Das Recht in der Korrelation von Dogmatik und Ethik [Reprint 2012 ed.] 3110127903, 9783110127904, 9783110878899

Book by Gafgen, Kerstin, G. Fgen, Kerstin

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German Pages 358 [356] Year 1991

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Das Recht in der Korrelation von Dogmatik und Ethik [Reprint 2012 ed.]
 3110127903, 9783110127904, 9783110878899

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KERSTIN GÄFGEN DAS R E C H T I N D E R K O R R E L A T I O N VON DOGMATIK U N D E T H I K

w DE

G

THEOLOGISCHE BIBLIOTHEK TÖPELMANN

H E R A U S G E G E B E N VON

K. ALAND, O. BAYER, W. HÄRLE, H.-P. MÜLLER UND C . H . R A T S C H O W

52. BAND

WALTER DE GRUYTER · BERLIN · NEW YORK 1991

KERSTIN

GÄFGEN

DAS RECHT IN DER K O R R E L A T I O N VON DOGMATIK UND ETHIK

WALTER DE GRUYTER · BERLIN · NEW YORK 1991

Die Deutsche Bibliothek — CI Ρ-Einheitsaufnahme

Gäfgen, Kerstin: Das Recht in der Korrelation von Dogmatik und Ethik / Kerstin Gäfgen. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1991 (Theologische Bibliothek Töpelmann ; Bd. 52) Zugl.: München, Univ., Diss., 1989/90 ISBN 3-11-012790-3 NE: GT

© Copyright 1991 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin 65 Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz und Bauer, Berlin 61

Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im WS 1989/90 von der Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität in München als Dissertation angenommen. Die Arbeit wurde für den Druck leicht überarbeitet (Literaturnachträge). Dank sagen möchte ich Herrn Prof. Dr. Joachim Track, Neuendettelsau, der diese Arbeit angeregt, ihr Entstehen gefördert und mit seinem Rat kritisch begleitet hat. Mein weiterer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Trutz Rendtorff, München, für die Erstellung des theologischen Koreferates und für die Erstellung des juristischen Koreferates Herrn Prof. Dr. Dieter Rössner, Göttingen, der mir manche Anregungen und Hinweise zur juristischen Diskussion um das Rechtsverständnis gegeben hat. In der gegenwärtigen Situation wird auf bedrängende Weise deutlich, daß die Schaffung, Anerkennung und verbindliche Geltung einer internationalen Rechts- und Friedensordnung auf der Basis der Menschenrechte eine der vordringlichsten Aufgaben darstellt. Nach dem möglichen Beitrag von Theologie und Kirche dazu zu fragen, ist der Sinn der hier vorliegenden Arbeit. Mein Wunsch ist es, daß in Kirche und Theologie die Notwendigkeit eines solchen Beitrags deutlicher erkannt und als Herausforderung begriffen wird. Die Drucklegung dieser Untersuchung wurde durch großzügige Zuschüsse der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers gefördert. Dafür sei Dank gesagt. Zu danken habe ich weiter den Herausgebern der Reihe "Theologische Bibliothek Töpelmann" für ihr Entgegenkommen und die Bereitschaft, die Untersuchung in diese Reihe aufzunehmen. Für die präzise Erstellung des Manuskripts und des Registers danke ich Frau Andrea Siebert, Neuendettelsau. Meiner Freundin, Frau Pfarrerin Vera Ostermayer, widme ich dieses Buch als Zeichen des Dankes für alle Ermutigung - gerade auch als Frau in den wissenschaftlichen Diskurs einzutreten - und manches weiterführende Gespräch. Kerstin Gäfgen

Im Januar 1991

Inhaltsverzeichnis Α. Recht - ein zu Unrecht marginales Thema gegenwärtiger Theologie

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B. Recht als eigenständiges Teilsystem

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Kapitel 1 Systemtheoretischer Zugang zum Rechtsverständnis § 1 Erste Überlegungen zum Rechtsverständnis 1. Vorerwägungen 2. Zum Vorgehen und zur Fragestellung § 2 Einführende systemtheoretische Bestimmung von Recht 1. Der Systembegriff a) Perspektive - System - Teilsystem b) Konstitutive Elemente von Systemen und Systemteile c) Zum Verhältnis von System und Teilsystem 2. Zur Bestimmung von Recht als Teilsystem a) Recht als integriertes Teilsystem b) Recht als eigenständiges oder "autopoietisches" Teilsystem c) Das Verhältnis von Recht als Teilsystem zu anderen (Teil)systemen § 3 Systemtheoretische Klassifikation der drei grundlegenden Rechtssysteme 1. Zur Klassifikation a) Zum Paradigmenbegriff b) Ein Vorschlag zum Verständnis von Paradigma und die sich daraus ergebenden Kriterien der Klassifikation 2. Anwendung auf die grundlegenden Paradigmen von Recht a) Das metaphysische, natur- bzw. vernunftrechtliche Paradigma

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Inhaltsverzeichnis

b) Das rechtspositivistische Paradigma c) Das systemtheoretische Verständnis von Recht bei N. Luhmann als Paradigma

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Kapitel 2 Die drei grundlegenden Paradigmen von Recht - ihre geschichtliche Explikation 44 § 1 Das metaphysische, natur- bzw. vernunftrechtliche Paradigma 45 1. Recht als Teilsystem der Philosophie 46 a) Der Ort des Rechts innerhalb der Philosophie 46 b) Die Zuordnung von Recht zur Ethik 53 2. Der metaphysische, natur- bzw. vernunftrechtliche Begriff des Rechts 56 a) Stoa 57 b) G.F.W. Hegel 57 c) Die neuzeitliche Entwicklung bis I. Kant 59 3. Die Natur der Sache - die Natur des Menschen 63 4. Die Menschenrechte als Zentrum natur- und vernunftrechtlicher Systeme in der Neuzeit 66 § 2 Das rechtspositivistische Paradigma 70 1. Die Entwicklung zum Rechtspositivismus 71 2. Recht als eigenständiges Teilsystem 74 a) Der Ort des Rechts 74 b) Die Trennung von Recht und Ethik 78 3. Der Begriff des Rechts im Rechtspositivismus 85 a) H. Kelsen 85 b) G. Radbruch 88 c) H.L.A. Hart 91 4. Recht als auf einer Grundnorm basierende Stufenordnung von Normen 93 § 3 Das systemtheoretische Verständnis von Recht bei N. Luhmann als Paradigma 96 1. N. Luhmanns systemtheoretische Grundlegung von Recht 96 a) Der Ort des Rechts innerhalb der Systemtheorie 97 b) Die funktionale Trennung von Recht und Ethik 101 2. Die Funktionalität und Positivität von Recht 104

Inhaltsverzeichnis

a) Die Funktionalität von Recht b) Die Positivierung von Recht und seine Positivität c) Recht als selbstreferentielles autopoietisches System 3. Legitimation durch Verfahren 4. Systemtheoretische Neuformulierung des Gerechtigkeitsbegriffs

IX 104 108 110 112 114

Kapitel 3 Inhaltliche Grundlegung von Recht als eigenständiges Teilsystem 118 § 1 Zur kritischen Auseinandersetzung mit den drei grundlegenden Paradigmen von Recht 119 1. Zur Auseinandersetzung mit dem metaphysischen, naturbzw. vernunftrechtlichen Paradigma 119 2. Zur Auseinandersetzung mit dem rechtspositivistischen Paradigma 124 3. Zur Auseinandersetzung mit dem systemtheoretischen Verständnis von Recht bei N. Luhmann als Paradigma 129 4. Ergebnis 134 § 2 Die Konstitution von Recht als Teilsystem 136 1. Zur Ortsbestimmung des Teilsystems Recht 137 a) Zur Ortsbestimmung des Teilsystems Recht zu anderen Teil- und Gesamtsystemen 137 b) Das Verhältnis zur Ethik 139 2. Systemtheoretische Bestimmung von Recht 140 a) Recht als Teilsystem - seine Systemteile 140 b) Recht als handlungs- und daseinsorientierendes Teilsystem 140 § 3 Die konstitutiven erkenntnistheoretischen Elemente eines Rechtssystems 142 1. Zur Eigenart des Rechtsbegriffs 142 a) Zur Begriffsgeschichte 144 b) Systematische Entfaltung 145 2. Die Kriterien zur Gewinnung und Begründung von Recht 147 a) Entfaltung der Kriterien 148 b) Begründung und Bewährung 149

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Inhaltsverzeichnis

c) Offenheit und Revidierbarkeit 3. Zum Korrespondenzkriterium a) Recht und Grenze des Korrespondenzkriteriums b) Sach-, Struktur- und Situationsgemäßheit von Recht 4. Zum Konsenskriterium a) Recht und Grenze des Konsenskriteriums b) Herrschaftsfreiheit und Partizipation (möglichst aller) Exkurs: Recht, Macht und Interessen 5. Zum Kohärenzkriterium a) Recht und Grenze des Kohärenzkriteriums b) Rechtssetzung, Rechtsverfahren und Rechtsdurchsetzung § 4 Die konstitutiven ontologischen Elemente eines Rechtssystems 1. Recht als Gegenstand - zum Wesen des Rechts a) Sprachlicher Charakter b) Prozeßcharakter c) Institutioneller Charakter Exkurs: Rechtsorgane und Sanktionen d) Ethischer Charakter e) Realitätscharakter 2. Ontologische Voraussetzungen a) Anthropologische Voraussetzungen und Bedingungen b) Geschichte als Element von Recht c) Gesellschaft, Staat und Institutionen - ihre Implikationen für das Recht § 5 Die konstitutiven handlungstheoretischen Elemente eines Rechtssystems 1. Recht als sinn- und zielorientiertes Handlungsgeschehen a) Allgemeiner Handlungsbegriff b) Zur Eigenart von rechtlichen Handlungen 2. Die funktionale Orientierung von Recht a) Gestaltende Funktion b) Handlungs- und daseinsorientierende Funktion c) Soziale Funktion d) Rechtsbegründende und -begrenzende Funktion

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3. Die ethische Orientierung von Recht: Werte, Normen und Ziele a) Gerechtigkeit b) Menschen- und Grundrechte c) Legalität und Legitimität 4. Zur Grenze von Rechtssystemen a) Recht, rechtsfreie Räume und Freiheit b) Gnade und Amnestie § 6 Erste Fragestellungen und Überlegungen für die Aufnahme und den Umgang mit dem Teilsystem Recht in theologischen Systemen 1. Zusammenfassung 2. Fragen

C. Recht in der Korrelation von Dogmatik und Ethik Kapitel 4 Recht der Gnade - das theologische Paradigma K. Barths und sein Rechtsverständnis § 1 Erste Überlegungen zum Rechtsverständnis in der Theologie 1. Vorerwägungen 2. Zum Vorgehen und zur Fragestellung § 2 Recht und Sünde 1. Die Lehre von der Sünde a) Zum Ort der Lehre von der Sünde und Sündenerkenntnis b) Zum inhaltlichen Verständnis von Sünde c) Die Folgen der Sünde - der Mensch als Sünder 2. Zum Verhältnis von Recht und Sünde 3. Konkretion: Strafrecht § 3 Evangelium und Gesetz 1. Das Verhältnis von Evangelium und Gesetz a) Dogmatische Voraussetzungen b) Was ist Evangelium - was ist Gesetz?

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Inhaltsverzeichnis

c) Die Zuordnung von Evangelium und Gesetz und ihre Unterscheidung 2. Recht aus Rechtfertigung 3. Konkretion: Das Nein zu einem christlich begründeten Naturrecht Exkurs: Das Naturrecht bei T. von Aquin § 4 Königsherrschaft Christi Exkurs I: Zur lutherischen Rede von den Zwei Reichen und Regimenten Exkurs II: Das lutherische Verständnis von Schöpfungsund Erhaltungsordnungen 1. Christengemeinde und Bürgergemeinde unter der Königsherrschaft Christi a) Zur These von der Königsherrschaft Christi b) Der innere und der äußere Kreis: Christengemeinde und Bürgergemeinde c) Barths Stellung zur Rede von den "Schöpfungsordnungen" und den "Mandaten" 2. Recht und Staat als "Gleichnis" und "Analogon" zum Reich Gottes Exkurs: Erik Wolfs Konzeption von Recht als biblischer Weisung 3. Konkretion: Die Orientierung an der Menschenrechtsidee als Mitte des Rechts und das Recht auf Widerstand als Grenze § 5 Zur Einheit von Dogmatik und Ethik 1. Die Verhältnisbestimmung von Dogmatik und Ethik a) Dogmatik als Ethik b) Zur dogmatischen Grundlegung der Ethik 2. Das Recht in der Einheit von Dogmatik und Ethik 3. Konkretion: Kirchenrecht § 6 Zur Bedeutung des Rechts in der Theologie K. Barths 1. Zentrale konstitutive Elemente von Recht in der Interpretation Barths a) Der Ort des Rechts im theologischen Gesamtsystem Barths

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Inhaltsverzeichnis

b) Der Begriff und das Wesen des Rechts c) Die Funktionen des Rechts 2. Kritische Würdigung a) Sünde - eine "unmögliche Möglichkeit", die dennoch zur Geltung zu bringen ist b) Zur notwendigen Differenzierung zwischen Zuspruch und Anspruch, Liebe und Recht c) Zur Einheit von Dogmatik und Ethik und der offenen Frage nach dem Verhältnis von Handeln Gottes und Handeln des Menschen d) Zur Frage der Vermittlung des Rechtsverständnisses bei Barth Kapitel 5 Der theologische Rechtsbegriff in der Korrelation von Dogmatik und Ethik § 1 Möglichkeiten und Grenzen theologischer Aussagen zum Recht 1. Theologische Kompetenz für das Recht 2. Theologische Kompetenz für die konstitutiven erkenntnistheoretischen Elemente 3. Theologische Kompetenz für die konstitutiven ontologischen Elemente 4. Theologische Kompetenz für die konstitutiven handlungstheoretischen Elemente § 2 Die Relevanz des Rechts für die Theologie 1. Der Ort des Rechts in der Korrelation von Dogmatik und Ethik 2. Recht als integriertes theologisches Strukturmodell

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Literaturverzeichnis

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Personenregister

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Α. Recht - ein zu Unrecht marginales Thema gegenwärtiger Theologie Die kritische Auseinandersetzung mit dem Selbstverständnis und der Rolle von Christen, Kirche und Theologie während der Zeit des Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg führte im Protestantismus bis Mitte der 60er Jahre zu einer intensiven Beschäftigung mit Themen der politischen Ethik, insbesondere des Verhältnisses von Kirche und Staat. In dieser Diskussion stellen grundsätzliche Überlegungen zum Recht einen wichtigen Faktor dar.1 Es kommt zur expliziten Ausprägung einer "evangelischen Rechtstheologie"2. Gekennzeichnet wird diese Diskussion durch das Gegenüber von Theologen, Vgl. K. Barth, Rechtfertigung und Recht. Christengemeinde und Bürgergemeinde; Erik Wolf, Recht des Nächsten; Ders., Rechtsphilosophische Studien; Ders., Rechtstheologische Studien; Ernst Wolf, Gottesrecht und Menschenrecht; Ders., Naturrecht oder Christusrecht; Ders., Zum protestantischen Rechtsdenken. Jetzt in: Ders., Peregrinatio II, S. 191-206; H. Dombois, Naturrecht und christliche Existenz; Ders., Das Recht der Gnade, 3 Bde.; J. Ellul, Die theologische Begründung des Rechts; S. Grundmann, Der Lutherische Weltbund; J. Heckel, Lex charitatis; H.-H. Schrey, Die Bedeutung der biblischen Botschaft für die Welt des Rechts; W. Dantine, Recht aus Rechtfertigung; H. Simon, Der Rechtsgedanke in der gegenwärtigen deutschen evangelischen Theologie unter besonderer Berücksichtigung des Problems materialer Rechtsgrundsätze. Weiter spiegelt sich in verschiedenen Ethiken die Diskussion wider: P. Althaus, Grundriß der Ethik; W. Eiert, Das christliche Ethos; H. Thielicke, Theologische Ethik, Bd. III; W. Trillhaas, Ethik. Es soll an dieser Stelle bereits darauf hingewiesen werden, daß ich mich in dieser Arbeit in der Regel auf die evangelische Diskussion beschränken werde, da die Problematik in der katholischen Theologie anders gelagert ist. Diese hier ebenfalls darzustellen, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Nach W. Steinmüller, Evangelische Rechtstheologie, Bd. I, S. 3 geht der Terminus "Rechtstheologie" auf M.W. Rapaport zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurück und wird später von H. Liermann, S. Grundmann u.a. aufgenommen.

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die sich mit der Theologie K. Barths verbunden fühlen, und den in der Tradition des Luthertums stehenden Theologen. Die in der Tradition des Luthertums stehenden Theologen versuchen, das Recht im Schöpfungs- und Erhaltungswillen Gottes zu begründen und räumen in Verbindung mit der Rede von den zwei Reichen und Regimenten dem staatlichen Recht eine starke Eigenständigkeit gegenüber christlichen Wertvorstellungen ein. Der dazugehörige Rechtsbegriff ist eher restriktiv und an der Durchsetzbarkeit von Recht orientiert. Demgegenüber vertreten Barth und ihm nahestehende Theologen eine Begründung des Rechts von der Rechtfertigungs- und Versöhnungslehre her im Zusammenhang mit der Lehre von der Königsherrschaft Christi. Ihr Rechtsbegriff ist stärker von der Menschenrechtsidee und von dem Gedanken der Gnade und Versöhnung auch im Recht geprägt. Auffallend ist hierbei, daß gerade in den Überlegungen zum Recht versucht wird, Brücken zwischen beiden Positionen zu schlagen.3 Seit Mitte der 60er Jahre ist die theologische Diskussion zu Grundfragen des Rechts in den Hintergrund getreten, und diese werden nur noch vereinzelt behandelt.4 Auch die Beschäftigung mit dem Thema "Kirchenrecht" ist weitgehend Spezialisten vorbehalten.5 Nur

So z.B. von Ernst Wolf oder W. Dantine. Vgl. W. Kerber; F. Böckle; W. Pannenberg, Recht. In: Handbuch der christlichen Ethik, Bd. 2, hg. von A. Hertz u.a., S. 300-338; G. Otte, Recht und Moral. In: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, Bd. 12, hg. von F. Böckle u.a., S. 636; E.L. Behrendt, Christologie der Gerechtigkeit: eine gesamtbiblische Theologie für eine rechtsstaatliche Ordnung; R. Dreier, Entwicklungen und Probleme der Rechtstheologie. In: ZevKr 25, 1980, S. 20-39; M. Honecker, Recht, Ethos, Glaube. In: ZevKr 29, 1984, S. 383-405; Begründungen des Rechts, hg. von U. Nembach; Begründungen des Rechts II, hg. von K. von Bonin; O. Bayer, Gesetz und Moral. Zur ethischen Bedeutung des Rechts. In: EvTh 43, 1983, S. 271-279; R.-P. Callies, Eigentum als Institution; H.-R. Reuter, Rechtsbegriffe in der neueren evangelischen Theologie. In: Studien zu Kirchenrecht und Theologie I, hg. von K. Schiaich, S. 187-237; Rechtsstaat und Christentum, 2 Bde., hg. von E.L. Behrendt. Vgl. A. Stein, Evangelisches Kirchenrecht; R. Dreier, Das kirchliche Amt; Ders., Methodenprobleme der Kirchenrechtslehre. In: ZevKr 23, 1978, S. 343-367; W. Härle, Einführender Bericht über die Arbeit der Projektgruppe "Rechtliche Rahmenbedingungen kirchlicher Praxis". In: ZevKr 28, 1983, S. 116-125; K. Schwarz, Rechtstheologie - Kirchenrecht. In: ZevKr 28, 1983, S. 172-199; H.

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Einzelfragen, wie die der Menschenrechte6 oder des Strafrechts und -Vollzugs,7 werden in der Theologie in einem breiteren Rahmen behandelt. In der allgemeinen gesellschaftlichen Diskussion nehmen demgegenüber Rechtsfragen einen immer breiteren Raum ein.8 Es werden immer weitere Bereiche des Lebens durch entsprechende Gesetze oder Verordnungen geregelt. So wird vielfach vor einer zu starken "Verrechtlichung"9 des politischen, gesellschaftlichen und privaten Lebens gewarnt. In der gegenwärtigen wissenschaftlich-theologischen und innerkirchlichen Diskussion haben ethische Fragen an Gewicht gewonnen: Bewahrung der Schöpfung, Frieden, Weltwirtschaftsordnung, Gentechnologie oder Widerstand gegen politische Mehrheitsentscheidungen in einem demokratischen Staat - um hier nur einige zu nennen. Kirchlichen Basis- und Initiativgruppen ist es gelungen, innerhalb des Ökumenischen Rates der Kirchen einen "konziüaren Prozeß zu Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung" anzuregen,10 der Dombois, Das Recht der Gnade, 3 Bde.; E. Herms, Das Kirchenrecht als Thema der theologischen Ethik. In: ZevKr 28,1982, S. 199-277. Vgl. Gottes Recht und Menschenrechte, hg. von J.M. Lochmann und J. Moltmann; H. Honecker, Das Recht des Menschen; W. Huber/E. Tödt, Menschenrechte; Modernes Freiheitsethos und christlicher Glaube, hg. von J. Schwartländer; J. Moltmann, Menschenwürde, Recht und Freiheit; T. Rendtorff, Menschenrechte und Rechtfertigung. In: Der Wirklichkeitsanspruch von Theologie und Religion, hg. von D. Henke u.a., S. 161-174. Vgl. Strafvollzug, hg. von U. Kleinen; W. Dantine, Strafe und Sühne als normatives Problem - Die Entwicklung in der Theologie. In: Loccumer Protokolle 20/1980, S. 22-34; P. Brandt, Die evangelische Strafgefangenenseelsorge; E. Stubbe, Seelsorge im Strafvollzug; T. Rendtorff, Schuld und Rechtfertigung. In: ZEE 13,1969, S. 153-163; Strafe: Tor zur Versöhnung? Hg. von H. Schöch; J. Track, "... gesandt zu predigen den Gefangenen, daß sie los sein sollen." In: Gefängnisseelsorge heute, hg. von M. Lösch/P. Rassow, S. 24-46; Ders., Sühne und Versöhnung. In: EK 24, 1991, S. 28-30; Strafe: Tor zur Versöhnung? Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Strafvollzug; Schuld, Strafe, Versöhnung, hg. von A. Köpcke-Duttler. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts werden verstärkt zu einem politischen Faktor in der Bundesrepublik und beeinflussen die gesamtgesellschaftliche Diskussion zunehmend. Vgl. Gegentendenzen zur Verrechtlichung, hg. von R. Voigt. Vgl. Vancouver 1983 - Einladung zu einem Bund für Gerechtigkeit, Frieden, Schöpfungsbewahrung, epd Dokumentation Nr. 46/83; Aufruf zum Konzil des Friedens, hg. von C. Krause; Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste, Auf dem

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viele der obengenannten Themenbereiche bearbeiten und zu einem veränderten Reden und Handeln in den Kirchen auf breiter Basis führen soll. Die meisten dieser Themenbereiche sind immer auch mit Rechtsfragen verknüpft, z.B. ob Widerstand gegen politische Mehrheitsentscheidungen zwar nicht legal, aber legitim sein kann, wo er ethisch begründet ist,11 oder welche Gesetze de lege ferenda erforderlich sind, um einen Mißbrauch gentechnologischer Forschungsergebnisse und Möglichkeiten zu verhindern. Theologische Arbeiten und kirchliche Verlautbarungen äußern sich deshalb in diesen Zusammenhängen immer wieder zu einzelnen Rechtsfragen,12 aber dies geschieht eher beiläufig, oder es werden meist nicht näher differenzierte ethische Handlungsanweisungen aufgestellt, wie die Forderung nach der Schaffung einer neuen Weltwirtschaftsordnung.13 Obwohl die gegenwärtige Situation in Kirche und Gesellschaft erneut zu grundsätzlichen Überlegungen zum Thema Recht herausfordert, hat sich die Theologie diesem Fragenkomplex noch nicht hinreichend geöffnet. Eine vertiefte Beschäftigung mit dem Thema "Recht" scheint nicht zuletzt auf dem Hintergrund der gegenwärtigen Diskussion aus folgenden Gründen geboten:

Weg zu einem Konzil des Friedens; Exekutivkomitee des ÖRK, Rahmen des ökumenischen Prozesses zur gegenseitigen Verpflichtung (Bund) für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung; C.F. von Weizsäcker, Die Zeit drängt. Vgl. J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit; J. Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, S. 79-117; T. Rendtorff, Ethik der Machtordnungsverhältnisse oder Ethik des guten Lebens? In: Radius 31, 1986, S. 16-20; J. Track, "Zwei-ReicheLehre" und kein Ende? In: Radius 31, 1986, S. 25-28; Widerstand, Recht und Frieden, hg. von E. Lorenz. Grundsätzlichere Überlegungen werden im Rahmen der Rezeption der Barmer Theologischen Erklärung, z.B. in: Für Recht und Frieden sorgen, hg. von W. Hüffmeier oder in der Denkschrift der EKD: Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie, hg. vom Kirchenamt im Auftrag des Rates der EKD, vorgetragen. Daher dürfte die These von H. Dombois, Evangelium und soziale Strukturen, S. 13, daß eine "eingewurzelte Rechtsfremdheit" und "Rechtsangst der Theologie" gegeben ist, immer noch diskussionswürdig sein.

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1. Allgemeine Gründe Zum einen hat sich in der Gesellschaft in verschiedenen Bereichen ein Wertewandel vollzogen und haben sich neue ethische Einstellungen herausgebildet. Zu prüfen ist, inwieweit das geltende Recht diesem gewandelten ethischen Bewußtsein entspricht oder zur Geltung verhelfen soll. Zum anderen stehen wir in der Gesellschaft vor neuen Herausforderungen, z.B. angesichts der ökologischen Fragen, die neue ethische Antworten und eine Korrektur und Erweiterung bisheriger Norm- und Zielsetzungen erfordern. Um diese ethischen Antworten wirksam zur Geltung zu bringen, bedarf es auch entsprechend geänderter weltweiter rechtlicher Rahmenbedingungen. Das Recht ist im Unterschied zur Ethik14 allgemein verbindlich und kann gegebenenfalls auch mit Sanktionen durchgesetzt werden. So ist es erforderlich, in einem ersten Schritt zu untersuchen, welche Bereiche oder Rahmenbedingungen menschlichen Lebens aus zwingenden ethischen Gründen auch rechtlich geregelt werden müssen, und wie dementsprechend Recht beschaffen sein sollte. Es wird hierbei wichtig sein zu klären, ob und inwieweit ethische Normen, Werte und Ziele das Recht mitkonstituieren sollen. Von der Unterscheidung und Zuordnung von Recht und Ethik her muß zweitens geklärt werden, in welchen Bereichen und inwieweit vom Recht respektierte und geschützte rechtsfreie Räume konstituiert werden müssen. Drittens sind Überlegungen zu einem möglichen Zielkonflikt zwischen Recht und Ethik erforderlich. Schließlich kann dann geklärt werden, wie individuelles menschliches Handeln über das, was rechtlich geboten oder verboten ist, hinaus ethisch verantwortet werden kann. Nur durch eine neue Grundlegung von Recht und Ethik, die eine differenzierte Unterscheidung und Zuordnung von Recht und Ethik einschließt, wird es möglich sein, ein internationales (Überlebens)-

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S.S. 139f.

