschildert, wie der Menschensohn die bei seinem Kommen anstürmende Menschenmenge mit Feuer aus seinem Mund (emittit de ore suo sicut fluctum ignis, et de labiis eius spiritum flammae, et de lingua eius emittebat scintillas tempestatis*02, V. 10) vernichtet und eine friedliche Menschenmenge um sich herum sammelt; die dazu gehörende Erklärung V. 25-50 deutet ignis und flamma auf das Gesetz und die Qualen der Menschenmenge (V. 37f.), die friedliche Menschenansammlung auf das endzeitlich zusammengeführte Israel aus zwölf Stämmen (V. 39f. 47f.). Das eschatologische Israel wird der messianische Erlöser im messianischen Zwischenreich beschützen und ostendet eis rrndta plurima portenta (vgl. V. 49f.). Daran ist erkennbar, daß dem messianischen Erlöser eine zweifache Rolle zukommt: für die Gottlosen ist er Richter und Exekutor, für die Gerechten ein Segen; damit ist sein Auftreten fest mit ethischen Sachverhalten verklammert. Im einzelnen: Die richtende Funktion des messianischen Erlösers ist im Blick auf die anstürmende Menschenmenge von einem allgemeinen Bezug zur Tora gekennzeichnet. Dies wird an 13,37f. deutlich, wo zwar die ausdrückliche Erwähnung des Gesetzes V. 38 wegen der textgeschichtlichen Probleme nicht ganz sicher ist303, impietates aber auf die Gesetzesübertretungen der Menschen abheben dürfte 304 . Der messianische Erlöser bestraft also die Menschen wegen ihrer Nichtbefolgung

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Zum Zusammenhang mit der politischen Ethik des 4 Esr siehe oben das C.2.1.d)3.b) zu Subversion (S. 220f.) Gesagte. Die Konjektur tempestatis (Gen, die lateinischen Textzeugen bieten überwiegend den Abi instr) erfolgt nach S rdaA^n cfHasft^ „Kohlen des Sturms". Scintillas und rCHascv^ könnten ein Mißverständnis des aramäischen j",p"T „Stürme" als j^plpT „Funken" sein (vgl. F. Zimmermann, Documents 123). Zu den textkritischen Problemen s. o. S. 205, Anm. 156. Zu impietates vgl. das impie 8,27, das im Kontrast zu testamenta (Dei) custodire verwendet wird und 7,17.51.102.111; 9,13, die von den impit im

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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des Gesetzes, ohne daß die Verfehlungen im einzelnen genannt würden. Anders verhält es sich mit der Anklage und Bestrafung der endzeitlichen Könige 11,37-12,3 (zzgl. Erklärung 12,31-34): hier erfolgt kein allgemeiner Rekurs auf die Tora, sondern dem Adler werden ganz konkrete Verfehlungen vorgeworfen und „katalogartig ausführlich auftgelzählt"305: - potentatum tenere saeculum cum tremore multo et omnem orbem cum labore pessimo (vgl. 11,40); - inhabitare orbum terrarum cum dolo (vgl. ebd.); - iudicare terram non cum veritate (vgl. V. 41); - tribulare mansuetos (vgl. V. 42); - laedere quiescentes (vgl. ebd.); - odisse verum dicentes (vgl. ebd.); - diligere mendaces (vgl. ebd.); - destruere habitationes eorum qui fructificabant (vgl. ebd.); - humüiare muros eorum qui te (= aquilam) non nocuerunt (vgl. ebd.); - contumelia (vgl. V. 43); - superbia (vgl. ebd.); - vis (vgl. V. 46). Diese bezeichnet 12,31f. als iniustitiae, impietates und spretiozies306. Nimmt man beides, nämlich Anklage und Gericht über die anstürmende Menschenmenge und den Adler zusammen, so ist deutlich, daß der messianische Erlöser nicht nur das allgemeine Nicht-Einhalten der Tora von Heiden (s.o.) anprangert und bestraft, sondern auch konkrete Verfehlungen. Positiv ergibt sich hieraus, daß die Leser des 4 Esr aufgefordert sind, die Tora in allgemeinem Sinn zun halten und die speziell genannten Verfehlungen nicht zu tun. Wenn sie sich ethisch recht ver-

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Gegensatz zu den iusti reden; daß iustus nur der ist, der das Gesetz Gottes beachtet, ist selbstverständlich (s.o. C.2.1.a), S. 177-182). Münchow, Ethik 81. Es fällt auf, daß die Freveltaten des Adlers - anders als die der anstürmenden Menschenmenge - detailliert und ausführlich angeprangert und mit der intensiven dreifachen Qualifizierung iniustitiae, impietates und spretiones als massives Fehlverhalten dargestellt werden. Dies dürfte Ausdruck der Wut des Apokalyptikers auf das Imperium Romanum sein; jedenfalls entzieht er diesem mit der heftigen Anklage des messianischen Erlösers Anerkennung und Legitimation. - Siehe dazu oben das C.2.1.d)3.b) zu Subversion (S. 220f.) Gesagte.

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C. Die Ethik des 4. Esra

halten und zur Zeit der Ankunft des messianischen Erlösers noch am Leben sind, gilt ihnen die Verheißung der Teilhabe am messianischen Zwischenreich. b) Ethik und Eschatologie 1. Präsentische Eschatologie im 4 Esra Präsentische Eschatologie ist im 4 Esr nur in nahezu unbedeutenden Spuren zu finden. Hierzu gehört die eschatologische Heilszusage an die Frommen der Gegenwart: Esra wird vom Offenbarungsengel zugesprochen: Tu autem beatus esprae multis et vocatus es apud Altissimum sicut et pauci (10,57); er ist also schon jetzt im Besitz von beatitudo, die eschatologische Herrlichkeit mit einschließt. Der letztgenannte Aspekt wird noch deutlicher in 8,48-55. Hier wird zum einen dem Esra futurisch-eschatologisches Heil zugesprochen (mirabilis eris coram Altissimo, V. 48; glorificeris, V. 49), zum anderen ihm untersagt, sich nach dem Ergehen der Sünder zu erkundigen (V. 50f. 55). Vielmehr soll er nach seinem eigenen Ergehen und dem der Menschen, die ihm gleichen, fragen (V. 51). Und dieses wird mit den Versen 52-54 den Gerechten in aller Breite zugesprochen, wobei die jenseitigen Heilsgüter, die mit paradisus, arbor vitae usw. beschrieben werden, als für die Frommen schon jetzt bereitliegend gedacht werden; massiver kann ein Heilszuspruch für die Gerechten kaum erfolgen. - Mit 10,57 und 8,48-55 ist angedeutet, daß die Frommen bereits in der Gegenwart das eschatologische Heil besitzen, das parallel zu ihrer irdischen Existenz auch schon bereitliegt. Damit ist ein Stück weit präsentische Eschatologie formuliert. Ein wenig in Richtung auf präsentische Eschatologie hin weist ebenfalls der Abschnitt 7,79-99. Hier wird die siebenfache Ordnung der postmortalen Seelen der Gottlosen und der Gerechten beschrieben. Nach Verlassen des Körpers haben die Seelen sieben Tage Zeit, eine Art Vorgeschmack auf das Ergehen nach dem Endgericht zu erhalten (vgl. V. 101). Jedem dieser sieben Tage ist eine via (im Falle der Gottlosen) bzw. ein ordo (im Falle der Gerechten) zugeordnet, der Strafe bzw. Lohn enthält. Dabei wird in der Regel mit dem Ind oder Part Praes oder Ind Fut ausgesagt, was die Seelen dabei erleben. Z.B. sehen (videntes) die Seelen der Gottlosen im sexta via die

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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über sie sich erstreckende Pein (V. 86) oder eilen (festinant) die Seelen der Gerechten im septimus ordo, das Antlitz Gottes zu schauen (V. 98). Ganz aus dem Rahmen fällt die jeweils erste Stufe. Diese heißt bei den Seelen der Gottlosen: Via prima, quia spreverunt legem Altissimi (V 81) und bei den Gerechten: Ordo primus, quoniam cum labore multo certati sunt, ut vincerent cum eis plasmatum cogitamentum malum, ut non eas seducat a vita ad mortem (V. 92). Bereits sprachlich fällt auf, daß anders als bei via 2 - 7 und ordo 2 - 7 der Inhalt der ersten via und des ersten ordo mit Perfektformen wiedergegeben wird. Sodann inhaltlich: „In the description of the first way of the wicked souls, reference is made here to their sin (7:81). In the case of the righteous souls too, it is not reward but their deeds that are remarked"307. Erstaunlicherweise wird also der Inhalt der jenseitigen Bestrafung und Belohnung mit dem diesseitigen Verhalten angegeben, jenseitiges Ergehen mit diesseitigem Tun also identifiziert; daraus könnte für die Gegenwart folgen, daß das gegenwärtige, präsentische Tun bereits das künftige, futurische Ergehen darstellt. Mit anderen Worten: das Gute, das der Gerechte in der Gegenwart tut, wäre nach dem 4 Esr schon eschatologischer Lohn, das Schlechte, das der Sünder in der Gegenwart tut, wäre schon eschatologische Strafe. - Dies alles ist nach dem 4 Esra aber nur in geringem Umfang der Fall, da es nur durch je eine(n) der sieben viae bzw. ordines ausgesagt wird308. 307 308

Stone, 4 Ezra 243 (Hervorhebungen von mir). Auf den ersten Blick scheint der den ganzen Abschnitt 7,79-99 paraphrasierende V. 99 - zumindest für die Gottlosen - diese Beobachtung zu stützen: Hic ordo animarum iustorum, ut amodo adnuntientur; praedictae viae cruciatus quos patiuntur amodo qui neglexerint. Gunkel, Esra 30f. übersetzt folgendermaßen: „Das sind die Freuden der Seelen der Gerechten, die ihnen schon für jetzt verheißen sind; die Martern aber, von denen ich sprach, sind es, denen die Sünder schon jetzt verfallen" (Hervorhebungen im Original gesperrt gedruckt). Diese Übersetzung würde das von mir erwähnte präsentisch-eschatologische Element in dem Abschnitt 7,79-99 entscheidend verstärken; leider ist sie aber unrichtig. Denn abgesehen von den sprachlichen Problemen der ersten Vershälfte (bezieht sich adnuntientur auf ordo? Dann Inkongruenz! Bezieht es sich auf animarum? Dann sinnlos, weil es die Bezeichnung „Gerechter" [hebr.: ΡΉ2ΣΠ, griech.: ό δίκαιος] schon lange gibt!) kann das amodo nicht mit „schon (für) jetzt" (Gunkel, ebd.), „(schon) jetzt" (Schreiner, 4Esr 355) oder ,jetzt" (Klijn, Esr-Apok 57) wiedergegeben werden. Denn es muß von V. 75 und V. 80, den beiden einzigen amodo-Belegen des 4 Esr außer

254

C. Die Ethik des 4. Esra

2. Präsentische Eschatologie und Ethik im 4 Esr Stellt man die Frage nach dem Verhältnis der nur in Spuren vorfindlichen präsentischen Eschatologie des 4 Esr und der Ethik des Buches, kommt man zu den folgenden Ergebnissen: In der Aussage des in der Gegenwart schon existierenden jenseitigen Gerichts (7,70) kommt an Ethik nichts in den Blick. Im Kontext dieser Stelle (7,62-74) erscheinen nur die für 4 Esr üblichen Aussagen zu Sünde und Gericht; siehe dazu unten (3.). Im Zusammenhang der in der Gegenwart der Frommen schon bereitliegenden Heilsgaben 8,51 ff. wird nichts über das von ihnen gewünschte Verhalten geäußert. Auch in 8,59, wo die gegenwärtige Existenz der jenseitigen Strafen ausgesagt wird, folgert der Verfasser daraus nichts für die Ethik der Empfänger des 4 Esr. In der Aussage der in der Gegenwart bereits existenten Gottesstadt (7,26) und des eschatologischen Landes Israel (ebd.) findet sich nichts Ethisches. In 10,57, wo dem Esra die eschatologische Herrlichkeit zugesprochen wird, findet aus diesem präsentischen Zuspruch keine ethische Folgerung statt. Vielmehr ist er die Begründung für den vorher (V. 55f.) angekündigten Visionsempfang (tu mir 309 tem beatus es: „Denn du bist selig") . Auch an der anderen oben genannten Stelle 8,48-55, wo Esra und den anderen Gerechten das eschatologische Heil be-

309

V. 99, die in engem sachlichen Kontext zu V. 99 stehen, her gesehen werden. In V. 75 fragt Esra, ob die Seelen nach dem Tod zunächst eine Phase der Ruhe erleben, oder ob sie sofort (amodo) nach dem Tod gepeinigt werden. Diese Frage wird mit V. 80 (und eben mit V. 99) beantwortet: die Seelen der Sünder (vgl. V. 79) müssen sofort (amodo) nach dem Tod unter Qualen umherschweifen, dolentes semper et tristes, per Septem vias (V. 80). (Die sieben Wege der Pein werden daraufhin angeführt.) V. 99 wiederholt in seiner zweiten Satzhälfte die Sachaussage von V. 80 (sofort lamodol nach dem Tod erleiden die Sünder Martern) und appliziert sie mit der ersten Satzhälfte möglicherweise analog auf die Situation der Gerechten (evtl. ist mit Schreiner u.a. V. 99a in adnuntiatur zu korrigieren und - von Schreiner u.a. allerdings abweichend - zu übersetzen: „Dies ist die Ordnung für die Seelen der Gerechten, die (als) sofort (nach dem Tod wirksame) verkündet wird". Klijn, Esr-Apok 87; Schreiner, 4 Esr 383 (beide identisch).

2. Darstellung und Analyse der Ethik

255

reits in deren Gegenwart zugesprochen wird, findet sich keine mit dem Heilszuspruch verbundene ethische Weisung. Ein Bezug zur Ethik liegt allerdings in dem beschriebenen via prima/ordo primus (7,81.92) vor: wenn das Gute, das der Gerechte jetzt (in der Gegenwart) tut, schon jenseitiger (zukünftiger) Lohn ist, umgekehrt das Böse, das der Sünder jetzt (in der Gegenwart) tut, schon jenseitige (zukünftige) Strafe, so erhält beides eine besondere Qualität. Diese besteht in der endzeitlichen Qualifizierung des Tuns im Hier und Jetzt: Schon jetzt vollzieht der Mensch durch sein Handeln eschatologische Belohnung/Bestrafung. Außerdem wird durch die Gleichsetzung gegenwärtigen Handelns und eschatologischer Bestrafung ausgesagt, daß die eschatologische Strafe/Belohnung inhaltlich mit dem irdischen Handeln identisch ist, daß also das Gute oder Böse, das der Mensch im Hier und Jetzt tut, genau das sein wird, was ihm im Eschaton widerfahren wird. Damit ist ausgesagt, daß sein ganz konkretes Handeln im Hier und Jetzt in seiner genauen Form und Identität auf ihn zurückfallen wird. Für die Ethik bedeutet dies eine erhebliche Verstärkung der Relevanz des menschlichen Handelns, denn es ist eschatologisch - und somit als absolut - qualifiziert. 3. Transzendent-futurische Eschatologie und Ethik im 4 Esr Im weiteren Verlauf der Untersuchung wird konsequent zwischen transzendent-futurischer Eschatologie und immanentfuturischer Eschatologie unterschieden, weshalb jedem der beiden ein eigener Abschnitt (nämlich 3. und 4.) gewidmet ist. 4 Esr kennt nämlich sowohl Aussagen, die sich auf das Eschaton nach dem Ende dieser alten Welt beziehen, als auch solche, welche die Zeit zwischen der Gegenwart des Verfassers (und der Adressaten) und dem Ende dieser alten Welt im Blick haben. Als Ende der alten und Anfang der neuen Welt verstehe ich getreu 4 Esr 7,113 das Weltgericht: dies enim iudicii evit finis temporis huius (et initium) fiituri inmortalis temporis; mit dem Weltgericht ist die völlige Selbstdurchsetzung Gottes in der Welt ausgedrückt. Transzendente futurische Eschatologie findet sich im Zusammenhang der Ethik des 4 Esr sehr häufig: a) In den Dialogen von vis. 1-3: 4,27-37.38-43; 7,25.31-44. 45-47.75-77.79-99.102-115.116-126.127f.; 8,3.18.32f.38f.47-61; 9,15f.22;

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C. Die Ethik des 4. Esra

b) in der Zionvision: 9,31.36; 10,10; c) in vis 7: 14,10-14.22.34f. Ist somit festgestellt, wo überall im 4 Esr transzendente futurische Eschatologie im Zusammenhang der Ethik vorkommt, wird im weiteren Arbeitsfortgang das Verhältnis beider zueinander anhand der beiden folgenden Fragestellungen untersucht: a) Wird das von 4 Esr beschriebene oder gewünschte Verhalten positiv (mit der Aussicht auf jenseitigen Lohn, jenseitige Freuden usw.) oder negativ (mit der Aussicht auf jenseitige Bestrafung, Nachteile usw.) motiviert? b) Motiviert die Nähe des Eschatons (bzw. das unerwartete Kommen des Endes) stärker als das eschatologische Heil bzw. Unheil oder umgekehrt? Zu a) Rein quantitativ überwiegen deutlich diejenigen Stellen, die über den ethisch falsch Handelnden jenseitige Bestrafung, Nachteile usw. aussagen. Negative Motivierung findet sich nämlich in 7,25.31-44.46f.75.79-99.102-115.116-126.127f.; 8,3.18.50.55-61; 9,15f.22.36; 10,10; 14,35, positive in 4,27.35; 7,25.31-44.45.76f.79-99.127f.; 8,32f.38f.47-49.51-54; 9,22.31; 14,22.34f. Damit weisen 82 Verse negative und 59 Verse positive Motivierung auf, was in etwa einem Verhältnis von 4 : 3 entspricht. - Unter Hinzuziehung des qualitativen Aspekts, also unter Berücksichtigung der Intensität der einzelnen Textaussagen, verändert sich jedoch dieses Bild: viele der Texte mit positiver Motivierung haben nämlich ein besonderes Gewicht. So stehen 14,22.34f. im Testamentsteil des 4 Esr und haben deshalb - wie auch auf Grund ihrer Sachaussage - programmatischen Charakter; 7,76f.; 8,47-49.51-54 haben mit ihrem Rekurs auf Esra, der als Beispiel und Vorbild der Ethik des 4 Esr fungiert 310 , eine gegenüber anderen Textabschnitten hervorgehobene Bedeutung. Somit ist zum Thema Motivierung zu sagen, daß die negative zwar häufiger ausgedrückt wird als die positive, die Textaussagen mit positiver Motivierung oft aber ein hohes qualitatives Gewicht haben. Negative und positive Motivierung kommen im 4 Esr demnach ungefähr gleich stark zur Sprache. Zu b) In quantitativer Hinsicht überwiegen diejenigen Stellen, an denen mit dem eschatologischen Heil oder Unheil motiviert wird, bei weitem solche, die dies mit der Nähe des 310

S.o. C.2.1.a), S. 180-182.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

257

Eschatons tun; eine Motivation menschlichen Handelns durch die Nennung des unerwarteten Kommens des Endes findet sich nicht311. Im einzelnen: Motivation durch eschatologisches Heil/Unheil wird ausgedrückt in 4,27-37.38-43; 7,25.31-44.45-47. 75-77.79-99.102-115.116-126.127f.; 8,3.18.32f.38f.47-61; 9,15f. 22.31.36; 10,10; 14,22.34f., Motivation durch die Nähe des Eschatons nur in 7,75-77.79-99; 8,47-61; 14,10-14. Diese quantitative Beobachtung verändert sich nicht durch die Hinzunahme des qualitativen Aspekts. Denn einer Stelle wie 14,10-14, der zwar als Glied des Testamentsteils des 4 Esr hervorgehobene Bedeutung für die Motivation des Handelns durch die Nähe des Eschatons zukommt, stehen 14,22.34f. als ebenfalls zum Testamentsteil gehöriger Text gegenüber. Und in den beiden anderen für die Motivation durch die Nähe des Eschatons angeführten Stellen findet sich ebenfalls Motivation durch eschatologisches Heil/Unheil312.