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konzept zur Bewältigung der gegenwärtigen Krise zu erstellen und zu verwirklichen.15

2. Theologische Gründe Theologie und Kirche stellen sich von ihrem Selbstverständnis her die Aufgabe, an der gesamtgesellschaftlichen Diskussion über Recht und Ethik teilzunehmen. Christliche Ethik zielt immer auch auf die Allgemeinverbindlichkeit bestimmter ethischer Aussagen. Die Theologie selbst muß aber noch klären, für welche ihrer vom christlichen Glauben her begründeten Werte, Normen und Ziele eine rechtliche Grundlegung notwendig ist, welche Normen, Werte und Ziele sie ethisch allgemein verbindlich machen will, und welche nur für Christen gelten sollen. Dies erfordert insbesondere eine genaue Erarbeitung eines theologischen Rechtsverständnisses. Dabei ist ein entscheidendes Problem die Frage des Ortes von Recht in der Theologie: Recht wird einerseits in der Dogmatik im Rahmen der Ekklesiologie, genauer den Aussagen zu Staat und Kirche, den zwei Reichen und Regimenten oder der Königsherrschaft Christi16, und andererseits in der Ethik thematisiert. Schon hier zeigt sich implizit, daß Recht sowohl ein "handlungs- und daseinsorientierender" als auch ein handlungs- und daseinsorientierter Begriff ist.17 Es bedarf einer expliziten Klärung, inwieweit der doppelte Ort des Rechts in der Theologie sachlich begründet werden kann. Dabei muß die Problematik der Korrelation von Dogmatik und Ethik beachtet werden. Die Aussagen der TheoloZur Charakterisierung der gegenwärtigen Situation als Krisensituation vgl. J. Track, Menschliche Freiheit - Zur ökologischen Problematik der neuzeitlichen Entwicklung. In: Versöhnung mit der Natur? Hg. von J. Moltmann, S. 48-93. Im Unterschied dazu finden sich die Aussagen Barths zum Recht, insbesondere zum Kirchenrecht unter dem locus "Versöhnung" in KD IV/2, S. 765-824. Den Terminus "Daseins- und Handlungsorientierung" übernehme ich von J. Track. Vgl. z.B. Ders., Sprachkritische Untersuchungen zum christlichen Reden von Gott, S. 249 u.ö. Ich habe für die Anwendung auf das Recht die Reihenfolge in "Handlungs- und Daseinsorientierung" geändert, da Recht primär ein Handlungsbegriff ist, der von daher auch eine bestimmte Daseinsorientierung impliziert.

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gie zu den großen Herausforderungen der Zeit könnten so in einem ersten Schritt durch eine genaue Zuordnung und Unterscheidung von Recht, allgemeiner und christlicher Ethik differenzierter begründet und im gesamtgesellschaftlichen Kontext besser argumentativ vertreten werden. Das Ziel dieser Arbeit ist, die hier genannten Überlegungen kritisch in der Auseinandersetzung mit anderen Standpunkten zu prüfen. Dies erscheint mir folgende Vorgehensweise zu erfordern: In einem ersten Schritt ist eine Orientierung über das Verständnis des Rechts in der Rechtswissenschaft und Philosophie und eine kritische Auseinandersetzung mit den dort entwickelten Aussagen nötig (Teil B). Theologie, die sich mit dem Rechtsverständnis auseinandersetzt, ist hier darauf angewiesen, die wissenschaftlichen Erkenntnisse und philosophischen Positionen zur Kenntnis zu nehmen und sie auch kritisch zu reflektieren. Auf dem Hintergrund des so gewonnenen Verständnisses von Recht soll in einem zweiten Schritt das Verständnis von Recht in der Theologie aufgezeigt werden. Exemplarisch wird dazu das Rechtsverständnis K. Barths im Zusammenhang seiner theologischen Konzeption untersucht werden (Teil C). An diesem Beispiel soll philosophisch und theologisch geprüft und erarbeitet werden, welches Rechtsverständnis in der Theologie angemessen ist, und wie in der Theologie der Ort des Rechts in der Korrelation von Dogmatik und Ethik zu bestimmen ist.

Β. Recht als eigenständiges Teilsystem Kapitel 1 Systemtheoretischer Zugang zum Rechtsverständnis In dieser Arbeit wird ein systemtheoretischer Zugang zum Rechtsverständnis gewählt.1 Recht ist ein komplexes und in sich vielschichtiges Phänomen, zu dem verschiedene Zugangsweisen angeboten werden: juristisch-hermeneutische, rechtsphilosophische, aber auch politologische, soziologische und allgemein philosophische.2 Darüber hinaus sind diese disziplinspezifischen Zugangsweisen in In § 2 dieses Kapitels soll im Ansatz versucht werden, eine systemtheoretische Grundlegung speziell im Hinblick auf die Fragestellungen dieser Arbeit zu entwickeln. Systemtheoretische Untersuchungen werden heute vor allem in der Philosophie, der Soziologie, insbesondere von N. Luhmann, aber auch in der Biologie vorgenommen. Eine kurze Einführung in die Entwicklung der Systemtheorie gibt N. Luhmann, Soziale Systeme, S. 15-29 und M. Zahn, Art. System. In: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 5, hg. von H. Krings u.a., S. 1458-1475. Vgl. weiter O. Ritsehl, System und systematische Methode in der Geschichte des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs und der philosophischen Methodologie; T. Parsons, The Social System; Offene Systeme I. Beiträge zur Zeitstruktur von Information, Entropie und Evolution, hg. von E. von Weizsäcker; I. Prigogine, I. Stengers, Dialog mit der Natur; Wissenschaft der Wendezeit - Systemtheorie als Alternative? Hg. von J.-P. Regelmann und E. Schramm; Offenheit - Zeitlichkeit Komplexität - Zur Theorie der Offenen Systeme, hg. von K. Kornwachs. Für eine Integration der verschiedenen Betrachtungsweisen in die Jurisprudenz tritt W. Maihofer ein und spricht von "Basisdisziplinen" der Jurisprudenz, wo das Nebeneinander der verschiedenen Betrachtungsweisen aufgrund ihrer gegenseitigen Ergänzung und Korrektur integriert werde: "Der Mehrdimensionalität des Objekts/Subjekts Recht entspräche so eine Mehrdimensionalität auch der Reflexion dieses Objektes durch das Subjekt: auf seine Gesetzlichkeit in der Rechtsdogmatik, auf seine Wissenschaftlichkeit in der Rechtstheorie, seine Gesellschaftlichkeit in der Rechtssoziologie und seine Menschlichkeit in der Rechtsphilosophie." W. Maihofer, Zum Verhältnis von Rechtssoziologie und Rechtstheorie. In: Rechtstheorie, S. 254/255.

Erste Überlegungen zum Rechtsverständnis

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sich selbst noch einmal differenziert und unterschiedlich. Vielfach erfassen und beschreiben sie nur unter einer bestimmten Fragestellung und in einer bestimmten Perspektive den Gegenstand Recht. Der hier verwendete systemtheoretische Zugang soll in dieser Situation die Möglichkeit eröffnen, einerseits das Recht in seiner Komplexität zu erfassen, und andererseits zur Reduktion dieser Komplexität ein Erschließungsraster zu bieten, in dem die unterschiedlichen (rechts) philosophischen Konzeptionen angemessen dargestellt, klassifiziert und beurteilt werden können. Der systemtheoretische Zugang soll zugleich die Möglichkeit eröffnen, im Vergleich und in der kritischen Prüfung der verschiedenen Vorstellungen von Recht ein eigenständiges, begründetes Rechtsverständnis zu erarbeiten, zu dem dann theologische Aussagen in Beziehung gesetzt werden können. Das auf diese Weise erzielte Rechtsverständnis soll als Grundlage der sich anschließenden theologischen Untersuchungen dienen. Inwieweit es auch relevant in anderen wissenschaftlichen Diskussionszusammenhängen ist, muß sich erweisen. Der systemtheoretische Zugang ermöglicht eine angemessene Zuordnung und einen genauen Vergleich zwischen Recht und Theologie. So kann letztlich auf der einen Seite die Bedeutung des Rechts in der Theologie, gerade im Hinblick auf die Korrelation von Dogmatik und Ethik, und auf der anderen Seite die Bedeutung der Theologie für den gesellschaftlichen Prozeß der Rechtsfindung und -gestaltung aufgezeigt und begründet werden.

§ 1 Erste Überlegungen zum Rechtsverständnis

In den folgenden Vorerwägungen geht es um eine erste kurze Entfaltung des Verhältnisses von Recht und Theologie und der sich daraus ergebenden Problemstellungen. Dabei möchte ich zuerst ansatzweise klären, warum mir eine grundsätzliche (rechts)philosophische Beschäftigung mit dem Gegenstand "Recht" theologisch geboten erscheint.

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Systemtheoretischer Zugang zum Rechtsverständnis

1. Vorerwägungen Ein theologisch angemessener Umgang nicht nur mit dem Recht kann nicht auf die Kenntnis und Auseinandersetzung mit den Aussagen anderer Wissenschaften über das Recht verzichten. Recht ist ein Element von Wirklichkeit, dessen Interpretation die Daseins- und Handlungsorientierung von Individuen, Gruppen und Gesellschaften mitkonstituiert. Für die menschliche Daseins- und Handlungsorientierung spielt das Recht eine wesentliche Rolle. Die Theologie kann nicht ihre Interpretation von Wirklichkeit bzw. von einzelnen Bereichen der Wirklichkeit unabhängig von anderen Interpretationen vollziehen, sie ist vielmehr von ihnen beeinflußt und kommt nicht umhin, ihre Aussagen immer in einer geschichtlichen Situation zu bilden, um so ihre Interpretation von Wirklichkeit in dieser Situation als für den Menschen angemessene zur Sprache zu bringen. Dazu muß sie sich grundsätzlich des Elements von Sprache bedienen und sich darüber hinaus auch zu Erfahrungen, Erkenntnissen und Wirklichkeitsstrukturen in Beziehung setzen. Theologie kann nicht jenseits von bewährtem Wissen über das Recht ihr Verständnis von Recht entwickeln, da sie immer an den in der jeweiligen geschichtlichen Situation vorhandenen Vorstellungen von dem, was Recht ist, teilhat. Neben der speziellen theologischen Kompetenz, Wirklichkeitserkenntnis und -erfahrung von Gott her zu erklären, muß die Theologie noch weitere Kompetenz erwerben, indem sie in der jeweiligen geschichtlichen Situation das vorhandene Wissen, hier: über das Recht und die Erfahrungen mit Recht, explizit aufnimmt und kritisch aufarbeitet. Nur so kann die Kommunikabilität theologischer Aussagen gewahrt und ein spezifisch theologischer Umgang mit dem Recht gewonnen werden. So wird es auch möglich, theologische Einsichten in den gesellschaftlichen Dialog über das Recht kritisch einzubringen. Ein theologisch angemessener Umgang mit dem Recht, der die Erkenntnisse und Erfahrungen anderer Wissenschaften mit dem Recht bewußt aufnehmen und bearbeiten will, hat ein doppeltes Problem zu bewältigen. Zum einen gibt es "das" Recht nicht - Recht ist ein komplexes, in sich sehr differenziertes Phänomen, das zudem einem Prozeß ständiger Veränderung unterworfen ist. Zum anderen

Erste Überlegungen zum Rechtsverständnis

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gibt es folglich auch nicht "das" Rechtsverständnis, weder in der jeweiligen Einzelwissenschaft noch für alle Wissenschaften zusammen, sondern über die verschiedenen Zugangsweisen kommt es zu sehr unterschiedlichen Vorstellungen und Interpretationen von Recht. Dieser Situation muß sich die Theologie stellen. Sie hat die Aufgabe, den Prozeß dessen, was der Gegenstand Recht ist und sein soll, sowie der Interpretationen aufzunehmen und daran selbst teilzunehmen. Wenn Recht einen komplexen, in sich differenzierten Gegenstand darstellt, muß die Theologie für sich selbst klären, ob und warum ihr Interesse dem Gegenstand Recht in seiner Gesamtheit gilt, oder ob und warum sie ihr Interesse auf einzelne Teilaspekte von Recht konzentriert. So gilt der berühmte Satz von I. Kant auch für Theologen: "Noch suchen die Juristen eine Definition zu ihrem Begriffe vom Recht."3

2. Zum Vorgehen und zur Fragestellung Mit dieser Arbeit soll versucht werden, ein dialogfähiges Verständnis von Recht als Teilsystem4 zu erarbeiten, das auf phänomenologischer Basis beruhen und darüber hinaus normativ kritisch sein soll. Meine Absicht ist es nicht, in diesem Teil der Arbeit Recht als Teilsystem neu zu definieren, sondern die konstitutiven materialen und formalen Elemente, 5 die in allen Systemen in unterschiedlichen Ausdifferenzierungen auftreten, herauszuarbeiten. Dabei ist es wie bei jedem phänomenologischen Zugang unvermeidlich, daß in der Zuordnung und Bewertung der Phänomene über den rein deskriptiven Vorgang hinaus normative Entscheidungen über das "Wesen" des Rechts und zum Rechtsverständnis getroffen werden. Diese Entscheidungen gilt es offenzulegen, um dialogfähig zu bleiben. Sie sollen auf der Basis eines möglichst umfassenden phänomenologischen Zugangs zurückhaltend getroffen werden, damit nicht ein von Beginn an aus theoloI. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Ausg. B., WA IV, S. 625. Inwiefern und mit welcher Berechtigung Recht in dieser Arbeit als Teilsystem verstanden wird s. S. 22-26. Zur Begriffsklärung s. S. 19ff.

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gischer Perspektive gewonnenes und zu stark interessegeleitetes Verständnis des Rechts zugrundegelegt wird. In diesem Sinn soll ein sowohl phänomenologisch begründetes wie normativ kritisch orientiertes Verständnis von Recht erarbeitet werden. Es sollen die unverzichtbaren Elemente, das "Wesen" von Recht begründet und dargestellt werden. Es werden dabei zum einen phänomenologisch orientiert die in allen gesellschaftlichen Rechtssystemen und die in den untersuchten (rechts)philosophischen und soziologischen Paradigmen unverzichtbar enthaltenen Elemente berücksichtigt. Zum anderen werden normativ kritische Elemente eingeführt, die sich nicht immer und in jedem System phänomenologisch aufweisen lassen, für die sich aber begründet im Hinblick auf die Angemessenheit eines Rechtssystems bzw. -paradigmas argumentieren läßt. Die phänomenologisch begründende und normativ kritisch orientierende Vorgehensweise ist insofern dem Rechtsbegriff angemessen, als er in sich selbst, wie noch zu zeigen sein wird, einerseits eine geschichtlich und gesellschaftlich bedingte Gestalt und Ausprägung hat und andererseits normativ orientiert ist. Dem Gesamtziel dieser Arbeit wird ein normativ kritisch orientiertes Rechtsverständnis auf phänomenologischer Basis insofern gerecht, als es die Möglichkeit eröffnet, in der theologischen Reflexion sowohl an bewährte Erkenntnisse und gewonnene Erfahrungen anzuknüpfen, als auch die (rechts)philosophisch und soziologisch gewonnenen Elemente kritisch zu prüfen. Von daher gliedert sich dieser Teil (B) in drei Abschnitte:

la) Eine systemtheoretische Grundlegung von Recht als Teilsystem (§ 2): Es ist zunächst erforderlich zu bestimmen, was unter einem System oder Teilsystem zu verstehen ist. Dazu muß näher geklärt werden, was für ein System oder Teilsystem konstitutiv ist. Von daher kann dann gezeigt werden, weshalb Recht ein Teilsystem ist. Für die Klassifikation von Recht als Teilsystem ist die Frage nach dem Bereich von Wirklichkeit, der durch das Recht erfaßt werden soll, entscheidend. Wenn Recht als ein Teilsystem verstanden wird, soll in einem nächsten Schritt sein systemtheoretischer Stellenwert und Ort festgelegt werden. So kann dann eine Unterscheidung und Zuord-

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nung von Recht als Teilsystem zu (Gesamt)systemen und anderen Teilsystemen vorgenommen und können die verschiedenen Möglichkeiten dieser Unterscheidung und Zuordnung dargestellt werden. b) Eine systemtheoretische Klassifikation von Rechtssystemen (§3): Es soll in diesem Abschnitt um die Klassifikation der verschiedenen (rechts)philosophischen Entwürfe gehen, um so ihre strukturellen Unterschiede und Gemeinsamkeiten aufzeigen zu können. Diese Klassifikation eröffnet die Möglichkeit, verschiedene Ansätze unter einem Paradigma subsumieren zu können, wobei dann erstens überlegt werden muß, was der Rechtsbegriff in diesem Zusammenhang und für den Fortgang der Arbeit leisten soll und kann. Um die verschiedenen Ansätze unter einem Paradigma subsumieren zu können, muß zweitens festgesetzt werden, was für das jeweilige Paradigma von Recht konstitutiv ist. Von daher kann eine erste Klassifizierung der Paradigmen von Recht als Teilsystem erfolgen. 2. Eine phänomenologische Untersuchung der drei grundlegenden Rechtssysteme (Kapitel 2): Zentral für das Verständnis eines Systems und Grundlage weiterer Überlegungen ist die Frage nach der Ortsbestimmung. Für das Recht als Teilsystem ist bei der Ortsbestimmung die Verhältnisbestimmung zur Ethik charakteristisch. Zur Erfassung eines Rechtssystems ist weiter der in einem System verwendete Rechtsbegriff und seine Begründung wichtig. Die im Zusammenhang der systemtheoretischen Grundlegung erfolgte Einführung von formalen und materialen konstitutiven Elementen eines Systems soll dann auf die Systeme angewandt werden. 3. Nach einer kritischen Auseinandersetzung mit den grundlegenden Rechtssystemen soll dann die inhaltliche Grundlegung von Recht als Teilsystem erfolgen unter folgenden Fragestellungen: Wie wird Recht als Teilsystem konstituiert? Welchen Ort hat das Teilsystem Recht? Wie ist das Verhältnis von Recht und Ethik? Welche konstitutiven Elemente von Recht sind im formalen Bereich gegeben? Wie kann die in der Theologie vielfach diskutierte Begründung von Recht erfolgen? Was macht das "Wesen" von Recht aus? Welche Funktionen hat Recht? Welche konstitutiven Elemente sind im Bereich der materialen Grundlegung anzunehmen?

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Systemtheoretischer Zugang zum Rechtsverständnis

Das in diesem Teil entfaltete Rechtsverständnis soll Grundlage und kritischer Maßstab für theologische Aussagen über das Recht sein, da es ein Ziel dieser Arbeit ist, den theologischen Rechtsbegriff in seinem Zusammenhang der theologischen Unterscheidung und Zuordnung von Dogmatik und Ethik kritisch zu überprüfen. Es ist zu untersuchen, ob es der Theologie als System gelingt, einen innerhalb ihrer konstitutiven Elemente und Kriterien konsistenten Rechtsbegriff zu entwickeln, der zugleich in Beziehung gesetzt werden kann zu philosophisch bewährtem Wissen (Kompatibilität), um so einen Beitrag zum gesamtgesellschaftlichen Dialog über das Recht leisten zu können.

§ 2 Einführende systemtheoretische Bestimmung von Recht

In diesem Paragraphen wird zuerst eine systemtheoretische Grundlegung erfolgen, in der insbesondere die in dieser Arbeit verwendeten Begriffe von System und Teilsystem, ihrer Teile und Elemente, eingeführt werden sollen.6 Danach erfolgt dann die Definition von Recht als Teilsystem. Als Vorbereitung für die Klassifikation von Rechtssystemen sollen die verschiedenen möglichen Formen rechtlicher Teilsysteme dargestellt sowie das Verhältnis des Teilsystems Recht zu anderen (Teil)systemen behandelt werden. Das ist relevant im Hinblick auf die Zuordnung und Unterscheidung sowohl von Recht und Ethik als auch von Recht und Theologie.

Die grundsätzlichen philosophischen Einsichten verdanke ich J. Track, der mir seine noch unveröffentlichten Manuskripte überlassen hat.

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1. Der Systembegriff Der Systembegriff ist eng mit dem Wissenschaftsbegriff verbunden, weil die Erarbeitung eines Systems als Aufgabe verschiedener Wissenschaften angesehen wird.7 Eine Verbindung von System und Wissenschaften wird bereits in der Antike von Aristoteles oder den Stoikern unternommen. So versteht Aristoteles System als ein Zuordnen verschiedener Gegenstände zu einem Ganzen (z.B. Staat). Die Stoiker bezeichnen dann die Wirklichkeit als System von Begriffen. In der Neuzeit kommt es zur vollen Entfaltung des Systembegriffs bei Descartes und im deutschen Idealismus (I. Kant, G.F.W. Hegel, J.G. Fichte). Der Begriff System bezeichnet die Darstellung eines Gegenstandes, die sich zugleich als Darstellung selbst zum Gegenstand hat: Das System ist sich selbst immer auch Gegenstand seiner Reflexion. Der Gegenstand eines Systems kann aus einem Bereich, z.B. der Biologie, kommen oder aber in der Philosophie die Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit sein. System kann so näher als Deutungsmodell von Wirklichkeit verstanden werden. Dabei zielt ein System darauf, die Menge von Einzelaussagen zu strukturieren und klassifizieren, ihre wechselseitigen Relationen aufzuzeigen und meist von einem zentralen Grundgedanken her zu interpretieren.8 In einem System geht es jeweils darum, dem einzelnen Gegenstand seinen Ort und seinen Sinn zu geben sowie ihn zugleich in seinen Relationen und Funktionen im Gegenüber zu anderen Gegenständen aufzuzeigen. Dabei Hier liegt zugleich ein Problem begründet, da die verschiedenen Wissenschaften den Systembegriff sehr unterschiedlich interpretieren. Diese Arbeit ist geprägt durch die Auseinandersetzung mit dem Systembegriff Luhmanns. Luhmann nimmt für seinen Systembegriff Überlegungen der Kybernetik auf und versteht System als Zusammenhang von funktionalen Leistungen, das sich aufgrund der in ihm vollzogenen Reduktion von Komplexität von seiner Umwelt unterscheidet. Zu Luhmanns Systembegriff vgl. weiter S. 97-101. System, bei Heidegger "Logik" oder "-Logia", bezeichnet "... das Ganze eines Begründungszusammenhanges, worin die Gegenstände der Wissenschaft im Hinblick auf ihren Grund vorgestellt, d.h. begriffen werden." M. Heidegger, Die onto-theologische Verfassung der Metaphysik. In: Ders., Identität und Differenz, S. 56. "Ich verstehe aber unter einem System die Einheit der manigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee." I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, WA IV, S. 696.

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wird sowohl der Sinn des Einzelnen als auch der des Ganzen zu erschließen und zu bestimmen versucht. Dazu wird von der Einsicht ausgegangen, daß sich der Sinn des Einzelnen immer auch erst vom Sinn des Ganzen her erschließt, wie umgekehrt der Sinn des Ganzen sich aus dem Sinn des Einzelnen und der Beziehungen der einzelnen Teile eines Systems untereinander ergibt. So kann als systemimmanente Zielsetzung gelten, daß die Aussagen des Systems konsistent sind und dem Kriterium der Kohärenz9 genügen. Zugleich geht es um die Leistungsfähigkeit, die erschließende und erklärende Kraft eines Systems für die Wirklichkeitsdeutung, die Wahrheit und die Bewährung der grundlegenden Sinnbestimmungen in einem System.10 Damit ist zugleich die Stärke und die Schwäche der Erfassung von Wirklichkeit in Systemen gekennzeichnet. Auf der einen Seite entspricht der Wirklichkeit oder den Wirklichkeitsbereichen in Systemen die erkenntnistheoretische Einsicht, daß es zur vollständigen Erfassung eines Gegenstandes und seines Sinns seiner Erfassung im Ganzen der Wirklichkeit und im Rahmen eines Sinns des Ganzen bedarf. Zum anderen zeigt sich die Grenze des Systembegriffs darin, daß wir ihn in unserer Wirklichkeit als noch unabgeschlossen im Fortgang der Geschichte erfahren. So ist es uns unmöglich, das Ganze, und sei es auch nur strukturell, zu erfassen. Von daher stellt jede Systembildung einen Vorgriff auf das Ganze dar. Dieser Vorgriff ist unvermeidlich. Er muß aber als solcher erkannt werden und darin auch methodisch bearbeitbar bleiben, daß Systeme als offene und als perspektivische Systeme verstanden und zur Diskussion gestellt werden.11 Das Kohärenzkriterium der Wahrheit fordert die Konsistenz und Widerspruchsfreiheit aller in einem System aufgestellten Aussagen. Vgl. L.B. Puntel, Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie, S. 12ff und S. 172-204 und W. Rescher, Wahrheit als ideale Kohärenz. In: Der Wahrheitsbegriff, hg. und eingel. von L.B. Puntel, S. 284-297. "Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, kann allein das wissenschaftliche System derselben sein." G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 12. Zur Problematik des Systembegriffs vgl. F. von Kutschera, Grundfragen der Erkenntnistheorie, S. 279-288; Systemtheorie als Alternative? Hg. von J.P. Regelmann und E. Schramm, und zur theologischen Diskussion vgl. W. Pannenberg,

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a) Perspektive - System - Teilsystem Ausgangspunkt der Überlegungen bildet die von I. Kant herkommende Einsicht, daß es eine Erkenntnis der Wirklichkeit "an sich" nie gibt, sondern daß das menschliche Verständnis von Wirklichkeit immer von einer Perspektiven, von der her Menschen die Wirklichkeit wahrnehmen, geprägt ist. Diese vollzieht für ein System die Festlegung des Bereichs von Wirklichkeit, die Bestimmung des Erkenntnisund Wirklichkeitszugangs sowie die Festlegung und grundsätzliche Interpretation der konstitutiven Elemente sowohl im formalen wie im materialen Bereich. Bei umfassenden Systemen und Perspektiven auf die Wirklichkeit lassen sich grundsätzlich die philosophische und die theologische Perspektive unterscheiden. Bei gleichem Gegenstand, Wirklichkeit, ist die Fragestellung, der Wirklichkeits- und damit Erkenntniszugang sowie das Erkenntnisinteresse von Philosophie und Theologie verschieden. Die Philosophie fragt nach der Wirklichkeit, der Wahrheit und dem Sinn. Diese Fragestellung soll durch menschliche Erkenntnis und Erfahrung auf der Basis von Vernunft gelöst werden. Erkenntniszugang sind Vernunft und Erfahrung. Es kann in der Philosophie durchaus zu einer metaphysischen Gottesvorstellung kommen. Im Gegensatz dazu fragt die Theologie nach Gott selbst, seinem Handeln und seinem Ort in der Wirklichkeit, und damit fragt sie zugleich nach der Wirklichkeit, insofern sie durch Gott und sein Handeln bestimmt ist, was sich unmittelbar und Wissenschaftstheorie und Theologie, S. 89-92 u.ö. und G. Sauter, Grundzüge einer Wissenschaftstheorie der Theologie. In: G. Sauter u.a., Wissenschaftstheoretische Kritik der Theologie, S. 296-308. Hinter dem Perspektivebegriff oder dem "Sehen als " L. Wittgensteins steht ein Weltbild, das unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit leitet. Vgl. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, insb. S. 308-340. Eine ähnliche Funktion hat der Begriff "blik" bei R.M. Hare. "Blik" versteht Hare als bestimmte Sicht von Wirklichkeit, die die Wirklichkeit nicht erklärt, sondern die Grundlage einer Erklärung von Wirklichkeit bildet. Das intuitive Moment spielt bei dem Begriff "blik" eine entscheidende Rolle. Vgl. R.M. Hare, The language of morals. Hier wird mit den Begriff "Perspektive" oder "Sehen als" (L. Wittgenstein) bzw. "blik" (R.M. Hare) keine explizite Theoriebildung verbunden, sie verstehen sich beide in erster Linie als Grundlage eines bestimmten Verständnisses und Umgangs mit Wirklichkeit, bei dem dann eine Theoriebildung nicht ausgeschlossen ist. Vgl. weiter zum Perspektivebegriff H.O. Jones, Die Logik theologischer Perspektiven.