311

312

Kennt, abgesehen von dem hier untersuchten Zusammenhang der Ethik, 4 Esr überhaupt ein unerwartetes Kommen des Endes? Definiert man (wie in dieser Untersuchung) den Tag des Gerichts als Ende der Welt, so kommt dieses nicht unerwartet, denn der dies iudicii steht am Ende einer langen Kette endzeitlicher Ereignisse (vgl. 12,34). Diese jedoch geschehen nach 4 Esr mindestens teilweise unerwartet: die endzeitlichen kosmischen Katastrophen treten plötzlich (subito) in Erscheinung (vgl. 5,4; 6,22f.) und auch der messianische Erlöser tritt unvermittelt auf (vgl. 13,2 [Sturmmotiv], 13,52 [Verborgenheit des messianischen Erlösers bis zu „seinem Tag" - tempus diei], evtl. 11,37 ff. [In-Erscheinung-Treten des Löwen; ist dies mit „auffahren", wie Schreiner, 4 Esr 386 und Klijn, Esr-Apok 91 das suscitare übersetzen, zu beschreiben? Vgl. Georges 2, 2975, der suscitare mit „erheben", „erregen" übersetzt]). Selbst für Esra und seine Leser, obwohl sie an den Offenbarungen der letzten Dinge Anteil haben, werden die endzeitlichen Ereignisse, die dem Gerichtstag vorangehen, noch etwas unerwartet geschehen: Den Zeitpunkt des Beginns der (zunächst noch immanenten) Endzeit „mußt du (= Esra) in dir selber ermessen" (9,1; vgl. den ganzen Abschnitt 8,63-9,6); für Esra und seine Leser ist nur klar, daß das Ende kommt, wenn ein Teil der vorausgesagten Zeichen vorüber ist (vgl. 9,lf.). In 8,47-61 ist letztere sogar stärker wahrnehmbar als erstere.

258

C. Die Ethik des 4. Esra

4. Immanent-futurische Eschatologie und Ethik im 4 Esr a) Allgemeines Vom Standpunkt des Esra aus betrachtet ist der Rest der verbleibenden immanenten Weltzeit kurz: quoniam saecuhcm perdidit iuventutem suam et tempora adpropinquant senescere: XII ertön partibus division est saeculum, et transierunt eius X iam et dimidium Xmae partis, superant autem eius duae praeter medium decimae partis (14,10-12; vgl. 4,50; 5,50-55). Dennoch läßt sich das Enddatum nicht präzise berechnen (vgl. 6,7-10 u.a.). Sicher ist nur zweierlei: erstens, daß die vor Esra liegende Zeit schlimm sein wird: Quantum emm invalidumfitsaeculum a senectute, tantum multiplicabunt super inhabitantes in eo malo (14,16); zweitens, daß der alte Äon durch das Weltgericht abgeschlossen werden wird: Dies enim iudicii erit finis temporis huius (7,113; vgl. 12,34). b) Immanente Straf- bzw. Lohnankündigungen an die Leser Diese erfolgen im 4 Esr nicht dergestalt, daß bestimmten ethischen Verhaltensweisen bestimmte immanente Lohn- oder Strafankündigungen zugeordnet sind. Nur an einer einzigen Stelle wird eine konkrete Sünde der endzeitlichen Weltbewohner genannt, die mit immanent-eschatologischer Bestrafung belegt wird: 8,50: Propter quod miseriae multae miserabües efficientur qui habitant saeculum in novissimis, quia in multa superbia ambidaverunf13. Superbia ist demnach die einzige konkrete Verfehlung, die 4 Esr im Rahmen des immanenten eschatologischen Gerichts bestraft sieht; konkrete ethisch positive Verhaltensweisen, die entsprechend immanent belohnt werden, nennt 4 Esr nicht. Vielmehr geschieht das Ganze auf allgemeine Art; Für die letzte Zeit dieser Welt sagt Gott voraus: ecce dies veniunt, et erit quando adpropinquare incipio, ut visitem hdbitantes in terram, et quando inquirere incipiam ab eis qui imuste nocuerunt iniustitia sua (6,18 f.)314. Ebenfalls in der erwähnten 313 314

Zu superbia s. auch das o. C.2.1.e)3. „Demut" Gesagte, S. 233f. Daß damit noch die immanente letzte Zeit und noch nicht das transzendente Eschaton gemeint ist, zeigen die nächsten Verse: anniculi infantes loquentur vocibus suis, et praegnantes inmaturos parient infantes trium et quattuor mensuum et vivent et scrirtiabuntur, et subi-

2. Darstellung und Analyse der Ethik

259

Stelle 8,50 kommt der Gedanke des immanenten Gerichts in der letzten Weltzeit an den sündigen Menschen zum Ausdruck. Implizit ist mit beiden Stellen auch eine Bestrafung der Empfänger für deren eventuell unfrommes Verhalten ausgesagt. Auf der anderen Seite spricht Gott 6,25 den Gerechten zu: omnis qui derelictus fiierit ex omnibus istis quibus praedixi tibi (= die in den V. 20-24 angekündigten schlimmen Ereignisse der letzten Weltzeit), ipse salvabitur et videbit salutare meum et ftnem saeculi mei. Die schlimmen Ereignisse der letzten Weltzeit treffen also nicht alle Menschen gleichmäßig, sondern nur die Unfrommen. Den Frommen gilt die wiederholte Zusage, inmitten der endzeitlichen Drangsale bewahrt zu bleiben, solange sie Glauben und/oder Werke haben: Et erit omnis, qui salvus factus fiierit et qui poterit effugere per opera sua vel per fidem in qua credidit, is relinquetur de praedictis periculis (9,7f.); qui adferet periculum in illo tempore, ipse custodibit qui in periculo inciderint, qui habent operas et fidem ad Fortissimum (13,23). Als Versiegelten (vgl. 6,5) kann ihnen auch in den endzeitlichen Drangsalen kein Leid geschehen 315 . Aber noch mehr als nur Bewahrung in den Stürmen der letzten Zeit dieser Welt ist den Frommen zugesagt; zu ihrem Behütet-Sein kommen Beglückung und vielleicht Macht hinzu - alles noch innerhalb der immanent-futurischen Eschatologie. Drückt 9,8 die immanent-eschatologische Beglückung der Frommen indirekt aus (relinquetur de praedictis periculis et videbit salutare meum in terra mea et in finibus meis), so sprechen 7,28 und 12,34 ausdrücklich von der Freude, die der messianische Erlöser den Frommen im messianischen Zwischenreich bereiten wird: revelabitur enim filius meus Iesus cum his qui cum eo, et iocundabit qui relicti sunt annis CCCC^ (7,28); residuum populum meum liberabit ...et iocundabit eos, quoadusque veniat finis, dies iudicii (12,34)316. Ist die Beglückung der Frommen somit eindeutig ausgesagt, verhält es sich mit dem Thema Macht anders. Nach 6,55.59 ist die Welt um Israels willen geschaffen, Israel besitzt sie aber

315 316

to apparebunt seminata loca no η seminata, et plena prumptuaria subito invenientur vacua (V. 21f.). S. dazu o. C.2.1.d)3.a), S. 215f. Daß die Herrlichkeit der Frommen im messianischen Zwischenreich irdisch gedacht ist, betont Schiefer, Anschauungen 58 zu Recht: „ein irdisches Zion für die gerechten Juden und ein vierhundertjähriges erquickungs- und freudenreiches Leben" (Hervorhebungen von mir).

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C. Die Ethik des 4. Esra

nicht als Erbe; nach 9,13 ist die Welt Eigentum der Gerechten (quorum saeculum). Die Vermutung, daß die Gerechten dieses Eigentum im messianischen Zwischenreich machtvoll beherrschen werden, ist zwar naheliegend, wird aber nirgends deutlich zum Ausdruck gebracht317. 3. Komplexe theologische Aspekte im Sachzusammenhang der Ethik des 4 Esr a) Sünde, Sündenvergebung und Umkehr 1. Sünde Um ethisches Fehlverhalten coram Deo auszudrücken, verwendet 4 Esr neben den häufig anzutreffenden Wörtern des Stammes pecc- (vgl. 3,30.35; 4,39; 6,5; 7,46.68. 87.106.116.118.134; 8,31.35*.38; 9,36) eine Fülle verschiedener Wörter und Ausdrücke: irüusltta/iniusticia u.ä. (vgl. 5,2.10; 6,19; 7,35.105.111; 8,47; 12,31f.); impietas (vgl. 3,12.29; 4,12.30f.38; 12,25.32); iniquitas u.ä. (vgl. 3,13.34; 7,68.72.126.138 [zweimal]; 8,27*.35*; 14,31); delictum (vgl. 7,23.68; 8,26.27*); contemptio u.ä. (vgl. 7,139; 9,9); lapsus (vgl. 8,17); male/false conversari (vgl. 7,121; 8,28); pessimis viis ambidare (vgl. 7,122); impie agere/gerere (vgl. 3,8.30; 7,18; 8,27.35); pecorum/iumentorum mores habere (vgl. 8,29; ebd.*); bestiis peius iudicatus esse (vgl. 8,30); mores mortales (vgl. 8,31)318; corruptus esse moribus (vgl. 9,19); non cognoscere (Deum) (vgl. 9,10); cogitamenta vanitatis (7,22); mala cogitamenta (13,37); circumventiones delictorum (7,23); delinquere (vgl. 3,25.29; 8,35). Demzufolge spricht 4 Esr mit sehr vielen verschiedenen Begriffen und sehr häufig von Sünde; die Mehrzahl der Belege findet sich im Dialogteil (3,1-9,25). Daraus ist zu schließen, daß Sünde ein für 4 Esr zentrales Theologumenon ist, das wei317

318

Einen Hinweis auf die aus der Perspektive Esras bevorstehende Machthabe der Frommen über die Erde könnte der textkritisch umstrittene letzte Teil von 9,13 geben: et quando; damit wäre vielleicht die zukünftige Realisierung und machtvolle Durchsetzung des Eigentumsrechts der Gerechten im messianischen Zwischenreich angedeutet. Mit der Lesart mortalibus moribus 8,31 folge ich Bensly, Gry und vg; vgl. Klijn, Text z.St.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

261

te Teile von visio 1 - 3 berührt. Die Sündentheologie des 4 Esr ist deshalb darzustellen. Zunächst aber sei ausgeführt, was aus den oben genannten Belegen materialiter gewonnen werden kann, was 4 Esr also meint, wenn er von Sünde spricht. Dabei fällt auf, daß häufig die oben genannten Begriffe für Sünde(n)/sündigen inhaltlich nicht gefüllt werden. So wird immer wieder die Sündhaftigkeit aller Menschen oder Israels ausgedrückt, ohne daß gesagt würde, um welche Verfehlungen es sich handelt. Beispiele hierfür sind 7,68 (omnes ... commixti sunt iniquitatibus et pleni sunt peccatorum et gravati delictis), 8,17 (video lapsos nostros qui inhabitamus terram) oder 4,38 (et nos omnes pleni sumus impietate). Ein wenig konkreter sind diejenigen Stellen, die von Sündeini/sündigen in Verbindung mit ethisch unzureichendem Tun anderer Menschen reden. Zum Beispiel spricht 3,4-36 von der Sündenverdorbenheit aller Menschen inklusive der Israeliten von Adam bis zum Babylonischen Exil, der „Gegenwart" des Verfassers, und gibt den Lesern damit eine Vorstellung davon, was Sünde sei: Die in ihrer alttestamentlichen, antik-jüdischen Tradition beschriebenen und bekannten Verfehlungen vom Sündenfall Adams bis zum Babylonischen Exil, einschließlich des als betont sündig dargestellten Verhaltens Babylons selbst. Für eine weitere Gruppe von Stellen, die Sünde(n)/sündigen in Relation zum Willen Gottes setzen, ist 8,26-30 ein gutes Beispiel: den verschiedenen Ausdrücken für Sünde(n)/sündigen werden kontrastiv solche gegenübergestellt, die ethisch einwandfreies Verhalten coram Deo aussagen: delicto (Deo) in veritate servire (vgl. V. 26); impie agentium studia (Dei) testamenta cum doloribus custodire (vgl. V. 27); false conversari ex voluntate tuum (=Dei) timorem cognoscere (vgl. V. 28); pecorum mores habere legem (Dei) splendide docere (vgl. V. 29); bestiis peius iudicatus esse in gloria (Dei) semper confidere (vgl. V. 30). Kommt in 8,26-30 das Gesetz nur teilweise in den Blick (vgl. V. 27.29), so ist dies an vielen Stellen des 4 Esr, die von Sünde(n)/sündigen reden, wesentlich deutlicher der Fall. So ist 3,33-36 im Zusammenhang der Sünde Israels im Verhältnis zu der anderer Völker wiederholt von den mandata Gottes die Rede (memorare mandatorum, vgl. V. 33; observare mandata, vgl. V. 35; servare mandata, vgl. V. 36) oder beschreibt 7,24 das Verhalten der Sünder (vgl. V. 21-25) folgendermaßen: et legem

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C. Die Ethik des 4. Esra

eius (= Altissimi, vgl. V. 23) spreverunt et sponsiones eius abnegaverunt et legitimis eius fidem non habuermt et opera eius non perfecerunt. 4 Esr begreift Sünde demnach als Verstoß gegen das alttestamentliche, antik-jüdische Gesetz. - Außer diesen Stellen, die den Zusammenhang von Gesetz und Sünde anzeigen, tun dies auch 8,32.36, die Sünde und (gute) Werke in Beziehung zueinander setzen. Finden sich für jede bisher genannte Gruppe von Stellen des 4 Esr zum Thema Sünde(n)/sündigen eine Vielzahl von Belegen im 4 Esr, so für die abschließend zu erwähnende der konkret als Sünde bezeichneten Verhaltensweisen nur wenige. Pointiert und massiv als Sünde bezeichnet wird nur das Fehlverhalten des Imperium Romanum in der Adlervision. Der Löwe wirft dem Adler seine Sünden unter der Verwendung der Worte iniustitiae, impietates und spretiones (vgl. 12,31f.) - und mit dieser Häufung von Ausdrücken für sündiges Verhalten ganz massiv - vor: potentatum teuere saeculum cum tremore multo ... (vgl. 11,40-46; s.o. C.2.2.a), S. 250f.). - Die wenigen anderen konkret als Sünden bezeichneten Verhaltensweisen erscheinen unauffällig und ohne erkennbare Systematik. Zwei Beispiele: Innerhalb einer allgemein gehaltenen Schilderung der Sündhaftigkeit der Menschen 7,21-25 erscheint als einzige konkrete Verfehlung superdicere Altissimum non esse (vgl. V. 23). - Im Kontext des Abschnitts 7,116-126, der von der durch Adam in die Welt gebrachten Sünde handelt, findet sich in den V. 122-125 Ähnliches, wo durch kontrastive Gegenüberstellungen und im Kontext des ganzen Abschnitts non caste conversari (vgl. V. 122319), ingratis locis conversari (vgl. V 124) und non abstinentiam habere (vgl. V. 125320) als Sünden bezeichnet werden. Zusammenfassend ist daher zu sagen, daß 4 Esr von Sünde sehr häufig und mit vielen verschiedenen Wörtern und Ausdrücken spricht. In der Regel redet er von Sünde in einem allgemeinen Sinn und bezeichnet nur selten konkrete Verfehlungen coram Deo als Sünde; Sünde wird jedoch häufig als im Gegensatz zum Willen Gottes stehendes Handeln bzw. als Verstoß gegen das Gesetz dargestellt. Im Blick auf die nur selten konkret genannten Sünden bildet die heftige Aufzählung der Sünden des Imperium Romanum eine auffällige Ausnahme. 319 320

Das non ergibt sich aus der zweiten Vershälfte. Das non ergibt sich aus der zweiten Vershälfte.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

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Der Beobachtung, daß 4 Esr in der Regel von Sünde in einem allgemeinen Sinn redet, entspricht die Tatsache, daß der Verfasser im Rahmen seines theologischen Entwurfs das Thema Sünde auf einer grundsätzlichen Ebene verhandelt; dies wird folgende Skizze der Sündentheologie des 4 Esr verdeutlichen. 4 Esr deutet mehrfach den Gedanken eines Sündenverhängnisses an321: nos omnes pleni sumus impietate (4,38), omnes enim qui nati sunt commixä sunt iniquitatibus et pleni sunt peccatorum et gravati delictis (7,68) usw.322. Esra bricht deshalb immer wieder in Klagen aus: melius erat nos non adesse quam adverdentes vivere in impietatibus (4,12); ο tu quid fecisti, Adam? Si enim tu peccasti, non est factum solius tuus casus et nostrum qui ex te advemmus (7,118). Wie E. Brandenburger gezeigt hat323, entsprechen diese und ähnliche Aussagen jedoch nicht der Meinung des Verfassers des 4 Esr, sondern sind Ausdruck einer skeptischen Theologie, von der er sich betont abgrenzt324. Dies geschieht dadurch, daß die skeptischen Äußerungen dem Esra der ersten drei Visionen in den Mund gelegt und vom Offenbarungsengel immer wieder korrigiert werden. Im Blick auf das Thema Sünde ist visio 3 von besonderer Bedeutung: der Verfasser läßt den Engel in verschiedenen Disputationsgängen auf die skeptischen Einwände eingehen. Dabei werden diese Einwände detailliert widerlegt und zurückgewiesen 325 . Betont wird durch den Offenbarungsengel, - daß Recht und Gericht Gottes zur Grundordnung der Schöpfung gehören; - daß Sinn und Ziel des Rechtes Gottes die Gewährung von Leben in der kommenden Welt Gottes ist; - daß dem die Tatsache der Sünde nicht widerspricht; obwohl der alte Äon ihretwegen dem Strafverhängnis von Not, Leid 321

Vgl. Brandenburger, Verborgenheit 153 und ders., Adam 28. Diese und weitere Beispiele nach ders., Adam 28. 323 Vgl. ebd. 27-36 und ders., Verborgenheit passim. 324 Ygi ders., Adam 36 u.ö.; Verborgenheit 153.191 u.ö. - Diese Position Brandenburgers wird im wesentlichen von Miinchow geteilt; seiner Auffassung nach fehlen in dem für die Theologie des 4 Esr entscheidenden Kap. 14, an dem sich „der eigene Standpunkt des Verfassers ablesen" (Ethik 85) läßt, „Aussagen, die der Zwangsläufigkeit der Sünde und einem unentrinnbaren Sündenverhängnis das Wort reden" (ebd. 86). 325 Vgl. Brandenburger, Verborgenheit 190. Das Folgende vgl. ebd.f. 322

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C. Die Ethik des 4. Esra

und Tod verfallen ist, kann das die kommende Welt Gottes nicht hindern. - daß es kein Sündenverhängnis gibt: im Gesetzesgehorsam läßt sich der „böse Trieb", der Hang des Menschen zum Sündigen, besiegen, was der Sinn irdischen Lebens ist (vgl. 7,92.127; s. auch 14,34). „Sünde ist nicht Schicksal, sondern Ungehorsam gegen Gott, Verachtung des die Welt zum Guten hin fördernden Rechts"325. Im Rahmen dieser Sündentheologie des 4 Esr sind auch die Themen Sündenvergebung und Umkehr zu sehen. 2. Sündenvergebung So, wie im 4 Esr mehrfach von einem Sündenverhängnis die Rede ist, von dem sich der Verfasser betont abgrenzt (s.o.), kommt auch Sündenvergebung an zwei Stellen zur Sprache und wird - jedenfalls in der vorgetragenen Form - deutlich abgewiesen 327 ; diese sind a) 7,132-139 und b) 8,25-36. Zu a) Der Abschnitt verkündet durchaus Heilsuniversalismus: Gott longanimitatem praestat his qui peccaverunt (V. 134); er schenkt, ut alleventur hi qui iniquitates fecerunt de suis iniquitatibus (V. 138). Damit und mit den vielen auf Barmherzigkeit abhebenden Gottesbezeichnungn und -attributen (misericors [V. 132], miserator [V. 1331328, longanimis [V. 134], munificus

326 327

328

Ebd. 191. Weil Sündenvergebung nur an diesen zwei Stellen vorkommt und der Verfasser sie hier ablehnt, ist er am Thema Sündenvergebung offensichtlich nur im Blick auf die Abwehr der durch Esra vorgetragenen skeptischen Position interessiert. Dies deckt sich mit der Beobachtung, daß 4 Esr Wörter für Vergebung/vergeben von Sünden, wie etwa die Vg. sie verwendet (beispielsweise remissio (peccatorum), redemptio, dimittere, remitiere), fast nicht kennt bzw. in anderem Zusammenhang gebraucht: Von den genannten Wörtern erscheint im 4 Esr nur dimittere, jedoch nicht im Kontext von Sündenvergebung. Lediglich donare, das dem griech. χαρίζομαι entsprechen kann (vgl. Rom 8,32; IKor 2,12; 2 Kor 2,7.10; Kol 2,13), wird 7,135.138 im Sinne von Sünden vergeben verwendet; doch zu diesem Abschnitt s.u. - Möglicherweise ist Sündenvergebung für den Verfasser deswegen kein Thema, weil er sich in einer Konfrontation mit einer heilsuniversalistischen, skeptischen Theologie befindet. Mit Bensly und vg lese ich miserator, vgl. Klijn, Text 55 und seine entsprechende Übersetzung „der Gnädige" (Esr-Apok 62).

2. Darstellung und Analyse der Ethik

265

[V. 135]329, multae misericordiae [V. 136], donator [V. 138]) ist jedoch nicht die theologische Auffassung des Verfassers wiedergegeben, sondern ein gegen den Gerichtsgedanken der Äonenlehre gerichteter Standpunkt 330 , den der Verfasser dem Esra in den Mund legt. Dabei nimmt Esra die 7,132-139 zugrundeliegende Überlieferung über Gottes Erbarmen aus ihrem theologischen Kontext, der erfahrenen Zuwendung Gottes heraus und verwendet sie in einer distanzierten Argumentation - also in skeptischer Manier - gegen die Gerichtsverkündigung, die am Gedanken der Verantwortung festhält. Seine Argumentation hat folgende Bedeutung: sollten die traditionellen Bekenntnisaussagen über das Erbarmen Gottes nicht für die Sünder im Jüngsten Gericht gelten, so ist die gesamte Äonenlehre ohne Sinn; denn das verheißene Leben im Eschaton könnte kein oder fast kein Mensch wegen der mit der Sünde gegebenen negativen Ergehensfolgen erlangen. - Dieses skeptische Denken weist der Verfasser durch die Engelrede 8,1-3 entschieden zurück: zwar sind viele Menschen geschaffen, aber nur wenige werden nach dem Endgericht das ewige Leben im Eschaton haben (multi quidem creati sunt, pauci autem salvabuntur, V 3). Die Rettung weniger und den Untergang vieler expliziert der Verfasser in 8,1-3 mehrfach, auch unter Verwendung verschiedener Bilder in V. 2331. Somit vertritt der Verfasser des 4 Esr die Auffassung, daß die Sünder im Jüngsten Gericht gerade nicht Gottes universales Erbarmen zu gewärtigen haben 332 , sondern die ihrem irdischen Handeln gemäße Bestrafung. Zu b) Auf dem unter a) verhandelten Abschnitt ähnliche Weise verwendet Esra als Widerpart des Offenbarungsengels in 8,20-30 Tradition als Grundlage, die er V. 31-36 in einer einseitigen Interpretation auf das Erbarmen Gottes über die Sünder im Endgericht hin verfremdet 333 . In V. 34f. wird auf die erdenstoffliche Konstitution des Menschen und die dadurch hervorgerufene Universalität der Sünde abgehoben 334 , und Es325 330 331

332 333 334

Zur Textkritik s.o. S. 197 mit Anm. 132. Vgl. Brandenburger, Verborgenheit 182. Das Folgende vgl. ebd. 182f. Vgl. ebd. 177: „Dem Gegenüber ,wenige-viele' entsprechen die Bilder vom Gold (selten und kostbar) und vom Ton ... (häufig, in Fülle vorhanden und wenig wert) in ... 8,2". Vgl. ebd. 191. Vgl. ebd. 185. Vgl. ebd.

266

C. Die Ethik des 4. Esra

ra fordert kritisch in skeptischer Manier das Erbarmen Gottes im Endgericht. Denn ohne die Erfüllung dieses (von seiner skeptischen Position her als unerläßlich postulierten) Erbarmens im Jüngsten Gericht sieht er in der Heilsverheißung an Israel keinen Sinn335. Mit V. 38f.41 wird nachdrücklich der in 8,4-36 geäußerte Gedanke zurückgewiesen, Gottes Gerechtigkeit oder Güte würde sich an seinem Erbarmen gegenüber den Sündern im Jüngsten Gericht erweisen336. Hierbei wird mit V. 39 betont, daß allen Menschen, die Gesetzesgehorsam praktizieren, die eschatologische Herrlichkeit verheißen ist337. Ähnlich wie in dem unter a) verhandelten Text des 4 Esr hebt der Verfasser auf die persönliche Verantwortlichkeit des Menschen im Blick auf Gesetz und Gericht ab. Demnach ist festzustellen, daß das Thema Sündenvergebung im 4 Esr nur in der Abwehr der geschilderten skeptischen Position vorkommt. Dabei weist der Verfasser den heilsuniversalistischen Gedanken des Erbarmens Gottes über den Sünder im Endgericht entschieden zurück und betont die volle Verantwortlichkeit des Menschen: genau seinem am Gesetz zu messenden sittlichen Verhalten entsprechend wird er im Eschaton Strafe oder Lohn erhalten. Sündenvergebung im irdischen Leben des Menschen, etwa nach aktuellen Sünden, nennt 4 Esr nicht. 3. Umkehr Anders als Sündenvergebung erscheint Umkehr mehrfach im 4 Esr, ohne im Zusammenhang von durch den Verfasser abgewiesener Argumentation zu stehen. Dabei verwendet er unter anderem die lateinischen Begriffe conversio (7,133), reversio (7,82) und paenitentia (9,12). Außer an diesen Stellen kommt das Motiv der Umkehr im Testamentsteil des 4 Esr vor. Hier ist wiederholt von „ermahnen" bzw. von corripere als einem scharfen Tadeln338 die Rede (V. 13.19) und die zur Umkehr auffordernde Abschiedsrede Esras (V. 27-35) angeführt. 335 336

337 338

Vgl. ebd. 186. Vgl. ebd. 154 mit Anm. 26f. - Ähnlich Harnisch, Verhängnis 235-238, der zu V. 41 schreibt: „Mit diesem Gleichnis wird die Vorstellung einer άποκατάστασις πάντων noch einmal unmißverständlich zurückgewiesen" (ebd. 237). Vgl. ebd. 17 mit Anm. 21. Zu beidem s.o. C.2.1.e)5.a), S. 236-239.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

267

Die genannten Belege lassen sich in zwei Gruppen aufteilen: während die drei erstgenannten primär die individuelle Umkehr im Blick haben, so die des Testamentsteils primär die des ganzen Volkes. So spricht 7,133 davon, daß Gott miseretur illis qui conversionem faciunt in lege eius339 und betonen 7,82; 9,12, daß Umkehr nur im Diesseits möglich ist und die nicht Umkehrwilligen im Jenseits bestraft werden. Die Umkehr des Menschen ist nach der Meinung des 4 Esr also eng mit seinem Gesetzesgehorsam und seiner persönlichen Eschatologie verknüpft. Beides kommt auch in dem für Umkehr zentralen Abschnitt 14,28-35, auf den die von Ermahnen des Volkes handelnden V. 13.19 vorverweisen, zum Ausdruck: Israel - auch das gegenwärtige! - hat das Gesetz wiederholt übertreten (V. 30f.) und wird mit si ergo imperaveritis sensui vestro et erudieritis cor vestrum zum Halten desselben aufgefordert (V. 34a); das eschatologische Ergehen mit seinem heilbringenden Ausgang für die Umkehrwilligen wird V. 34b ausgedrückt, erneut auch (Heil für die Frommen, Unheil für die Sünder) in dem mit V 34 inhaltlich verknüpften V. 35340; dieser hat eine dreifache Funktion: erstens den eschatologischen Aspekt der Umkehrpredigt des vorangegangenen Verses zu betonen, zweitens neben dem positiv gedachten eschatologischen Ende der Umkehrwilligen auch die Möglichkeit der Bestrafung Nicht-Umkehrwilliger (impiorum facta) im Eschaton herauszustellen und drittens das in diesem Abschnitt für das Kollektiv (Israel) Ausgesagte auch für den einzelnen zum Ausdruck zu bringen341. Ganz wichtig für eine nähere Bestimmung von Umkehr im 4 Esr ist V. 30f., woraus der Anlaß für die Umkehr deutlich wird: non custodire bzw. transgredi legem vitae (V. 30), iniquitatem facere bzw. non servare vias, quas ... praecepit Altissimus 339

340 341

Obwohl der Funktion nach dieser Vers zu der vom Verfasser des 4 Esr abgewiesenen skeptischen Argumentation gehört (s.o.), ist sein Inhalt so allgemein gehalten, daß er der Meinung des Verfassers entsprechen dürfte; dies auch deswegen, weil sein Inhalt in den folgenden untersuchten Stellen, die die Meinung des Verfassers wiedergeben, bestätigt wird. Das enim V. 35 stellt diese inhaltliche Verbindung her. Dieser ist durch die Darstellung des doppelten Ausgangs der persönlichen Eschatologie natürlich stärker zur Überprüfung des eigenen Standpunkts veranlaßt als durch das vorher einseitig ausgedrückte Heil der Umkehrwilligen.

268

C. Die Ethik des 4. Esra

(V. 31). Umkehr ist also dann nötig, wenn der einzelne oder das Volk dem Gesetz nicht entsprechen. Mit dem Abschnitt 14,27-35 wird Israel, der Empfänger des 4 Esr, dringend zur Umkehr aufgefordert. Schließlich sei noch der Frage nachgegangen, ob sich Umkehr nach der Vorstellung des 4 Esr immer wieder, nach jedem Sündigen, zu vollziehen habe, oder eher eine einmalige, grundsätzliche Wende im Leben des Menschen oder Volkes darstellt. Leider wird diese Frage im 4 Esr nicht thematisiert, so daß sie nur näherungsweise beantwortet werden kann. Tendenziell weist 4 Esr zwar stärker in die Richtung der letztgenannten Alternative342, aber von 9,12 her, wo die Umkehrmöglichkeit des Menschen während seines Erdenlebens ausgesagt wird, ist es wahrscheinlich, daß 4 Esr auch für je und je vorkommende Aktualsünden während der irdischen Existenz des Menschen die Umkehr empfiehlt.

b) Die Bedeutung der „Werke" 1. Der lexikalische Befund Opus/opera erscheint im 4 Esr 19mal. Vom sittlichen Werk des Menschen coram Deo sprechen folgende elf opus/opera-Stellen: 7,24.35.77.119; 8,32f.(zweimal)33* (zweimal)36 + *; 9,7. Diese können aber auch mit der Femininform operae ausgedrückt werden (so 8,33; 13,23) oder auch mit facta (so 8,32*; 14,35). Allerdings ist die Aussage des Erbarmens Gottes über diejenigen, die keine opera iusticiae (8,32) bzw. facta bona (8,32*) haben (ähnlich 8,36 + *), für diese Untersuchung nicht relevant, da sie sich in dem vom Verfasser abgewiesenen Gedankengang des Textes 8,25-36 befindet 343 ; entsprechend bleiben diese vier Belege hier unberücksichtigt. Somit stehen für unsere Untersuchung elf Belege zur Verfügung, die von den Werken des Menschen coram Deo handeln: Die Menschen im allgemeinen taten Gottes Werke nicht

342

343

Dafür sprechen folgende zwei Gründe: an den drei eingangs genannten Stellen spricht 4 Esr von Umkehr im Sg. (coiwersio, reversio, paenitentia), und er hat in Kap. 14 eher die prinzipielle Abwendung Israels vom Gesetz Gottes im Blick. S.o. C.2.3.a)2., S. 264-266.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

269

(7,24.119). In das Jüngste Gericht folgen dem Menschen die Werke nach (7,35), hier werden die Taten der Sünder sichtbar (14,35). Den Gerechten hingegen sind bei Gott viele Werke hinterlegt, aus denen sie Lohn empfangen (8,33 + *); auch für Esra thesaurus operwn repositus apud Altissimum (7,77). Aber schon in ihrem Erdenleben ist den Frommen Gottes Segen verheißen: sie können den bevorstehenden messianischen Wehen per opera ... vel per fidem entrinnen (9,7; ähnlich 13,23: qui habent operas et fidem). 2. Die inhaltliche Füllung von „Werke" Ganz eindeutig sind mit „Werken" im 4 Esr Taten entsprechend der alttestamentlichen, antik-jüdischen Gesetzestradition gemeint. Dies geht z.B. aus 7,24 hervor, wo im Kontext der allgemeinen Sündhaftigkeit der Menschen gesagt wird: Et legem eius (=Dei) spreverunt et sponsiones eius abnegaverunt et legitimis eius fidem non habuerunt et opera eius non perfecerunt. Hier drückt die Parallelisierung von opera mit lex, sponsiones und legitima unzweifelhaft aus, daß mit opera Werke gemeint sind, die dem Gesetz entsprechen. Indirekt wird dies auch durch 7,119 im Zusammenhang mit V. 118 deutlich, wo das Nichthaben von guten Werken im Kontext von Sünde erscheint (V. 119: mortalia opera; V. 118: tu [=Adam] peccasti), diese aber - wie oben gezeigt wurde - den Verstoß gegen das Gesetz bedeutet 344 . Wichtig ist in diesem Zusammenhang noch folgendes: 4 Esr redet auch dann von „Werken", wenn die oben genannten Begriffe nicht verwendet werden. Dies läßt sich sehr gut an 7,35.105 zeigen, wo anstelle des neutralen Wortes „Werk" die guten Taten mit iustitiae und die schlechten mit iniustitiae bezeichnet werden. Von letzterem Begriff ausgehend ließen sich auch alle Stellen des 4 Esr, die von Sünde/sündigen reden, unter dem Thema „Werke" verhandeln - und entsprechend auch alle jene, die positives Verhalten darstellen. Man sieht: nach dem Verständnis des 4 Esr ist letztlich all das ein gutes Werk, was dem von ihm empfohlenen Verhalten entspricht, und all das, was ihm zuwiderläuft, ein schlechtes. Daß dies nicht im Widerspruch zu der Feststellung stehen kann, daß „Werke" im 4 Esr Taten entsprechend der alttestamentlichen, antik-jüdi344

S.o. C.2.3.a)l., S. 260-264.