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mittelbar für die Erkenntnis von Wirklichkeit auswirkt. Die theologische Perspektive geht somit von einer dreigliedrigen Erkenntnisquelle Offenbarung, Vernunft und Erfahrung aus. Dabei ist das spezielle Problem genau die Zuordnung dieser drei Größen. So unterscheiden sich also theologische und philosophische Perspektive auf die Wirklichkeit, die gemeinsamer Gegenstand ist, durch den unterschiedlichen Erkenntnis- und Erfahrungszugang und die unterschiedliche Sicht des Konstituiert- und Bestimmtseins von Wirklichkeit. Im System werden von einer bestimmten Perspektive her die Wirklichkeit und deren Sinn erfaßt. Dabei geht es bei einem System um den Versuch, die Wirklichkeit als Ganze zu erfassen, bei einem Teilsystem nur um einen bestimmten Bereich von Wirklichkeit. Um den Bereich oder einen Teilbereich von Wirklichkeit näher zu beschreiben, wird dieser Bereich durch verschiedene Strukturen klassifiziert, so daß dann die Möglichkeit gegeben ist, nur bestimmte Strukturen eines Bereiches zu behandeln. Zudem ist für Teilsysteme ein Grundbegriff zentral, wie z.B. Recht oder Wirtschaft. Bei einem Strukturbereich handelt es sich um einen Bereich, bei dem (nur) bestimmte Strukturen13 untersucht werden oder der (nur) durch bestimmte Strukturen erschlossen wird.14 Zur Erfassung von Wirklichkeit entfaltet ein System einen Struktur- und Gestaltzusammenhang. Als ein Strukturzusammenhang sollen die in einem Bereich gegebenen Strukturen in ihrem Zusammenhang angesehen werden. Die Darstellung eines Strukturbereichs und des in ihm gegebenen Strukturzusammenhangs kann von einem Strukturmodell geleistet werden. Unter Gestaltzusammenhang sollen die Menge der Individuen in ihrem Wesen und in ihrer Eigenart, den bestehenden externen und internen Strukturen sowie ihre Beziehungen erfaßt werden. Im TeilIn der Diskussion ist es umstritten, ob die Strukturen in der Wirklichkeit selbst gegeben oder ein erkenntnistheoretisches Konstrukt sind. Zur Diskussion um diesen Begriff vgl. u.a. F. Kambartel, Erfahrung und Struktur; T. Parsons, Structure and Process in Modern Societies und Η. Rombach, Substanz, System, Struktur. "Strukturbildung ist ... auch Voraussetzung für jede Beobachtung und Beschreibung eines Systems, und zwar für Fremdbeobachtung (-beschreibung) ebenso wie für Selbstbeobachtung (-beschreibung)." N. Luhmann, Soziale Systeme, S. 386. Zu Luhmanns System- und Strukturbegriff s. genauer S. 97-101.

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system werden im Unterschied zum Strukturmodell über (den) Strukturbereich(e) hinaus der Gestaltzusammenhang und die einzelnen Gegenstände bearbeitet. Einen weiteren Unterschied zwischen einem Strukturmodell und einem Teilsystem stellt die explizite Theoriebildung dar, die in einem Teilsystem erfolgt. Bis heute ist es im Laufe der Geschichte zu drei unterschiedlichen Typen von Systemen gekommen: - geschlossene Systeme, die die Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit erfassen und erklären wollen, ohne daß es dabei zur (vollständigen) Ausbildung von systemtheoretischen Elementen (konstitutive Elemente der ersten Gruppe)15 kommt (Aristoteles, Piaton). - selbstreferentielle, geschlossene Supersysteme, die ebenfalls die Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit erfassen und erklären wollen und dazu auch systemtheoretische Elemente ausbilden. Sie sind selbstreferentielle Supersysteme deshalb, weil sie aufgrund ihrer Selbstreferenz auch in der Lage sind, alle anderen (Teil)systeme (als Systeme) zu erklären und so zu integrieren (G.W.F. Hegel, N. Luhmann).16 - reduktive, geschlossene Systeme: auch sie wollen die Wirklichkeit als Ganze erfassen und erklären, gehen aber davon aus, daß sie als System eine vollständige Erklärung und Durchdringung von Wirklichkeit nicht zu leisten vermögen. Diese Systeme können durchaus selbstreferentiell sein. Sie sind gekennzeichnet durch eine Selbstreduktion, die oft auch durch den Verzicht auf die Ausbildung von bestimmten konstitutiven Elementen und/oder von (bestimmten) Teilsystemen gekennzeichnet ist (I. Kant). b) Konstitutive Elemente von Systemen und Systemteile Die Entwicklung und inhaltliche Darstellung von konstitutiven Elementen hat in dieser Arbeit die zentrale Funktion, eine wissen-

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S. S. 46-53. "Supertheorien sind Theorien mit universalistischen (und das heißt auch: sich selbst und ihre Gegner einzubeziehenden) Ansprüchen." N. Luhmann, a.a.O., S. 19.

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schaftlich nachprüfbare Untersuchung von verschiedenen Systemen und deren Vergleich zu ermöglichen. Die konstitutiven Elemente eines Systems stellen die Aussagebereiche dar, in denen in dem jeweiligen (Teil)system Basisannahmen, die den Aufbau des Systems strukturieren, gemacht werden. So wird ein System konstituiert durch die formalen und materialen konstitutiven ontologischen, handlungs- und erkenntnistheoretischen Basisannahmen, z.B. grundlegende Aussagen über die Erkennbarkeit der Wirklichkeit durch Erfahrung und Vernunft. Im Fortgang der Überlegungen wird von der in der Untersuchung verschiedener Systeme gewonnenen Hypothese ausgegangen, daß sowohl Systeme, die die Gesamtheit von Wirklichkeit von einer bestimmten Perspektive her als auch Teilsysteme, die denselben Bereich von Wirklichkeit von einer bestimmten Perspektive her betrachten, jeweils von den gleichen konstitutiven Elementen strukturiert werden, die aber unterschiedlich interpretiert werden können. Die konstitutiven Elemente sind manchmal nur implizit in einem System oder Teilsystem enthalten. Die Reduktion eines konstitutiven Elements durch ein (Teil) system kann eine (extreme) Form der Interpretation bedeuten. Diese Elemente können in drei verschiedene Gruppen unterteilt werden: - Zur ersten Gruppe gehören die systemtheoretischen Elemente im eigentlichen Sinn: die Behauptungen über die Möglichkeit, ein System auszubilden sowie die formalen und materialen Grundannahmen über den Bereich und den damit verbundenen Strukturund Gestaltzusammenhang eines Systems. Dadurch wird zugleich die Erkenntnisart eines Systems festgesetzt. In dieser Gruppe von Aussagen wird auch die Perspektive eines Systems sichtbar. - Die zweite Gruppe von konstitutiven Elementen wird aus den Basisannahmen im formalen Bereich gebildet, die auf erkenntnistheoretischen, handlungstheoretischen und ontologischen formalen Voraussetzungen beruhen. Hier wird z.B. das Verhältnis von Erkenntnis und Erfahrung oder theologisch von Offenbarung, Vernunft und Erfahrung bestimmt. - Die dritte Gruppe wird aus den Basisannahmen im materialen Bereich gebildet, die auf erkenntnistheoretischen, handlungstheoreti-

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sehen und ontologischen materialen Voraussetzungen beruhen. Ein materiales Element sind in vielen (Teilsystemen z.B. anthropologische Basisannahmen. Dazu "quer" verläuft die Einteilung eines Systems in seine Systemteile. Systeme haben grundsätzlich mindestens einen theoriebildenden Teil, einen daseins- und/oder handlungsorientierten Teil. Die Philosophie als umfassendes System läßt sich von daher aufgliedern in: Erkenntnistheorie - "Philosophie"17 - Metaethik - Ethik. Es ist nun prinzipiell denkbar, daß ein Systemteil selbst ein Teilsystem ausbildet, wie z.B. die Ethik, die dann ihrerseits wieder in Systemteile untergliedert werden kann: Moral18 - Ethos - Recht. c) Zum Verhältnis von System und Teilsystem Während ein System die Gesamtheit von Wirklichkeit, ihre Strukturen, Gestalt und Gegenstände durchdringen will, arbeitet ein Teilsystem mit einem oder mehreren Bereichen von Wirklichkeit, den darin enthaltenen Strukturen, der Gestalt und den Gegenständen. Für Systeme gilt, daß sie die Gesamtheit von Wirklichkeit erfassen wollen, so daß sie auch prinzipiell fähig sein müssen, Teilsysteme auszubilden. Dies würde für ein Gesamtsystem bedeuten, daß es alle Teilsysteme selbst erstellen müßte im Sinne einer klassischen Enzyklopädie. Seit der Aufklärung hat sich aber das menschliche Wissen gerade im Bereich der Naturwissenschaften so stark vergrößert, daß es in der Neuzeit nicht mehr gelungen ist, ein umfassendes System und alle dazugehörigen Teilsysteme in einem großen philosophischen Entwurf zu erarbeiten. Dennoch muß ein System von seiner Konstitution her dazu grundsätzlich in der Lage sein und eine Erklärungstheorie für die verschiedenen Teilsysteme bereitstellen. Umgekehrt Der Ausdruck Philosophie wird hier äquivok verwandt, um auch den daseinsorientierten Teil zu beschreiben, da für diesen Teil noch kein allgemein gültiger wissenschaftlicher Terminus gefunden wurde. Moral wird hier im Sinne von allgemein verbindlichen und akzeptierten ethischen Aussagen verstanden.

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gilt für Teilsysteme, für die im Unterschied zu Strukturmodellen eine explizite Theoriebildung notwendig ist, daß sie dafür Elemente und insbesondere die Perspektive eines Systems übernehmen. Sie sind ihrerseits zum einen meist dazu nicht in der Lage, eine vollständige Theoriebildung zu erarbeiten, und zum anderen sind Gemeinsamkeiten in der Theoriebildung notwendig, um die Kommunikabilität einer Wissenschaft mit anderen Wissenschaften und umgekehrt zu ermöglichen. Die Perspektive einer Philosophie als Gesamtsystem prägt die Perspektive von Wissenschaften mit, die von daher ihre spezifische Perspektive bekommen. Eine Einzelwissenschaft ist in ihrer spezifischen Perspektive sowohl von der Perspektive der Wissenschaft als Teilsystem wie von der des Gesamtsystems geprägt. Das Verhältnis von Systemen zu Teilsystemen läßt sich so kennzeichnen, daß das System entweder in sich alle gegebenen Teilsysteme und möglicherweise auch (alle) andere(n) Systeme19 durch Erklärungstheorien integrieren will oder bewußt auf solche Erklärungstheorien und eine Integration verzichtet, weil dies als prinzipiell nicht zu leisten angesehen wird.20 Für das Verhältnis von Teilsystemen zu Systemen sind ebenfalls zwei Möglichkeiten gegeben: Ein Teilsystem versteht sich entweder graduell unterschiedlich als abhängig von einem System bzw. als integriert in ein System, oder es begreift sich als ein eigenständiges Teilsystem, wobei die offene Frage ist, ob dies für ein Teilsystem überhaupt möglich ist.

2. Zur Bestimmung von Recht als Teilsystem Recht kann als Teilsystem (von Wirklichkeit) insofern klassifiziert werden, als es einen Strukturzusammenhang, Recht, einen Gestaltzusammenhang, aktuelle Rechtsordnungen,21 sowie eine explizite Theoin der Diskussion wird die Integration aller denkmöglichen und bereits vorhandenen Systeme in ein umfassenderes System als Supertheorie bezeichnet. Hegel versucht, dies zu leisten, während Kant prinzipiell, weil er ein reduktives geschlossenes System ausführen will, darauf verzichtet. Eine Äquivokation des Begriffs Recht liegt in dieser Arbeit in gewisser Hinsicht insofern vor, als Recht einmal das Teilsystem und zum anderen den Struktur- und

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riebildung, Jurisprudenz oder Rechtsphilosophie, erfaßt und beschreibt. Das Teilsystem Recht hat einen bestimmten Strukturbereich und Gestaltzusammenhang von Wirklichkeit als Gegenstand: das Recht. Der durch das Recht bestimmte Struktur- und Gestaltzusammenhang dient in erster Linie menschlicher Handlungs- und Daseinsorientierung. Neben dem Gegenstand und Begriff Recht sind die formalen und materialen konstitutiven Elemente entscheidend für eine präzise Darstellung dieses Teilsystems. Der Erarbeitung des Gegenstands und Begriffs Recht sowie der formalen und materialen konstitutiven Elemente des Teilsystems Recht soll die Untersuchung und kritische Beurteilung der in der Diskussion befindlichen Modelle von Rechtssystemen dienen. Auch für das Recht als Teilsystem sind grundsätzlich zwei Modelle der Inbeziehungsetzung zu umfassenden Systemen gegeben: a) Recht als integriertes Teilsystem Entscheidend für ein Teilsystem ist seine Ortsbestimmung in bezug auf ein System oder zu Systemen im allgemeinen. Recht als integriertes Teilsystem kann zum einen bedeuten, daß es zu einem System gehört, innerhalb eines Systems ausgebildet wird. Geschichtlich läßt sich erheben, daß innerhalb eines Systems, wie z.B. bei der Rechtsphilosophie Hegels als Teil seiner Gesamtkonzeption,22 es meist nur zur Ausbildung eines integrierten Strukturmodells kommt. Es kann zum anderen den bewußten Bezug und die Verankerung eines Teilsystems in einem System bedeuten, was insbesondere für Gestaltbereich (als Ausdruck für den Gegenstandsbereich) bezeichnet. Diese gewisse Äquivokation hat sich aber als unvermeidbar herausgestellt, da der Ausdruck "juristisches System" so nicht eingeführt ist und in der juristischen Diskussion Recht sowohl für das juristische System als auch für den Gegenstandsbereich steht. Der Sache nach bemühe ich mich, im Folgenden bei der Verwendung jeweils die genaue Bedeutung aufzuzeigen. Diese gewisse Äquivokation ist auch um einer genaueren Ausdifferenzierung von Recht willen unvermeidbar. Klassisch wird für eine staatliche Rechtsordnung der Begriff "Rechtssystem" benutzt. Um eine Äquivokation des Begriffs "Rechtssystem" zu vermeiden und ihn in dieser Arbeit nur in dem eingeführten Sinn von (Teil)system zu verwenden, wird hier im Blick auf den Gestaltzusammenhang von "Rechtsordnung" gesprochen.

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die Perspektive und Theoriebildung gelten kann, wie z.B. die neukantianische Rechtsphilosophie der Marburger Schule (R. Stammler u.a.) zeigt. Für das Verständnis von integrierten Teilsystemen ist ihre Ortsbestimmung in bezug auf ein System auch deshalb relevant, weil hier bereits darüber entschieden wird, welche Elemente eines Systems möglicherweise in teilsystemspezifischer Interpretation übernommen werden. Für das Recht läßt sich, wie noch zu zeigen sein wird, aus der Unterscheidung von integriertem und eigenständigem Teilsystem die neuzeitliche Diskussion um Naturrecht (integriertes Teilsystem) und Rechtspositivismus (eigenständiges Teilsystem) auf ihren Ursprung zurückführen. Dort wird sichtbar, daß es hier letztlich um eine philosophische Grundentscheidung geht. b) Recht als eigenständiges oder "autopoietisches" Teilsystem Im Unterschied zu einem integrierten Teilsystem ist für ein eigenständiges oder "autopoietisches" Teilsystem23 der Gedanke grundlegend, daß sich dieses Teilsystem selbst, d.h. unabhängig von einem System, konstituiert. Dabei wird von der These ausgegangen, daß eine angemessene Erfassung und Darstellung des Struktur- und Gestaltzusammenhangs Recht nur teilsystemimmanent geleistet werden kann. Zur Konstitution des Teilsystems Recht müssen eigenständige konstitutive Elemente entwickelt werden. Es bedarf ebenfalls einer für den Struktur- und Gestaltzusammenhang Recht spezifischen Theoriebildung. c) Das Verhältnis von Recht als Teilsystem zu anderen (Teil)systemen Für die Verhältnisbestimmung von Recht als Teilsystem zu anderen Teilsystemen muß wiederum differenziert werden zwischen Recht als integriertem und Recht als eigenständigem bzw. autopoietischem Teilsystem. Für Recht als integriertes Teilsystem gilt: Auch Luhmanns Theorie von Recht als einem "autopoietischen System" geht von der prinzipiellen "Eigenständigkeit" von Rechtssystemen aus, so daß sie hier gemeinsam behandelt werden können. Ich meine aber dennoch, daß es sich um zwei grundsätzlich verschiedene Rechtssysteme handelt, s. S. 39-43.

Einführende systemtheoretische Bestimmung von Recht

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Es ist entweder integriert in ein System oder übernimmt Elemente eines Systems. Oben wurde bereits dem Recht innerhalb eines Gesamtsystems ein Ort im Systemteil Ethik zugeordnet. Diese Ortsbestimmung ermöglicht es, daß das Recht entweder von daher Elemente des Gesamtsystems übernimmt, oder daß die vollständige Grundlegung eines Teilsystems Recht innerhalb des Teilsystems Ethik erfolgt.24 Die vollständige Grundlegung eines Teilsystems Recht innerhalb des Systemteils oder Teilsystems Ethik ist die engstmögliche Relation von System und Teilsystem Recht. Die generelle Integration in ein System oder die Abhängigkeit eines integrierten Teilsystems ist aber auch graduell variabel zu denken. Während die Integration oder Abhängigkeit von Ethik als Teilsystem für das Recht als integriertes Teilsystem sehr prägend sein kann, kann die Relation zu anderen Teilsystemen in graduell verschiedener Interdependenz gegeben sein.25 Eine Interdependenz besteht sicher im Hinblick auf die Theoriebildung zum Teilsystem Wissenschaft, aber auch Erkenntnisse von Human- und Sozialwissenschaften können in ein Rechtssystem aufgenommen werden. Für Recht als eigenständiges oder autopoietisches Teilsystem gilt: Eine Integration in oder Abhängigkeit von einem Gesamtsystem wird abgelehnt, die Ortsbestimmung wird teilsystemimmanent gedacht. Diese Teilsysteme verstehen sich gegenüber anderen Systemen oder auch Teilsystemen als unabhängig. Elemente anderer (Teil)systeme können, falls es für die eigene Theoriebildung als notwendig erachtet wird, aufgenommen werden. Indem sie in ein Rechtssystem aufgenommen werden, werden sie aber zu rechtssystemspezifischen Elementen und verlieren ihre Bindung an die Teilsysteme, aus denen sie stammen. Das führt so weit, daß eine ethische Norm mit ihrer Aufnahme in ein Rechtssystem zu einer rechtlichen erklärt wird und nicht länger als eine ethische Norm gilt.26 Sowohl Recht als integriertem wie Recht als eigenständigem oder autopoietischem Teilsystem ist das Charakteristikum zueigen, daß Recht immer die Rahmenbedingungen menschlicher Handlungs- und 24 25 26

S. S. 21. Zur Frage der Autonomie gegenüber anderen Teilsystemen s.u. So Luhmann, vgl. S. lOlff.

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Systemtheoretischer Zugang zum Rechtsverständnis

Daseinsorientierung bereitstellt. Dadurch besitzt das Recht als Teilsystem immer ein dialektisches Verhältnis zu anderen Teilsystemen. Recht bestimmt die Rahmenbedingungen für ein Teilsystem, wie z.B. Wirtschaft mit, zugleich wird die inhaltliche Gestaltung dieser Rahmenbedingungen durch diese Teilsysteme mitkonstituiert, weil für das Recht seine Gegenstands-, Struktur- und Sachbezogenheit charakteristisch ist.27

§ 3 Systemtheoretische Klassifikation der drei grundlegenden Rechtssysteme

Um eine Möglichkeit zu gewinnen, die verschiedenen, in der Diskussion befindlichen Teilsysteme zu analysieren und zu klassifizieren, will ich in diesem Paragraphen versuchen, einen modifizierten Paradigmenbegriff zu erarbeiten. Der Paradigmenbegriff soll hier dazu dienen, die verschiedenen Teilsysteme einander zuzuordnen bzw. voneinander zu unterscheiden. Den Abschluß dieses Paragraphen und damit dieses ersten Kapitels bildet dann die Bestimmung der bis jetzt in der Diskussion sich befindenden grundlegenden Paradigmen für das Teilsystem Recht.

1. Zur Klassifikation Im vorangegangenen Paragraphen ist der systemtheoretische Zugang zum Recht, verstanden als Teilsystem von Wirklichkeit, grundgelegt worden. Es soll in diesem Paragraphen darum gehen, in einem zweiten Schritt eine Analyse der verschiedenen Möglichkeiten, das Teilsystem Recht auszubilden, durchzuführen. Dies hat das Ziel, Kriterien für eine Klassifikation von Teilsystemen zu entwickeln und exemplarisch anzuwenden. Für diese Klassifikation sind aus dem vorangehenden Paragraphen zwei Überlegungen einzubeziehen: In der 27

S. ebd.

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Untersuchung der Konstitutionsbedingungen eines Teilsystems hat erstens sich der Begriff der Perspektive auf die Wirklichkeit als wesentlich erwiesen, da die Perspektive den Bereich eines Systems, den Erkenntnis- und Wirklichkeitszugang und die Interpretation der konstitutiven Elemente prägt. Zweitens wurden die verschiedenen Formen rechtlicher Teilsysteme, integriertes, eigenständiges oder "autopoietisches" Teilsystem und das Verhältnis von Teilsystemen zueinander dargestellt.28 Beide Überlegungen sollen nun in den die Klassifikation von Recht in dieser Arbeit leitenden Paradigmenbegriff aufgenommen werden. a) Zum Paradigmenbegriff Der Begriff "Paradigma" wird von T.S. Kuhn nachdrücklich in die wissenschaftsgeschichtliche und -theoretische Diskussion eingebracht.29 Er macht dabei Überlegungen des Analytischen Philosophen L. Wittgenstein zur Sprache für die Wissenschaftstheorie fruchtbar.30 T.S. Kuhn hat von Anfang an den Begriff "Paradigma" in zweifacher Weise verwandt, einmal "soziologisch" für eine wissenschaftliche Gemeinschaft, die verschiedene Theorien, Methoden etc. gemeinsam teilt, und zweitens spezifisch für Problemstellungen und -lösungen, die in einer solchen Gemeinschaft vertreten werden: "Ein Paradigma ist das, was den Mitgliedern einer wissenschaftlichen Gemeinschaft gemeinsam ist, und umgekehrt besteht eine wissenschaftliche Gemeinschaft aus Menschen, die ein Paradigma teilen."31 Kuhn bejaht diese zweifache Verwendung des Begriffs Paradigma später explizit, hält aber die zweite, spezifischere für die bedeutendere.32 Dieses zweite Verständnis von Paradigma kann näher als ein 28 29

30

31 32

S. S. 15-26. Vgl. T.S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Vgl. dazu auch W. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Bd. II, S. 725-776 und K. Bayertz, Wissenschaftstheorie und Paradigmabegriff. L. Wittgenstein verwendet den Begriff "Paradigma", den er oft synonym zu "Vorbild" benutzt, als feststehendes Beispiel für den Gebrauch von Sprache. Vgl. Ders., a.a.O., S. 47f, 50f, 55, 57,215,300,385 u.ö. T.S. Kuhn, a.a.O., S. 187. Vgl. ebd. S. 186-220.

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funktionales charakterisiert werden. Paradigmen sind "... - Beispiele, die Gesetze, Theorie, Anwendung und Hilfsmittel einschließen (die) Vorbilder abgeben, aus denen bestimmte festgefügte Traditionen wissenschaftlicher Forschung erwachsen."33 Ein Paradigma bietet innerhalb einer Wissenschaft eine Theorie zur Erfassung der Wirklichkeit insgesamt oder eines Bereichs von Wirklichkeit, z.B. der physikalischen Gegebenheiten. Das Paradigma stellt den Rahmen, d.h. die Metatheorie, Modelle und Grundannahmen, innerhalb dessen Wirklichkeit gesehen wird, bzw. gilt umgekehrt: Eine bestimmte Sicht von Wirklichkeit begründet jeweils eine Theorie. Kuhn betont, daß mit einem Paradigma immer auch ein intuitives Moment verbunden ist,34 das zu einer bestimmten Sicht von Wirklichkeit, genauer der Übernahme einer solchen Sicht, gehört. So ist ein Paradigma letztlich "nicht völlig auf logisch letzte Bestandteile reduzierbar"35. Paradigma versteht Kuhn deshalb weniger als ausgeprägte Theorie denn als Hintergrund einer differenzierten Theorie.36 Dieser Hintergrund ist aber so elementar für eine Wissenschaft, daß er die Problemstellungen und -lösungen vorgibt und darüber hinaus sogar die Wahrnehmung von Wirklichkeit mitkonstituiert. Innerhalb eines Paradigmas kommt es nun darauf an, aufgrund der vorgegebenen Problemstellungen und -lösungen "Rätsel zu lösen" ("puzzle solving"),37 d.h. neue Problemstellungen zu bearbeiten. Dabei sind die Problemstellungen und -lösungen und die damit verbundenen Methoden nicht selbst Gegenstand kritischer Untersuchungen, sondern unhinterfragte Grundlage aller wissenschaftlichen Untersuchungen. Solange ein Paradigma für eine Wissenschaft Gültigkeit hat, spricht Kuhn von einer "normalen Wissenschaft". Wenn ein Paradigma nicht mehr trägt, an Erklärungskraft verliert, kann es zur Entwicklung einer "außerordentlichen Wissenschaft" kommen, die in Form einer Revolution ein altes durch ein neues Paradigma ersetzt,

33 34 35 36

37

Ebd., S. 25. Vgl. ebd. S. 161 u.ö. Ebd. S. 26. "Paradigmata können die normale Wissenschaft ohne Mitwirkung von angebbaren Regeln bestimmen." Ebd. S. 60. Vgl. ebd. S. 49-56.

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ein "Paradigmenwechsel" findet statt.38 Altes und neues Paradigma sind nicht miteinander vergleichbar, sind "inkommensurabel". Auch die Übernahme eines neuen Paradigmas hat wieder ein intuitives, nicht letztlich begründbares Moment, es geht hier um eine "Konversion".39 b) Ein Vorschlag für das Verständnis von Paradigma und die sich daraus ergebenden Kriterien der Klassifikation An drei Punkten erscheint mir eine Kritik an Kuhns Paradigmenbegriff notwendig: 1. Kuhns Paradigmenbegriff gibt der selbstreflexiven oder selbstreferentiellen Theoriebildung für ein Paradigma einen geringen Stellenwert. Bei ihm stellt das Paradigma eher den nicht näher spezifizierten Hintergrund einer differenzierten Theorie dar. Wenn aber nach Kuhn ein Paradigma entscheidend für die Perspektive eines Systems ist bzw. die Perspektive eines Systems die Grundlage eines Paradigmas bildet, dann kann m.E. nicht auf eine explizite, differenzierte Theoriebildung verzichtet werden, die die Grundlagen eines Systems reflektiert und analysiert.40 2. Die systemtheoretische Theoriebildung ermöglicht dann den von Kuhn so nicht für möglich gehaltenen Vergleich von verschiedenen Paradigmen, der für ein sachgemäßes Verständnis der Wirklichkeit und ihrer einzelnen Bereiche und Gegenstände unerläßlich ist. Eine systemtheoretische Theoriebildung eröffnet die Möglichkeit eines wissenschaftlichen Vergleichs unterschiedlicher Paradigmen. Das bedeutet aber nicht, daß ich damit ein intuitives Moment gerade

Vgl. zu den Bedingungen des Paradigmenwechsels ebd. S. 104-187. Zur Kritik am Paradigmenbegriff von Kuhn vgl. I.G. Barbour, Myth, Models and Paradigms: The Nature of Scientific and Religious Language; Kritik und Erkenntnisfortschritt, hg. von I. Lakatos, A. Musgrave und W. Stegmüller. In ähnlicher Richtung argumentiert auch Stegmüller, wenn er im Anschluß an Sneed von struktureller Reduktion spricht. Stegmüller geht dabei davon aus, daß eine Theorieverdrängung mit "Erkenntnisfortschritt" nur dann gegeben ist, wenn die alte Theorie strukturell auf die neue reduzierbar ist. Vgl. W. Stegmüller, Theorie und Erfahrung, 2. Halbbd.: Theoriestrukturen und Theoriedynamik, S. 144-152.

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für die Annahme eines Paradigmas, für die aber auch rational argumentiert werden kann, ausschließen möchte. 3. Über Kuhn hinausgehend gehört zu einem Paradigma weiter, daß es nicht nur eine bestimmte Sicht von Wirklichkeit, eine Perspektive beinhaltet, sondern von dieser Perspektive her auch zu einem bestimmten Umgang mit Wirklichkeit anleiten will. Diese handlungstheoretische Ebene des Paradigmenbegriffs fehlt bei Kuhn. Von dieser Kritik an Kuhn her möchte ich den Begriff "Paradigma" in dieser Arbeit auf folgende Weise näher charakterisieren: Ein Paradigma zeigt sich in der konkreten geschichtlichen Ausprägung von Systemen, die die Wirklichkeit (oder einen Bereich von Wirklichkeit) und deren Sinn zu erfassen versuchen. Die Grundlage für ein Paradigma ist in der Perspektive, der von ihr abhängigen Systemwahl, Bereichsbestimmung und Festlegung des Grundbegriffs gegeben. Als Paradigma bezeichne ich daher eine Gruppe von (Teilsystemen, die die gleiche Perspektive, den gleichen Bereich (Gegenstand), Strukturbereich und -Zusammenhang, die gleichen formalen und materialen konstitutiven ontologischen, handlungs- und erkenntnistheoretischen Elemente besitzen. Es ist aber auch denkbar, daß ein einzelnes System für sich allein genommen ein Paradigma darstellt, da es nicht anderen, bereits vorhandenen Paradigmen zugeordnet werden kann. Für Systeme, die ein Paradigma bilden, ist weiter die gleiche, d.h. innerhalb eines Spielraums bleibende, Gewichtung und Interpretation der formalen konstitutiven Elemente kennzeichnend und die damit vorgegebene Interpretation der materialen ontologischen, handlungs- und erkenntnistheoretischen Elemente. Dadurch wird sowohl die Konsistenz von einzelnen Systemen wie auch die eines Paradigmas gewährleistet. Ein so verstandener Paradigmenbegriff ermöglicht die Zuordnung von einzelnen Systemen zu einem Paradigma und die präzise Unterscheidung von Paradigmen. Dieser Paradigmenbegriff nimmt auch dem von Kuhn primär untersuchten Paradigmenwechsel das nicht rationale Moment und gibt die Möglichkeit, ihn begründet zu vollziehen bzw. nachzuvollziehen. Das bedeutet aber nicht, daß ein neues Paradigma geschichtlich nicht revolutionär wäre. Auch ein genaues und reflektiertes Verständnis von Paradigma läßt dieses nicht ohne weiteres "machbar" werden.

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Ein Paradigmenwechsel wird durch die grundsätzliche Veränderung in der Gewichtung und Interpretation von konstitutiven Elementen hervorgerufen. Eine solche grundsätzliche Veränderung beruht oft auf der Reduktion eines konstitutiven Elements. Wesentlich sind für einen Paradigmenwechsel vielfach eine veränderte Fragestellung und/oder ein veränderter Erkenntniszugang bzw. veränderte Erkenntnisabsichten und damit verbundene ontologische Gegebenheiten. Weiter zeigt sich auf der Ebene der materialen Annahmen die Unterschiedlichkeit von Paradigmen auch in der innerhalb des Spielraums eines Paradigmas eröffneten Möglichkeit, unterschiedliche, differenzierte materiale Aussagen zu machen. Werden diese Überlegungen auf das in dieser Arbeit vertretene Verständnis von Recht als Teilsystem übertragen, ergeben sich hier für die Zuordnung zu einem Paradigma und die Unterscheidung der verschiedenen Paradigmen von Recht vier Hauptkriterien: 1. Grundlegend für ein Paradigma von Recht ist die jeweilige Systemwahl, die nähere Bestimmung und Selbstreflexion des Systems. Prägend ist hierbei der Vollzug der Ortsbestimmung für das Teilsystem Recht: Recht wird in einem Paradigma als integriertes, eigenständiges oder "autopoietisches" Teilsystem verstanden.41 Von dieser Ortsbestimmung kann die jeweilige Perspektive nicht losgelöst werden bzw. bestimmt die Perspektive die Ortswahl. Daraus ergibt sich dann, ob die unter einem Paradigma subsumierten Systeme geschlossene Systeme, selbstreferentiell geschlossene Systeme oder reduktive, geschlossene Systeme sind. Durch die Systemwahl werden weiter der Bereich, die Struktur(en), die Gestalt und die Gegenstände eines Rechtssystems festgelegt. Hier vollzieht sich die explizite, selbstreflexive Theoriebildung eines Systems. Daraus folgen auch die von einem System wahrgenommenen und bearbeiteten konstitutiven Elemente. 2. Im Bereich der konstitutiven erkenntnistheoretischen Elemente ist für ein Paradigma von Recht die Wahl des Erkenntniszugangs grundlegend. So wird festgelegt, inwieweit in einem System Erkenntnis für möglich gehalten wird und auf welche Weise. Die Rolle der Vernunft für die Erkenntnis wird an dieser Stelle geklärt, ebenso 41

S. S. 22-26.

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das Verhältnis von Erkenntnis und Erfahrung. Im Zusammenhang des Erkenntniszugangs ist für das Recht die Frage der Möglichkeit der Letztbegründung von Recht aus einer vorgegebenen Größe, z.B. Wirklichkeit, Natur des Menschen, Vernunft oder göttlicher Wille von Bedeutung. Die Wahl des Erkenntniszugangs wird von den Erkenntnisabsichten eines Systems stark geleitet. Hier fallen auch die Entscheidungen über die Dialogfähigkeit eines Paradigmas und seine mögliche Kompatibilität. 3. Im Bereich der konstitutiven ontologischen Elemente ist die Frage nach dem Wesen bzw. dem Begriff42 von Recht prägend. Auch hier spielt die Frage nach der (angemessenen) Erkenntnis von dem, was Recht ist oder sein soll, eine entscheidende Rolle. Der Gegenstand und der Grundbegriff eines Systems von Recht wird festgelegt und interpretiert. Gerade an dieser Stelle hat die allgemeine Philosophiegeschichte einen grundlegenden Wandel im Verständnis von Recht bewirkt, da hier lange die Metaphysik und später die Ontologie im Zentrum des Interesses standen. 4. Handlungstheoretisch ist die Bestimmung des Normbegriffs sowie die Frage der Gewinnung von Normen für die Klassifikation von Paradigmen leitend. Jede Rechtsordnung43 kann als ein Normgefüge oder -system verstanden werden. Recht basiert auf Normen, und die umstrittene Frage, die zur Ausdifferenzierung in verschiedene Paradigmen führt, ist die nach der Normgewinnung, aber auch der Rechtfertigung von Normen. Diese vier Hauptkriterien für die Zuordnung von Rechtssystemen zu Paradigmen stehen in Korrelation zueinander und können nicht unabhängig voneinander betrachtet und gewertet werden. Die Veränderung eines dieser vier Elemente, Systemwahl, Erkenntniszugang, Wesen/Begriff von Recht oder Normbegriff bzw. -gewinnung, zieht in der Regel die Veränderung der anderen Elemente nach sich. Alle

Zur genaueren Begriffsklärung von "Wesen" und "Begriff' von Recht s. S. 142-147 und S. 160ff. Unter Rechtsordnung verstehe ich in dieser Arbeit im Unterschied zu Rechtssystemen eine geschichtlich existierende Rechtsgestalt, wie z.B. die Gesetzgebung der BRD.

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diese Elemente sind in ihrer Bedeutung für die Unterscheidung und Klassifikation von Paradigmen des Rechts gleichwertig.

2. Anwendung auf die grundlegenden Paradigmen von Recht Wenn man die verschiedenen Rechtssysteme aufgrund der vier Hauptkriterien untersucht und zu Paradigmen zu ordnen versucht, ergeben sich drei grundlegende Paradigmen von Recht: das metaphysische, natur- bzw. vernunftrechtliche Paradigma, das rechtspositivistische Paradigma und das systemtheoretische Verständnis bei N. Luhmann als Paradigma. Im Folgenden sollen diese drei Paradigmen klassifiziert und in ihrer Unterschiedlichkeit deutlich gemacht werden, bevor sie dann im nächsten Kapitel präziser entfaltet werden. a) Das metaphysische, natur- bzw. vernunftrechtliche Paradigma Dadurch, daß ich für dieses Paradigma den Namen metaphysisches, natur- bzw. vernunftrechtliches Paradigma44 gewählt habe, möchte ich zeigen, daß die metaphysischen, natur-45 und vernunftrechtlichen Teilsysteme gemeinsam zu einem Paradigma gerechnet werden können, da sie jeweils strukturell gleiche Teilsysteme von Recht ausbilden. Kennzeichnend für das metaphysische, natur- bzw. vernunftrechtliche Paradigma ist seine Bindung an ein umfassendes philosophisches Gesamtsystem, z.B. die Philosophie von Aristoteles, Piaton, W. Krawietz macht darauf aufmerksam, daß im Hinblick auf das Naturrecht der Begriff "Recht" im Vergleich mit dem positiven Recht nicht angemessen ist: Es ist beim Naturrecht "in einem umfassenden, bloß homonymen Sinne von Recht die Rede. In Wirklichkeit verbirgt sich hinter der Verwendung des Ausdrucks Recht auch für das Naturrecht oder überpositive Recht eine unzulässige Äquivokation mit dem positiven Recht". Es gibt für Krawietz aus diesem Grund nur pragmatische Gründe, den sprachgeschichtlich so eingebürgerten Begriff des Naturrechts in dieser Weise beizubehalten. S. W. Krawietz, Die Ausdifferenzierung religiösethischer, politischer und rechtlicher Grundwerte. In: Begründungen des Rechts II, hg. von K. von Bonin, S. 59. H. Welzel möchte das Naturrecht genauer in ein "ideelles" (H. Grotius) und "existentielles" (T. Hobbes) Naturrecht aufgliedern. Vgl. Ders., Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, insb. S. 108-129.

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der Stoa, Hegels oder Kants. Es erfährt seine Grundlegung in einem dieser Gesamtsysteme, in denen das Recht nur als Strukturmodell ausgebildet wird, da eine umfassende Teilsystembildung durch ein philosophisches Gesamtsystem nicht geleistet werden kann.46 Diese innerhalb eines philosophischen Gesamtsystems ausgebildeten Strukturmodelle werden dann von Juristen zu integrierten Teilsystemen ausgebaut, für die der Ursprung im und die Rückbindung an ein philosophisches Gesamtsystem charakteristisch ist. Als System wird deshalb im metaphysischen, natur- bzw. vernunftrechtlichen Paradigma das Modell des integrierten Teilsystems gewählt, wobei es genauer zu einer Zuordnung des Rechts im Rahmen des Bereichs der Ethik als Gesamtsystem kommt. Mit der Integration des Teilsystems Recht in ein philosophisches Gesamtsystem wird auch die Perspektive47 dieses Gesamtsystems übernommen. Konstitutiv für das metaphysische, natur- bzw. vernunftrechtliche Paradigma ist damit, daß Recht immer von "außerrechtlichen", d.h. im Gesamtsystem grundgelegten Gegebenheiten begründet wird, die zum Kriterium für die teilsystemspezifischen konstitutiven Elemente im formalen und materialen Bereich werden. Die Differenzierung dieses Paradigmas in metaphysische, naturbzw. vernunftrechtliche Teilsysteme erfolgt im Rahmen des Erkenntniszugangs und davon abhängig dann die Bestimmung des Wesens von Recht. Bei allen drei Teilsystemen wird die auch den philosophischen Gesamtsystemen zugrundeliegende These übernommen, daß die Wirlichkeit a se allgemein erkannt werden kann, weil der Mensch teilhat an dem ihr inhärenten Prinzip, z.B. der Welt der Ideen, dem logos bei metaphysischen Gesamtsystemen,48 der Natur49 oder der Der Grund dafür liegt in der zeitlichen Begrenztheit philosophischer Arbeit, die nicht zuletzt mit dem Anwachsen philosophischer und wissenschaftlicher Erkenntnisse eine umfassende Enzyklopädie nicht mehr erarbeiten kann. Von der theologischen Perspektive her wurde z.B. von T. von Aquin ebenfalls ein Naturrecht entwickelt, das viele Gemeinsamkeiten mit dem metaphysischen, natur- bzw. vernunftrechtlichen Paradigma aufweist, s. S. 235-239. Vgl. dazu die von W. Krawietz herausgearbeiteten "Analogien" zwischen theologisch und säkular begründetem Naturrecht. Vgl. Ders., a.a.O., S. 61. Unter Metaphysik möchte ich hier den Versuch verstehen, in einem philosophischen Gesamtsystem nicht nur die Wirklichkeit, sondern den Grund aller Dinge von Wirklichkeit zu erfassen. Was macht die Wirklichkeit zur Wirklichkeit, wovon

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Vernunft.50 Kant nimmt hier insofern eine differenzierte Zwischenstellung ein, als er eine Erkenntnis der Wirklichkeit a se als philosoist die Gestalt von Wirklichkeit abhängig. Klassisch formuliert: Diese Gesamtsysteme stellen die Frage nach dem Grund/der Grundlage des Seins, z.B. dem aller Wirklichkeit innewohnenden logos. Diese philosophischen Gesamtsysteme sind in der Neuzeit scharf kritisiert worden, es gibt aber auch in der Neuzeit Versuche, auf einer neuen Basis Metaphysik zu treiben, z.B. durch Hegel oder Heidegger. Der Begriff "Natur" wird in der Diskussion von Anfang an sehr äquivok gebraucht. Es haben sich in der Diskussion drei Grundbedeutungen durchgehalten: - Natur als Grund bzw. Grundlage von Menschen, Welt, Gegenständen, auch solchen Gegenständen, die erst von Menschen geschaffen werden. - Natur als nicht letztlich ableitbarer, unhintergehbarer und darin transzendenter Begriff. - Natur bzw. die Verwirklichung der menschlichen Natur oder ein der Natur eines Gegenstandes entsprechender Umgang als ethische Zielbestimmung von Handeln. Diese drei Grundbedeutungen werden in unterschiedlicher Weise angewandt, betont und interpretiert. Bis zum Mittelalter galt die Natur als der allen menschlichen Handlungen vorausgehende und gegenübergestellte Grundbegriff, dem zugleich die Zielbestimmung menschlichen Handelns innewohnte und von der her der Naturrechtsbegriff entwickelt wurde. Dem als vorgegeben verstandenen Naturbegriff wurden dialektisch, oft auch antithetisch, der Nomos- und der Voluntasbegriff gegenübergestellt. In der Neuzeit kommt es dann zu neuen dialektischen oder antithetischen Gegenüberstellungen von Natur und Geschichte, Natur und Vernunft, Natur und Freiheit. Der Naturbegriff wurde in der Neuzeit zum einen immer mehr auch als geschichtlich geprägter oder von der Vernunft überlagerter Begriff verstanden. Zum anderen wurde er zum Begriff für menschliche Triebe und Bedürfnisse, dem der Begriff der Ethik und der in ihr begründeten Freiheit gegenübergestellt wurden. E r wird immer mehr als ein nicht a se und immer nur geschichtlich geprägter Begriff verstanden, nicht zuletzt aufgrund des neuzeitlichen Ziels, die außermenschliche Natur zu beherrschen, was allerdings eine Rücksicht auf die "Natur" der zu beherrschenden Natur ausschloß. Einerseits wird der Naturbegriff zunehmend fraglich und auch relativierter angewandt, andererseits wird er immer dann zur Geltung gebracht, wenn es um die Freiheit und zu schützende Individualität des Einzelnen gegenüber dem Staat geht. In der Neuzeit wurde die Vorstellung von der Vernunft (im Sinne von logos) als einheitsstiftendes, die Wirklichkeit durchdringendes und ihr zugrundeliegendes Prinzip immer fraglicher. Dennoch setzte sie sich weiterhin als universale, transzendentale Bedingung der menschlichen Erkenntnis von Wirklichkeit durch, auch wenn diese Erkenntnis von Wirklichkeit in ihren Voraussetzungen und in ihrer Sprachlichkeit immer differenzierter verstanden wird. Kant verdeutlicht, daß die Erkenntnis von Wirklichkeit an sich nicht möglich ist, sondern wir immer von den menschlichen Verstehensbedingungen und ihrer geschichtlichen Geprägtheit abhängig sind. Zu beidem gehört das Vernunftvermögen. Es bildet weiterhin die

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phisch nicht länger haltbar ansieht. Er geht allerdings davon aus, daß eine allgemein gültige Selbstreflexion der Vernunft zu einem allgemein verbindlichen juridischen Imperativ führt,51 der zur Grundlage allen Rechts wird. Wenn die Wirklichkeit erkannt werden kann durch die Metaphysik, Natur oder Vernunft, kann auch das Recht, genauer sogar das richtige oder angemessene Recht, das ebenfalls teilhat am metaphysischen Prinzip, der Natur oder Vernunft, erkannt und bestimmt werden. Somit ist für die Erkenntnis eine Letztbegründung möglich, bzw. es ergibt sich ein allgemein einsehbarer Wirklichkeitszugang. Die im Hinblick auf den Erkenntniszugang bereits deutlich gewordene These von der Entsprechung von Wirklichkeit und Wirklichkeitserkenntnis, die die dem metaphysischen, natur- bzw. vernunftrechtlichen Paradigma zugrundeliegenden Gesamtsysteme prägt, ist auch konstitutiv für das Wesen von Recht. Recht als Teil von Wirklichkeit erfährt seine Wesensbestimmung durch das die Einheit der Wirklichkeit konstituierende Prinzip, sei es durch den die Wirklichkeit durchdringenden logos oder Gott, die Natur oder Vernunft. Von diesem Sein, z.B. der Natur, her kann zeit- und situationsinvariant auf ein allgemeines "Sollen" durch das Recht geschlossen werden.52 Die Normenfindung erfolgt formal durch die Vorstellung von der "Natur der Sache" oder der "Natur des Menschen" und beruht damit wiederum auf der Vorstellung von der Einheit der Wirklichkeit. Wenn alle Gegenstände und Strukturen an dieser Einheit der Wirklichkeit teilhaben, so hat das Recht der "Natur der Sache" oder der "Natur des Menschen" Rechnung zu tragen oder sie zur Geltung zu bringen. Von der Wirklichkeit, dem Sein, kann auf ein angemessenes

51 52

Grundlage des wissenschaftlichen, insbesondere des erkenntnistheoretischen Diskurses. Das Vernunftvermögen gilt als Bedingung der Möglichkeit von Argumentation, InterSubjektivität und Konsens. Der Rückgang auf die Vernunft als Instanz für Letztbegründung hat sich neuzeitlich nicht bewährt, aber die Vernunft ist unumgänglich, wenn gelingende Verständigung gedacht werden und ein intersubjektiver Konsens über die Wahrheit oder die Rechtfertigung von Normen erzielt und zur Bewährung ausgesetzt werden soll. Zu Kant s. S. 49-52. Eine ausführliche Darstellung des Wesens von Recht im metaphysischen, naturbzw. vernunftrechtlichen Paradigma erfolgt in Kap. 2, s. S. 56-63.

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Sollen geschlossen werden. 53 Material findet diese Form der Normenfindung ihren Ausdruck in der Vorstellung von zeit- und situationsinvarianten Menschenrechten.54 Im metaphysischen, natur- bzw. vernunftrechtlichen Paradigma ist es für die Systemwahl, den Erkenntniszugang, die Wesensbestimmung von Recht, die Normenfindung und ihre materiale Ausprägung in der Vorstellung von Menschenrechten zur Herausbildung von strukturell gleichen Teilsystemen gekommen. Für diese Teilsysteme ist ihre Entwicklung von einem philosophischen Gesamtsystem her und die Übernahme der in diesem System gegebenen Grundannahmen, insbesondere der These von der Entsprechung von Wirklichkeit und Wirklichkeitserkenntnis, konstitutiv. b) Das rechtspositivistische Paradigma Im Zuge der neuzeitlichen Entwicklung erfolgte aufgrund von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen die Infragestellung vieler traditioneller philosophischer Grundsätze gerade im Bereich der Erkenntnistheorie. Kant weist dann überzeugend nach, daß die lange Zeit vorherrschende, auch das metaphysische, natur- bzw. vernunftrechtliche Paradigma prägende Grundthese von der Einheit von Wirklichkeit und Wirklichkeitserkenntnis kritisch hinterfragt und schließlich widerlegt werden kann. Auch der von Kant versuchte Rückgang auf die Vernunft als allgemein gültige, Letztbegründung ermöglichende Erkenntnisquelle wird als umstritten aufgewiesen. Nach der Ablösung des metaphysischen Paradigmas in der Philosophie kommt es dann auch für das Recht als Teilsystem zu einem neuen Paradigma: Hier entsteht der Rechtspositivismus. Für alle vier Hauptkritierien, Systemwahl, Erkenntniszugang, Wesen bzw. Begriff von Recht und Normbegriff bzw. -gewinnung werden grundsätzlich neue Bestimmungen gefunden, so daß ein Paradigmenwechsel vom metaphysischen, natur- bzw. vernunftrechtlichen Paradigma zum rechtspositivistischen stattfindet. Kant nimmt hier wieder eine Sonderstellung ein, s. S. 49f. Eine ausführliche Darstellung der "Natur der Sache - Natur des Menschen" und der Menschenrechte findet sich S. 63-70.

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Im Bereich der Systemwahl wird durch das rechtspositivistische Paradigma zum einen eine eigenständige, von einem philosophischen Gesamtsystem unabhängige Ortsbestimmung vorgenommen, und zum anderen wird eine eigenständige, selbstreflexive Teilsystembildung erarbeitet. Diese eigenständige Ortsbestimmung impliziert auch die Trennung von Recht und Ethik. Recht wird als eigenständiger Gegenstand begriffen, der nicht von ethischen Normen, Werten und Zielen abhängig sein soll. Nach Meinung der Rechtspositivisten braucht der Gegenstand "Recht" deshalb eine eigenständige Systembildung, die diesem Gegenstand in spezifischer Weise gerecht wird. Recht als Teilsystem kann sich selbst konstituieren. Um Recht angemessen zu erfassen, müssen eigene, diesem Gegenstand adäquate Bestimmungen von System und konstitutiven Elementen entwickelt werden. Die Begründung für diese Annahme wird durch das für diesen Paradigmenwechsel zentrale Verständnis von Erkenntnis geleistet. In der Erkenntnistheorie wird in einem ersten Schritt die These von der Entsprechung von Wirklichkeit und Wirklichkeitserkenntnis aufgegeben und in spezifischer Weise dann der Erkenntniszugang der neuzeitlichen Naturwissenschaften aufgenommen, der vom faktisch oder positiv Vorfindlichen ausgeht. Es gibt keine vorgegebene Erkenntnisquelle für angemessene Rechtssätze im Sinne einer Orientierung am Guten. Es kann immer nur von den positiv vorgefundenen Rechtssätzen ausgegangen werden, die analysiert werden können. Großen Einfluß auf den Rechtspositivismus haben Einsichten der Analytischen Philosophie zur Sprache gefunden. Recht wird als ein nur über Sprache zugänglicher Gegenstand begriffen. Für das Wesen von Recht, wobei sich zunehmend im Rechtspositivismus der Ausdruck "Begriff von Recht" durchsetzt, wird von daher davon ausgegangen, daß dieser Begriff allein durch den Menschen konstituiert wird. Die Kriterien und Bedingungen dieser Konstitution werden dann unterschiedlich festgelegt, z.B. Macht, Sprache oder politische und gesellschaftliche Interessen. Recht wird als ein offener, sich ständig verändernder Begriff "definiert". Es gibt kein zeit- und situationsinvariantes Recht mehr.

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Handlungstheoretisch bedeutet dies, daß die Normen nicht mehr durch den Schluß vom Sein auf ein Sollen begründet werden, sondern sie werden als frei, durch den Menschen immer wieder neu zu gestaltend begriffen. Es geht nicht mehr darum, sich suchend in apriorisch vorgegebene Normen einzufügen, sondern die Normen, Werte und Ziele werden selbst festgelegt und müssen dann bewährt werden. Das Ziel von Recht ist die Funktionserfüllung und das Entwickeln eines Konsenses, um so seine gesellschaftliche Relevanz und Akzeptanz zu gewährleisten. Entscheidend ist für das rechtspositivistische Paradigma der Verzicht auf konstitutive Elemente im materialen Bereich. Recht als Teilsystem kann hier immer nur formal beschrieben werden, da die Offenheit, die Zeit- und Situationsvarianz und der notwendig gewordene Verzicht auf eine Letztbegründung von Recht eine Festlegung auf konstitutive Elemente nicht erlaubt. c) Das systemtheoretische Verständnis von Recht bei N. Luhmann als Paradigma Obwohl sowohl im rechtspositivistischen Paradigma wie bei Luhmann zentral von der positiven, faktischen Gegebenheit von Recht ausgegangen und eine spezifisch inhaltliche Grundlegung von Recht als Teilsystem für nicht möglich erachtet wird, wird doch mit dem systemtheoretischen Verständnis von Recht bei Luhmann ein neues, vom rechtspositivistischen erkennbar unterschiedenes Paradigma von Recht gebildet. Auch vom metaphysischen, natur- bzw. vernunftrechtlichen Paradigma ist das systemtheoretische Verständnis von Recht insofern unterschieden, als ein "autopoietischer" Systembegriff gewählt wird und ein grundsätzlich anderer Erkenntniszugang vorliegt. Das hat Konsequenzen für das Verständnis des Wesens und der Normen.55 Ich halte das systemtheoretische Verständnis von Recht bei Luhmann für ein Paradigma, das weder dem rechtsposivistischen noch dem metaphysischen, naturbzw. vernunftrechtliche Paradigma zugeordnet werden kann. Anders H. Alwart, Recht und Handlung, S. 11: "... die rechtsphilosophischen Theorien sind für sie (sc. die Darstellung Alwarts) entweder naturrechtliche oder rechtsposivistische tertium non daretur."