270

C. Die Ethik des 4. Esra

sehen Gesetzestradition meint, ergibt sich daraus, daß das Gesetz die Grundlage der Ethik des 4 Esr ist345. 3. Glaube und Werke Das Substantiv fides findet sich im 4 Esr achtmal (5,1; 6,5.28; 7,24.34.94; 9,7; 13,23), das Substantiv fiducia einmal (7,98), das Adjektiv fidelis nicht. Zwei weitere Wörter des Stammes fidkommen im 4 Esr vor: fidentes 7,103 und fidus 7,104. Credere erscheint sechsmal (3,32; 5,17.29; 7,83.130; 9,7), incredulitas einmal (7,114). Vom religiösen Glauben des Menschen handeln 5,1; 6,5.28; 7,24.34.98; 9,7; 13,23 (Stamm fid-) und 3,32; 5,29; 7,83.114.130; 9,7 (Stamm cred-), mithin 14 Belege: Die Menschen glaubten von jeher nicht den Geboten Gottes (7,24), auch die Juden waren und sind zur Zeit des 4 Esr ungläubig: Weder glaubten sie Mose, noch den Propheten nach ihm, noch Gott selbst (7,130)346. Unglaube sagt 4 Esr auch für die vor ihm liegende Zukunft, das Ende des alten Äons, voraus: sterelis erit a fide regio (5,1). Gerade in dieser Zeit erweisen sich Glaube und Werke jedoch als sehr hilfreich, denn den, der beides hat, beschützt Gott in den schweren Katastrophen vor der Äonenwende (9,7; 13,23), und, wer sich Glaubensschätze sammelte {qui fidem thesaurizaverunt), wird versiegelt (6,5); nach der Äonenwende wird in der neuen Welt Gottes der Glaube blühen (6,28). - Bevor die Seele des Frommen in die Scheol wandert, erlebt sie einen Vorgeschmack auf die Herrlichkeit des Eschatons, zu der exidtare cum fiducia gehört (7,98); andererseits wird die Seele des Gottlosen mit dem Anblick des Lohnes, der für die Glaubenden bereit liegt, bestraft (7,83). Fromme wie Gottlose haben sich im Jüngsten Gericht zu verantworten, wo sich der Glaube des Menschen zeigt (7,34). Im Eschaton schließlich abscisa est incredulitas, crevit autem iustitia, orta est veritas (7,114). 345 346

S.o. C.2.1.a), S. 177-182. Daß Israel ungläubig war und ist, entspricht der Meinung des Verfassers des 4 Esr. Daran ändern auch 3,32; 5,29, die vom Glauben Israels im Gegensatz zum Unglauben anderer Völker reden, nichts, denn diese Stellen gehören in den vom Vf. des 4 Esr abgelehnten Bereich skeptischer Äußerungen von visio 1-3, die dem Esra in den Mund gelegt sind (vgl. Brandenburger, Verborgenheit 17 mit Anm. 20, 80 mit Anm. 48, 150.170).

2. Darstellung und Analyse der Ethik

271

4 Esr kennt keinen Gegensatz zwischen Glaube und Werke. Dies ist besonders deutlich an 9,7; 13,23, die von der Bewahrung der Frommen in den Endzeitkatastrophen des alten Äons sprechen und Glaube und Werke nebeneinandergeordnet als Bedingung dafür nennen. Hierbei ist die an beiden Stellen unterschiedliche Ausdrucksweise symptomatisch dafür, daß 4 Esr an einer Präzisierung des Verhältnisses von Glaube und Werke nicht interessiert ist: 9,7 nennt nämlich opera vel fides, 13,23 operae et fides als Voraussetzung für die Bewahrung. Werden Glaube und Werke im 4 Esr miteinander identifiziert? Zu diesem Schluß könnte man gelangen, denn 4 Esr spricht über beides verschiedentlich auf sehr ähnliche Weise: für Esra ist ein Schatz von guten Werken bei Gott hinterlegt (vgl. 7,77), nach 6,5 läßt sich der Glaube als ein Schatz sammeln; die Gerechten können aus den ihnen bei Gott hinterlegten Werken Lohn empfangen (vgl. 8,33), gleichzeitig liegt für jene eschatologischer Lohn bereit, die dem Bund des Höchsten geglaubt haben (vgl. 7,83). - Andererseits zeigen Stellen wie die oben genannten 9,7; 13,23 mit der getrennten Nennung von Glaube und Werke an, daß eine völlige Identifikation beider nicht möglich ist. Auf Grund ähnlicher Erwägungen kommt M.E. Stone zu folgendem Schluß: „While not asserting that these two concepts, faith and works, are identical, we may say that they were not very clearly differentiated and are used interchangeably" 347 . Dies wird an folgenden Erklärungsmöglichkeiten der genannten je zwei Stellen des 4 Esr deutlich. Von 7,77 mit 6,5 und 7,83 mit 8,33 ausgehend läßt sich der Glaube als ein Werk darstellen: er läßt sich, wie die anderen Werke, als Schatz bei Gott „sammeln" oder besser: „anlegen"348; auf ihn folgt, wie auf andere gute Werke, himmlischer Lohn. - Gleichzeitig läßt sich gemäß S349 6,5 folgendermaßen wiedergeben: „die, die sich Schätze des Glaubens gesammelt haben"3S0, was im Kontext von 7,77 darauf hinausliefe, daß aus dem Glauben heraus gute Werke als Schatz bei Gott gesammelt würden; entspre-

347 348

349 350

4 Ezra 296. Beide Verben gibt Georges 2, 3108 als Übersetzungsmöglichkeit von thesaurizare an. - 6,5 läßt sich durchaus L folgend mit „den Glauben als einen Schatz anlegen" übersetzen. Vgl. Klijn, Esr-Apok 32. Ebd. 31. Ähnlich auch Schreiner, 4 Esr 333.

272

C. Die Ethik des 4. Esra

chend wäre der Lohn derer, die an den Bund Gottes geglaubt haben (vgl. 7,83), der Lohn für ihre (aus dem Glauben erwachsenen) guten Taten. Da somit der Glaube als ein Werk verstanden werden kann, als auch als etwas, aus dem (gute) Werke folgen, muß das Verhältnis beider zueinander so beschrieben werden, wie Stone dies tut. Die Austauschbarkeit von et und vel in 9,7; 13,23 macht eine präzisere Zuordnung von Glaube und Werke in der Theologie und Ethik des 4 Esr unmöglich. 4. Das Gericht nach den Werken Im Zusammenhang von „Werke" erwähnt 4 Esr zweimal das Gericht: Im Gericht (vgl. 7,34) opus subsequetur et merces ostendetur, et iustitiae vigilabunt et iniustitiae non dormibunt (V. 35); mit etwas anderen Worten wird das gleiche 14,35 ausgesagt. In den weiteren Kontext von „Werke" gehören auch diejenigen Stellen, die von iustitiae als den gerechten und iniustitiae als den ungerechten Taten des Menschen sprechen, zu denen 7,105 zählt. Hier wie im ganzen Kontext der Stelle liegt der Ton darauf, daß im Gericht jeder einzelne ganz persönlich für seine guten oder schlechten Taten verantwortlich ist und von keinem anderen Menschen vertreten werden kann (vgl. V. 115). Das Gericht nach den Werken ist für den 4 Esr demnach eine Selbstverständlichkeit. Dabei wird das endgültige Urteil im Endgericht (= Ende der alten, Anfang der neuen Welt, vgl. 7,113) gesprochen, steht aber beim Tod des Menschen schon fest. Letzteres kommt 7,78-99 zum Ausdruck, wo von der siebenfachen Pein bzw. Freude des gerade verstorbenen Menschen die Rede ist: sieben Tage lang erleben die Seelen derjenigen, qui vias (Dei) servavericnt (V. 88) bzw. die iusti (V. 99) einen Vorgeschmack auf die bevorstehende eschatologische Herrlichkeit und die, qui spreverunt (7,79) bzw. neglexerint (V. 99) einen auf die kommenden eschatologischen Strafen; erst danach beziehen die Seelen ihre Wohnung in der Scheol (vgl. V. 101), aus der sie schließlich zum Endgericht antreten (vgl. 14,35: iudicium enim post mortem veniet, quando iterum reviviscemus; 7,32: et prumptuaria reddent quae eis commendatae sunt animae). So unbefangen, wie 4 Esr vom Gericht nach Werken spricht, redet er auch vom eschatologischen Lohn des Menschen bzw. seiner eschatologischen Bestrafung. Wie für Esra nach 7,77 thesaurus operum repositus apud Altissimum, so wer-

2. Darstellung und Analyse der Ethik

273

den auch die anderen Gerechten ex propriis operibus recipient mercedem (8,33). Andererseits haben diejenigen, die in ihrem Erdenleben mortalia opera (7,119) getan haben, „eternal death"351 zu gewärtigen. Gericht nach den Werken sowie Lohn und Strafe gemäß diesen sind für den 4 Esr selbstverständlich; somit erscheinen die Werke als heilsnotwendig. Die hohe Bedeutung von Gericht nach Werken, Lohn und Strafe spiegelt sich auch darin wieder, daß die in diesem Zusammenhang genannten acht mehr als zwei Drittel der elf „Werke"-Belege des 4 Esr darstellen, die in diesem Zusammenhang zu untersuchen waren. c) Heilsindikativ und -imperativ Auch wenn die Begriffe Heilsindikativ und -imperativ in der bisherigen Untersuchung zum 4 Esr noch nicht gefallen sind, so kam die Sache doch immer wieder - wenn auch zum Teil nur ansatzweise - in den Blick. So wurde im Zusammenhang von Ethik und Eschatologie herausgearbeitet, daß die Frommen bereits in der Gegenwart das eschatologische Heil besitzen 352 . Außerdem wurde dargestellt, wie transzendent- und immanent-futurische Eschatologie zur Motivation des sittlichen Handelns der Adressaten verwendet werden und somit nichts anderes als Grundlage des Heilsimperativs sind353. Letzterem ähnlich war auch die Feststellung im Zusammenhang von Ethik und Messianologie, daß das rechte sittliche Verhalten Bedingung für die Teilhabe am messianischen Zwischenreich ist354. In deutlich heilsimperativischem Sinn ist im Zusammenhang von Sünde, Sündenvergebung und Umkehr der Verzicht des 4 Esr auf die Thematisierung von Sündenvergebung zu werten355 sowie die wiederholte Drohung mit dem eschatologischen Tod bei nicht vollzogener Umkehr356. 351 352 353 354 355

Stone, 4 Ezra 259. S.o. C.2.2.b), S. 252f. S.o. C.2.2.b), S. 255-260. S.o. C.2.2.a), S. 248f. S.o. C.2.3.a), S. 264-266. Diese Wertung ist meines Erachtens auch dann angemessen, wenn man seine Abstinenz in Sachen Sündenvergebung in seiner Konfrontation mit heilsuniversalistischer, skeptischer Theologie begründet sieht (vgl. S. 264 Anm. 327).

274

C. Die Ethik des 4. Esra

Unter dem Abschnitt über die Bedeutung der „Werke" im 4 Esr wurde ermittelt, daß diese nach der Vorstellung des Buches heilsnotwendig sind357, da es ganz selbstverständlich vom Gericht nach Werken, Lohn und Strafe spricht; der heilsimperativische Grundtenor ist hier unüberhörbar. Diese skizzenhafte Darstellung der Gewichtung von Heilsindikativ und -imperativ in den genannten theologischen Reflexionsbereichen des 4 Esr weist ein deutliches Übergewicht heilsimperativischen Denkens aus. Doch bedarf diese Feststellung noch einer letzten exegetischen Kontrolle, die durch eine entsprechende Befragung des für die Theologie des 4 Esr wichtigsten Textes vollzogen werden soll: 14,27-35. Dieses Vermächtnis des Propheten Esra ist geradezu eine Zusammenfassung der vom Verfasser vorgetragenen theologischen Problemlösung358 und wegen seiner Verklammerung von Ethik und Eschatologie (vgl. V. 34f.), Sünde, Sündenvergebung und Umkehr (vgl. V. 30f.34f.), „Werke" (vgl. V. 35) und Gesetz (vgl. V. 3Of.) für den Sachzusammenhang Heilsindikativ/-imperativ ideal. Es fällt auf, daß anders als das zukünftige Heil, das in V. 34 genannt wird, das bisherige, für das Thema Heilsindikativ entscheidende nur sehr wenig zur Sprache kommt. Vom gegenwärtigen Heil ist gar nicht die Rede, und das vergangene wird nicht direkt ausgedrückt. Daß Israel, bevor es sündigte, im Besitz des Heils war, läßt sich nur aus der Nennung der ihm gegebenen Wohltaten erschließen (V. 29: Befreiung aus Ägypten; V. 30: Erhalt des Gesetzes; V. 31: Gabe des Landes Israel). Dies deckt sich mit anderen Stellen des 4 Esr, die zwar von der Erwählung Israels sprechen, das damit verbundene Heil coram Deo aber nicht explizit nennen (vgl. 5,23-27; 6,54); man muß es sich aber an diesen Stellen wie auch 14,29-31 wegen der Massivität der positiven Aussagen und wegen teilweise vorhandener Rechtfertigungsterminologie 359 dazudenken. Durch das Sündigen, von dem hier mit zweifacher Nennung und dem intensiven Ansprechen der gegenwärtigen Israeli356 357 358 359

S.o. C.2.3.a), S. 266-268. S.o. C.2.3.b), S. 272f. Vgl. Brandenburger, Verborgenheit 187. Nach 5,27 hat Gott den Israeliten das Gesetz, nach 14,31f. das Land geschenkt (donare); donare/donator ist 7,135.138 im Zusammenhang der Rechtfertigung des Sünders genannt, s.o. C.2.3.a)2., S. 264, Anm. 327.

2. Darstellung und Analyse der Ethik

275

ten (zweimal et vos!) sehr nachdrücklich gesprochen wird (V. 30f.), befand sich Israel im Zustand des Heilsverlustes, was durch den Verlust des Landes 14,31f. ausgedrückt und durch V. 34 nahegelegt wird. Das si ergo imperaveritis sensui vestro V. 34a gibt nämlich einerseits die Bedingung für das im Hauptsatz V. 34b genannte Heil an und drückt andererseits aus, daß diese Bedingung vorher nicht erfüllt und damit das Heil nicht anwesend war. In 14,29-32 sind der frühere Heilsbesitz und jetzige Heilsverlust Israels ausgedrückt; der Indikativ des Heils hat also seine Bedeutung verloren. Deswegen folgt mit V. 34a der Heilsimperativ. Dies geschieht auf ganz massive Weise in Form einer doppelten, pleonastischen Aufforderung zur Umkehr: si ergo imperaveritis sensui vestro et erudieritis cor vestrum. Das nach der Umkehr wiederhergestellte Heil wird mit V. 34b beschrieben: vivi conservati estis et post mortem miservcordiam consequemini. - V. 35 macht mit seinem Hinweis auf das Jüngste Gericht zum einen die Umkehrforderung von V. 34a dringlich, zum anderen stellt der Vers das Jüngste Gericht als Ort der mit V. 34b ausgedrückten heilvollen Zuwendung Gottes nach der erfolgten Umkehr fest. Versucht man, Heilsindikativ und -imperativ in diesem Abschnitt zu gewichten, so gelangt man zu einem eindeutigen Ergebnis: der Indikativ wird wesentlich weniger stark zum Ausdruck gebracht als der Imperativ. An drei Punkten war dies ersichtlich: das bisherige Heil kommt nur sehr wenig zur Sprache; die Sünde der vergangenen und gegenwärtigen Israeliten werden ganz massiv angesagt; die Umkehraufforderung ist gedoppelt. Die Feststellung, daß im Zusammenhang verschiedener systematisch-theologischer Reflexionsbereiche der Imperativ überwiegt, wird demnach durch die dargestellten Beobachtungen zum „Vermächtnis des Propheten Esra"360 14,27-35 vollauf bestätigt. Der Heilsindikativ wird im 4 Esr weder im Blick auf das Volk Israel noch im Blick auf den einzelnen Leser betont ausgedrückt, vielmehr steht die heilsimperativische Forderung sittlich einwandfreien Handelns im Vordergrund. Der Mensch kann sich nicht auf sein Heil verlassen, sondern muß es in einem steten sittlichen Kampf erringen: Hoc est cogitamentum certaminis, quem certavit qui super terram natus est homo, ut si 360

Brandenburger, Verborgenheit 187.

276

C. Die Ethik des 4. Esra

victus fuerit patiatur ..., si autem vicerit recipiet (7,127f.). Die Ethik ist somit für die Erlösung konstitutiv.

3.

Zusammenfassung

Analog zu B.3., der Zusammenfassung der Ethik der Apokalypse, wird im Folgenden die Ethik des 4 Esr zusammengefaßt dargestellt. Am Ende erfolgt eine „Generalskizze der Ethik des 4 Esr", welche die Ergebnisse der Zusammenfassung bündelt und auswertet. Vor der Darstellung und Analyse der Ethik des 4 Esr waren zunächst ihre historischen Voraussetzungen mit: Einleitendes zum 4 Esr und seine zeitgeschichtliche Einordnung zu beschreiben gewesen. Das Buch wurde etwa 95 n. Chr. als Pseudepigraph unter dem Namen „Esra" abgefaßt. In dieser apokalyptischen Schrift sind Einflüsse der alttestamentlichen und antik-jüdischen Esra-Überlieferung und Weisheit erkennbar. Der Verfasser war ein der rabbinischen Theologie möglichweise, der apokalyptischen Bewegung ganz sicher zuzuordnender Jude. Der Abfassungsort war wahrscheinlich Palästina; als Adressat ist die Judenschaft im Umkreis des Verfassers auszumachen. Zur Zeit der Abfassung des 4 Esr erfuhren die Juden seitens der römischen Gesellschaft Bedrängnisse. Domitian war ein eindeutiger Gegner des Judentums, unter dessen Regierung der Fiscus Judaicus mit allerhöchstem Rigorismus verwaltet wurde und Übertritte zum Judentum zu schwerster Bestrafung führen konnten. Im ganzen ist die damalige Situation der Juden als belastet, jedoch nicht als existentiell bedrohlich anzusehen. Für die nahe Zukunft jedoch erwartet 4 Esr eine massive Bedrängnis. Als theologische Voraussetzung der Ethik wurde die Grundproblematik des 4 Esr dargestellt: Die in visio 1 bis 3 dominierende Skepsis Esras wird mit visio 4 in sein Einstimmen in die weltordnende Weisheit Gottes verwandelt, was ihn befähigt, die eschatologischen Geheimnnisse von visio 5 bis 7 zu schauen. Die skeptische Position Esras widerspiegelt eine tiefgreifende Krisensituation in seinem engeren Lebenskreis, der jüdischen Gemeinde; auf diese sucht er mit seiner Schrift die lösende Antwort zu geben.

3. Zusammenfassung

277

In der Untersuchung der ethischen Motive des 4 Esr wurde wegen seiner im Text des Buches massiven Präsenz als erstes das Thema Gesetzesgehorsam untersucht. Dabei stellte sich heraus, daß 4 Esr von lex und äquivalenten Begriffen sehr häufig spricht, sich aber keine nähere Präzisierung von „Gesetz" findet; der Verfasser setzt offensichtlich die Kenntnis der Bedeutung voraus. Es ließ sich jedoch auch zeigen, daß er mit „Gesetz" primär die Tora mit ihren Einzelbestimmungen meint. Das ganze Gesetz ist für den Verfasser bindend und Grundlage seiner Ethik; dabei setzt er die Inhalte des Gesetzes als erfüllbar voraus. Die Übertretung des Gesetzes Gottes durch die Menschen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nimmt im 4 Esr einen breiten Raum ein. Da das Gesetz die unparteiische Norm des Endgerichts ist, entscheidet sich das eschatologische Ergehen des Menschen an seiner Stellung zum Gesetz. An Israel, den Empfänger des 4 Esr, ergeht deshalb die dringende Mahnung, angesichts des kurz bevorstehenden Endgerichts Gesetzesgehorsam zu üben. Ferner entsprechen sich nach der Vorstellung des 4 Esr sittlich positives Verhalten bzw. Gesetzesgehorsam und Weisheit, was an der Person Esras sehr deutlich wird: Er erscheint als Vorbild und Beispiel des weisen Gerechten. Israel wird mit der expliziten Mahnung zur Gesetzestreue durch entsprechende Imperative wie mit der impliziten durch die Vorstellung Esras als Prototyp des weisen Gerechten zu ethisch einwandfreiem Handeln angehalten. Dabei wird nicht auf Einzelgebote der Tora verwiesen, sondern allgemein auf lex, via, mandatum usw. Mit der Forderung der Gesetzesobservanz empfiehlt 4 Esr als „Hauptgebot" die Treue zu Gott. Denn Gott ist der Geber des Gesetzes, und mit seinem Verhalten gegenüber dem Gesetz bestimmt der Mensch seine Position gegenüber Gott als dem, der das Einhalten des Gesetzes fordert. - Außer diesem Hauptgebot finden sich im 4 Esr eine ganze Reihe weiterer ethischer Motive, die im folgenden untersucht wurden. Im Zusammenhang der ethischen Motive aus dem Bereich des Dekalogs wurde zum ersten Gebot festgestellt, daß es explizit im 4 Esr nicht zu finden ist, jedoch implizit hinter der dargestellten Forderung nach Gesetzesgehorsam steht; damit wird nämlich die Treue zu Gott dringlich gemacht. - Konkrete Aussagen des 4 Esr zum ersten Gebot finden sich nur gelegentlich dort, wo der Verfasser von honor und gloria sowie von der Leugnung Gottes spricht. Dieser Befund beweist zwar, daß

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C. Die Ethik des 4. Esra

4 Esr die Relevanz des ersten Gebots kennt und an seine Leser vermittelt, zeigt aber auch, daß für ihn die explizite Entfaltung des ersten Gebots kein zentrales Anliegen ist. Das zweite Gebot kommt weder explizit noch implizit im 4 Esr vor. Das dritte Gebot erwähnt 4 Esr in seinem eigentlichen Wortlaut nicht, spricht aber in einem weiteren Sinn davon, wenn er von der Ehrung oder Befleckung des Gottesnamens redet. Außerdem stellt er einen Zusammenhang zum ersten Gebot dadurch her, daß an zwei der erwähnten drei Stellen dieselbe Personengruppe, die Gott ehrt bzw. leugnet, auch seinen Namen ehrt oder befleckt. Das vierte Gebot findet sich im 4 Esr nicht. Im Zusammenhang kultischer Motive im 4 Esr wurde zum Thema Lobgesang, Jubel und ähnliches herausgearbeitet, daß das Buch mittels der idealen Person des Esra und mittels des idealen Zustandes des postmortalen exultare die Empfänger dazu auffordert. Klagen und trauern gemäß den überkommenen Trauerritualen wird den Empfängern des 4 Esr deutlich über das Verhalten der Frau der Zionvision und das des Apokalyptikers selbst empfohlen. Zu Beten und bitten wurde deutlich gemacht, daß 4 Esr seinen Lesern die Fürbitte (für Zion, für andere Menschen und für sich selbst) sehr empfiehlt, die der Apokalyptiker auch selbst praktiziert. Die Anbetung Gottes durch den Menschen wird hingegen nur einmal ausgedrückt und den Empfängern nahegelegt. 4 Esr, der die Tugend der abstinentia kennt, legt den Empfängern das Fasten im allgemeinen, aber auch im besonderen Fall der Trauer als ethisch empfehlenswertes Verhalten nahe. Opfer ist dem 4 Esr als mit dem Untergang Jerusalems vergangene und mit dem Kommen des Eschatons künftige kultische Handlung bekannt; in seiner Gegenwart und bis zum Ende des alten Äons erwähnt der Verfasser keinerlei Opferdienst, weshalb „Opfer" für seine Ethik auch keine Rolle spielt. Im weiteren Fortgang der Analyse ethischer Motive aus dem Bereich des Dekalogs wurde herausgearbeitet, daß das fünfte Gebot im 4 Esr nicht ausdrücklich erwähnt wird. Ihm ist aber allgemein an einem guten Verhältnis zwischen Eltern und Kindern gelegen, weshalb er das fünfte Gebot indirekt als verbindlich ansieht.

3. Zusammenfassung

279

Obwohl es nicht zur Sprache kommt, dürfte das sechste Gebot selbstverständlicher Bestandteil der Ethik des 4 Esr sein, da er seinen Lesern ein friedvolles Miteinander wünscht und empfiehlt. Auch das siebte Gebot wird im 4 Esr nicht genannt. Der Anspruch disziplinierten Sexualverhaltens wird vereinzelt, aber nicht sehr intensiv zum Ausdruck gebracht. Allerdings kommt die Ehe ganz deutlich und als etwas Selbstverständliches in den Blick (die Frau der Zionvision ist verheiratet, und ihr Sohn sollte heiraten). Deshalb ist das siebte Gebot als impliziter Bestandteil der Ethik des 4 Esr anzusprechen. Das achte Gebot erscheint im 4 Esr wörtlich und sachlich nicht. Der Verfasser nennt aber dem Diebstahl entgegengesetztes positives Verhalten, weshalb dieses Gebot zum Bestand seiner Ethik gehören dürfte. Das neunte Gebot kommt im 4 Esr in seiner engeren Bedeutung der Falschaussage gegen den Mitmenschen nicht vor. Lüge und Hinterlist, die in den Zusammenhang des neunten Gebots gehören, werden aber deutlich als abzulehnendes Verhalten genannt. Entsprechend dürfte das neunte Gebot für den 4 Esr in Geltung sein. Das zehnte Gebot kommt im 4 Esr nicht wörtlich vor. Indirekt wird es jedoch über die Empfehlung der Enthaltsamkeit und des Begehrens der Ordnungen Gottes u.ä. den Empfängern des Buches als gültig und verbindlich mitgeteilt. Im Zusammenhang ethischer Motive aus dem Bereich des Sozialen empfiehlt 4 Esr indirekt „normale" soziale Verhältnisse (im Blick auf Landwirtschaft und Vorräte, belohnte Anstrengung usw.) und eine gewisse Hochwertung der Frau. Auch eine Umwelt- und Tierschutzethik kommt in nuce in den Blick. Im Zusammenhang der Schändung der Erde läßt sich ein kritischer Standpunkt gegenüber dem Imperium Romanum ausmachen, vielleicht auch mit dem eventuell erhobenen Vorwurf der Unterdrückung sozial Schwacher. Zum Thema ethische Motive aus dem Bereich des Politischen wurde herausgearbeitet, daß die Empfänger des 4 Esr innerhalb des Römischen Reichs zu einer Minderheit ohne größeren politischen Einfluß gehörten. Zwar war für sie die politische Lage zur Zeit Domitians ungünstiger als unter den römischen Kaisern vorher und nachher, aber existentiell waren sie nicht bedroht. Das Weltgeschehen stellt sich 4 Esr als einen Kampf zwischen Gott und widergöttlichen Mächten vor. Der sittliche

280

C. Die Ethik des 4. Esra

Kampf des einzelnen ist damit nicht verbunden, vielmehr findet sich das Kampfesmotiv fast nur im Blick auf das individuelle Ethos. Die in Bälde erwartete politische Situation ist für die Empfänger des Buches sehr bedrohlich, denn 4 Esr erwartet einen von Lüge geprägten Abschnitt der Weltgeschichte. Darin wird das böse Reich des Adlers, des Imperium Romanum, die ganze Welt mit brutaler Gewalt unterdrücken; dessen Schreckensherrschaft umschreibt 4 Esr mit labor, tremor und dolus. Diese Situation läßt sich zum einen mit Vertrauen bewältigen, das 4 Esr mit dem Hinweis auf Hoheit und Souveränität Gottes und auf sein machtvolles Durchsetzen am Ende der Zeiten zu vermitteln sich bemüht; so ist das Buch von einem optimistischen Grundzug durchdrungen. - Im besonderen haben die Erwartung des Untergangs Roms, das begrenzte Maß der Leidenszeit der Glaubenden und ihre Versiegelung vertrauenstiftende Wirkung. Zum anderen führt 4 Esr auch konkrete ethische Weisungen an, damit die Empfänger die erwartete Situation bewältigen können. Standhaftigkeit und Geduld werden empfohlen, jedoch eher indirekt. Die einzige Stelle des Buches, die konkret auf die politische Ethik abhebt, legt mit mansuetus esse, quiescere und (aquilam) non nocere ein eher passiv-quietistisches Verhalten als agendum nahe. - Im speziellen wurden in diesem Kontext schließlich die Themen Subversion, Zuendebringen der Leidenszeit und Heiliger Krieg bearbeitet. Es ließ sich die subversive Praxis des Verfassers und ihre Vermittlung an die Empfänger darstellen, die sich im Entzug von Anerkennung und Legitimation äußert. Auch sind die Frommen am Zuendebringen der Leidenszeit realiter mitbeteiligt, ohne daß sie das Erscheinen des Endes tatsächlich beschleunigen könnten. Am Heiligen Krieg der Endzeit werden sie nicht partizipieren. Nach den ethischen Motiven aus dem Bereich des Politischen wurden diejenigen, die nicht in die bisherigen Bereiche integrierbar waren, untersucht. In diesem Kontext zeigte sich die Tugend der Tapferkeit als tapferes Ertragen von Unglück und heldenhaftes Handeln. - Stärker als diese wird im 4 Esr Tröstung thematisiert, die vor allem im Blick auf die Frau der Zionvision und das Volk Israel von folgender theologischer Aussageabsicht motiviert ist: 4 Esr sagt ermutigend aus, daß sich über alle Dunkelheit des Weltgeschehens hinweg die Macht Gottes spannt und durch-

3. Zusammenfassung

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setzen wird. Der Zusammenhang dieser Ermutigung mit Schuldaussage sowie Einweisung in die Gerichtsdoxologie und den Gesetzesgehorsam ist deutlich gegeben, was sich besonders an dem schroffen corripere, dem „scharf tadeln" zeigt. Weiterhin nennt 4 Esr explizit Demut und Hochmut. Ein von Demut geprägtes Verhalten verzichtet darauf, sich selbst zu überhöhen; konkret drückt es sich, wie am Vorbild Esras ersichtlich, in der Gesetzesobservanz aus. 4 Esr empfiehlt ferner den Fleiß·. Zur menschlichen Existenz gehört das fleißige Arbeiten, das normalerweise mit Erfolg belohnt wird. Am Beispiel der Frau der Zionvision und des Esra selbst erfährt die Tugend des Fleißes zwei Konkretionen. Auch ist 4 Esr das Ermahnen wichtig: Der Apokalyptiker wird vom Offenbarungsengel ermahnt bzw. zurechtgewiesen und das Volk Israel von Esra ermahnt bzw. scharf getadelt; in gleicher Weise sollen auch die Empfänger die göttlichen Offenbarungen entschieden mahnend tradieren. Ferner legt 4 Esr das Lehren als Weitergabe göttlicher Offenbarungen den Empfängern auf verschiedene Weise nahe: durch das Vorbild und Beispiel Esras, der die Inhalte seiner Offenbarung wohldosiert weitergibt, und durch die Empfehlung des allgemeinen splendide docere von Gottesoffenbarungen. Im Zusammenhang von Ordnen/Zur-Ordnung-weisen wurde ermittelt, daß 4 Esr neben der Schöpfungsordnung vor allem gesetzliche Ordnungen Gottes kennt; an diesen sich zu orientieren, bringt den Menschen irdischen und himmlischen Segen, dies nicht zu tun, Bestrafung. 4 Esr nennt auch die Pflicht des Menschen zum Zur-Ordnung-weisen: Die Leser sollen die Sünde in ihrer Umgebung eindämmen. Ethik und Messianologie, der erste der beiden unter Darstellung und Analyse der ethischen Vorstellungen im Kontext wesentlicher Theologumena des 4 Esr verhandelten Topoi, stellte sich folgendermaßen dar: Nach der Vorstellung des 4 Esr ist das rechte sittliche Verhalten der Empfänger Bedingung für die Teilhabe am messianischen Zwischenreich. Auch die allgemeine Vorstellung vom richtenden messianischen Erlöser ist im 4 Esr zu finden. Objekt dieser Bestrafung sind die letzten Könige der Endzeit und die anstürmende Menschenmenge. Während ersteren ganz bestimmte Verfehlungen vorgeworfen werden, erfolgt die Bestrafung der letzteren wegen ihrer allgemeinen Nichtbeachtung des Gesetzes.

282

C. Die Ethik des 4. Esra

Im Zusammenhang von Ethik und Eschatologie, dem zweiten unter der erwähnten Überschrift untersuchten Topos, wurde herausgearbeitet, daß im 4 Esr präsentische Eschatologie nur in nahezu unbedeutenden Spuren zu finden ist. Der Zusammenhang dieser mit der Ethik kommt nur minimal in den Blick, und zwar in der 7,81.92 möglicherweise ausgedrückten Identifizierung gegenwärtigen Tuns mit jenseitigem Ergehen. 4 Esr führt transzendent-futurische Eschatologie im Zusammenhang der Ethik jedoch sehr oft an. Das Verhältnis beider zueinander ist im Blick auf die Frage nach positiver Motivierung des menschlichen Verhaltens (mittels der Verheißung jenseitigen Lohns usw.) oder negativer (mittels der Ankündigung jenseitiger Bestrafung usw.) folgendermaßen zu beantworten: Positive und negative Motivierung werden ungefähr gleichstark zum Ausdruck gebracht. Im Zusammenhang der Frage, was stärker motiviert: die Nähe des Eschatons bzw. das unerwartete Kommen des Endes oder das eschatologische Heil oder Unheil, wurde festgestellt: Letzteres überwiegt deutlich, und 4 Esr kennt keine Motivation des menschlichen Handelns durch das unerwartete Kommen des Endes. Im 4 Esr findet sich auch immanent-eschatologische Belohnung und Bestrafung des sittlichen Handelns der Menschen. Implizit wird die Bestrafung der Unfrommen durch die endzeitlichen Plagen, explizit die Bewahrung der Frommen, etwa durch ihre Versiegelung, ausgedrückt. Hinzu tritt das Motiv der Beglückung der Frommen durch den messianischen Erlöser. Ihre machtvolle Herrschaft im messianischen Zwischenreich läßt sich nur vermuten. Zum Thema Sünde, Sündenvergebung und Umkehr, dem ersten Unterabschnitt von komplexe theologische Aspekte im Sachzusammenhang der Ethik des 4 Esr, wurde herausgearbeitet, daß 4 Esr sehr oft und mit vielen verschiedenen Wörtern von Sünde redet. Sünde und Sündenvergebung diskutiert er auf einer mehr grundsätzlichen Ebene; dabei weist er sowohl diejenige theologische Auffassung zurück, die ein Sündenverhängnis behauptet, als auch diejenige, die Heilsuniversalismus postuliert. Gegen erstere hebt er hervor, daß sich im Gesetzesgehorsam der Hang zum Sündigen überwinden läßt, und gegen letztere, daß jeder Mensch genau seinem am Gesetz zu messenden sittlichen Verhalten entsprechend im Jenseits Strafe oder Lohn erhalten wird.

3. Zusammenfassung

283

Diesem allgemeinen Charakter der Diskussion des Themas Sünde im 4 Esr entspricht die Tatsache, daß er nur selten konkrete sittliche Verfehlungen als Sünde bezeichnet, diese vielmehr als im Widerspruch zu Gottes Willen stehendes Handeln bzw. als Verstoß gegen das Gesetz begreift. 4 Esr nennt keine Sündenvergebung im irdischen Leben des Menschen, zum Beispiel nach aktuellen Sünden; hier läßt sich vielmehr die Empfehlung der Umkehr wahrscheinlich machen. Diese versteht er ferner als eine solche zum Gesetz und fordert Israel, den Empfänger des Buches, dazu dringend auf. Die Möglichkeit zur Umkehr steht auch dem Individuum während seines Erdenlebens offen. Wer zur Umkehr bereit ist, darf sich auf eschatologisches Heil freuen; demjenigen, der nicht umkehren will, kündigt 4 Esr eschatologisches Unheil an; beides gilt für den Einzeilnen wie für Israel als Kollektiv. Im Folgenden wurde unter der angeführten Überschrift die Bedeutung der „Werke" herausgearbeitet, daß 4 Esr hier Taten entsprechend der alttestamentlichen, antik-jüdischen Gesetzestradition im Blick hat. Außerdem dürfte alles, was dem vom Verfasser des 4 Esr als positiv dargestellten Verhalten entspricht, ein gutes, und alles, was negativ dargestelltem Verhalten entspricht, ein schlechtes Werk sein. Glaube und Werke lassen sich im 4 Esr einander nicht präzise zuordnen: Ohne miteinander identifiziert werden zu können, erscheinen beide doch auch als austauschbar; 4 Esr kennt keinen Gegensatz von Glaube und Werke, und er kann den Glauben als ein Werk verstehen. Das eschatologische Endgericht ist für den 4 Esr etwas ganz Selbstverständliches; in diesem wird jeder Mensch für seine guten oder schlechten Taten individuell verantwortlich gemacht; die Werke erscheinen als heilsnotwendig. Gericht nach den Werken und eschatologischer Lohn bzw. eschatologische Bestrafung des Menschen gehören außerdem zu den festen Vorstellungen des 4 Esr in diesem Zusammenhang. Der letzte Topos unter der oben genannten Überschrift, Heilsindikativ und -imperativ, kam in der Untersuchung der Ethik des 4 Esr schon ansatzweise in den Blick, bevor ihm ein eigener Abschnitt gewidmet wurde. Dabei erschien der Heilsimperativ als gegenüber dem -indikativ deutlich betont. - Zusätzlich zu diesem relativ eindeutigen Sachverhalt wurde eine letzte Klärung des Zusammenhangs von Heilsindikativ und "imperativ durch die Untersuchung des für die Theologie des 4 Esr

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C. Die Ethik des 4. Esra

wichtigsten Textes, des Vermächtnisses des Propheten Esra 14,27-35, vorgenommen. Hierbei ergab sich, daß die heilsimperativische Forderung sittlich einwandfreien Handelns eindeutig im Vordergrund steht. Deshalb trifft auf das Verhältnis von Heilsindikativ und -imperativ im 4 Esr zu, daß sich der Mensch nicht auf sein Heil verlassen darf, sondern es in einem permanenten ethischen Kampf erringen muß. Dies wird an 7,127f. sehr deutlich: Hoc est cogitamentum certaminis, quem certavit qui super terram natus est homo, ut si victus fuerit patiatur ..., si autem vicerit recipiet. Generalskizze der Ethik des 4 Esr Zwei Hauptlinien lassen sich in der Ethik des 4 Esr ausmachen: Gesetz und Eschatologie. Ersteres war von Anfang an wegen der häufigen Aussagen des Buches zu diesem Thema als überproportional relevant erkennbar und erhielt entsprechende Priorität bei der Untersuchung der ethischen Motive des 4 Esr; letzteres spielte bei fast allen untersuchten Einzeltopoi eine wesentliche Rolle. Inhaltlich ist zum Verhältnis beider zueinander nichts anderes zu sagen, als was schon unter „Gesetzesgehorsam" formuliert wurde: Da das Gesetz die unparteiische Norm des Endgerichts ist, entscheidet sich das eschatologische Ergehen des Menschen an seiner Stellung zum Gesetz. Von hier aus kann auch den zur Ethik des 4 Esr bilanzierenden Ausführungen C. Münchows361 zugestimmt werden: Die Gegenwart des 4 Esr als Zeit der Gesetzeserfüllung und Bewährung erhält gegen den die Liebe Gottes zu seinem Volk bezweifelnden Pessimismus eine positivere Wertung. Der Verfasser ruft auf, trotz aller gegenwärtigen Not nicht in Pessimismus zu verharren, sondern im Wissen um die Heilswirksamkeit des Gesetzes und im Bewahren desselben zuversichtlich auf das kommende Heil zu warten und in dieser Hoffnung nach dem Gesetz zu handeln. Mit dieser Gesetzesobservanz empfiehlt 4 Esr als Hauptgebot die Treue zu Gott, denn mit seinem Verhalten gegenüber dem Gesetz legt der Mensch seine Position gegenüber Gott als dem fest, der das Einhalten des Gesetzes fordert.