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Zwar wird hier wie beim rechtspositivistischen Paradigma eine eigenständige, d.h. "autopoietische"56 Systembildung vollzogen, jedoch gibt es hinsichtlich des Verständnisses von Eigenständigkeit bzw. Autopoiesis Unterschiede, insbesondere hinsichtlich der Ortsbestimmung der (Teil)systeme.57 Die Ortsbestimmung, bei der es bei Luhmann, wie noch zu zeigen sein wird, zu einer zumindest als Akzentverschiebung zu bezeichnenden Veränderung kommt, wird innerhalb einer umfassenden Systemtheorie58 vollzogen. Durch die Systemtheorie, die Luhmann als eine "universalistische Theorie"59 kennzeichnet, bekommt das Recht seine Funktion innerhalb der Gesellschaft zugewiesen. Die Ortsbestimmung bei Luhmann vollzieht sich im Unterschied zum rechtspositivistischen, aber auch zum metaphysischen, natur- bzw. vernunftrechtlichen Paradigma als Funktionsbestimmung innerhalb einer Theorie sozialer Systeme. Recht wird dabei dann als autopoietisches System verstanden. Es ist aber zugleich in ein Gesamtsystem integriert, da es von dort seine Funktionsbestimmung erfährt. Von diesem Gesamtsystem, d.h. der universalistischen Systemtheorie, übernimmt das System Recht die Systemwahl und den -begriff. Diesen Systembegriff und die innere Struktur des Systems, ich würde von konstitutiven Elementen sprechen, muß das System selbstreferentiell übernehmen und ausbilden und sich im Hinblick auf seine Funktion, bedingt durch die sich ständig steigernde Komplexität60, ausdifferenzieren. Diese sich ständig steigernde Ausdifferenzierung führt dazu, daß Systeme sich selbstreferentiell begründen und ihre eigene Adäquatheit überprüfen. Diese Ausdifferenzierung und die unterschiedliche Funktion innerhalb der Theorie sozialer Systeme macht eine Trennung von Recht und Ethik in jeweils eigenständige Systeme erforderlich. Dennoch ist das auto56 57

58

59 60

Zum Begriff der "Autopoiesis" s. S. llOff. Luhmann spricht in der Regel in bezug auf das Recht nur von "System", benutzt aber für dieses System in Zusammenhängen, wo es um die Unterscheidung und Zuordnung von Systemen geht, genauer den Ausdruck "Subsystem" (von Gesellschaft). Zu Luhmanns Systembegriff im Unterschied zu dem in dieser Arbeit verwandten s. S. 97-101. S. Anm. 16. Zum Begriff "Komplexität" s. S. 97f.

Systemtheoretische Klassifikation

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poietische System Recht immer in Relation zu anderen Systemen, wird von ihnen beeinflußt und grenzt sich zugleich gegen sie ab. Luhmann hat innerhalb seines systemtheoretischen Paradigmas ein eigenes Verständnis von Erkenntnis und Erkenntniszugang entfaltet.61 Er gibt die traditionelle metaphysische Fragestellung nach dem Sein, dem Wesen eines Gegenstandes und dem Woher und Warum des Seins auf. Wirklichkeit wird von ihren funktionalen Bezügen her zu erfassen versucht. Die Ausgangsposition der Systemtheorie bei Luhmann ist aus erkenntnistheoretischen Gründen nicht die Erkenntnistheorie: "Es (sc. das vorläufige Absehen) muß sich erkenntnistheoretisch rechtfertigen lassen, und es rechtfertigt sich durch die Erwartung, daß die Erkenntnis als einer ihrer Gegenstände auftauchen wird, sobald die Begrifflichkeit der Forschung ein hinreichendes Abstraktionsniveau erreicht."62 Die Erkenntnistheorie und damit umfassender die Wissenschaftstheorie ist ein selbstreferentielles autopoietisches System. Im Gegensatz zum metaphysischen, natur- bzw. vernunftrechtlichen Paradigma sieht dabei auch Luhmann die Differenz zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt als gegeben an. Ebenso gilt für Luhmann der Verzicht auf Letztbegründung. In einem selbstreferentiellen, autopoietischen System wird die Frage der Erkenntnis und damit verbunden die Systemtheorie selbst zum Erkenntnisgegenstand. Das System wird sich als Erkenntnissubjekt zugleich zum eigenen Erkenntnisobjekt. D.h. Erkenntnis wird selbstreferentiell begründet, die Kriterien für die Erkenntnis werden selbstreferentiell erarbeitet, und zugleich sind beide, die Begründung und die Kriterien, Gegenstand der Selbstreferenz, die ihrerseits begründet werden muß. Diesen Argumentationszirkel sieht Luhmann als unumgänglich an. Dabei wird die Differenz zwischen dem Gegenstand, Recht, und dem ihn beobachtenden System zur Möglichkeit von Erkenntnis durch das System: "Alle Beobachtung ist darauf angewiesen, Einheit zu erschließen; und sie muß sich dazu an Differenzen orientieren, um feststellen zu können, was etwas im UnZum Verständnis von Erkenntnis und Wissenschaftstheorie s. N. Luhmann, Selbststeuerung der Wissenschaft. In: Ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 1, S. 232-252 und Ders., Soziale Systeme, insb. S. 647-661. N. Luhmann, Soziale Systeme, S. 381.

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Systemtheoretischer Zugang zum Rechtsverständnis

terschied zum anderen ist."63 In einem selbstreferentiellen System muß der aus dem Zirkelschluß folgende regressus ad infinitum wiederum bearbeitet und an einer Stelle aufgrund von Gründen, die nie zwingend sein können, beendet werden. "Erkenntnis selbstreferentieller Systeme ist also eine emergente Realität, die sich nicht auf Merkmale zurückführen läßt, die im Objekt oder im Subjekt schon vorliegen."64 Von der Systemwahl und der Ortsbestimmung her ergibt sich für den Rechtsbegriff, daß sowohl für die Vorstellung von Recht als Struktur von Gesellschaft wie für die von Recht als autopoietischem System Funktionalität und Positivität als Charakteristika genannt werden. Es gibt keine dem Recht zugrundeliegende (materiale) Vorstellung wie im metaphysischen, natur- bzw. vernunftrechtlichen Paradigma, sondern Recht wird allein durch seine Funktionalität begründet, die zugleich sein Wesensmerkmal ist. Weil allein die Funktion zur Begründung von Recht dient, bedeutet dies, daß sich das Rechtssystem ständig weiterentwickelt, so daß eine Bindung an zeitund situationsinvariant gültige Werte nicht möglich ist. So geht Luhmann von der Positivität von Recht aus, hat aber für diese Positivität eine andere Begründung als das rechtspositivistische Paradigma. Der Ausdruck "Positivierung von Recht" zeigt an, daß sich das Recht ständig verändert, und damit produziert das System Recht ständig neues, d.h. "positives" Recht. Wenn Luhmann von Recht als einem autopoietischen System spricht, bedeutet dies für den Rechtsbegriff, daß das System selbstreferentiell den Rechtsbegriff immer neu festlegt. Zu diesem variablen Rechtsbegriff kommt es um der Funktionalität von Recht willen: Da die Gesellschaft sich ständig verändert, muß das Recht auf diese Veränderung reagieren, indem es sich selbst ebenfalls verändert. Für die Normengewinnung gilt, daß sie selbstreferentiell durch das System begründet und vollzogen wird. Auch hier ist neben der "Erwartungssicherung" die Funktionalität Kriterium. Normen sind dann "rechtliche" Normen, wenn sie mit Sanktionen verbunden sind, so daß ihre Durchsetzung erzwungen werden kann. Wenn ethische 63 64

Ebd. S. 654. Ebd. S. 658.

Systemtheoretische Klassifikation

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Normen, die grundsätzlich keine Relevanz für ein Rechtssystem haben, in ein Rechtssystem übernommen werden, werden sie damit zu rechtlichen Nonnen. Diese Übernahme ist aber keineswegs zwingend, sondern erfolgt aufgrund von im Rechtssystem selbstreferentiell festgelegten Kriterien. Wie das rechtspositivistische System verzichtet auch Luhmann, allerdings wiederum mit einer anderen Begründung, auf konstitutive Elemente im materialen Bereich. Dies ist aufgrund der Evolution, Funktionalität und Ausdifferenzierung in einem Rechtssystem s.E. nicht möglich. Charakteristisch für das systemtheoretische Verständnis von Recht bei Luhmann als Paradigma sind seine Ortsbestimmung innerhalb der Systemtheorie, sein Systembegriff und der funktionale Rechtsbegriff, der eine ständige Entwicklung von Recht mit sich bringt. Im 2. Kapitel sollen die drei jetzt aufgezeigten Paradigmen von Recht näher entfaltet werden, wobei noch einmal sichtbar wird, weshalb bis jetzt geschichtlich diese drei grundlegenden Paradigmen ausgebildet wurden.

Kapitel 2 Die drei grundlegenden Paradigmen von Recht ihre geschichtliche Explikation Nachdem im vorangegangenen Kapitel in einem ersten systemtheoretischen Zugang Recht als Teilsystem bestimmt und die grundlegenden Paradigmen von Rechtssystemen ermittelt wurden, sollen in diesem Kapitel diese grundlegenden Paradigmen in ihrer geschichtlichen Explikation dargestellt werden. Es geht bei der Darstellung der drei grundlegenden Paradigmen von Recht darum zu zeigen, wie im jeweiligen Paradigma einzelne konstitutive ontologische, erkenntnisund handlungstheoretische Elemente im systemtheoretischen, formalen und materialen Bereich bestimmt und interpretiert werden. Da es im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich ist, in alle für das jeweilige System konstitutiven Elemente einzuführen, wähle ich exemplarisch Elemente unter zwei Gesichtspunkten aus: Zum einen die für eine inhaltliche Grundlegung des Rechtsverständnisses (Kap. 3) und zum anderen die für die theologische Fragestellung relevanten Elemente.1 Unverzichtbar ist es, die Fragen nach dem Ort von Recht und nach dem in einem System entwickelten und zugrundegelegten Begriff von Recht zu untersuchen, auch um die Unterscheidung in verschiedene Paradigmen noch einmal aufzeigen zu können. Deshalb Für die Theologie ist die Frage nach der Notwendigkeit und Funktion von Recht sowie seine Begründung, von der her die Kriterien für seinen Inhalt gewonnen werden, entscheidend. In der (rechts)philosophischen und theologischen Tradition wurden unter dem Thema der "Rechtsbegründung" sowohl die für ein Rechtssystem, konstitutiven Elemente (klassische Elemente waren "Natur der Sache", Gerechtigkeit, Freiheit, Vernunft) als auch Fragen einer Ortsbestimmung im Hinblick auf die Notwendigkeit und Geltung von Recht behandelt. Hauptsächlich ging es aber um die Bestimmung des Wesens oder Seins von Recht.

Das metaphysische Paradigma

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gliedert sich die Darstellung der drei Paradigmen von Recht jeweils in folgende Schritte: - Der Ort des Rechts, insbesondere die Verhältnisbestimmung von Recht und Ethik. Kriterien für die Notwendigkeit, Angemessenheit und Geltung von Recht. - Der Begriff des Rechts (traditionell: das Wesen von Recht). - Die Interpretation konstitutiver Elemente.

§ 1 Das metaphysische, natur- bzw. vernunftrechtliche Paradigma

Nachdem im 1. Kapitel sichtbar wurde, daß die metaphysischen, natur- bzw. vernunftrechtlichen Systeme ein strukturell gleiches Paradigma ausbilden, soll nun in der Darstellung der Ortsbestimmung die Integration dieses Teilsystems in ein umfassendes philosophisches System genauer analysiert werden. Die Ortsbestimmung wie auch die Begriffsuntersuchung soll in der Regel anhand der Systeme von Piaton und Aristoteles, die in einem metaphysischen System das Strukturmodell eines Naturrechts ausprägen, des Systems von Hegel, der in einem selbstreferentiellen geschlossenen philosophischen Supersystem das Strukturmodell eines Vernunftrechts entfaltet, und des Systems von Kant, der in einem geschlossenen reduktiven System den Übergang vom Naturrecht zum Vernunftrecht grundlegt, erfolgen. Als konstitutives ontologisches Element dieses Systems im Bereich der formalen Grundlegung habe ich die "Natur der Sache - Natur des Menschen" ausgewählt. Daran kann deutlich werden, wie eine nicht genuin rechtssystemimmanente, sondern philosophische Vorstellung zur zentralen formalen Begründung von Recht wird, die dann als Grundlage und als Kriterium materialer Rechtssätze fungiert. Im Bereich der materialen Grundlegung sind die Menschenrechte in der Neuzeit zum zentralen konstitutiven handlungstheoretischen Element geworden, da von ihnen her alle Rechtssätze abgeleitet bzw. mit ihnen vereinbar sein sollen.

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Die grundlegenden Paradigmen

1. Recht als Teilsystem der Philosophie Als charakteristisch wurde für das metaphysische, natur- und vernunftrechtliche System herausgearbeitet, daß es immer als integriertes Teilsystem aufzufassen ist. So soll in diesem Abschnitt erstens geklärt werden, wo der Ort dieses integrierten Teilsystems in den jeweiligen philosophischen Konzeptionen genauer festgesetzt wird und zweitens, wie Recht und Ethos in diesen Konzeptionen einander zugeordnet und aufeinander bezogen werden. a) Der Ort des Rechts innerhalb der Philosophie In der Antike erarbeiten Piaton2 und Aristoteles3 die philosophischen Grundlagen, auf denen die Stoa dann den Naturrechtsbegriff voll zur Geltung bringen kann.4 Bei Piaton und Aristoteles ist das Recht ein integriertes Strukturmodell innerhalb eines geschlossenen Gesamtsystems. Ausgangspunkt der Philosophie Piatons ist die ethische Frage. Ein ethisch verantwortetes Handeln hat aber das Wissen um das Wahre und Gute zur Voraussetzung. Dieses Wissen um das Wahre und Gute ist dem menschlichen Erkennen nicht gegeben. In der Welt gibt es nach Piaton keine Vollkommenheit, keine Unveränderlichkeit und keine Vergänglichkeit. Dennoch basiert die Welt und alles Sein auf einer apriorisch vorgegebenen und unveränderlichen Idee, die zugleich Vollkommenheitscharakter besitzt. Diese Idee verwirklicht sich in allem Sein, aber veränderlich und unvollkommen. Alles Seiende ist deshalb auf die Verwirklichung der ihm zugrundeliegenden Idee, die Verwirklichung seiner Natur ausgerichtet. Diese Ausrichtung auf die Verwirklichung der jedem Seienden zugrundeliegenden Idee und die Verwirklichung der höchsten Idee wird im Gottesbegriff begründet: Gott ist der, in dem das Gute und die Wahrheit sowie die Einheit der Ideen manifest sind. Durch seine Seele hat der Mensch teil an der Welt der Ideen, da die menschliche Seele vor ihrer ExiVgl. Piaton, Der Staat, Sämtliche Werke Bd. IV. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik. Zur Entwicklung und Problematik des Naturrechtsbegriffs vgl. E. Wolf, Das Problem einer Naturrechtslehre.

Das metaphysische Paradigma

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stenzwerdung diese Welt der Ideen, der Natur und alles Seienden geschaut hat. Von daher strebt der Mensch immer nach der Verwirklichung der Idee des Guten in seinem ethischen Handeln und kann er auch das angemessene Ethos in der Idee des Guten erkennen. Aus der Anthropologie entwickelt Piaton das Recht als die Verwirklichung der Idee der Gerechtigkeit, die s.E. unter den menschlichen Tugenden, ebenso wie die Vernunft, eine zentrale Position einnimmt. Vernunft bedeutet das Wissen um das Wahre und Gute. Das dem Menschen gemäße Recht kann somit durch die Vernunft erkannt werden und ermöglicht ein angemessenes Handeln gemäß der ausgleichenden Gerechtigkeit. Auf dieser Idee der ausgleichenden Gerechtigkeit soll in einem Idealstaat die Rechtsordnung basieren und durch diese ausgerichtet werden. In dieser Lehre vom Idealstaat hat das Rechtssystem seinen Ort, seine Grundlegung erfährt es in der Anthropologie. Zu einem expliziten Naturrechtsbegriff kommt es bei Aristoteles. Im Unterschied zu Piaton versteht Aristoteles die Idee als immanent in den Gegenständen (dem "Seienden") und den Werten gegeben. Die Idee verwirklicht sich in den Gegenständen und Werten, die auf diese Verwirklichung hin angelegt sind. Die gesamte Wirklichkeit ist auf diesen Zweck hin ausgerichtet: teleologische Metaphysik. Die Natur stellt die vollendete Gestalt eines Gegenstandes dar. Sie zu erreichen, ist das Ziel oder der Zweck allen Daseins. Die Natur ist deshalb zugleich der höchste Wert. Naturrecht ist in diesem Sinn für Aristoteles das angemessene Recht. Der eigentliche Ort des Naturrechts bei Aristoteles befindet sich in der Ethik. Der Mensch hat auch bei ihm die Fähigkeit, das wahre Wesen, die Natur in den Gegenständen und insbesondere in der Natur des Menschen zu erkennen. Dadurch gewinnt der Mensch eine ethische Orientierung: Der Mensch erkennt, daß er ethisch lebt, wenn er gemäß der menschlichen Natur lebt. Sein Handeln soll an der Natur der Dinge und den vorgegebenen Ordnungen orientiert sein. Dem entspricht ein Handeln gemäß den Tugenden. Die zentrale Tugend ist bei Aristoteles die Gerechtigkeit, die im Recht das soziale Leben ordnet. Dabei geht es in der Entfaltung der Gerechtigkeit im

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Die grundlegenden Paradigmen

Recht als Ordnung des Staates um den Ausgleich zwischen der distributiven und der commutativen Gerechtigkeit. In der Stoa wird der Gedanke der Einheit von Wirklichkeitserkenntnis und des angemessenen Umgangs mit der Wirklichkeit im Handeln am deutlichsten entfaltet: die Vernunft bestimmt sowohl die Wirklichkeit und ihre Geschichte als auch das menschliche Handeln. Das Ziel ethischen Handelns ist es dabei, im Einklang mit der Natur der Wirklichkeit zu leben, und das dieser Natur der Wirklichkeit entsprechende Recht ist ebenfalls Ausdruck der einheitsstiftenden Vernunft. Bei G.F.W. Hegel5 ist das Recht ebenfalls ein integriertes Strukturmodell innerhalb eines geschlossenen philosophischen Gesamtsystems.6 Hegels Philosophie versucht die Wirklichkeit in ihrer geschichtlichen Entwicklung als Ganzes vom Gottesbegriff her zu denken. Gott als absolutes Subjekt ("absoluter Geist") entfaltet sich in der ihm eigenen Notwendigkeit und Freiheit so, daß er die Welt als sein Gegenüber schafft, sich selbst in die Entfremdung begibt und in der Negation der Negation die Entfremdung überwindet, indem er sie in seine geschichtliche Selbstentfaltung aufnimmt. Dialektisches Prinzip und Ziel der Geschichte ist die Einheit ("Synthesis") von Gott und Mensch im absoluten Sein. In der Wirklichkeit, die für Hegel das Vernünftige ist,7 setzt sich das Vernünftige letztlich durch.8 Die Selbstdurchsetzung des absoluten Geistes geschieht innerhalb der Geschichte in der Dialektik von Freiheit und Notwendigkeit. Auch die Ethik wird von dieser Spannung von Freiheit und Notwendigkeit bestimmt. Der Mensch handelt nur dort in Freiheit und ethisch angemessen, wo auch der andere Mensch zur Geltung kommt. Recht, verstanden als "Idee der Freiheit"9, ist Teil des objektiven Geistes und entfaltet sich im Gegenüber zum subjektiven Geist, der Moralität der Einzelnen im Fortgang der Geschichte. Die Synthese von Recht und Ethos bildet die "Sittlichkeit", als Entfaltung des 3 6 7 8 9

Vgl. G.F.W. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. Vgl. auch H. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 178. Vgl. G.W.F. Hegel, a.a.O., Vorrede, S. 14. Vgl. ebd. § 344 und 347. S. S. 58f.

Das metaphysische Paradigma

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absoluten Geistes in der Geschichte. In der dialektischen Vermittlung von Subjektivität und Objektivität, von Moralität und Recht konstituiert sich die Sittlichkeit. Die Vollendung der Sittlichkeit ist für Hegel der Staat, in dem eine Einheit der Rechte des Einzelnen und der Gemeinschaft gebildet wird. Recht hat bei Hegel so einen notwendigen Ort im Gegenüber zur Ethik in der geschichtlichen Selbstentfaltung des Geistes. I. Kant10 differenziert innerhalb seiner Überlegungen zur Praktischen Vernunft den neuzeitlichen Ansatz im Hinblick auf die Naturrechtsidee.11 Die Erkenntnistheorie Kants zeigt auf, daß wir die Wirklichkeit nie an sich (a priori) erfassen können, sondern uns die Wirklichkeit immer nur so zugänglich ist, wie wir sie uns durch unsere Verstehensbedingungen erschließen können. Wir erkennen die Wirklichkeit nie a se, sondern haben immer eine bestimmte Perspektive, unter der wir die Wirklichkeit wahrnehmen. Unsere Erkenntnis und der Gegenstand unserer Erkenntnis sind nie identisch. Es besteht eine bleibende Differenz. Dabei wird die Erkenntnis der Wirklichkeit durch die Vernunft von den allgemein gültigen, a priori gegebenen "Formen der Anschauung", den "Kategorien", die die Wahrnehmung klassifizieren, und den "Ideen" als abschließenden Prinzipien des Schließens (Mensch/"Seele" - Welt - Gott) geleitet. Diese transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit sind die Voraussetzung jeder Erkenntnis. Für die praktische Vernunft folgt daraus, daß von einem Sein nicht auf ein Sollen geschlossen werden kann.12 Die "praktische Vernunft" wird zur Grundlage der Praktischen Philosophie, der Ethik. Ziel der Argumentation Kants ist es, die Begründung dafür zu geben, daß nur aus einem Sollen selbst ein Handeln gefordert werden kann: Normen können nur durch Normen begründet werden, und nicht Vgl. insb. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781 und 1787); Ders., Kritik der praktischen Vernunft (1788) und Ders., Die Metaphysik der Sitten (1797 und 1798). Die neueste Auseinandersetzung mit Kants Rechtsphilosophie und eine Aufarbeitung des Forschungsstands bietet: G.-W. Küsters, Kants Rechtsphilosophie. Vgl. dazu R. Dreier, Zur Einheit der praktischen Philosophie Kants. Jetzt in: Ders., Recht - Moral - Ideologie, S. 286-315. Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, WA IV, S. 499 u.ö.

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Die grundlegenden Paradigmen

durch einen Gegenstand oder eine Struktur.13 Für eine materiale Ethik können deshalb nur eine formale Grundlegung und die Aufstellung formaler Grundsätze geleistet werden. Grundlegend für die Praktische Philosophie Kants ist seine Entfaltung der Freiheitsthematik: Nur wenn der Mensch als frei gedacht werden kann, kann er sich der ethischen Herausforderung, dem Sollensanspruch zu einem angemessenen Handeln stellen. Die theoretische Vernunft kann aber keinen letztgültigen Freiheitsbegriff entfalten. Es ist nicht möglich, das Gegebensein von Freiheit aufzuweisen.14 So bleibt nach Kant nur der Weg über die Selbstreflexion der Vernunft, durch die der Mensch seine Möglichkeit zur Freiheit und zum ethischen Handeln erkennen kann. In der Selbstreflexion der Vernunft erfährt der Mensch sich unter einem absoluten Sollensanspruch. Das Akzeptieren eines absoluten Sollensanspruchs eröffnet dem Menschen Freiheit, indem es ihn dazu befreit, sich nicht nur als von der Natur abhängig zu verstehen, sondern, den absoluten Sollensanspruch bejahend, sich zum Guten zu entfalten. Was das Gute aber ist, bestimmt sich ebenfalls aus dieser Selbstreflexion des Sollensanspruchs, d.h. der Bereitschaft, diesem Sollensanspruch zu entsprechen. "Der gute Wille ist... allein durch das Wollen, d.i. an sich, gut ..."15 Das schließt ein, daß der Mensch aus Pflicht, nicht aus Neigung, handelt. Kriterien seines ethischen Handelns sind die autonome, individuelle Vernunft16 und das Erstreben sowohl des individuellen als auch des allH. Kelsens Überlegungen zu einer Grundnorm, die alle anderen Normen rechtfertigt, haben hier ihre philosophische Wurzel, vgl. S. 93ff. "Man kann also einräumen, daß, wenn es für uns möglich wäre, in eines Menschen Denkungsart, so wie sie sich durch innere sowohl als äußere Handlungen zeigt, so tiefe Einsicht zu haben, daß jede, auch die mindeste Triebfeder dazu uns bekannt würde, imgleichen alle auf diese wirkende äußere Veranlassungen, man eines Menschen Verhalten auf die Zukunft mit Gewißheit, so wie eine Mondoder Sonnenfinsternis, ausrechnen könnte, und dennoch dabei behaupten, daß der Mensch frei sei." I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, WA VI, S. 225. Vgl. weiter Ders., Kritik der reinen Vernunft, WA IV, S. 493f. und 499f. I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785 und 1786), WA VI, S. 19. Vgl. zu diesem Argumentationsgang insb. ebd. S. 18-102. Autonom ist die individuelle Vernunft insofern, als der Mensch alle an ihn herangetragenen Handlungsaufforderungen, auch die der Gesetze, vor seinem eigenen

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gemeinen Guten. Die Konsequenz daraus ist der "kategorische Imperativ", den Kant zugleich als "moralisches Gesetz" versteht, als oberstes Handlungsprinzip: "Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne."17 In der formalen Grundlegung der Praktischen Philosophie kommt es auch zur Ortsbestimmung von Recht, indem Kant die Praktische Philosophie in eine Rechts- und Tugendlehre aufgliedert. Tugend steht hier für Ethos. Die Klammer zwischen Rechts- und Tugendlehre bildet der kategorische Imperativ, der von Kant sowohl als Moral- wie auch als Rechtsprinzip interpretiert wird. Die Unterscheidung von Recht und Tugend bewirkt auch eine erste ansatzweise Trennung von Recht und Ethos. Die Unterscheidung und Trennung von Recht und Ethos ist notwendig, weil die grundsätzlich jedem Individuum zugestandene Handlungsfreiheit zu verantwortlichem ethischen Handeln mit der der anderen Individuen ausgeglichen werden muß. Dies macht eine durch das Recht garantierte Begrenzung der Freiheit des Einzelnen zugunsten der der anderen und umgekehrt erforderlich.18 Das Recht dient dem Schutz der Freiheit des Einzelnen vor Eingriffen aufgrund der Freiheit des anderen, so daß sein Charakteristikum "Zwang", und nicht innere ethische Einsicht, Tugend, ist. Diese äußere Gewährung von Freiheit durch das Recht ist für das Ethos, das tugendhafte Handeln, unverzichtbar. Der moralische Imperativ ist zugleich der rechtliche Imperativ, da nur aus dem moralischen Imperativ der Begriff des Rechts entwickelt werden kann.19 Moral versteht Kant zum einen als zeit- und situationsinvariant, durch den kategorischen Imperativ unverändert bleibend. Es kann zum anderen aufgrund anthropologischer Grundgegebenheiten zu keiner Steigerung der Qualität von Moral in der Geschichte und Gesellschaft kommen, nur zu Annäherungen in unterschiedlichen Graden an den kategorischen Imperativ. Demgegenüber kann im Lauf

17 18 19

Gewissen prüfen und dann autonom und in Freiheit entscheiden soll, was das angemessene Handeln, das "Gute", ist. Ders., Kritik der praktischen Vernunft, WA VI, S. 140. Vgl. z.B. Ders., Die Metaphysik der Sitten, WA VII, S. 338-347. Vgl. ebd. S. 347.