361

Vgl. ders., Ethik 94f.

3. Zusammenfassung

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Außer diesem Hauptgebot ist eine unübersehbare allgemeine Strenge für die Ethik des 4 Esr bezeichnend, die in allen Bereichen des Ethischen im 4 Esr zu finden ist. Besonders in den drei untersuchten komplexen theologischen Aspekten Sünde, Sündenvergebung und Umkehr, Werke und Heilsindikativ/ -imperativ wird diese Strenge ausgedrückt: Die Vorstellungen von Sündenverhängnis und Heilsuniversalismus werden vom Verfasser des 4 Esr abgeschmettert, die (heilsnotwendigen) Werke entscheiden über eschatologisches Leben oder Tod, und der Heilsimperativ dominiert klar über den -indikativ. Damit zusammenhängend ist schließlich das motivierende Moment der Ethik des 4 Esr zur Sprache zu bringen. Der Verfasser stellt keine eigene, neue Ethik dar; vielmehr setzt er weitgehend die bekannte alttestamentliche und antik-jüdische voraus. Das Einhalten dieser macht er auch durch die beschriebene Strenge dringlich. Die neben dem angeführten Hauptgebot zahlreichen ethischen „Nebengebote" sollen an dieser Stelle nicht noch einmal angeführt werden. 4 Esr hat sich insgesamt als reich an ethischen Motiven gezeigt; dabei wurden die Empfänger selten direkt angesprochen, meistens wurden Verhaltensempfehlungen oder Warnungen implizit vermittelt. Deshalb stellt 4 Esr ganz eindeutig einen wesentlichen Beleg gegen die These von der Unvereinbarkeit von Apokalyptik und Ethik dar.

D. Die Ethik der Johannes-Apokalypse und die des 4 Esr im Vergleich Im Bereich der historischen Voraussetzungen der Ethik von Johannes-Apokalypse und 4 Esr wurde dargelegt, daß beide Schriften in der späten Regierungszeit Domitians, also etwa 95 n. Chr., verfaßt worden sind. Sowohl Christen als auch Juden erfahren seitens der römischen Gesellschaft Bedrängnisse. Da die Juden jedoch immerhin vom Kaiserkult und jeweiligen Lokalkulten befreit sind, erleiden die Christen stärkeren Druck seitens der Behörden. Zu diesen staatlichen Anfeindungen treten im historischen Umfeld der Johannes-Apokalypse noch solche von seiten der Juden hinzu, die Christen führen also den beschriebenen Zweifrontenkrieg. Unterscheiden sich Johannes-Apokalypse und 4 Esr demnach im Blick auf die reale historische Situation, so ähneln sie sich im Blick auf die für die Zukunft erwartete jedoch sehr: Beide erwarten für die nahe Zukunft eine massive Bedrängnis. Viel stärker als 4 Esr ist die Ethik der Johannes-Apokalypse von dieser Bedrängnis geprägt: υπομονή, das Einstehen für λόγος του θεού und μαρτυρία Ίησου sowie νικάω sind wesentliche Teile ihrer Ethik und enthalten die Aufforderung der Leser zu Standhaftigkeit in Bedrängnis und Verfolgung, zur Treue zur christlichen Offenbarung mit allen Konsequenzen und zum „Überwinden" in Verfolgungssituationen. - An der Stelle, wo im Blick auf die Johannes-Apokalypse ebendiese ethischen Motive untersucht wurden, die unmittelbar mit der Verfolgungssituation zusammenhängen, wurde beim 4 Esr über Gesetzesgehorsam reflektiert. Dies ist kein Zufall, denn wie in der Ethik der Johannes-Apokalypse das Thema „Verfolgung" deutlich dominiert, so in der des 4 Esr das des Befolgens oder Nichtbefolgens des Gesetzes. Es wurde herausgearbeitet, daß die genannten ethischen Motive von Johannes-Apokalypse und 4 Esr jeweils die Aufforderung zur Treue zu Gott darstellen; diese wurde als Hauptge-

D. Die Ethik der Apk und die des 4 Esr im Vergleich

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bot sowohl der Johannes-Apokalypse als auch des 4 Esr erkannt. Die an diese Untersuchungen anschließende Analyse der ethischen Motive aus dem Bereich des Dekalogs ergab folgendes Bild: Gemeinsam ist Johannes-Apokalypse und 4 Esr, daß das erste Gebot in seinem Wortlaut nicht vorkommt und daß es implizit hinter dem genannten Hauptgebot beider Schriften steht. - Mehr als der 4 Esr ist die Johannes-Apokalypse an konkreten Weisungen im Zusammenhang des ersten Gebots interessiert, denn unter anderem mit dem expliziten Verbot des Anbetens von δαιμόνια und der ausdrücklichen Ablehnung aller Handlungen im Zusammenhang des Kaiserkults wird Ex 20,2-6; Dtn 5,6-10 als aktuell gültig und unbedingt zu befolgen dargestellt. 4 Esr hingegen spricht nur gelegentlich von honor und gloria sowie von der Leugnung Gottes und thematisiert Götzendienst und Aberglauben nicht. Dieser Befund beweist zwar, daß 4 Esr die Relevanz des ersten Gebots kennt und an seine Leser vermittelt, zeigt aber auch, daß ihm eine explizite Entfaltung des ersten Gebots kein wesentliches Anliegen ist. Das Bilderverbot, das zweite Gebot, wird den Empfängern der Johannes-Apokalypse eindringlich vermittelt; im 4 Esr kommt es weder explizit noch implizit zur Sprache. Die Johannes-Apokalypse thematisiert das dritte Gebot nirgends. 4 Esr erwähnt es in seinem eigentlichen Wortlaut nicht, spricht aber in einem weiteren Sinn davon, wenn er von der Ehrung oder Befleckung des Gottesnamens redet. Außerdem stellt er einen Zusammenhang zum ersten Gebot dadurch her, daß an zwei der erwähnten drei Stellen dieselbe Personengruppe, die Gott ehrt bzw. leugnet, auch seinen Namen ehrt oder befleckt. Das vierte Gebot kommt im 4 Esr nirgends zur Sprache. In der Johannes-Apokalypse ist die Feier des „Herrentages" vorausgesetzt, woraus man ableiten darf, daß Johannes diesen als Feiertag analog zum altestamentlichen, antik-jüdischen Sabbat empfiehlt. Auch finden sich kultische Motive in Johannes-Apokalypse wie 4 Esr. Lobgesang und Jubel erscheinen in der JohannesApokalypse zwar in den hymnischen Stücken, die oft himmlischen Wesen in den Mund gelegt sind, sie sind aber auch den Empfängern des Buches aufgetragen. Damit spielen Lobgesang,

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D. Die Ethik der Apk und die des 4 Esr im Vergleich

Jubel und ähnliches in der Ethik der Johannes-Apokalypse eine wesentlich größere Rolle als in der des 4 Esr. Dieser fordert zwar mittels der idealen Person des Esra und mittels des idealen Zustandes des postmortalen exultare die Leser zu Lobgesang, Jubel u.ä. auf, doch geschieht dies zum einen verhaltener und zum anderen auf einer viel schmaleren Textbasis als in der Johannes-Apokalypse. Im Zusammenhang von beten, bitten wurde festgestellt, daß für die Johannes-Apokalypse das Anbeten Gottes und das Nicht-Anbeten anderer Wesen, z.B. des „Tieres", ein wesentlicher Bestandteil der Ethik ist. Im 4 Esr findet sich dieser Gegensatz nicht; auch hat die Anbetung Gottes durch den Menschen keinen so hohen Stellenwert wie in der Johannes-Apokalypse, wird sie doch nur an einer Stelle genannt. Andererseits empfiehlt 4 Esr seinen Lesern die Fürbitte (für Zion, für andere Menschen und für sich selbst), wovon in der Johannes-Apokalypse nichts zu finden ist. Diese empfiehlt jedoch das Beten im allgemeinen durch die an verschiedenen Stellen als besonders kostbar ausgewiesenen Gebete der „Heiligen". 4 Esr kennt Opfer nur als mit dem Untergang Jerusalems vergangene und mit dem Kommen des Eschatons künftige kultische Handlung; in seiner Gegenwart und bis zum Ende des alten Äons erwähnt der Verfasser keinerlei Opferdienst, weshalb „Opfer" für seine Ethik auch keine Rolle spielt. Gleichermaßen unbedeutend ist das Thema Opfer für die Ethik der Johannes· Apokalypse, denn diese kennt nur das zurückliegende Sühneopfer Jesu; auch besitzt der Jerusalemer Tempel für sie keine aktuelle Bedeutung mehr. Allerdings empfiehlt sie den angeschriebenen Gemeinden das Entzünden von Räucherwerk bei ihren Gottesdienst- und Gebetsversammlungen, die aber keine Opfer darstellen. Während in der Ethik der Johannes-Apokalypse klagen und trauern nicht zu finden sind, spielen sie in der des 4 Esr eine wichtige Rolle; das gleiche gilt für das Fasten. Umgekehrt ist der Gottesdienst in der Ethik der Johannes-Apokalypse etwas ganz Wichtiges, in der des 4 Esr kommt er jedoch nicht vor. Im weiteren Verlauf der Untersuchung ethischer Motive aus dem Bereich des Dekalogs war festzustellen, daß das fünfte Gebot weder in der Johannes-Apokalypse noch im 4 Esr ausdrücklich zur Sprache kommt. 4 Esr ist aber allgemein an einem guten Verhältnis zwischen Eltern und Kindern gelegen, weshalb er das fünfte Gebot indirekt als verbindlich ansieht.

D. Die Ethik der Apk und die des 4 Esr im Vergleich

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Die Johannes-Apokalypse erwähnt keine Eltern-Kind-Thematik, so daß der Bereich des fünften Gebots in ihr nicht zur Sprache kommt. Während die Johannes-Apokalypse auch den Christen ausdrücklich das Morden verbietet und es unter schwere Strafe stellt, fehlen vergleichbare direkte Äußerungen zum Thema sechstes Gebot im 4 Esr. Da dieses Buch seinen Lesern aber ein friedvolles Miteinander wünscht und empfiehlt, dürfte das sechste Gebot trotz seiner Nichterwähnung selbstverständlicher Bestandteil der Ethik des 4 Esr sein. Somit ist es in beiden Ethiken von Bedeutung. Zum siebten Gebot. Die Johannes-Apokalypse verbietet ausdrücklich und wiederholt sexuell ausschweifendes Verhalten, 4 Esr nur mit geringem Nachdruck und an wenigen Stellen. Dafür nennt er die Ehe ganz deutlich und als etwas Selbstverständliches (die Frau der Zionvision ist verheiratet, und ihr Sohn sollte heiraten), während in der Johannes-Apokalypse indirekt (unter anderem über die positive Bewertung von νυμφίος und νύμφη und das ekklesiologische Braut-Motiv) auf die Empfehlung der Ehe geschlossen werden kann; Ehelosigkeit oder Sexualaskese sind nicht Bestandteil ihrer Ethiken. Demnach ist das siebte Gebot in beiden Schriften in Kraft. Die Johannes-Apokalypse nennt das Diebstahlverbot einmal ausdrücklich und einmal indirekt, 4 Esr überhaupt nicht. Beide, vor allem 4 Esr, kennen dem Diebstahl entgegengesetztes positives Verhalten. Im Falle der Johannes-Apokalypse ganz sicher und im Falle des 4 Esr vermutlich gehört das achte Gebot zum Bestand der Ethik. In seinem engeren Sinn der Falschaussage gegen den Mitmenschen erscheint das neunte Gebot weder in der JohannesApokalypse noch im 4 Esr. Jedoch wird in beiden „Lüge" als ethisch abzulehnendes Verhalten ausgesagt, in der JohannesApokalypse häufiger und direkter im Blick auf die Leser als im 4 Esr. Das neunte Gebot ist also mindestens in einem weiteren Sinn Bestandteil beider Ethiken. Weder in der Johannes-Apokalypse noch im 4 Esr erscheint der Wortlaut des zehnten Gebots. Jedoch kommt es der Sache nach in der Johannes-Apokalypse vor, weshalb sein Inhalt den Empfängern des Buches als gültig und verbindlich mitgeteilt wird. - Im 4 Esr ist dies nur ganz indirekt über die Empfehlung der Enthaltsamkeit und des Begehrens der Ordnungen Gottes u.ä. der Fall.

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D. Die Ethik der Apk und die des 4 Esr im Vergleich

Zu ethische Motive aus dem Bereich des Sozialen wurde ermittelt, daß Reichtum und Armut in der Johannes-Apokalypse immer wieder direkt oder indirekt thematisiert werden, im 4 Esr jedoch nicht; das gleiche gilt für die allgemeine Kritik der Johannes-Apokalypse an sozialen Verhältnissen im Imperium Romanum. 4 Esr wiederum empfiehlt - was in der JohannesApokalypse nur ganz am Rande der Fall ist - indirekt „normale" soziale Verhältnisse (im Blick auf Landwirtschaft und Vorräte, belohnte Anstrengung usw.) und (ebenfalls stärker als die Johannes-Apokalypse) eine gewisse Hochwertung der Frau. Anders als in der Johannes-Apokalypse wird Sklaverei im 4 Esr nicht abgelehnt, und die oberen Zehntausend werden nicht kritisiert. - Johannes-Apokalypse wie 4 Esr haben Ansätze zu einer Umwelt- und Tierschutzethik. Im großen und ganzen gibt die Johannes-Apokalypse zu dem Thema viel mehr her, da im 4 Esr die großen Themenbereiche arm und reich sowie allgemeine Kritik am sozialen Verhalten des Imperium Romanum nicht vorkommen. Im 4 Esr läßt sich deshalb auch nur wenig der für die Johannes-Apokalypse typische und in ihr deutlich vernehmbare kritische Standpunkt gegenüber dem Imperium Romanum ausmachen; dieser erklingt im 4 Esr lediglich im Zusammenhang der Schändung der Erde. Zu ethische Motive aus dem Bereich des Politischen wurde festgestellt, daß die Empfänger der Johannes-Apokalypse wie die des 4 Esr innerhalb des Imperium Romanum zu je einer Minorität mit geringem politischen Gewicht gehören. Zwar ist für die Leserschaft des 4 Esr die politische Lage zur Zeit Domitians ungünstiger als unter den römischen Kaisern vorher und nachher, aber die Empfänger der Johannes-Apokalypse leiden unter stärkeren Pressionen. - Beide Schriften stellen sich das Weltgeschehen als einen Kampf zwischen Gott und widergöttlichen Mächten vor. Während nach der Botschaft der Johannes-Apokalypse damit der sittliche Kampf des einzelnen verbunden ist (der Mensch kann den widergöttlichen Mächten unterliegen oder sie besiegen), findet sich diese Verbindung im 4 Esr nicht; das Kampfesmotiv findet sich nahezu ausschließlich im Blick auf das individuelle Ethos. Die in Bälde erwartete politische Situation ist für die Empfänger beider Schriften gleichermaßen bedrohlich. Die Johannes-Apokalypse erwartet ein totales Terrorregime, das den Christen Gefängnis oder Tod, wirtschaftliche Boykottierung und Verelendung bringen kann; 4 Esr erwartet ein böses

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Reich, dessen Herrschaft mit labor, tremor und dolus beschrieben wird und die ganze Welt mit brutaler Gewalt unterdrückt. Diese Situation läßt sich einerseits durch Vertrauen bewältigen, das die Verfasser von Johannes-Apokalypse und 4 Esr zu stiften versuchen: Johannes-Apokalypse wie 4 Esr sind von einem optimistischen Grundzug durchdrungen. Neben anderem wirken in beiden Schriften gleich intensiv die Erwartung des Untergangs Roms, das begrenzte Maß der Leidenszeit der Glaubenden und ihre Versiegelung vertrauenstiftend. Andererseits erfolgen auch konkrete ethische Weisungen, um die Empfänger die erwartete Situation bewältigen lassen zu können: Während Johannes eindringlich Standhaftigkeit, Einstehen für die christliche Offenbarung und Sieg über die widergöttlichen Mächte von seinen Lesern fordert und sich betont von einer zwischen gottfeindlicher Gesellschaft und christlicher Gemeinde vermittelnden Position absetzt, finden sich im 4 Esr eher indirekte Empfehlungen der Standhaftigkeit und Geduld; die einzige Stelle, die konkret die politische Ethik des Buches im Blick hat, empfiehlt mit mansuetus esse, quiescere und (aquilam) non nocere ein eher passiv-quietistisches Verhalten. Im speziellen sind im Bereich der konkreten ethischen Weisungen zu nennen: Subversion, Zuendebringen der Leidenszeit und heiliger Krieg. In der Johannes-Apokalypse und im 4 Esr ist die subversive Praxis des Verfassers und ihre Vermittlung an die Leser gleichermaßen erkennbar, die sich im Entzug von Anerkennung und Legitimation darstellt. In beiden Schriften sind die Glaubenden am Zuendebringen der Leidenszeit ursächlich mitbeteiligt, ohne daß sie das Kommen des Endes tatsächlich beschleunigen könnten. - Im Blick auf das Thema Heiliger Krieg haben Johannes-Apokalypse und 4 Esr verschiedene Lösungsansätze: Nach den Vorstellungen der Johannes-Apokalypse werden die Glaubenden im Heiligen Krieg der Endzeit mitkämpfen, nach denen des 4 Esr nicht. Wegen der vielen aktiven Anteile der hier im speziellen dargestellten Aspekte der politischen Ethik der Johannes-Apokalypse ist der Begriff des passiven Widerstandes für sie unangemessen. Im Anschluß an die Untersuchung ethischer Motive aus dem Bereich des Politischen erfolgte eine Analyse derjenigen, die nicht in die bisherigen Bereiche integrierbar waren. In diesem Zusammenhang kennen Johannes-Apokalypse wie 4 Esr Tapferkeit als tapferes Aushalten von Unglück (4 Esr) bzw. Bedräng-