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der Geschichte eine zunehmende Verrechtlichung aller Bereiche menschlichen Lebens stattfinden, ohne daß eine grundsätzliche qualitative Steigerung von Recht erfolgt.20 Ziel der Geschichte bei Kant ist deshalb der Völkerbund, der allen Staaten und Menschen ein auf dem rechtlichen Imperativ basierendes Recht garantiert und so z.B. Frieden in allen Bereichen ermöglicht. So sind bei Kant Recht und Ethos funktional getrennt und zugleich einander zugeordnet, indem von der Ethik her die Orts- und Begriffsbestimmung von Recht erfolgt. Die Ausführungen Kants und Hegels trugen wirkungsgeschichtlich zum einen mit zur Entwicklung des Rechtspositivismus bei, der in der Neuzeit zum vorherrschenden Rechtssystem wurde. Zum anderen wurde auf ihre Überlegungen, aber auch auf die "materiale Werteethik" von M. Scheler und N. Hartmann zurückgegriffen, um nach dem Zweiten Weltkrieg den Natur- bzw. Vernunftrechtsgedanken erneut zu begründen. Denn die geschichtlichen Erfahrungen im Dritten Reich und im Zweiten Weltkrieg haben zu einer Wiederentdekkung des Natur- bzw. Vernunftrechtsgedankens insofern geführt, als für das Recht die Frage der ethischen Legitimität als Kriterium wieder eingeführt wurde. Auf eine Darstellung dieser Positionen muß hier verzichtet werden, zumal keine grundsätzlich neuen Konzeptionen zur Begründung von Natur- oder Vernunftrecht entwickelt wurden.21 Für das metaphysische, natur- und vernunftrechtliche Paradigma ist seine Ortsbestimmung innerhalb eines philosophischen GesamtsyVgl. Ders., Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, WA IX, S. 33-50. "Man kann die Geschichte der Menschengattung im großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine innerlich und, zu diesem Zwecke, auch äußerlich - vollkommene Staatsverfassung zu Stande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem sie alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann." Ebd. S. 45. Vgl. H. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie; H. Welzel, a.a.O.; A. Kaufmann, Rechtsphilosophie im Wandel. Manifest wurde die Abkehr vom Rechtspositivismus nach dem Zweiten Weltkrieg in der Person G. Radbruchs, der sogar so weit ging, Recht als 'Teil der Schöpfungsordnung Gottes" zu begreifen, s. Ders., Erste Stellungnahme nach dem Zusammenbruch 1945. Jetzt in: Ders., Der Mensch im Recht, S. 108. Vgl. weiter Ders., Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht. Jetzt in: Ders., Rechtsphilosophie, S. 339-350.

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stems kennzeichnend und prägend. Damit hängt es allerdings auch von der Bewährung der Prämissen und der konsistenten Durchführung dieses Systems als Ganzem ab. Charakteristisch für geschlossene (Super)systeme, aber auch für das reduktive System von Kant ist, daß eine Kritik an einzelnen Punkten, z.B. des Verständnisses von Recht, nicht möglich ist, da diese systemimmanent aufgelöst oder integriert werden kann, so daß auch einzelne Elemente oder Strukturmodelle nur im Rahmen einer Kritik des gesamten Systems mitbeurteilt werden können. Bei der Bewertung dieses Rechtssystems geht es aufgrund seiner Ortsbestimmung also immer auch um die Bewertung des philosophischen Gesamtsystems. b) Die Zuordnung von Recht zur Ethik Die Zuordnung von Recht zur Ethik basiert primär auf der allen diesen philosophischen Gesamtsystemen eigenen These, daß die Wirklichkeit, das ihr zugrundeliegende Prinzip, ihre Natur oder die sie durchdringende Vernunft allgemein einsichtig erkannt werden kann und sich von daher ein ethisch angemessenes Handeln ableiten läßt. So wird zum einen entweder die Einheit von theoretischer/instrumenteller und praktischer Vernunft gedacht, zum anderen die Verwirklichung der Natur des Menschen oder der Natur der Sache in einem ihr gemäßen Handeln gesehen. In dieser Einheit von Wirklichkeit und Wirklichkeitserkenntnis, die ein angemessenes Handeln einschließt, erhält das Recht seinen Ort und seine Begründung. Aus der Ortsbestimmung geht bereits die enge Zuordnung von Recht zur Ethik bei metaphysischen, natur- bzw. vernunftrechtlichen Systemen hervor. Die natur- bzw. vernunftrechtlichen Teilsysteme sind meist fest verankert in einem umfassenden philosophischen Gesamtsystem, wobei Recht als Teilsystem nicht autonom und selbständig, sondern in unterschiedlich starker Weise an das Gesamtsystem rückgebunden ist.22 Von daher wird in diesen Systemen Recht immer als von ethischen Normen, Werten und Zielen abhängig verstanden. In diesem Zusammenhang muß darauf hingewiesen werden, daß eine Unterscheidung in Erkenntnistheorie, Philosophie, Praktische Philosophie/Ethik sich erst im Verlauf der Neuzeit durchgesetzt hat.

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Die grundlegenden Paradigmen

Recht erhält durch das philosophische Gesamtsystem seinen Ort, seine Begründung und insbesondere seine Legitimation und kann nur im Rückgriff auf dessen ethische Werte, Normen und Ziele gerechtfertigt werden bzw. sich rechtfertigen. Zentrale ethische Norm, die zum Kriterium für das Recht wird, ist seit der Antike die Gerechtigkeit. Auch mit der Entwicklung der Menschenrechtsidee wird der Versuch unternommen, das Recht von gewonnenen ethischen Einsichten her zu bestimmen. Dies gelang gerade in den Ländern (Frankreich und USA), die zu damit eng verbundenen demokratischen Staatsformen übergingen. Diese demokratischen Staatsformen bilden bis heute eine Grundlage dafür, daß ethische Vorstellungen einer Gesellschaft mehr oder weniger stark in das Recht einfließen können, da die Legislative bei den mehrheitlich gewählten Mandatsträgern eines Staates liegt. Bei den bis dahin bestehenden monarchischen oder aristokratischen Staatsformen war dies nur im Maße der individuellen ethischen Überzeugungen des Herrschers bzw. der Herrschenden möglich. So führt die Entwicklung von demokratischen Staatsformen in der Neuzeit dazu, daß die von ethischen Normen und Werten geleitete Menschenrechtsidee auf dem Hintergrund der Entdeckung eines Naturrechts immer mehr Einfluß auf die einzelnen Gesetzeskodizes nimmt. Die Korrelation von Recht und Ethik in metaphysischen, naturbzw. vernunftrechtlichen Systemen kann als eine doppelt funktionale definiert werden: Die Ethik hat eine in sich zu differenzierende Funktion für das Recht und das Recht eine ebenfalls in sich zu differenzierende Funktion für die Ethik: 1. Die Grundfunktion, die die Ethik für das Recht übernimmt, ist die, daß erstens sie die "Richtung und Linie"23 für die Interpretation von konstitutiven Elementen des Teilsystems Recht bestimmt. Somit nimmt sie entscheidenden Einfluß auf die Konstitution und Begriffsbestimmung des Teilsystems - sie "begründet" es.24 Die Metaphysik, Ich übernehme den Ausdruck "Richtung und Linie" hier von K. Barth, s. S. 259. Hier hat der verständlicherweise in der Theologie so entscheidende Terminus der "Begründung von Recht" seinen Ort. Das rechtspositivistische System ist im Gegensatz dazu dadurch charakterisiert, daß es darauf verzichtet, Recht zu begrUn-

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die Natur oder Vernunft werden zur Grundlage und zum Kriterium von Recht. Zweitens begründet die Ethik den Ort des Rechts innerhalb des philosophischen Gesamtsystems (und des ethischen Systems). Weiter nimmt die Ethik auf die Inhalte des Rechts im Sinne von Normen, Werten und Zielen Einfluß und legitimiert es in zweifacher Hinsicht: Die Ethik legitimiert das Recht als Teilsystem, und sie legitimiert seine Inhalte dadurch, daß sie z.B. als vernünftig ausgewiesen werden. Die Grundfunktion der Ethik für das Recht, die Festsetzung der "Richtung und Linie" der konstitutiven Elemente, läßt sich in vier Funktionen näher differenzieren: Begründung, Ortsbestimmung, inhaltliche Grundlegung und Legitimation - aufgrund von metaphysischen Grundsätzen oder der Übereinstimmung mit der Natur oder Vernunft. 2. Die Grundfunktion, die das Recht für die Ethik in diesen Systemen leistet, besteht darin, die Funktion und Wirksamkeit von Ethos in einer Gesellschaft in einem (Mindest)maß zu gewährleisten. Recht hat die Funktion, dafür zu sorgen, daß ein Daseins- und Handlungsrahmen jedem Menschen in einer Gesellschaft eröffnet und gewährleistet wird. Die jeweilige Gestalt dieses Daseins- und Handlungsrahmens wird dabei von der Ethik grundsätzlich ausgeprägt, und er soll den Raum für weiteres ethisches Handeln bereitstellen. Die Grundfunktion des Rechts besteht in der Eröffnung, Gewährleistung und Durchsetzung eines ethisch geprägten Daseins- und Handlungsrahmens in einer Gesellschaft. Als Ergebnis können wir festhalten: Im metaphysischen, natur- bzw. vernunftrechtlichen Paradigma wird von der Einheit von Wirklichkeit und Wirklichkeitserkenntnis ausgegangen, die das Wissen um ein der Wirklichkeit entsprechendes und damit ethisch verantwortbares Handeln mitumfaßt, und in der Recht seinen Ort innerhalb der Ethik erhält. Mit der Ortsbestimmung wird zugleich die ethische Legitimation verbunden, von beidem kann sich das Recht nicht lösen, ohne diese philosophische Gesamtkonzeption in Frage zu stellen bzw. die konstitutiven Elemente dieser Konzeption paradigmatisch zu verändern. Hier, in der engen Zuordnung von den. Für N. Luhmann könnte man bedingt von einer funktionalen Begründung des Teilsystems Recht in seiner Supertheorie sprechen, s. S. 98ff.

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Die grundlegenden Paradigmen

Recht zur Ethik, stellt sich folglich noch einmal wie bei der Ortsbestimmung die Frage, ob die durch die Ethik dem Recht gegebenen Grundlagen und Kriterien angemessen sind bzw. ob das philosophische Gesamtsystem als Ganzes zu bewähren ist. Es wird weiter zu prüfen sein, ob das Recht als Teilsystem hier eigenständig genug gedacht wird.

2. Der metaphysische, natur- bzw. vernunftrechtliche Begriff des Rechts Im metaphysischen, natur- bzw. vernunftrechtlichen Paradigma wird der Versuch unternommen, das Recht aus einem ihm vorgegebenen Gegenstand zu begründen, seine Angemessenheit und seine Kriterien zu legitimieren. Der Begriff Recht wird deshalb von einem vorgegebenen Gegenstand und dessen Begriff her definiert, wie z.B. durch den Begriff Naturrecht, der zur Grundlage des Rechtsbegriffs gemacht wird. Das Ziel dieses Paradigmas ist die Erfassung und Bearbeitung dieser Begründung von Recht, die das Wesen von Recht konstituiert.25 Während Recht im metaphysisch orientierten System als Teil des die gesamte Wirklichkeit durchdringenden logos oder Gottes begriffen wird, wird es demgegenüber im natur- bzw. vernunftrechtlich orientierten System nur bedingt als Teil des die Schöpfung durchwaltenden Willens Gottes verstanden. Für die Ausbildung des Rechtsbegriffs ist es innerhalb dieses metaphysischen, naturbzw. vernunftrechtlichen Paradigmas prägend, ob das Rechtssystem einem geschlossenen oder reduktiven System zuzuordnen ist. DesA. Kaufmann stellt die These auf, daß naturrechtliche oder vernunftrechtliche Systeme letztlich nur vom Begriff des Staunens her erfaßt werden können: "Auch eine objektivistische Rechtsphilosophie nimmt vom Staunen ihren Ausgang, von dem Staunen darüber, daß das Sein von Ursprung an Ordnung und Gestalt in sich birgt, daß es eine 'naturhafte' Ordnung der Dinge und Verhältnisse gibt, daß überall, wo Menschen in einer Gemeinschaft zusammenleben, ursprungshaft auch schon das Recht da ist. Wer nie von dem Erstaunen über die dem Sein selbst innewohnenden Gesetze der menschlichen Gesittung erfaßt wurde, wird die Naturrechtsfrage niemals begreifen." Ders., Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtsdogmatik. In: Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, hg. von Ders. und W. Hassemer, S. 13.

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halb sollen, wie bei der Ortsbestimmung von Recht, die Systeme der Stoa, von Hegel und die neuzeitliche Entwicklung bis Kant dargestellt werden. a) Stoa In der Stoa wird die gesamte Wirklichkeit als vom logos bestimmt und durchdrungen gedacht. Weil der Mensch als Teil der Wirklichkeit Anteil am logos hat, kann er die Wirklichkeit erkennen und sein Handeln an der Wirklichkeit ausrichten. Die Vernunft des Menschen ist identisch mit der Natur (der Wirklichkeit). Der logos als das die Wirklichkeit bestimmende und sie durchdringende Prinzip ist zugleich logos im Sinne von Naturrecht. "Lex est ratio summa insita in natura." (Cicero)26 Das Naturrecht kommt in dem vernünftigen, d.h. der Natur des Menschen entsprechenden Recht zum Ausdruck.27 So wird in der Stoa in einer Verbindung von Wirklichkeit und Vernunft, die durch die Klammer der Natur des Menschen verbunden werden, der Rechtsbegriff gebildet. b) G.W.F. Hegel Im Unterschied zur traditionellen Metaphysik, wie sie z.B. die Stoa vertritt, fragt Hegel28 nicht nach dem zeit- und situationsinvarianten Wesen von Recht, sondern nach seiner geschichtlichen Gestalt.29 Gemeinsam mit der Stoa ist ihm der Gedanke der Vernunft als dem die Wirklichkeit durchdringenden Prinzip. Hegel entwickelt das Recht konsistent als ein Teilsysem seines philosophischen Gesamtsystems.30 Er versucht, in seine philosophische Grundthese von der Geschichte als Selbstentfaltung des Geistes das Recht zu integrieren, indem er Recht als Form des objektiven Geistes gegenüber der Moralität als Form des subjektiven Geistes versteht, durch die hindurch 26 27

28 29

30

Zit. nach R. Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 94. Bereits in der Stoa findet sich die im Mittelalter wieder aufgenommene Dreiteilung des Rechts: lex aeterna, lex naturalis und lex temporalis/humana. Vgl. G.W.F. Hegel, a.a.O. Damit versucht Hegel der von Kant (s.u.) vertretenen Abwertung des Naturrechts zugunsten eines Vernunftrechts entgegenzuwirken. Vgl. G.W.F. Hegel, a.a.O., § 2.

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Die grundlegenden Paradigmen

der absolute Geist stufenweise zu seiner Vollendung in der Sittlichkeit kommt. "Die philosophische Rechtswissenschaft hat die Idee des Rechts, den Begriff des Rechts und dessen Verwirklichung zum Gegenstande."31 Das Recht hat somit Teil an der Dialektik als Prinzip von Wirklichkeit, die sich hin auf die letzte Synthese von objektivem und subjektivem Geist in der Geschichte entwickelt. Die Entwicklung von Recht und Geschichte verläuft parallel.32 In dieser Synthese entfaltet sich dann auch die höchste Form von Recht, das absolute Recht. Die Idee des Rechts ist Freiheit, so daß das Recht der Weg zur Freiheit ist insofern, als es der Willkür Grenzen setzt 33 Das Rechtssystem ist das "Reich der verwirklichten Freiheit"34: "Dies, daß ein Dasein überhaupt Dasein des freien Willens ist, ist das Recht. - Es ist somit überhaupt die Freiheit, als Idee."35 Die Freiheit des Willens kann nur eine vernunftbestimmte sein, um wirklich Freiheit zu sein. Den individuellen freien und vernünftigen Willen versteht Hegel als identisch mit den Bestimmungen des objektiven Rechts, insoweit als dieses ebenfalls vernünftig ist. Kriterium für wahres Recht, "Recht an sich", ist, inwieweit es in ihm zur Verwirklichung der Vernunft des Geistes kommt. Ist dies nicht der Fall, dann ist empirisches Recht nur positives Recht, das es so zu verbessern gilt, daß sich in ihm die Vernunft und die Freiheit entfalten können.36 Die Freiheit verwirklicht sich im Recht in drei Stufen, von der Legalität über die Moralität zur Sittlichkeit. Die Legalität wird durch das abstrakte Recht37 gekennzeichnet, in dem der Einzelne als Person durch das Recht anerkannt und geschützt wird.38 Das abstrakte Recht umfaßt das Eigen31 32 33

34 35 36

37 38

Ebd. § 1. Vgl. ebd. § 1, § 32 Zusatz. "Die Idee des Rechts ist die Freiheit, und um wahrhaft aufgefaßt zu werden, muß sie in ihrem Begriff und in dessen Dasein zu erkennen sein." Ebd. § 1 Zusatz. Ebd. § 4. Ebd. § 29. Damit kommt es bei Hegel nicht zu der für andere natur- oder vernunftrechtliche Systeme charakteristischen Gegenübersetzung von positivem und Naturrecht als idealem Recht, sondern das wirkliche Recht ist immer Element positiven Rechts und kann auch als solches nur erkannt werden. Vgl. ebd. Vorrede, S. 15. Vgl. ebd. § 34-104. Vgl. ebd. § 36.

Das metaphysische Paradigma

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tums-, Vertrags- und Teile des Strafrechts. Auf der Stufe der Moralität39 wird der einzelne als moralische Person durch das Recht anerkannt und geschützt, wozu auch wieder Teile des Strafrechts (Sühnefähigkeit) oder die Gewissensfreiheit gehören. Die Stufe der Sittlichkeit40 geht über das Recht des Einzelnen hinaus auf die Pflichten und die Sorge für das Wohl anderer Menschen und der gesamten Gesellschaft (Staatsrecht). Sittlichkeit wird aus der Synthese von Recht und Ethik gebildet41 in Familie, Staat und Gesellschaft. Der Staat ist die letzte und vollendete Verwirklichung der Freiheit.42 "Der Staat an und für sich ist das sittliche Ganze, die Verwirklichung der Freiheit, und es ist absoluter Zweck der Vernunft, daß die Freiheit wirklich sei."43 Es kommt im Staat zu einer Synthese von individuellen "subjektiven" und "objektiven", für die Gemeinschaft zu erbringenden Pflichten, zu einer Synthese von Einzel- und Allgemeininteresse. c) Die neuzeitliche Entwicklung bis I. Kant Während im Mittelalter das metaphysische Rechtssystem vorherrschend ist und dem Naturrecht darin ein Ort zugewiesen wird, kommt es, ausgelöst auch durch die Reformation, im Zuge der neuzeitlichen Entwicklung zu einer zunehmenden Säkularisierung des Rechtssystems. Dabei erfolgt zuerst eine Ausbildung eines säkularen Naturrechts, später eines Vernunftrechts. Der Vernunftbegriff erfährt im Laufe dieser Entwicklung eine Bedeutungsverschiebung, indem der Gedanke eines die Wirklichkeit durchdringenden logos, an dem der Mensch durch seine Vernunft Anteil hat, aufgegeben wird. Vernunft wird zu einem allen Menschen gemeinsamen Erkenntnisbegriff, durch den der Mensch Gott, die Wirklichkeit und sich selbst begreifen kann. Die ratio wird insbesondere zum Instrument naturwissenschaftlicher Erkenntnis.

39 40 41 42 43

Vgl. ebd. § 105-141. Vgl. ebd. § 142-360. S. S. 48f. Vgl. G.W. Hegel, a.a.O., § 260. Ebd. § 258 Zusatz.

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Die grundlegenden Paradigmen

Ein erster Vertreter einer neuzeitlichen Naturrechtslehre ist T. Hobbes,44 der von der Natur des Menschen ausgeht. Das Ziel Hobbes' ist es, von daher eine positive Gesetzgebung aufzubauen und nicht, wie es bei anderen Natur- oder Vernunftrechtslehren oft der Fall ist, dem positiven ein ideales Recht gegenüberzustellen. Nach Hobbes muß das positive Recht der Natur des Menschen Rechnung tragen, um seine Schutz- und Friedensfunktion in der Gesellschaft und zwischen den Staaten erfüllen zu können. ff Grotius45 verbindet in seinem Rechtsverständnis natur- und vernunftrechtliche Elemente, wobei die vernunftrechtlichen den naturrechtlichen Elementen übergeordnet werden. Der "Konsens aller" ermöglicht die Erkenntnis von Natur- und Vernunftrecht. Den "Konsens aller" findet er in der menschlichen Geschichte aufbewahrt, was zu einer Fülle von materialen Natur- und Vernunftrechtssätzen in seinen Schriften führt. Das umfassendste naturrechtliche System entwirft S. Pufendorf.46 Im Gegensatz zu Hobbes, der die Natur des Menschen von einer naturwissenschaftlich und soziologisch ausgerichteten Anthropologie bestimmt, definiert Pufendorf die Natur des Menschen von einer ethisch orientierten Anthropologie her. Entscheidend ist für ihn der Wille, auf dem eine Handlung beruht. Die Erkenntnis der Natur des Menschen gewinnt er durch Beobachtung und Erfahrung. Grundlage allen Naturrechts bildet die Angewiesenheit des Menschen auf Gemeinschaft. Zu grundlegenden, materialen Naturrechtssätzen werden die Freiheit des Einzelnen und die Gleichheit aller Menschen erklärt. Diese Überlegungen haben wesentlich zur Entstehung der Idee der Menschenrechte beigetragen. Innerhalb eines geschlossenen, reduktiven philosophischen Gesamtsystems erfolgt bei Kant47 der Übergang vom Naturrecht zum Vernunftrecht, zugleich werden die philosophischen Grundlagen für das rechtspositivistische System gelegt. Nachdem der Schluß von

44 45 46 47

Vgl. die Darstellung bei H. Welzel, a.a.O., S. 114-123. Vgl. ebd. S. 123-129. Vgl. ebd. S. 130-144. Zur Literatur vgl. Anm. 10.

Das metaphysische Paradigma

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einem Sein auf ein Sollen nach Kant nicht vollzogen werden kann,48 dienen die "praktische Vernunft" und die menschliche Freiheit aufgrund ihrer Verallgemeinerungsfähigkeit zur formalen Begründung des Rechtsbegriffs,49 eine materiale Begründung ist im System Kants nicht denkbar.50 Die Erkenntnis, daß von einem Sein, einer Natur nicht auf ein Sollen, ein Naturgesetz geschlossen werden kann, führt zu einer Ablehnung des Naturrechtsgedankens durch Kant. An dessen Stelle tritt ein ausgeprägtes Vernunftrecht. In der Untersuchung der Ortsbestimmung des Rechts bei Kant wurde deutlich, daß das Recht aus dem ethischen Grundgedanken der individuellen Freiheit des Menschen, die auf die Verwirklichung des Guten zielt, formal begründet wird.51 Recht wird zur "... Einschränkung der Freiheit eines jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit von jedermann, in so fern diese nach einem allgemeinen Gesetze möglich ist ..."52 oder zum "...Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann"53. Recht wird bei Kant zum freiheitsregulierenden Prinzip: Es gewährleistet die Freiheit des Einzelnen gegenüber der Freiheit des anderen. Von daher gehören bei Kant das Recht und das Recht zur Sanktion unverzichtbar zusammen.54 Das formale Kriterium von Recht wie von Ethos ist der kategorische Imperativ 55 Das, was moralisch geboten ist, soll auch vom Recht her geboten sein. Kant leistet eine Verknüp48 49

50

51

52

53 54 55

S. S. 49f. Recht kann aufgrund des Freiheitsbegriffs durch die Formen der Anschauung a priori erfaßt werden. Vgl. I. Kant, Metaphysik der Sitten, WA VII, S. 340. Vgl. Ders., Kritik der praktischen Vernunft, WA VI, S. 135-142. "Reine Vernunft ist für sich allein praktisch, und gibt (dem Menschen) ein allgemeines Gesetz, welches wir das Sittengesetz nennen." Ebd. S. 142. Weil I. Kant eine Begründung durch die Vernunft und das formale Prinzip des kategorischen Imperativs für sinnvoll erachtet, wehrt er sich gegen einen einfachen Rechtspositivismus. I. Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793), WA IX, S. 144. Ders., Die Metaphysik der Sitten, WA VII, S. 337. Vgl. ebd. S. 339f. Vgl. Ders., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, WA VI, S. 33-74.

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Die grundlegenden Paradigmen

fung des kategorischen Imperativs mit dem Naturrechtsgedanken: "Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte."56 Das oberste Rechtsprinzip Kants lautet dann: "... handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne ..."57 Innerhalb der Gesetzgebung selbst unterscheidet Kant eine rein "juridische", das äußere Verhalten und die Handlungen des Menschen bestimmende und eine rein "ethische", die Tugend und die Moralvorstellungen bestimmende sowie auch das innere Verhalten prägende und den Menschen in seinem Gewissen die das äußere Handeln betreffenden Gesetze bejahen lassende Gesetzgebung. Insgesamt gilt für das metaphysische, natur- bzw. vernunftrechtliche Paradigma, daß erstens die These von der metaphysischen Einheit der Wirklichkeit, von der Natur des Menschen oder der Vernunft, die alle Menschen zu gleichen Erkenntnissen und Einsichten befähigt, für die Vorstellung eines metaphysischen Natur- oder Vernunftrechts konstitutiv ist. Das Recht hat teil an dem die Wirklichkeit durchdringenden Prinzip, dem Willen Gottes bzw. der die Wirklichkeit oder die Menschheit strukturierenden "Natur", oder an der allen Menschen oder der Wirklichkeit inhärenten Vernunft. Dem Gegenstand ("Sein"), der Wirklichkeit, der Natur des Menschen oder der Vernunft sind zweitens die Vorstellungen und die Kriterien eines angemessenen Rechts ("Sollen") inhärent. Für den metaphysischen, natur- bzw. vernunftrechtlichen Rechtsbegriff ist drittens konstitutiv, daß von einem Gegenstand, der Wirklichkeit, der Natur des Menschen oder der Vernunft her die für ein Rechtssystem konstitutiven Elemente deduziert werden können. In der Geschichte des metaphysischen, natur- bzw. vernunftrechtlichen Systems wird aber sichtbar, daß aus demselben Gegenstand, z.B. der Wirklichkeit, sehr unterschiedliche Rechtssätze abgeleitet werden, da der Gegenstand selbst unterschiedlich definiert wird.58 Der unterschiedlichen Definition des 56 57 58

Ebd. S. 51. Ders., Die Metaphysik der Sitten, WA VII, S. 338. E. Wolf, a.a.O., versucht nachzuweisen, daß die Naturrechtslehren einen einheitlichen Grundgehalt trotz hoher Variabilität besitzen: die "Intention, das eigentli-

Das metaphysische Paradigma

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Gegenstandes korrespondiert immer auch eine unterschiedliche Bestimmung des Rechtsbegriffs. Charakteristisch für die meisten Naturund Vernunftrechtslehren ist,59 daß das Recht hier als zeit- und situationsinvariant existierend gedacht wird. Es soll in jeder geschichtlichen Situation gleichermaßen zur Geltung gebracht werden und gültig sein, ohne selbst ein geschichtliches Moment zu besitzen. Das Recht wird von diesem System unter Ausblendung der geschichtlichen Situation festgelegt.60 Deshalb steht das metaphysische, naturbzw. vernunftrechtliche System dem geschichtlichen, positiven Recht zumeist kritisch gegenüber.61 Das metaphysische Natur- oder Vernunftrecht wird als ideales Recht gekennzeichnet, das für das positive Recht zum einen eine kritisch korrigierende und zum anderen eine unbedingt orientierende Funktion besitzt.62

3. Die Natur der Sache - die Natur des Menschen Die Behauptung über die Existenz einer "Natur der Sache" oder "Natur des Menschen" ist eine logische Konsequenz aus den Begriffsbestimmungen zum Recht innerhalb des metaphysischen, natur- bzw. vernunftrechtlichen Paradigmas. Wie bei der Begriffsbestimmung basiert die Rede von der "Natur der Sache" oder der "Natur des Menschen" auf dem Gedanken einer Einheit der Wirklichkeit, die durch ein metaphysisches Prinzip, die Natur oder Vernunft, gegeben ist. Alle Gegenstände und Strukturen werden als Teil der Wirklichkeit von diesem metaphysischen Prinzip, der Natur oder Vernunft, her

59 60 61

62

che Recht als eigentliche Natur zu erschließen." Ebd. S. 195. Vgl. dazu insb. S. 193-201. Eine Ausnahme ist Hegel, s. S. 57ff. Vgl. H. Welzel, a.a.O., S. 115. H. Coing versucht demgegenüber das Naturrecht als bleibendes Element von positivem, dem geschichtlichen Wandel unterworfenen Recht zu verstehen. Dies kann wiederum dazu führen, daß sich die Erkenntnis dessen, was Naturrecht ausmacht, geschichtlich verändert. Vgl. Ders., Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 202-215. Schon Thomasius erkannte, daß das Naturrecht kein Recht im eigentlichen Sinne, sondern nur ein "ideell-normatives Element" von Recht sei. Vgl. H. Welzel, a.a.O., S. 165.