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nis (Johannes-Apokalypse). Außerdem nennt 4 Esr heldenhaftes Handeln, das auch in der Ethik der Johannes-Apokalypse (Heiliger Krieg) eine Rolle spielen dürfte. Im ganzen ist Tapferkeit der Johannes-Apokalypse wichtiger, da Feigheit nach ihrer Botschaft zum einen ein sehr schweres Verbrechen, zum anderen das Gegenteil des auch allgemein relevanten νικαν der Glaubenden darstellt. In Johannes-Apokalypse wie 4 Esr findet sich Tröstung im Blick auf die Adressaten sehr intensiv: Beide Schriften drükken die Ermutigung aus, daß sich über alle Finsternis des Weltgeschehens hinweg Gottes Macht spannt und durchsetzen wird. Anders als im 4 Esr ist in der Johannes-Apokalypse der Zusammenhang dieser Ermutigung mit Schuldaussage sowie Einweisung in die Gerichtsdoxologie und den Gesetzesgehorsam bzw. Gehorsam gegenüber Gott weniger gegeben: Wohl erscheinen tröstende Zusagen in Kombination mit Imperativischen, aber es findet sich nichts mit dem schroffen corripere des 4 Esr Vergleichbares. Während im 4 Esr Demut (und Hochmut) ausdrücklich genannt werden, redet die Johannes-Apokalypse nur indirekt davon; das Motiv jedoch spielt eine große Rolle. - Ist das demütige Verhalten nach der Botschaft der Johannes-Apokalypse im wesentlichen von der Bereitschaft geprägt, sich in der Verfolgung zu bewähren, so drückt sich im 4 Esr Demut in der Treue zum Gesetz aus. „Arbeiten" kommt, anders als laborare im 4 Esr, in der Johannes-Apokalypse nur einmal und ohne den Sachzusammenhang von Fleiß vor (18,17: έργάζομαι). Für diesen sind ferner die beiden von „Mühe" handelnden κόπος-Belege 2,2; 14,13 zwar im Blick auf Fleiß im religiösen Sinn verwertbar. Da aber außer an diesen Stellen von anstrengender Arbeit des Menschen nicht gesprochen wird, lohnte ein eigener Abschnitt über Fleiß in der Johannes-Apokalypse nicht. Hier fehlen übrigens auch allgemeine oder sprichwörtliche Äußerungen zu diesem Thema, wie 4 Esr sie kennt. Dieser empfiehlt das fleißige Arbeiten, das normalerweise mit Erfolg belohnt wird. Zum Thema Ermahnen wurde herausgearbeitet, daß nach der Botschaft des 4 Esr der Apokalyptiker vom Offenbarungsengel ermahnt bzw. zurechtgewiesen und das Volk Israel von Esra ermahnt bzw. scharf getadelt werden; in gleicher Weise sollen auch die Empfänger die göttlichen Offenbarungen entschieden mahnend weitergeben. - Diese Vorstellungen finden sich in

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der Johannes-Apokalypse nicht unter der Verwendung einer dem 4 Esr vergleichbaren Terminologie1. Deshalb wurde diesem Thema auch kein eigener Abschnitt gewidmet. Mahnungen verschiedener Art gehören freilich entscheidend zur Ethik der Johannes-Apokalypse (s.o. B.2., gerade auch ,,B-2.3.C) Heilsindikativ und -imperativ", S. 142-150), und sie kennt implizit eine mahnende Weitergabe der göttlichen Offenbarungen, nämlich durch die 1,11 dem Johannes aufgetragene zirkulierende Weitergabe des Buches selbst (vgl. auch 22,16). 4 Esr legt seinen Lesern das Lehren als Weitergabe göttlicher Offenbarungen auf verschiedene Weise nahe, die Johannes-Apokalypse tut dies ohne die entsprechende Terminologie auf implizite Weise und viel weniger als 4 Esr; deshalb wurde im Zusammenhang der Johannes-Apokalypse diesem Thema auch kein eigener Abschnitt gewidmet. Im Bereich von Ordnen kennt 4 Esr neben der Schöpfungsordnung vor allem gesetzliche Ordnungen Gottes; an diesen sich zu orientieren, bringt den Menschen irdischen und himmlischen Segen, dies nicht zu tun, Bestrafung. 4 Esr nennt auch die Pflicht des Menschen zum Zur-Ordnung-weisen: Die Leser sollen die Sünde in ihrer Umgebung eindämmen. - Dies alles spielt in der Johannes-Apokalypse eine viel geringere Rolle: Kein einziges griechisches Wort, das im Deutschen mit ordnen2 oder Ordnen 3 , Ordnung4 usw. wiedergegeben werden kann, findet sich in diesem Zusammenhang in ihr. Indirekt wird die Schöpfungsordnung Gottes in der Unordnung der Schöpfung am Ende der Weltzeit sichtbar (siehe u.a. Kap 16). Die normativen Ordnungen Gottes werden nicht mit griechischen Begriffen für Ordnung ausgedrückt, so daß sie unter diesem Stichwort auch nicht verhandelt wurden; das gleiche gilt für Zur-Ordnung-weisen. Zu beidem siehe aber die Ausführungen zu Ethik und alttestamentliches, antik-jüdisches Gesetz; Sünde, Sündenvergebung und Umkehr; Bedeutung der „Werke"; Heilsindikativ und -imperativ. 1

2 3 4

Nur έλέγχω und παιδεύω werden einmal (nämlich in 3,19) als allgemeine, züchtigende Wirksamkeit Gottes genannt (beide Verben können in der Vg. mit corripere wiedergegeben werden, vgl. Mt 18,15; Lk 23,22). Wie τάττειν oder κοσμεΐν, vgl. MG 2 (gr.), 366. Wie ή τάξις, ή διαχόσμησις, vgl. ebd. Vgl. ebd. und ebd. 434 (s.v. Schranke), 629 (s.v. zügeln), 107 (s.v. dämpfen).

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Während bei der Johannes-Apokalypse das Thema Ethik und alttestamentliche, antik-jüdische Gesetzestradiäon unter „B.2.2. Darstellung und Analyse der ethischen Vorstellungen im Kontext wesentlicher Theologumena der Apokalypse" verhandelt wurden, geschah dies im Falle des 4 Esr in dem Abschnitt ,,C.2.1.a) Gesetzesgehorsam". Diese Form der Darstellung war sinnvoll, weil das Thema „Gesetz" im 4 Esr von viel grundlegenderer Bedeutung als in der Johannes-Apokalypse ist und deshalb nicht unter „C.2.2. Darstellung und Analyse der ethischen Vorstellungen im Kontext wesentlicher Theologumena des 4 Esr" neben den gleichgeordneten Punkten C.2.2.a) und b) verhandelt werden konnte; entsprechendes war bei der Johannes-Apokalypse möglich, da „Gesetz" nicht eine so grundsätzliche Bedeutung für die Ethik dieses Buches hat. In der Johannes-Apokalypse fehlt das Wort ό νόμος, woraus jedoch nicht der Schluß gezogen werden darf, daß die Sache nicht in ihr vorkommt. Anders als die Johannes-Apokalypse spricht 4 Esr von lex und äquivalenten Begriffen sehr häufig. In diesem Buch findet sich keine nähere Präzisierung von „Gesetz", der Verfasser setzt offensichtlich die Kenntnis der Bedeutung voraus; primär ist aber damit die Tora mit ihren Einzelbestimmungen gemeint. Während in der Johannes-Apokalypse rituelle Anweisungen und Vorstellungen teilweise und moralische Ge- und Verbote des Alten Testaments voll umfänglich relevant sind, erscheinen im 4 Esr alle alttestamentlichen, antik-jüdischen Gesetzesinhalte als bindend und Grundlage der Ethik. 4 Esr wie Johannes-Apokalypse setzen die Inhalte der gesetzlichen Weisungen als erfüllbar voraus. Anders als 4 Esr, der auf kein einziges alttestamentliches Gebot erkennbar anspielt, greift der Verfasser der JohannesApokalypse Gebote des Dekalogs, der ihm sehr wichtig ist, auf - ohne sie jedoch wörtlich zu zitieren; außerdem stehen sie zum Teil hinter seiner Kritik an abzulehnendem Verhalten. - In ihr finden sich neben dem von alttestamentlichen moralischen und rituellen Weisungen Vermittelten typisch urchristliche Tugenden, die auch in anderen neutestamentlichen Schriften vorkommen, außerdem von Johannes empfohlene Verhaltensweisen im Zusammenhang der spezifischen historischen Situation von Absender und Empfänger; letzteres ist auch im 4 Esr der Fall, jedoch in wesentlich geringerem Maße (etwa in „C.2.1.d) Ethische Motive aus dem Bereich des Politischen").

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Schließlich dient dem Verfasser der Johannes-Apokalypse der ethisch einwandfreie Lebenswandel Jesu von Nazareth als Vorbild und Leitlinie für das Verhalten der Christen. Im Unterschied zur Johannes-Apokalypse nimmt in der Theologie und Ethik des 4 Esr die Übertretung des Gesetzes Gottes durch die Menschen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einen breiten Raum ein. Da das Gesetz die unparteiische Norm des Endgerichts ist, entscheidet sich das eschatologische Ergehen des Menschen an seiner Stellung zum Gesetz. An Israel, den Empfänger des 4 Esr, ergeht deshalb die dringende Mahnung, angesichts des kurz bevorstehenden Endgerichts Gesetzesgehorsam zu üben. Ferner entsprechen sich nach der Vorstellung des 4 Esr sittlich positives Verhalten bzw. Gesetzesgehorsam und Weisheit, was an der Person Esras sehr deutlich wird: Er erscheint als Vorbild und Beispiel des weisen Gerechten; Vergleichbares kommt in der Johannes-Apokalypse nicht vor. - Im 4 Esr wird Israel, der Adressat des Buches, mit der expliziten Mahnung zur Gesetzestreue durch entsprechende Imperative wie mit der impliziten durch die Vorstellung Esras als Prototyp des weisen Gerechten zu ethisch einwandfreiem Handeln angehalten; auch diese oder ähnliche Vorstellungen erscheinen in der Johannes-Apokalypse nicht. Anders als im 4 Esr spielt die Christologie/Messianologie in der Ethik der Johannes-Apokalypse eine entscheidende Rolle. Jesus Christus erscheint als Geber der Ethik der JohannesApokalypse, denn das ganze Buch ist Wort des erhöhten Christus, weshalb auch die in ihm enthaltenen ethischen Weisungen von Christus stammen. Weiterhin ist er Vorbild der Ethik der Johannes-Apokalypse, denn der sündlose Lebenswandel Jesu von Nazareth gilt als paradigmatisch für das Verhalten der Glaubenden, und die Imitatio agni stellt einen sehr wichtigen Topos dar. Schließlich ist Jesus Christus der Grund der Ethik der Johannes-Apokalypse, denn das vergangene, gegenwärtige und zukünftige Handeln Christi ist Grundlage der Existenz der Glaubenden und damit auch ihres Ethos. - Dies alles kennt 4 Esr im Blick auf den messianischen Erlöser fast gar nicht. Allerdings betont er stärker als die Johannes-Apokalypse, daß das rechte sittliche Verhalten der Empfänger Bedingung für die Teilhabe am messianischen Zwischenreich ist. Dies kommt in der Johannes-Apokalypse nur dadurch zum

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Ausdruck, daß die im Konflikt mit dem Staat standhaft Gebliebenen durch die Teilnahme am Millennium belohnt werden. Parallel ist beiden Apokalypsen auch allgemein die Vorstellung vom richtenden Christus/messianischen Erlöser. Dies wird in der Johannes-Apokalypse breit dadurch zum Ausdruck gebracht, daß Christus als der das ethische Verhalten der Christen nicht nur Belohnende, sondern auch Strafende vorgestellt wird. Im 4 Esr bestraft der messianische Erlöser die letzten Könige der Endzeit und die anstürmende Menschenmenge. Ersteren wirft er konkrete ethische Verfehlungen vor, letztere werden wegen ihrer allgemeinen Nichtbefolgung des Gesetzes bestraft. Zum Thema Ethik und Eschatologie wurde herausgearbeitet, daß die Johannes-Apokalypse eine Doppelheit präsentischer und futurischer Eschatologie aufweist, im 4 Esr präsentische Eschatologie jedoch nur in nahezu unbedeutenden Spuren zu finden ist. Nach der Botschaft der Johannes-Apokalypse ist gefordert, den präsentischen Heilsbesitz, gottgefällige Werke und die Toragebote sowie die Inhalte der urchristlichen Tradition und der Johannes-Apokalypse zu bewahren; dies alles ist den Glaubenden als ein Schatz anvertraut (indikativisches Moment), den es zu hüten gilt (imperativisches Moment). Im 4 Esr kommt der Zusammenhang von präsentischer Eschatologie und Ethik nur minimal in den Blick, und zwar in der 7,81.92 möglicherweise ausgedrückten Identifizierung gegenwärtigen Tuns mit jenseitigem Ergehen. Transzendent-futurische Eschatologie im Zusammenhang der Ethik findet sich in beiden Schriften sehr häufig. Das Verhältnis beider zueinander ist im Blick auf die Frage nach positiver Motivierung des menschlichen Verhaltens (mittels der Verheißung jenseitigen Lohns usw.) oder negativer (mittels der Ankündigung jenseitiger Bestrafung usw.) folgendermaßen zu beantworten: Die Johannes-Apokalypse motiviert eindeutig mehr positiv als negativ, während im 4 Esr positive und negative Motivierung ungefähr gleichstark zur Sprache kommen. Im Blick auf die Frage, was stärker motiviert: die Nähe des Eschatons bzw. das unerwartete Kommen Jesu (im Falle des 4 Esr: des Endes) oder das eschatologische Heil oder Unheil, ist zu sagen: In beiden Schriften überwiegt letzteres, im 4 Esr noch mehr als in der Johannes-Apokalypse. Die in ihr vorfindlichen Belege zu ersterem waren fast alle bereits im Zusammenhang von präsentischer Eschatologie und Ethik relevant;

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das Bewahren der dort genannten Dinge wird mit dem Hinweis auf die Nähe des Eschatons bzw. das unerwartete Kommen Jesu sowohl dringlich gemacht als auch als erfüllbar qualifiziert. - Im Gegensatz zur Johannes-Apokalypse kennt 4 Esr keine Motivation des menschlichen Handelns durch das unerwartete Kommen des Endes. Immanent-eschatologische Belohnung und Bestrafung des sittlichen Handelns der Menschen finden sich in beiden Schriften. In der Johannes-Apokalypse erscheint dies ausgeprägter und mit einem direkteren Bezug auf die Leser als im 4 Esr. So wird die Bestrafung der Unfrommen durch die endzeitlichen Plagen in der Johannes-Apokalypse ausdrücklich auch den Empfängern des Buches angedroht, was im 4 Esr nur implizit der Fall ist. Beide Schriften drücken aber auch die Bewahrung der Frommen - etwa durch ihre Versiegelung - aus. Hinzu tritt im 4 Esr das Motiv der Beglückung der Frommen durch den messianischen Erlöser, in der Johannes-Apokalypse das ihrer machtvollen Herrschaft im messianischen Zwischenreich; dieses läßt sich für den 4 Esr, jenes für die Johannes-Apokalypse nur vermutungsweise erheben. Anders als die Johannes-Apokalypse spricht 4 Esr sehr häufig und mit sehr vielen verschiedenen Begriffen von Sünde; in jener geschieht dies eher indirekt mit άμαρτάνω κτλ analogen Wörtern und unter der Verwendung der Metapher vom Gewand. Bei vielen Gemeinsamkeiten hat in ihr das Thema Sünde und Sündenvergebung im Vergleich zum 4 Esr eine andere Akzentsetzung, da dieser Sünde und Sündenvergebung auf einer grundsätzlicheren Ebene verhandelt: Ihm ist an der Zurückweisung sowohl derjenigen theologischen Position gelegen, die ein Sündenverhängnis postuliert, als auch derjenigen, die Heilsuniversalismus behauptet. 4 Esr hebt gegen erstere hervor, daß sich im Gesetzesgehorsam der Hang zum Sündigen besiegen läßt, und gegen letztere, daß der Mensch genau seinem am Gesetz zu messenden sittlichen Verhalten entsprechend im Eschaton Lohn oder Strafe erhalten wird. Dem grundsätzlichen Charakter der Erörterung des Themas Sünde im 4 Esr entspricht die Tatsache, daß er nur selten konkrete Verfehlungen coram deo als Sünde bezeichnet, diese vielmehr als im Gegensatz zum Willen Gottes stehendes Handeln bzw. als Verstoß gegen die alttestamentliche, antik-jüdische Gesetzestradition darstellt. Diese allgemeine Qualifizierung von Sünde unternimmt die Johannes-Apokalypse auch,

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nennt aber stärker als 4 Esr konkrete Einzelsünden beim Namen bzw. das Gegenteil von Sünde als agendum (v.a. empfiehlt sie hier mit Vehemenz die Tugenden, die in den Zusammenhang der Verfolgungssituation der Gemeinde gehören). Sündenvergebung im irdischen Leben des Menschen, etwa nach aktuellen Sünden, nennt 4 Esr nicht. Dies ist in der Johannes-Apokalypse im Blick auf die Sünden des Christen nach seiner Bekehrung überwiegend auch der Fall: Diese wird expressis verbis überhaupt nicht ausgesprochen, und im Zusammenhang der Metapher des Gewandes steht der Heilsverlust im Bilde des Verlustes des Gewandes durch sündiges Verhalten im Vordergrund, der durch dessen Neuerwerb ausgeglichen werden kann. Ethisches Fehlverhalten bewirkt nach ihrer Botschaft also nicht nur eine Schädigung, die durch Vergebung beseitigt werden kann, sondern den Verlust des Heils. Dem entspricht der Befund zum Thema Umkehr in der Johannes-Apokalypse: Sie gebraucht dazu das Verb μετανοειν, das sonst im Neuen Testament überwiegend die Bekehrung des Menschen, seine radikale Lebenswende zu Beginn seines Christseins, ausdrückt. In der Johannes-Apokalypse ist ethisches Fehlverhalten nicht nur Sünde, sondern bedingt Heilsverlust; nur durch μετανοειν kann der ursprüngliche Heilszustand der Glaubenden wiederhergestellt werden. 4 Esr sieht dies möglicherweise ähnlich, da sich in ihm die Empfehlung von Umkehr nach aktuellen Sünden wahrscheinlich machen läßt. Darüber hinaus wird hier Umkehr als eine solche zum Gesetz verstanden und Israel, der Empfänger des 4 Esr, dazu dringend aufgefordert. Außer diesem Kollektiv steht auch dem Individuum während seines Erdenlebens die Umkehrmöglichkeit offen. Dem Umkehrwilligen wird eschatologisches Heil, dem nicht Umkehrwilligen eschatologisches Unheil angekündigt; dies gilt sowohl für den einzelnen als auch für das Kollektiv Israel. Im Bereich der inhaltlichen Füllung der „Werke" gibt es bei der Johannes-Apokalypse und dem 4 Esr bemerkenswerte Übereinstimmungen: Beide meinen damit zum einen Taten entsprechend der alttestamentlichen, antik-jüdischen Gesetzestradition (in der Johannes-Apokalypse jedoch auf Teile der rituellen Weisungen und die moralischen Ge- und Verbote beschränkt); zum anderen dürfte alles, was dem von Johannes und dem Verfasser des 4 Esr empfohlenen Verhalten entspricht ein gutes, und alles, was diesem zuwiderläuft, ein

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schlechtes Werk sein. - Zusätzlich zu diesen Bestimmungen lassen sich verschiedene inhaltliche Präzisierungen der „Werke" in der Johannes-Apokalypse vornehmen. Hier gelten z.B. die von Jesus vorgelebten Taten als empfehlenswerte Werke, ebenfalls Verhaltensweisen, die allgemeinen urchristlichen Tugenden entsprechen. Auch im Zusammenhang von Glaube und Werke geht in der Johannes-Apokalypse und dem 4 Esr vieles parallel. Beiden ist ein Gegensatz von Glaube und Werke fremd, und in beiden kann der Glaube als ein Werk verstanden werden. Im Unterschied zum 4 Esr bedeutet in der Johannes-Apokalypse πίστις jedoch mehr Treue als Glaube und ist sehr stark auf die Verfolgungssituation von Absender und Empfänger bezogen. Schließlich finden sich auch zu dem Thema Gericht nach den Werken auffallende Übereinstimmungen: Das eschatologische Endgericht ist für beide Schriften eine Selbstverständlichkeit, ebenso, daß darin jeder Mensch für seine guten oder schlechten Werke ganz persönlich verantwortlich ist. Genauso unbefangen, wie beide Schriften vom Gericht nach den Werken reden, sprechen sie auch vom eschatologischen Lohn des Menschen bzw. seiner eschatologischen Bestrafung. Auch erscheinen die Werke sowohl im 4 Esr als auch in der JohannesApokalypse als heilsnotwendig, wobei im Fall der JohannesApokalypse folgende Differenzierung vorzunehmen ist: Nach ihrer Botschaft ist der Grund des Heils die Erlösungstat Christi, doch steht und fällt dieses Heil mit dem Tun bzw. Lassen der geforderten Werke. Vor den Abschnitten B.2.3.c) und C.2.3.c) kamen Heilsindikativ und -imperativ in den Untersuchungen zur Johannes-Apokalypse und dem 4 Esr schon ansatzweise in den Blick. Bei diesen Analysen zur Johannes-Apokalypse wurde deutlich, daß der Indikativ zwar klar zum Ausdruck kommt, den Christen aber gleichzeitig der Heilsverlust droht. Diese Betonung heilsimperativischen Denkens findet sich in den zum 4 Esr vor dem Abschnitt C.2.3.c) untersuchten Zusammenhängen noch deutlicher. Trotz dieser recht klaren Bestimmungen läßt sich eine letzte Präzisierung des Zusammenhangs von Heilsindikativ und -imperativ in beiden Schriften durch die Analyse von für ihre jeweilige Theologie entscheidenden Texten gewinnen. Im Fall der Johannes-Apokalypse sind dies diejenigen zum Lebens-

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buch sowie die sieben Makarismen, im Fall des 4 Esr das Vermächtnis des Propheten Esra 14,27-35. Das Ergebnis stellte sich folgendermaßen dar: In der Johannes-Apokalypse wird der Heilsindikativ in aller Deutlichkeit ausgedrückt, im 4 Esr weder im Blick auf das Volk Israel noch auf den einzelnen Leser. Hier steht die heilsimperativische Forderung sittlich einwandfreien Handelns im Vordergrund. Genau dies ist aber auch Bestandteil der Ethik der JohannesApokalypse, in welcher der deutlich ausgedrückte Heilsindikativ durch den Imperativ des sittlichen Handelns der Christen verdrängt wird; die Ethik wird somit zum zweiten konstitutiven Teil der Erlösung. Deshalb trifft auf beide Ethiken mit ihrem Verhältnis von Heilsindikativ und -imperativ zu, daß sich der Mensch nicht auf sein Heil verlassen kann, sondern es in einem steten sittlichen Kampf erringen muß. Das an den Schluß der Untersuchungen zum 4 Esr gestellte Zitat 7,127f. hat demnach für beide Ethiken Gültigkeit: Hoc est cogitamentum certaminis, quem certavit qui super terram natus est homo, ut si victus fiierit patiatur ..., si autem vicerit recipiet.

Auswertung dieses Vergleichs Johannes-Apokalypse und 4 Esr haben sich reich an ethischen Motiven gezeigt, weshalb diese beiden Schriften wesentliche Belege gegen die These von der Unvereinbarkeit von Apokalyptik und Ethik darstellen. - Im ganzen erfolgt in der Johannes-Apokalypse eine direktere Anrede der Empfänger als im 4 Esr, dem dies aber auch nicht völlig fremd ist. Beide Ethiken sind überwiegend motivierend geprägt, denn die Verfasser entwickeln keine neuen, eigenen Ethiken, sondern setzen im wesentlichen die vom Alten Testament bzw. Alten Testament und Urchristentum her festgelegte voraus. Große Gemeinsamkeiten bestehen hinsichtlich des jeweils ersten untersuchten ethischen Topos, denn hinter dem von der Johannes-Apokalypse geforderten Bestehen in der erwarteten Verfolgungssituation wie hinter dem vom 4 Esr geforderten Gesetzesgehorsam steht die Aufforderung der Treue zu Gott; diese ließ sich als Hauptgebot beider Ethiken bezeichnen. Im Blick auf den Dekalog stimmen Johannes-Apokalypse und 4 Esr prinzipiell überein. Es ließ sich zeigen, daß beide

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Verfasser den Dekalog im Sinne moralischer Ge- und Verbote des Alten Testaments voraussetzen und ethisches Verhalten im Sinne der Dekaloggebote empfehlen. Die Art und Weise der Aktualisierung differiert jedoch erheblich: Die Johannes-Apokalypse nennt vor allem mit ihren Lasterkatalogen Dekaloggebote direkt und fordert das Einhalten dieser mit einem unmittelbaren Bezug auf die Leser; beides ist beim 4 Esr nicht der Fall. In dieser Schrift kommen die Weisungen des Dekalogs nicht explizit zur Sprache, sondern sind nur implizierte Bestandteile der Ethik. Auf die Unterschiede der beiden Ethiken im Zusammenhang des Sozialen wurde hingewiesen. Hier widersprechen sich beide Schriften nicht, nur gibt 4 Esr zu dem Thema wesentlich weniger her. Die politische Ethik von Johannes-Apokalypse und 4 Esr zeigt große Gemeinsamkeiten. Die größte und entscheidende ist, daß angesichts einer als sehr bedrohlich erwarteten Zukunft Vertrauen gestiftet wird, und zwar auf in beiden Schriften parallele Art und Weise. - Auch im Bereich konkreter ethischer Weisungen der politischen Ethik finden sich wesentliche Übereinstimmungen; hier sei an die wichtigen, in beiden Ethiken parallel entfalteten Themen Subversion und Zuendebringen der Leidenszeit erinnert. Daß in diesem Zusammenhang auch unterschiedliche Akzentsetzungen erfolgen (die konkreten ethischen Weisungen der Johannes-Apokalypse haben aktivere Anteile als die des 4 Esr), mindert die Gemeinsamkeiten im Blick auf die gesamte politische Ethik nicht wesentlich. Bei den ethischen Motiven, die nicht in die bisherigen Bereiche integrierbar sind, zeigten sich wenige Auffälligkeiten. Im 4 Esr sind mehr bzw. stärker ausgeprägte Motive dieser Art zu finden als in der Johannes-Apokalypse, aber sachlich tragen die gering zu gewichtenden Gemeinsamkeiten und Unterschiede für diese Auswertung nur einen wesentlichen Aspekt aus: die zum Motiv der Demut gemachte Beobachtung, daß diese in der Johannes-Apokalypse primär dem Bereich des Bestehens in der Verfolgungssituation und im 4 Esr dem der Gesetzestreue zuzuordnen ist. Damit wird die These bestätigt, daß hinter diesen Motiven ein gemeinsames ethisches Thema zu finden ist, das sich als „Treue zu Gott" und als Hauptgebot der beiden Ethiken bezeichnen läßt. Gemeinsam ist beiden Apokalypsen die strukturelle Einbindung des Gesetzes in die Ethik: Es ist - wenn auch in je unter-

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schiedlichem Umfang - gültig, seine Inhalte werden als bekannt vorausgesetzt und motivierend zur Sprache gebracht; letzteres geschieht mit unüberhörbarer Strenge. Die Unterschiede im Zusammenhang des Gesetzes wurden in obigem Vergleich deutlich. Wägt man Gemeinsamkeiten und Unterschiede ab, kommt man zu dem Ergebnis, daß bei allen Unterschieden die Gesetzesauffassungen sich nicht nur nicht widersprechen, sondern sich wegen der gleichartigen strukturellen Einbindung in die Ethik im wesentlichen sogar gleichen. Im Bereich der Christologie/Messianologie wurden in obigem Vergleich Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufgezeigt. Hier wurde festgestellt, daß in der Johannes-Apokalypse anders als im 4 Esra die Christologie in der Ethik eine entscheidende Rolle spielt. Tatsächlich sind die Gemeinsamkeiten von Johannes-Apokalypse und 4 Esr an diesem Punkt gering, denn eine messianische Zentrierung der Ethik analog zu der christologischen der Johannes-Apokalypse kennt 4 Esr nicht. Die Eschatologie wurde in den beiden Generalskizzen der Ethik der Johannes-Apokalypse und der des 4 Esr als Hauptlinie dargestellt, da sie bei nahezu jedem untersuchten Einzeltopos deutlich in den Blick kam. Weiterhin überwiegen bei dem obigen Vergleich der Ethiken die Gemeinsamkeiten im Bereich von Ethik und Eschatologie eindeutig, denn die Auffassungen sowohl zu transzendent-futurischer als auch zu immanent-futurischer Eschatologie und Ethik entsprechen sich weitgehend und wiegen die Differenzen im Zusammenhang präsentischer Eschatologie mehr als auf. Im Bereich der drei komplexen theologischen Aspekte im Zusammenhang der Ethik der Johannes-Apokalypse und des 4 Esr sind, wenn man gewisse Spezifika der Sündentheologie des 4 Esr im Zusammenhang der Abwehr der genannten skeptischen theologischen Positionen ausklammert, die Gemeinsamkeiten frappierend. Diese gehen aus dem obigen Vergleich hervor und brauchen hier nicht wiederholt zu werden. Hier sei noch einmal an die Strenge erinnert, die gerade in diesen drei komplexen theologischen Aspekten zum Ausdruck kommt und auf die in den beiden Generalskizzen der Ethik von JohannesApokalypse und 4 Esr hingewiesen wurde.

Ε. Abschließende Bündelung der Erträge Die Treue zu Gott ist das Hauptgebot der Ethiken von Johannes-Apokalypse und 4 Esr. Sie gehen ferner im Bereich des Politischen, des Gesetzes (inklusive Dekalog), der Eschatologie, der Sünde, Sündenvergebung und Umkehr, der Werke und des Heilsindikativs/-imp erativs weitgehend parallel; beiden Ethiken wohnt eine erhebliche Strenge inne. Bezieht man diese Kombination von Gemeinsamkeiten auf die apokalyptische Theologie von Johannes-Apokalypse und 4 Esr, so kann man von einer gemeinsamen apokalyptischen Ethik der beiden Schriften sprechen. Apokalyptisch ist diese Ethik nicht nur, weil sie sich in zwei Apokalypsen findet, sondern weil sie sich sehr gut in die apokalyptische Theologie der beiden Verfasser integrieren läßt: Wenn Johannes-Apokalypse und 4 Esr das weltordnende Walten Gottes erneut zu vermitteln suchen, ist es einleuchtend, in der Ethik primär die Treue zu diesem Gott zu fordern, ebenfalls, angesichts der WeltUnordnung des Imperium Romanum und der deswegen verschlossen erscheinenden Weltsituation, Gewicht auf die politische Ethik zu legen. Wenn die in beiden Schriften geoffenbarte jenseitige Weisheit die Welt von ihrem Ende her entschlüsselt und auf dies Ende in Heil und Unheil hin orientiert, sind die Hervorhebung von Eschatologie und Gesetz sowie sittlicher Strenge verständlich. In der Einführung dieser Untersuchung wurden als Aufgaben formuliert, einen Beitrag zu den Themen Apokalyptik und Ethik und Apokalyptizität der Johannes-Apokalypse zu leisten. Das erste Ziel wurde durch die Darstellung der Ethik der Johannes-Apokalypse und der des 4 Esr sowie durch den Vergleich beider erreicht. Als Ergebnis läßt sich formulieren: Beide Apokalypsen enthalten vielfältige ethische Motive. Diese sind nicht auf bestimmte Textabschnitte oder -gattungen begrenzt, sondern finden sich an den verschiedensten Orten dieser Schriften. Dabei wird den Empfängern nicht selten explizit ethisch empfehlenswertes Verhalten nahegelegt oder abzulehnendes untersagt; dies geschieht in der Johannes-Apokalypse

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Ε. Abschließende Bündelung der Erträge

häufiger als im 4 Esr, der mehr implizite Aufforderungen oder Warnungen enthält. Weiterhin läßt sich auf Grund der in Beziehung zur apokalyptischen Theologie von Johannes-Apokalypse und 4 Esr gesetzten Kombination der Gemeinsamkeiten der Ethik beider Schriften von einer gemeinsamen apokalyptischen Ethik sprechen. Das in beiden Apokalypsen breit vorfindliche ethische Material wie auch die Möglichkeit, von einer gemeinsamen apokalyptischen Ethik zu sprechen, zeigen überdeutlich, daß von der Johannes-Apokalypse und dem 4 Esr her die These von der Unvereinbarkeit von Apokatyptik und Ethik nicht zu halten ist. Das zweite Ziel wurde dadurch erreicht, daß ausgehend vom Vergleichstext 4 Esr gezeigt werden konnte, daß Weltsicht und theologische Grundkonzeption der Johannes-Apokalypse der Apokalyptik entsprechen. Um dies auch im Bereich der Ethik plausibel zu machen, erfolgte der Vergleich mit der Ethik des 4 Esr. Dabei wurde die erwähnte gemeinsame apokalyptische Ethik der beiden Schriften kenntlich gemacht. Als Ergebnis ist festzuhalten, daß sich auch von ihrer Ethik her die JohannesApokalypse als Apokalypse bezeichnen läßt.

Anhang Abkürzungen Allgemeine Abkürzungen und die für antike Texte sowie für Quellenschriften, Hilfsmittel und Sekundärliteratur erfolgen nach dem Abkürzungsverzeichnis der Theologischen Realenzyklopädie (TRE), zusammengestellt von Siegfried M. Schwertner, Berlin/New York 21994. Die den Abkürzungen für antike Texte vorangestellten römischen Ziffern des TRE-Abkürzungsverzeichnisses sind durch arabische ersetzt. Grammatische Abkürzungen und die für antike Texte, die nicht im Abkürzungsverzeichnis der TRE enthalten sind, erfolgen nach dem Abkürzungsverzeichnis des Theologischen Wörterbuchs zum Neuen Testament (ThWNT), Band X,l, 1978, 53-85. Textkritische Abkürzungen zur Johannes-Apokalypse entsprechen 27 Nestle-Aland (siehe unten), solche zum 4 Esr Klijn, Esr-Apok (siehe unten). Die Schreibung der biblischen Eigennamen richtet sich nach den „Loccumer Richtlinien" (siehe unten). Die Literatur wird in den Anmerkungen gekürzt zitiert. Bei Kommentaren, Monographien, Aufsätzen und Lexikonartikeln erscheint hinter dem Verfassernamen das erste Nomen des Titels; dieses wird gelegentlich abgekürzt.

Weitere Abkürzungen (und Sonderzeichen) Abi instr: BA: Bei, ZusDan: Bensly: DioHist: FEz: gem.: grEsr: Gry: hebr.: insbes.: ins er.: J.K.: Joh:

Ablativus Instrumentalis Bauer, Walter, Griechisch-deutsches Wörterbuch (s.u.) Βηλ και δράκων, s.u.: Rahlfs, Septuaginta und Kümmel, Schriften Bensly, Book (s.u.) Dios römische Geschichte, s.u.: Cary, History Fragmentum Apocryphon Ezechielis; s.u.: Denis, Concordance gemäß griechische Esra-Apokalypse; s.u.: Tischendorf, Apocalypsis Gry, Dires (s.u.) hebräisch insbesondere inscriptio Jürgen Kerner Johannes

306 MG (gr.): MG (lat.): o.a.: Part conj: pass.: Past: Plin(dJ)Ep: SuetDom: SuetVesp: vg: VitPol: zzgl: *:

Anhang Menge/Güthling, Enzyklopädisches Wörterbuch der griechischen und deutschen Sprache (s.u.) Menge/Güthling, Enzyklopädisches Wörterbuch der lateinischen und deutschen Sprache, (s.u.) oder ähnliche(s) Partizipium conjunctum passim Pastoralbriefe Gaius Plinius Caecilius Secundus, Briefe; s.u.: Kasten, Briefe Sueton, Caesarenleben: Domitian, s.u.: Rolfe, Suetonius Sueton, Caesarenleben: Vespasian, s.u.: Rolfe, Suetonius Vulgata-Handschriften des 4 Esr Vita Polycarpi, s.u.: Funk-Diekamp, Patres zuzüglich Parallele lateinische Textüberlieferung des 4 Esr, s.u.: Klijn, Text

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