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Die grundlegenden Paradigmen

gestaltet. Dies gilt auch für das Recht: Das Recht muß die "Natur der Sache" oder die "Natur des Menschen" zur Geltung bringen. Die Vorstellung von einer "Natur der Sache" oder einer "Natur des Menschen" als einer Grundlage oder Quelle des naturrechtlichen Systems ist der Sache nach schon bei Piaton gegeben. Zum Terminus "Natur der Sache" und zu einer eigenständigen rechtsphilosophischen Thematik kommt es erst am Ende des 18. Jahrhunderts,63 und sie spielt in den Naturrechtslehren des 20. Jahrhunderts eine zentrale Rolle.64 "Natur der Sache" kann präziser als "Natur der Wirklichkeit" bestimmt werden, worunter auch die "Natur des Menschen" fällt, die in den Überlegungen zur "Natur der Sache" eine zentrale Funktion hat. Mit "Natur der Sache" werden neben der "Natur des Menschen" vor allem Gegenstände, Sachzusammenhänge bis hin zu den modernen Sachzwängen und Strukturen, insbesondere Institutionen bezeichnet. Ausgangspunkt nehmen alle naturrechtlich geprägten Überlegungen65 zur "Natur der Sache" bei der These, daß sich das Recht auf die Wirklichkeit, ihre Gegenstände und Strukturen beziehen müsse, sie nicht überspringen könne. Aus der Wirklichkeit selbst, ihrer Natur, könne auf das angemessene Recht geschlossen werden: Die Erkenntnis der Natur der Sache führt zur Erkenntnis des Rechts. Die Natur der Sache stellt somit die Rechtsquelle dar. Es wird von einem Sein Vgl. H. Coing, a.a.O., S. 181-192; R. Dreier, Zum Begriff der "Natur der Sache"; E. Wolf, a.a.O., S. 106-118; A. Kaufmann, Analogie und "Natur der Sache" und G. Radbruch, Die Natur der Sache als juristische Denkform. Interessant ist, wie Radbruch die Natur der Sache als der Natur gegenüberstehende, rein positivistische, "juristische Denkform" erweisen will: "Natur der Sache ist ihr Wesen, ihr Sinn, und zwar nicht ein von irgendjemand wirklich gedachter, vielmehr allein aus der Beschaffenheit der Lebensverhältnisse selbst zu entnehmende objektive Sinn, die Antwort auf die Frage: wie kann dieses so beschaffene Lebensverhältnis als sinnvoll gedacht werden, d.h. als Verwirklichung einer Idee ..." Diese Idee ist für Radbruch "der juristische Sinn und die Rechtsidee, die sich in ihm verwirklicht". G. Radbruch, a.a.O., S. 13. Darin drückt sich ein erkenntnistheoretisch unterbestimmter Rechtspositivismus aus. So bei G. Radbruch nach 1945, H. Coing, A. Kaufmann, W. Maihofer, K. Larenz u.a. Zur Verwendung des Terminus "Natur der Sache" in rechtspositivistischen Systemen vgl. R. Dreier, a.a.O., S. 42-60 oder als Beispiel die Ausführungen bei G. Radbruch, a.a.O.

Das metaphysische Paradigma

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auf ein Sollen geschlossen. Die "intuitive Erkenntnis des richtigen Rechts" erfolgt aus der Natur der Sache.66 Der Naturbegriff dient dabei, von Piaton herkommend, zur Begründung der Zeit- und Situationsinvarianz von Recht, weil die "Natur" von Gegenständen oder Strukturen als "ewig" und "unveränderbar" verstanden wird. Die Natur der Sache wird zur Grundlage eines geschlossenen naturrechtlichen Systems mit einer von daher begründeten Wertehierarchie. In der Neuzeit kommt es auch bei der Lehre von der Natur der Sache zu einer starken Anthropologisierung. Erkenntnisse der Human- und Sozialwissenschaften werden zur Grundlage inhaltlicher Ausgestaltung von Recht herangezogen. Im 20. Jahrhundert wird man nicht zuletzt aufgrund der Überlegungen Kants, der den Schluß von einem Sein auf ein Sollen für philosophisch nicht gerechtfertigt ansieht, zurückhaltend gegenüber einer direkten Ableitung von Gesetzen aus der Natur der Sache, die aber dennoch zum Kriterium von Recht gemacht wird, in dem Wissen darum, daß viele "Sachen" auf verschiedene Weise rechtlich geregelt werden können und eine geschlossene Konzeption nicht zu rechtfertigen ist.67 Insbesondere für A. Kaufmann stellt die Natur der Sache das Bindeglied zwischen Wirklichkeit und Rechtsnorm bzw. Gesetzen dar.68 Interessant ist allerdings, daß gerade die moderne Rechtsphilosophie die Natur der Sache immer wieder mit Beispielen als durchaus in vielen Fällen klar erkennbar aufzuweisen sucht.69 Als bleibend schwierig erweist sich für alle Bemühungen um eine Natur der Sache oder Natur des Menschen die Frage der eindeutigen Vgl. G. Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 123. Charakteristisch vertritt H. Coing die These von der Natur der Sache im 20. Jahrhundert: "Was wir aber als der Betrachtung der 'Natur der Sache' selbst nicht gewinnen können, ist die Einsicht in eine geschlossene Ordnung ... Die Natur der Sache bietet uns also Ordnungse/e/wenfe (Hervorhebung KG), aber keine Ordnung selbst. Ihre Betrachtung führt zu der Erkenntnis, daß der Stoff, mit dem es die Rechtsordnung zu tun hat, das soziale Leben ... schon gewisse Strukturen aufweist, an welche die rechtliche Ordnung anknüpfen kann und muß ... Sie (sc. die Natur der Sache) macht die ordnende Tat der Rechtssetzung nicht unnötig." Ders., a.a.O., S. 189/90. Vgl. A. Kaufmann, a.a.O., S. 44-54. Bei allen Autoren wird immer als Beispiel genannt, daß das Recht die "Zeit der Schwangerschaft" weder verkürzen noch verlängern kann.

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Die grundlegenden Paradigmen

Erkennbarkeit der Natur der Sache oder des Menschen. Die geschichtlich gewachsenen, unterschiedlichen Interpretationen der Natur der Sache oder des Menschen sind ein deutliches Indiz für diese Schwierigkeit. Zugleich erfolgt hier ein berechtigter Hinweis darauf, daß der Bezug von Recht auf die Wirklichkeit wesentlich ist für Recht als Teilsystem überhaupt.

4. Die Menschenrechte als Zentrum der neuzeitlichen naturbzw. vernunftrechtlichen Systeme Von der Frage nach der Natur des Menschen kommt es zur konkreten Festlegung der Natur des Menschen und dem ihr angemessenen Recht in der Idee von Menschenrechten, die die klassische Ausführung materialer natur- bzw. vernunftrechtlicher Sätze bilden.70 Die Menschenrechte kristallisieren sich in der Neuzeit als Konsens verschiedener natur- bzw. vernunftrechtlicher Systeme heraus.71 Ihnen liegen insbesondere Überlegungen zur Natur des Menschen und zur menschlichen Vernunft zugrunde.72 Erste Ansätze einer Menschenrechtsvorstellung finden sich bereits in der Stoa, die davon ausgeht, daß alle Menschen Anteil an der universalen Vernunft besitzen, so daß alle Menschen, egal ob Sklaven oder Bürger, eine unantastbare Würde und einen Anspruch auf Achtung haben. Allen Menschen sind bestimmte Rechte eigen, und diese Rechte finden sich in dem Vgl. aus der Vielzahl der Literatur zu diesem Thema: L. Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte; Menschenrechte und Menschenwürde, hg. von E.-W. Böckenförde und R. Spaemann. Neuerdings wird von R. Dworkin der Versuch unternommen, durch die auf die Menschenrechte zurückgehende Vorstellung von "individuellen Rechten", die mit Hilfe der Theorie von J. Rawls nicht metaphysisch begründet werden, die Kontroverse von Naturrecht und Rechtspositivismus zu überwinden. Vgl. Ders., Bürgerrechte ernstgenommen. Es ist allerdings bis heute umstritten, ob der Ursprung der Menschenrechtsidee in den natur- und vernunftrechtlich geprägten Systemen der Antike liegt, die in der Neuzeit wieder aufgenommen werden, oder ob die Menschenrechtsidee einen spezifisch christlichen Ursprung in der Rede von der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen hat. Vgl. auch T. Rendtorff, Freiheit und Recht des Menschen. In: LR 18,1969, S. 215-227.

Das metaphysische Paradigma

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der Vernunft entsprechenden Naturrecht. Diese Überlegungen tauchen bis ins Römische Reich hinein in der Antike immer wieder auf, ohne zu politischen oder sozialen Konsequenzen oder einer entsprechenden Rechtsordnung zu führen. Über die Magna Charta (1215), die die Rechte der Stände gegenüber dem König sicherte, und die Habeas-Corpus-Akte (1679), die die Rechte von Gefangenen gewährleistete, und die Bill of Rights (1688) werden in der Verfassung der USA die Menschenrechte life, liberty und property explizit festgeschrieben (1776). Davon beeinflußt entsteht die französische Verfassung (1791). Beide Verfassungen gehen von der Würde und Gleichheit aller Menschen aus, denen angeborene, unveräußerliche Rechte zu eigen sind, die jede Regierung zu schützen habe. Geschichtlich wirksam werden die Menschenrechte in einer Situation, in der man sich in Gesellschaft und Wissenschaft vom Druck eines am Christentum orientierten Denk- und Herrschaftssystem zu befreien sucht. Zu dieser Befreiung dient auch die geschichtliche Durchsetzung der Menschenrechte.73 Bis heute hat die überwiegende Mehrheit der Staaten die Idee der Menschenrechte aufgegriffen und in der einen oder anderen Weise in ihrer Verfassung verankert. Über die nationalstaatlichen Grenzen hinaus sind die Menschenrechte seit 1948, dem Jahr der Menschenrechtsdeklaration der UN, zunehmend Bestandteil internationaler Konventionen und Erklärungen.74 Mit den Menschenrechten ist, obwohl sie im Gegensatz zum Natur· oder Vernunftrecht positive Rechtsgeltung in vielen Verfassungen erlangt haben, weiterhin die Vorstellung eines idealen, dem positiven Recht kritisch gegenüberstehenden Rechts verbunden. Die Diskutiert wird in diesem Zusammenhang auch die am Ende des 19. Jahrhunderts von G. Jellinek aufgestellte These, daß die Menschenrechte eine Frucht der Reformation seien: Die Freiheit des Individuums ist begründet im religiösen Gewissen, das seinen Glauben frei und unabhängig vom Staat leben wolle. Vgl. Ders., Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Im Maunz-DUrig wird anhand des Art. 79 III GG deutlich, daß die auf das Naturrecht zurückgehenden Menschen- bzw. Grundrechte gerade durch die Erfahrungen mit dem Dritten Reich und dem Zweiten Weltkrieg in die Verfassungen vieler Länder aufgenommen werden zur Abwehr staatlicher Willkür bei der Gesetzgebung. Vgl. Maunz-Dürig in Maunz-Dürig, Komm. z. GG. Art. 79 III Rdnr. 21-50.

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Die grundlegenden Paradigmen

Qualifizierung der Menschenrechtsidee als positives Recht ist bis heute umstritten. Sie werden, wie das Natur- oder Vernunftrecht, als "präjuristisch", "vorstaatlich" oder als "sittliche Normen" bezeichnet, die immer erst in konkrete, sie auslegende Gesetze umgesetzt werden müssen. Dabei sind eine Vielzahl von Interpretationen und Umsetzungen von Menschenrechten im Laufe der Geschichte erfolgt. Der Grund dafür dürfte in ihrem universalen Charakter liegen.75 Trotzdem haben die Menschenrechte in vielen Verfassungs- und Gesetzescorpora die Stellung von "Grundrechten", zu denen alle anderen Gesetze konkordant sein müssen. Unter Berufung auf die Menschenrechte kann die Legitimität von legalen Gesetzen in Frage gestellt und können so Rechtsänderungen herbeigeführt werden. Die Menschen- oder Grundrechte gehören in vielen Rechtssystemen in den "Bereich des Unabstimmbaren" (H. Simon), wodurch sie unabhängig von (demokratischen) Mehrheitsentscheidungen immer in Geltung sind.76 Ein Spezifikum der Menschenrechte ist, daß sie bis heute nicht mit Sanktionen verbunden sind, was ebenfalls als Argument gegen ihren Rechtscharakter genannt wird. Der universale Geltungsanspruch der Menschenrechte kann erst dann für den Einzelnen oder Gruppen wirksam werden, wenn die einzelnen Staaten die Menschenrechte in ihre Verfassungs- oder Gesetzescorpora aufnehmen und sie dort zur Grundlage von positiven Gesetzen machen, die dann eingeklagt werden können und deren Einhaltung notfalls mit staatlicher Gewalt durchgesetzt werden kann.77 In der Bundesrepublik ist aber die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde (Art. 93 GG) beim Bundesverfassungsgericht sowohl für den Einzelnen wie für Gruppen und Institutionen gegeben, wenn die Einhaltung und Gewährleistung der Umstritten ist z.B. bis heute, ob mit dem Schutz der Würde der Person die Todesstrafe ausgeschlossen ist. Vgl. dazu Art. 79 III GG und Maunz-Dürig in Maunz-Dürig, Komm. z. GG. Art. 79 III Rdnr. 21-50. "Es (sc. das Grundgesetz) will damit eine absolute Verfassungsgarantie in bezug auf einen Kern der geltenden Verfassung schaffen." Ebd. Rdnr. 24. Der europäische Gerichtshof in Den Haag ist das einzige internationale Gericht, an dem auch der Einzelne seine Menschenrechte gegen einen Staat einklagen kann. Weltweit fehlt eine solche Institution noch.

Das metaphysische Paradigma

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Grundrechte, auch durch Gesetze und Rechtsverordnungen, als nicht gegeben angesehen wird (z.B. Wahlgesetz für den Bundestag 1990). Die klassische Funktion der Menschenrechte ist es, dem Individuum "negative" Freiheitsrechte bzw. "subjektiv-öffentliche Abwehrrechte" gegenüber dem Staat, wie die Unversehrtheit des Lebens, Gewissensfreiheit etc., zu gewähren. Heute wird weitgehend von der "Mehrdimensionalität der Grundrechte", die der Verstärkung ihrer Effektivität dient, gesprochen.78 Zu dieser "Mehrdimensionalität" gehören die soziale Funktion, die zugleich eine "Anspruchsfunktion" impliziert,79 die "Strukturfunktion" für einen demokratischen und sozialen Rechtsstaat und eine wertorientierende Funktion. Zudem wird die Frage der (mittelbaren) Drittwirkung der Grundrechte auf das Privat- und Zivilrecht diskutiert, d.h. inwieweit Privat- und Zivilrecht und letztlich dann alle Gesetze mit den Grundrechten vereinbar bzw. daran orientiert sein müssen. Es ist weiter ein Verständnis von Grundrechten als Institution in der Diskussion, was insbesondere von soziologischer Seite vertreten wird.80 Offen aber ist, ob Menschenrechte auch positive Rechte umfassen können, wie ein Recht auf Bildung, Arbeit oder Einkommen. Solche Rechte wurden im Jahr 1966 von der UN deklariert, aber bis 1986 ratifizierten nur 35 Staaten den "Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte". Sind diese sozialen Menschenrechte eine notwendige Erweiterung des Menschenrechtskatalogs, oder sprengen sie den Begriff der Menschenrechte, die an grundsätzlich notwendigen und weltweit durchsetzbaren Menschenrechten orientiert sind? Problematisch ist insbesondere die Verwirklichung der sozialen Rechte, wie z.B. des Rechtes auf Bildung in der Dritten Welt oder des Rechtes auf Arbeit. Einerseits bestreitet niemand die Sinnhaftigkeit dieser Rechte, aber eine gegenwärtig stark diskutierte S. A. Katz, Staatsrecht, S. 235. Vgl. zum Folgenden ebd. S. 231-248. Dieses Element des Anspruchsrechts des Individuums gegenüber dem Staat wird z.B. beim "Numerus-clausus-Urteil" des BVG angewandt. Vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 33, S. 303,330ff. u.ö. Vgl. dazu grundlegend N. Luhmann, Grundrechte als Institution. Unter "Institution" versteht Luhmann hier "... einen Komplex faktischer Verhaltenserwartungen, die im Zusammenhang einer sozialen Rolle aktuell werden und durchweg auf sozialen Konsens rechnen können." Ebd. S. 13.

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Die grundlegenden Paradigmen

Ausweitung der Menschenrechte in dieser Richtung würde diesen möglicherweise viel von ihrer politischen Schlagkraft nehmen, da viele dieser Rechte nicht immer politisch in einer geschichtlichen Situation durchgesetzt werden können. Andererseits gibt es gute Gründe, z.B. das Recht auf Bildung oder Arbeit auch als unveräußerlich zu der Würde des Menschen gehörend anzusehen, dessen Verwirklichung Ziel politischen Handelns zu allen Zeiten sein muß. Menschenrechte sind unveräußerlich. Dennoch muß überprüft werden, ob die gegenwärtige Ausformulierung der Menschenrechte inhaltlich alle Rechte, die dem Menschen unbedingt zukommen müssen, umfassen. Der Ursprung der Menschenrechte liegt im abendländisch westlichen Denken. Wenn die Inhalte sich auch mit den Vorstellungen anderer Kulturkreise berühren oder identisch sind, wird dennoch die Frage nach der Berechtigung des universalen Anspruchs der Menschenrechte gestellt. Denn wenn es angeborene, unveräußerliche Rechte des Menschen gibt, auf die er kraft seines Menschseins Anspruch erheben kann, müssen diese Rechte in jeder gegebenen oder denkbaren historischen Situation gültig sein und jedem Individuum zustehen. Dieser Anspruch auf universelle Gültigkeit wird den Menschenrechten immer wieder in Theorie und Praxis bestritten.

§ 2 Das rechtspositivistische Paradigma

Wie bei der Darstellung I. Kants und G.W.F. Hegels im vorigen Paragraphen bereits angedeutet, kam es im Zuge der neuzeitlichen Entwicklung zur Infragestellung des metaphysischen, natur- bzw. vernunftrechtlichen Paradigmas. Dieser Infragestellung des Paradigmas und der daraus folgenden Entwicklung des Rechtspositivismus soll in einem ersten Punkt genauer nachgegangen werden, um die geistesgeschichtlichen, insbesondere philosophischen Wurzeln dieses rechtspositivistischen Systems ansatzweise zu klären. Das Aufzeigen dieser Wurzeln erscheint mir insofern für das Verständnis des Rechts-

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positivismus wichtig, als dieser sich als ein rein systemimmanent begründetes Teilsystem, das eigenständig gegenüber anderen (Teilsystemen sein will, versteht. Danach soll auch hier den zentralen konstitutiven Elementen von Orts- und Begriffsbestimmung nachgegangen werden. Als konstitutives handlungstheoretisches Element möchte ich das Verständnis von Normen und insbesondere einer Grundnorm bei Kelsen aufzeigen. Auf die Darstellung eines konstitutiven materialen Elementes möchte ich hier bewußt verzichten, weil der Rechtspositivismus zentral die These vertritt, daß die Ausbildung materialer Elemente nicht angemessen ist. Die Darstellung des Rechtspositivismus soll anhand der aus der neuzeitlichen Entwicklung hervorgegangenen und insbesondere von I. Kant herkommenden Konzeptionen von H. Kelsen und G. Radbruch, die geschichtlich sehr wirksam waren und sind, und zum Vergleich anhand der sprachanalytischen Position H.L.A. Harts, der von einer anderen philosophischen Grundlage herkommend dem gleichen Paradigma zuzuordnen ist, erfolgen.

1. Die Entwicklung zum Rechtspositivismus Im Laufe des 19. Jahrhunderts gerät das metaphysische, vernunftoder naturrechtliche Paradigma des Rechts aufgrund neuzeitlicher Einsichten und Erfahrungen in die Kritik.81 Dies ist mitbedingt durch die schon aufgezeigten Einsichten von Kant. Im 20. Jahrhundert wird dann auch die Fraglichkeit des allgemeingültigen "Rahmens" zur Wirklichkeitserfassung von Kant und der sogenannten objektiven Erkenntnisgegenstände, wie sie lange Zeit für die Naturwissenschaften als gegeben galten, erkannt. Eine Letztbegründung für das, was die Natur der Sache oder vernunftgemäß ist, wird wissenschaftstheoretisch umstritten.

Die These M. Krieles, daß der Rechtspositivismus sich aufgrund der Ablehnung der politischen Macht der katholischen Kirche und ihres Einflusses auf die Rechtssetzung entwickelt habe, scheint mir das Problem nicht hinreichend zu erfassen, s. Ders., Recht und praktische Vernunft, S. U l f .

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Die grundlegenden Paradigmen

Wichtig für die Grundlegung des Rechtspositivismus ist einerseits die "Analytische Philosophie"82, die mit ihrer Hinwendung zur Sprachkritik bewußt das "Erbe der Vernunftkritik" antreten will,83 indem sie Sprache als"... die nicht mehr hintergehbare transzendentale Bedingung der Möglichkeit jeglicher Erkenntnis in Wissenschaft und Philosophie"84 versteht. Der Rechtspositivismus nimmt diese Überlegungen der Analytischen Philosophie zur Vernunftkritik auf und versucht, das Recht von seiner Sprachlichkeit her zu begreifen, ohne eine metaphysische, natur- oder vernunftrechtliche Begründung. Nach Ansicht der Analytischen Philosophie gibt es keine Erkenntnis losgelöst von Sprache, sondern Sprache ist das Medium, in dem sich Erkenntnis vollzieht.85 Von daher ist die Aufgabe der Philosophie Sprachkritik.86 Es entwickelt sich dann innerhalb der Analytischen Philosophie die idealsprachliche Richtung, die sich um den Aufbau einer genauen, wissenschaftstheoretisch exakten Sprache bemüht, und die umgangssprachliche Richtung, die die vorhandene Sprache zu analysieren versucht. Beide haben gemeinsam das Ziel, aufgrund einer Analyse der Sprache der Philosophie eine neue Grundlage zu geben, um damit auch vorhandene Erkenntnisse überprüfen zu können und eine bessere Verständigung über Probleme zu erzielen. Letztlich geht es dabei sowohl um die Bereitstellung von allgemeinen wie fachspezifischen Wissenschaftstheorien. Auf diesem Hintergrund kommt es zuerst im angelsächsischen Raum zur Entfaltung einer "analytical jurisprudence"87 und einer "Rechtstheorie"88, die vorrangig die sprachliche Form von Rechtssät82

Die Definition dessen, was unter "Analytischer Philosophie" zu verstehen ist, ist schwierig. Ich übernehme den Versuch Tracks aufgrund einiger "verbindender Grundmerkmale" Philosophien, wie die von B. Russell, C.E. Moore oder L. Wittgenstein, zu einer bestimmten philosophischen Richtung zuzuordnen, vgl. näher J. Track, Sprachkritische Untersuchungen zum christlichen Reden von Gott, S. 30-

83

S. Ebd. S. 34-41. Ebd. S. 36 u.ö. "Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt." L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Nr. 5.6. "Alle Philosophie ist 'Sprachkritik'." Ebd. Nr. 4.0031. Vertreter dieser Richtung sind u.a. J. Bentham, J. Austin. Vgl. dazu R. Dreier, Was ist und wozu Allgemeine Rechtstheorie?

108. 84 85

86 87 88

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zen untersucht. Die "analytical jurisprudence" versteht Rechtssätze als Befehle einer Autorität, verneint zumeist einen Zusammenhang von Recht und Ethos und sieht ihre Aufgabe in der Analyse der Rechtsbegriffe. Andererseits gründet sich der Rechtspositivismus auf den philosophischen Positivismus A. Comtes', der vom positiven, faktisch Gegebenen als sicherer Erkenntnisgrundlage der Wissenschaft ausgeht. Als dieses positiv Gegebene gilt alles, was sinnlich erscheint und wahrnehmbar ist. Dies wird als die wahre und allein gültige Realität verstanden. Der Rechtspositivismus geht deshalb von dem in der jeweiligen Gesetzgebung vorfindlichen Recht aus und verzichtet bewußt darauf, nach einer Begründung der Rechtssätze zu fragen oder nach ihrer Legitimität. Recht "ist", es wird als Seinstatsache verstanden und ist zu befolgen (A. Merkel). Recht wird so durch den jeweiligen Inhaber der Staatsmacht89 oder durch das demokratische Mehrheitsprinzip als Recht erklärt und gesetzt. Rechtsfragen werden allein aufgrund logischer Interpretation der bereits bestehenden Gesetze gelöst. Hierbei wird der Versuch unternommen, die Frage der Ethik und des Ethos streng von der des Rechts zu trennen und einen Zusammenhang von Recht und Ethos/Ethik zu negieren. Entwickelt hat sich der Rechtspositivismus durch die frühen Arbeiten F.C. von Savigny's90, die Begriffsjurisprudenz von G.F. Puchta91 sowie von R. So der Dezisionismus (z.B. C. Schmitt), der sich als Gegensatz zur Begriffsjurisprudenz begreift. Vgl. F.C. von Savigny, Das Recht des Besitzes. In seinem Frühwerk lehnt von Savigny, beeinflußt durch die Philosophie Kants, einerseits die Lehre von einem Naturrecht ab. Er stellt andererseits das Recht als Ausdruck des gesetzgeberischen Willens eines Herrschers dar. Der Richter hat nur den "obkjektiven Gesetzessinn" zu ermitteln, wozu von Savigny eine ausgeprägte Hermeneutik entwikkelt. Das vorgegebene Gesetz selbst ist folglich die Rechtsquelle. Recht prägt sich immer in einer Vielzahl von Institutionen aus. Im Spätwerk dient bei von Savigny der "Volksgeist" zur Rechtsbegründung, womit er m.E. wieder auf naturrechtliche Begründungsstrukturen zurückkommt. Vgl. E. Wolf, Große Rechtsdenker der Deutschen Geistesgeschichte, S. 491-497. Wolf ordnet daher von Savigny genau wie G.F. Puchta in die "historische Rechtsschule" ein, die er vom Rechtspositivismus trennt, vgl. ebd. S. 488-491. G.F. Puchta knüpft an das Spätwerk von Savigny's an und bestimmt den "Volksgeist" als Rechtsquelle. Er verneint jede metaphysische Begründung des Rechts.

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von Jhering92 und findet seinen vielleicht stärksten Ausdruck bei H. Kelsen und G. Radbruch.

2. Recht als eigenständiges Teilsystem Der Rechtspositivismus ist durch seinen Verzicht auf eine Ortsbestimmung von Recht als einem Teilsystem innerhalb eines umfassenden Systems gekennzeichnet. Das rechtspositivistische Teilsystem versucht sich somit selbst zu konstituieren und ein von anderen Teilsystemen oder von einem übergreifenden System unabhängiges Teilsystem auszubilden. Es wird weiter versucht, die konstitutiven formalen Elemente dieses Systems selbst festzulegen und zu interpretieren und auf materiale Elemente zu verzichten. Der Rechtspositivismus versteht Recht als eigenständiges Teilsystem. a) Der Ort des Rechts Da der Rechtspositivismus sich um eine systemimmanente, eigenständige Konstitution des Teilsystems Recht bemüht, kommt der Ortsbestimmung besondere Relevanz zu. Zur Rechtfertigung des Verzichts auf eine explizite Ortsbestimmung und des damit verbundenen Ziels, Recht als ein eigenständiges Teilsystem zu definieren, wird in drei Schritten argumentiert: Recht entsteht durch Konsensbildungen menschlichen Rechtsverständnisses. Puchta ist an der Idee des "Volksgeistes" orientiert, entwickelt aber die "Begriffsjurisprudenz", die zu einem wesentlichen Ausgangspunkt des Rechtspositivismus wird. In der Begriffsjurisprudenz werden die Rechtssätze hierarchisch angeordnet und in einen systematischen Zusammenhang gebracht, so daß durch wissenschaftliche Deduktionen dann auch neue Rechtssätze gewonnen werden können. "Neue" Rechtssätze sind nach Puchta keineswegs neu, sondern waren bisher innerhalb des Systems von Rechtssätzen verborgen und mußten erst auf den Begriff gebracht werden. Hierbei gibt es keinerlei Rechtserkenntnisquelle oder Normen außerhalb des geschlossenen Systems von Rechtssätzen, da fehlende Normen und Rechtssätze aus vorhandenen abgeleitet werden. Vgl. G.F. Puchta, Cursus der Institutionen, Bd. 1. Vgl. R. von Jhering, Der Zweck im Recht, Bd. I. Von Jhering vertritt am konsequentesten die Begriffsjurisprudenz und verzichtet streng positivistisch denkend auf die These Puchtas vom "Volksgeist" als Rechtsquelle.

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Recht wird in einem ersten Schritt als eine von Menschen geschaffene Ordnung oder Institution begriffen, die durch den Menschen gesetzt und gestaltet wird. Als Gründe für die Rechtssetzung können die sich selbst bestimmende menschliche Vernunft, eine Orientierung am Recht als (gewachsenes) Sprachgeschehen sowie gesellschaftliche und politische Interessen und Machtverhältnisse genannt werden. Wird die Rechtssetzung als Akt der autonomen Vernunft verstanden, wird dabei eine Letztbegründung von Recht durch die Vernunft aufgegeben.93 Auch Kants These von einer wenigstens formal gegebenen Intersubjektivität der praktischen Vernunft wird vom rechtspositivistischen Paradigma als erkenntnistheoretisch nicht haltbar aufgegeben. Es kommt durch die autonome Vernunft zu einer jeweils geschichtlichen und gesellschaftlichen Selbstsetzung von Recht. Das hat für den Umgang mit "außer- oder vorrechtlichen" Rechtsquellen oder umfassenden philosophischen Gesamtsystemen zur Konsequenz, daß sie dort, wo sie für die Rechtssetzung und -gestaltung als angemessen erscheinen, übernommen werden können, ohne daß damit eine innere Abhängigkeit davon oder Bindung daran angenommen wird. Das Recht wird weiter als den Bedingungen menschlicher Sprache unterworfen angesehen. Gerade in der von der Analytischen Philosophie herkommenden Richtung des Rechtspositivismus wird Recht als Sprachgeschehen verstanden, das durch Sprache zuallererst konstituiert wird. Ein vor- oder außerhalb der Sprache seiendes Recht gibt es nicht. Recht kann nicht unabhängig von Sprache gedacht werden.

Deshalb bezeichnet Radbruch seinen Rechtspositivismus als einen relativistischen: "Er (sc. der Relativismus) bedeutet Verzicht auf die wissenschaftliche Begründung letzter Stellungnahmen, nicht Verzicht auf die Stellungnahme selbst." G. Radbruch, a.a.O., S. 100. "Die hier dargelegte Methode nennt sich Relativismus, weil sie die Richtigkeit eines Werturteils nur in Beziehung zu einem bestimmten obersten Werturteil, nur im Rahmen einer bestimmten Wert- und Weltanschauung, nicht aber die Richtigkeit dieses Werturteils, dieser Wert- und Weltanschauung selbst festzustellen sich zur Aufgabe macht." Ebd. S. 98/99. Vgl. Ders., Der Relativismus im Recht. In: Ders., Der Mensch im Recht, S. 80-87.

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Als ein weiteres Element, das bei der Ausgestaltung des Rechts wirksam ist, werden die gesellschaftlichen und politischen Interessen und Machtverhältnisse genannt. Der Inhalt eines Rechtssystems kann nach Ansicht der Rechtspositivisten nie losgelöst davon gesehen werden, daß Recht zum einen die Funktion hat, politische Macht zu begrenzen,94 zum anderen die Funktion, gesellschaftliche Interessen auszugleichen. So ist Recht immer auch Ausdruck dieser gesellschaftlichen und politischen Interessen und Machtverhältnisse bis dahin, daß diese politischen Interessen und Machtverhältnisse zum Subjekt werden. D.h., es ist immer ein Subjekt der Rechtssetzung gegeben. Als dieses Subjekt erscheint der Mensch in der Gesellschaft. Recht als Teilsystem wird als abhängig begriffen: von den jeweiligen Erkenntnisbedingungen und Selbstbestimmungen der Vernunft, von Sprache sowie von politischen Interessen und Machtverhältnissen. Zum einen entsteht aus dem gegenseitigen und in sich spannungsvollen Verhältnis dieser Bedingungen heraus Recht, indem diese Faktoren Recht konstituieren. In dieser Konstitution wird festgelegt, welchen Einfluß diese Faktoren weiterhin auf die Gestaltung von Recht haben. Offen bleibt, wer jeweils zum Subjekt von Recht wird: die menschliche Vernunft oder politische und gesellschaftliche Interessen und Machtverhältnisse. Zum anderen lassen diese Bedingungen das Recht zu einem geschichtlich immer wieder veränderbaren System werden, weil sie selbst deutlich machen, daß eine Letztbegründung ihrer selbst und damit auch anderer Aussagen nicht möglich ist. Das bedeutet, daß auch das Recht als Teilsystem nicht letztbegründet werden kann.95

Recht "ist... eine bestimmte Ordnung (oder Organisation) der Macht". H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 221. Vgl. auch G. Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 170-179. Klassisch ist in diesem Zusammenhang die Aussage von Kelsen: "Daher kann jeder beliebige Inhalt Recht sein." H. Kelsen, a.a.O., S. 201. Nicht nur die Entstehung und inhaltliche Gestaltung eines Rechtssystems wird von den Vertretern der Freirechtslehre als offen gekennzeichnet, sondern auch die Anwendung. Sie betonen, daß neben den vorgegebenen Rechtssätzen noch viele andere Faktoren den richterlichen Entscheidungsprozeß bestimmen, ohne daß sie damit die Bindung des Richters an vorgegebene Rechtssätze aufheben wollen. Ein Vertreter der Freirechtslehre, H. Kantorowicz, definiert auch unter dem Einfluß soziologischer Überlegungen Recht als "eine Gesamtheit von sozia-

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In einem zweiten Schritt wird das Recht programmatisch als ein formales, eigenständiges Teilsystem entwickelt. Die Einsicht, daß eine Letztbegründung sowohl allgemein philosophisch als auch für das Recht nicht möglich ist, führt zum programmatischen Verzicht auf die konstitutiven materialen Elemente. Sie werden als geschichtlich offen und ständig veränderbar angesehen. Eine Argumentation mit Hilfe der Natur des Menschen oder der Natur der Sache kann nie letztbegründenden Charakter haben. Von der formalen Selbstkonstitution des Rechts kann nur verlangt werden, daß das Recht selbst regelt, was Recht sein und wie mit dem Einfluß der genannten Faktoren umgegangen werden soll.96 Dadurch trägt das Recht den sich ständig ändernden menschlichen Erkenntnisbedingungen Rechnung, indem es festlegt, wie ein Rechtssystem immanent erhalten oder verändert werden kann. Dieser offenen Situation entspricht es, daß in einem dritten Schritt offene Kriterien für die immanente Erhaltung und Veränderung von Rechtssystemen entwickelt werden. Diese Kriterien sollen den genannten Faktoren, der sich selbst bestimmenden Vernunft, dem sprachlichen Charakter, dem Einfluß von politischen und gesellschaftlichen Interessen und Machtverhältnissen entsprechen und sie zueinander ins Verhältnis setzen. In der Ausbildung dieser Kriterien spielen in der Diskussion die Kriterien der Intersubjektivität und Funktionalität eine dominante Rolle. Der Verzicht auf eine Norm (vor)gebende Instanz, auf eine "Rechtsquelle", läßt als Kriterium für das Recht nur den größtmöglichen Konsens von Mitgliedern einer Gesellschaft in Frage kommen: Als Recht werden sich die Normen durchsetzen lassen, die intersubjektiv sind oder sich als intersubjektiv erweisen lassen. Für solche intersubjektiv anerkannten Normen läßt sich ihre Funktionalität als ein weiteres mögliches Kriterium angelen Regeln, ..., 'die ein äußeres Verhalten vorschreiben und als gerichtsfähig angesehen werden'". H. Kantorowicz, Der Begriff des Rechts, S. 90. Kelsen spricht deshalb von der Rechtswissenschaft als "Reiner Rechtslehre", um die notwendige Beschränkung auf das Teilsystem "Recht" deutlich zu machen: "Wenn sie (sc. die Rechtswissenschaft) sich als eine 'reine' Lehre vom Recht bezeichnet, so darum, weil sie nur eine auf das Recht gerichtete Erkenntnis sicherstellen und weil sie aus dieser Erkenntnis alles ausscheiden möchte, was nicht zu dem exakt als Recht bestimmten Gegenstande gehört." Ders., a.a.O., S. 1.

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ben. Das Funktionalitätskriterium kann aber auch als primäres Kriterium verstanden werden, dem dann die Intersubjektivität als ein sekundäres Kriterium zugeordnet werden kann. Ein weiteres im rechtspositivistischen Paradigma angewandtes, offenes Kriterium ist das der Kohärenz innerhalb eines Rechtssystems. Dieser Kohärenzgedanke liegt den im Rechtspositivismus vorgetragenen Überlegungen zu einer "Grundnorm" (H. Kelsen) oder einer "Erkenntnisregel" (H.L.A. Hart) zugrunde, die die Kriterien für ein Rechtssystem festlegen. Der Rechtspositivismus als Wissenschaft beschränkt sich deshalb programmatisch auf die Darstellung und Analyse von vorhandenen Rechtssystemen. Wie bei der Entwicklung des Rechtspositivismus bereits aufgezeigt, haben die philosophischen Systeme von I. Kant oder der Analytischen Philosophie zur Entstehung des rechtspositivistischen Systems beigetragen, und es muß zumindest die Frage gestellt werden, ob das rechtspositivistische Teilsystem selbst nicht doch, gerade auch in seinem Bemühen um eine eigenständige Ortsbestimmung unabhängig von anderen (Teil)systemen, von diesen Systemen und dort formulierten philosophischen Grundannahmen abhängig ist. Bedarf nicht auch eine systemimmanente Begründung von Recht der Rechtfertigung durch philosophische Grundannahmen, die dann das rechtspositivistische Teilsystem zumindest in ein Verhältnis zu anderen (Teil)systemen setzt? Gerade der Verzicht auf eine Begründung muß "begründet" werden, und auch der Rechtspositivismus muß sich fragen lassen, ob er nicht zuletzt um der Kommunikabilität seiner Ortsbestimmung willen auf die Einsichten anderer (Teilsysteme zurückgegriffen hat. b) Die Trennung von Recht und Ethik Von dem Bemühen um eine eigenständige Ortsbestimmung her legt das rechtspositivistische Paradigma konsequenterweise großes Gewicht auf den Nachweis, daß Recht und Ethik zwei klar zu unterscheidende Systeme sind und daß die Ethik keinen Einfluß auf das Recht hat. Die Verankerung des Rechts in der Ethik war bis in die Neuzeit im metaphysischen, natur- bzw. vernunftrechtlichen Para-

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digma kennzeichnend. Nun sieht sich der Rechtspositivismus vor die Aufgabe gestellt, diese Zuordnung von Recht und Ethik als philosophisch und wissenschaftstheoretisch nicht länger haltbar aufzuheben. So unterscheidet H. Kelsen97 deutlich zwischen Recht und Moral, zwischen Rechtswissenschaft und Ethik als Wissenschaft von den moralischen Normen. Eine Unterscheidung zwischen Recht und Moral kann aber nicht schlicht eine zwischen Normen in bezug auf das äußere und Normen in bezug auf das innere Verhalten sein, sondern beide bestimmen sowohl inneres wie äußeres Verhalten.98 Auch Moral ist eine soziale Ordnung, ein Normensystem, und der entscheidende Unterschied zum Recht besteht darin, daß sie keine Zwangsordnung ist. Recht kann auch nicht als Teilsystem eines Moralsystems verstanden werden,99 denn für ein Moralsystem ist weder eine Letztbegründung noch eine zeit- und situationsinvariante Begründung möglich. Die Möglichkeit einer Letztbegründung und eine absolute, zeit- und situationsinvariante Begründung des Rechts durch die Moral wäre aber nach Ansicht Kelsens, der hierfür keine weitere Begründung leistet, Voraussetzung dafür, daß das Recht Teilsystem von Moral sein könnte. Das Moralsystem kann wie das Recht nur als ein relatives Normensystem verstanden werden, das relative Werte setzt. Beides, Norm und Wert, sind nie letztgültig zu rechtfertigen, ihr Inhalt ist immer zeit- und siluationsvariant. Deshalb kann das Rechtssystem nie ein "moralisches Minimum" darstellen, da es ein solches allgemein evidentes moralisches Minimum nicht geben kann. Das gilt sowohl für die Vorstellung von Recht als einer gerechten als auch für die von Recht als einer Friedensordnung.100 Umgekehrt kann auch das Recht nicht durch ein Moralsystem begründet oder legitimiert werden, da dies immer nur relativ ist. Kelsen setzt sich in diesem Zusammenhang ausführlich mit der Frage auseinander, ob nur ein gerechtes Recht legitim sei bzw. Gerechtigkeit als moralischer Wert Recht begründen könne. Er versucht hier nachzuweisen, daß Gerechtigkeit ein relativer Begriff ist, für den 97 98 99 100

Vgl. ebd. S. 60-71. Gegen Kant, vgl. ebd. S. 63ff. Vgl. ebd. S. 65. Vgl. ebd. S. 40 und 68.

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eine allgemein gültige und evidente Definition nicht gegeben werden kann und der zudem strukturelle Aporien aufweist.101 Gerechtigkeit kann immer nur als eine subjektive Größe, die zumeist auf einer Setzung durch eine transzendente Autorität basiert, begriffen werden. Das bedeutet aber nicht, daß eine positive Rechtsordnung nicht den Maßstäben einer Ethik entsprechen kann und damit auch einem bestimmten Gerechtigkeitsbegriff. Dies kann aber nicht zu einer verbindlichen Forderung an das Recht gemacht werden102 oder zum Maßstab, an dem ein Rechtssystem sich messen lassen muß.103 Von der Analytischen Philosophie herkommend hat sich H.LA. Hart104 eingehend mit dem Thema Recht und Ethik befaßt. Er geht davon aus, daß der sprachliche Unterschied zwischen Recht und Moral zu bejahen ist, da er anzeigt, daß es sich bei Recht und Moral um grundsätzlich verschiedene Phänomene handelt. Ein innerer Zusammenhang von Recht und Moral ist nicht unbedingt gegeben. Dennoch stellt Hart heraus, daß bei einer Untersuchung von rechtlichen und sittlichen Geboten bzw. Verboten Parallelen sichtbar werden. "Die Regeln sind insofern ähnlich, als man sie für verbindlich hält, unabhängig von der Zustimmung des durch sie gebundenen Individuums, und als sie durch starken sozialen Konformitätsdruck unterstützt werden. Die Unterwerfung unter die rechtlichen und sittlichen Verpflichtungen wird nicht als eine besonders lobenswerte Angelegenheit betrachtet, sondern als ein selbstverständlicher Minimalbeitrag zum sozialen Leben."105 Diesen Parallelen stehen vier charakteristische Unterschiede gegenüber: 1. Die sittlichen Verpflichtungen müssen allgemein als wichtig anerkannt werden, die Rechtsregeln nicht. 2. Die sittlichen Verpflichtungen sind nur in einem geschichtlichen Prozeß zu verän101 vgl. ebd. S. 357-401. Die Problematik der Gerechtigkeit und des Naturrechts wird bezeichnenderweise von Kelsen in einem "Anhang" zur "Reinen Rechtslehre" behandelt. 102 Vgl. ebd. S. 69ff. und 403ff. 103 Vgl. ebd. S. 50f. 104 Vgl. H.LA. Hart, Recht und Moral und Ders., Der Begriff des Rechts. Eine ausführliche Untersuchung der Position Harts bietet H. Eckmann, Rechtspositivismus und Sprachanalytische Philosophie. 105 H.LA. Hart, Der Begriff des Rechts, S. 237.

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dern, die rechtlichen können ad hoc geändert werden. 3. Die sittlichen Verpflichtungen können vom Einzelnen nicht immer eingehalten werden, die rechtlichen müssen es. 4. Das Befolgen von sittlichen Verpflichtungen kann ausschließlich durch "moralischen Druck" zu erreichen versucht werden. Rechtliche Regeln sind zu ihrer Durchsetzung an genau festgelegte Sanktionen gebunden.106 Hart bestreitet nicht, daß man nachweisen kann, daß ethisch-moralische Vorstellungen das Recht in der Geschichte beeinflußt haben,107 aber dies erlaubt s.E. nicht den Umkehrschluß, daß jedes Rechtssystem an den Maßstäben der Moral oder der Gerechtigkeit gemessen werden oder ein Mindestmaß an sittlichen Überzeugungen beinhalten muß.108 Das bedeutet für Hart nicht,"... daß die Kriterien der Rechtsgültigkeit eines bestimmten Gesetzes, das von einem Rechtssystem verwendet wir"d, stillschweigend, wenn nicht explizit, einen Bezug zu Sittlichkeit und Gerechtigkeit enthalten müssen."109 Er akzeptiert eine Verbindung von Recht und Moral erstens dann, wenn es darum geht, Vagheitsspielräume des Rechts durch ethische Prinzipien auszufüllen. Zweitens wenn konstatiert werden kann, daß Rechtssysteme mit sittlichen Vorstellungen in bestimmten Fällen übereinstimmen,110 ohne daß dabei die Verbindung von Recht und Moral generalisiert werden darf. Nach Hart ist es nicht hilfreich, wenn man einem Gesetz seine Rechtsgültigkeit durch ethische Kriterien abspricht. Im Rechtsbegriff selbst müssen Kriterien für die Rechtsgültigkeit von Gesetzen gefunden werden.111 G. Radbruch112 versucht Recht und Moral voneinander zu trennen und dennoch in Beziehung zu setzen. Recht und Moral sind für ihn

106 107 108 109 110

111 112

Vgl. ebd. S. 239-248. Vgl. ebd. S. 255, 276, 280f. u.ö. Vgl. ebd. S. 255. Ebd. "Kein 'Positivist' könnte leugnen, daß dies Tatsachen sind oder daß die Stabilität der Rechtssysteme zum Teil auf solchen Übereinstimmungen mit den Sitten beruht. Wenn dies das ist, was als notwendige Verbindung von Recht und Sitten gemeint ist, sollte man deren Existenz anerkennen." Ebd. S. 281. Vgl. ebd. S. 285-292. Vgl. G. Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 127-151.

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"Kulturbegriffe",113 d.h. "wertbezogene" Begriffe.114 Sie beinhalten unterschiedliche "Arten" von Normen.115 Er nimmt die Unterscheidung Kants auf, nach der das Recht sich auf die "Äußerlichkeit" und die Moral sich auf die "Innerlichkeit" bezieht,116 differenziert diese Unterscheidung und führt sie in vier Schritten kritisch weiter117: 1. Recht und Moral haben eine verschiedene "Interessenrichtung": Das Recht interessiert sich schwerpunktmäßig für das äußere, die Moral für das innere Verhalten. 2. Das Recht klassifiziert den Wert einer Handlung als gut innerhalb des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die Moral als absolut gut. 3. Bei der Unterscheidung von "Legalität" und "Moralität", auch verstanden im Sinne von Legitimität, geht es nach Radbruch nicht um verschiedene "Verpflichtungsweisen". Bei "Moralität" geht es um die Motivation des Einzelnen zum Handeln. Im Unterschied dazu steht "Legalität" für die Beurteilung des Handelns losgelöst von der ihm zugrundeliegenden Motivation. Recht hat nur ein bestimmtes Handeln zum Ziel, während sittliche Normen auch eine bestimmte Motivation zum Handeln erfordern. 4. Die Unterscheidung zwischen "Autonomie", die der Moral zugrundeliegt, und "Heteronomie", auf der das Recht basiert, kann nach Radbruch so nicht aufrechterhalten werden, da in beiden Begriffen ein Widerspruch implizit enthalten ist. Gegen den Heteronomiebegriff spricht, daß aus einem Wollen nie ein Sollen folgen kann. Gegen den Autonomiebegriff, daß immer die moralische Norm und nicht das individuelle Gewissen verpflichtet. So kommt Radbruch über Kant hinausgehend zu folgender Zuordnung von Recht und Moral: 113

114 115 116 117

"Sittlichkeit" versteht Radbruch demgegenüber als Wertbegriff, der mit Gerechtigkeit, die er ebenfalls als Wertbegriff klassifiziert, verglichen werden kann, nicht aber mit Recht als Kulturbegriff. "Sitte" stellt "die gemeinsame Vorform, in der Recht und Moral noch unentfaltet und ungeschieden enthalten sind", dar. Ebd. S. 139, vgl. insgesamt dazu S. 138-141. Vgl. ebd. S. 164. Vgl. ebd. S. 127. Zu Kant s. § 1. Vgl. G. Radbruch, a.a.O., S. 127-137.

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1. Wenn der Inhalt von Recht und Moral kongruent ist, ist dies "zufällig". "Die Beziehung beider Normgebiete besteht vielmehr darin, daß die Moral einerseits Zweck des Rechts und, eben deshalb, andererseits Grund seiner verpflichtenden Geltung ist."118 Die Moral legitimiert das Recht, zumindest im Sinne Kants, daß es moralisch geboten ist, dem Recht zu folgen. Nach Meinung Radbruchs wird dadurch allein das Recht nicht zum "Teilgebiet der Moral",119 sondern die inhaltliche Trennung bleibt bestehen. 2. Das Recht kann, indem es sich moralische Werte zueigen machen würde, der Moral nicht helfen, da diese Sätze dann nicht mehr moralischer, sondern rechtlicher Natur sind. Moral und Recht stehen in einem Spannungsverhältnis und können völlig voneinander getrennt nebeneinander her bestehen. Das Recht kann aber auch in die Moral integriert werden, sofern es sich moralische Werte zum Inhalt macht. Dabei bleibt es aber dennoch von der Moral in seiner Eigengesetzlichkeit unterschieden. Recht und Moral sind selbständige, voneinander losgelöste "Kulturformen". "Das Recht ist eben nur die Möglichkeit der Moral und eben deshalb auch die Möglichkeit der Unmoral. Das Recht kann die Moral nur ermöglichen, nicht erzwingen, weil die moralische Tat begriffsnotwendig nur eine Tat der Freiheit sein kann; weil es aber die Moral nur ermöglichen kann, muß es unumgänglich auch die Unmoral ermöglichen."120 Das Recht hat nach Radbruch eine Beziehung zur Moral, weil es dem ethischen Wert des Guten zu dienen hat.121 Dieser Wert kann in drei "Gegenständen" verwirklicht werden, an denen sich das Recht, das die Aufgabe hat, das menschliche Zusammenleben zu regeln,122 ausrichten kann: "Individualwerte, Kollektivwerte und Werkwerte"123, deren höchste Ziele jeweils sind: "Freiheit", "Nation" oder "Kultur".124 Diese Werte und Ziele stehen in einem gegenseitigen Spannungsverhältnis und müssen geschichtlich miteinander ausgeglichen wer118 119 120 121 122 123 124

Ebd. S. 134. S. ebd. Ebd. S. 137. Vgl. ebd. S. 143. S.S. 88-91. S. G. Radbruch, a.a.O., S. 143. S. ebd. S. 147.

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den.125 Diese Werte und damit der "Zweck" des Rechts können immer nur relativ bestimmt werden, was auch für die Gerechtigkeit gilt.126 Darin unterscheidet sich Recht dann wieder von der Moral, die absolute Werte und Ziele setzt. Das Recht wird in einer Spannung von Gerechtigkeit, "Zweckmäßigkeit" und Rechtssicherheit entwickelt,127 ohne daß dadurch jemals absolutes Recht entstehen kann. In diesem Punkt weiß Radbruch das Recht fundamental von der Moral unterschieden.128 Der programmatische Anspruch des rechtspositivistischen Paradigmas, die Trennung von Recht und Ethik zu erreichen, erweist sich in der Durchführung bei Kelsen, Hart und Radbruch als schwer einlösbar. Alle drei Vertreter kommen nicht umhin, eine geschichtlich bestehende Verbindung, zumindest eine gewisse Affinität zwischen Recht und Ethik konstatieren zu müssen. Diese mit der These von geschichtlich Zufälligem zu erledigen, erscheint mir in dieser Weise als fragwürdig. Auch die Begründung für die Trennung von Recht und Ethik bringt Probleme mit sich. Das Relativitätsargument, das von Kelsen und Radbruch in unterschiedlicher Weise gebraucht wird, ist zu hinterfragen: Wenn wie bei Kelsen Recht und Moral jeweils relativ verstanden werden, läßt sich genauso die Möglichkeit einer relativen, geschichtlich vorläufigen Begründung von Recht durch die Moral denken. Die Fassung des Relativitätskriteriums bei Radbruch erlaubt die Frage, ob nicht das Recht, obwohl relativ, von der absoluten Moral relativ oder absolut begründet werden kann.

12

^

126 127 128

Diese drei Werte und Ziele ordnet Radbruch den damals in Deutschland bestehenden Parteien zu in einer "Rechtsphilosophischen Parteienlehre". Vgl. ebd. S. 152-163. S. S. 88ff. S. ebd. Radbruch weist immer wieder auf die grundsätzliche Relativität allen Rechts hin. Es bleibt bei ihm aber offen, ob er diese Relativität auch in bezug auf die moralischen Werte als gegeben ansieht und damit der von ihm immer wieder hervorgehobene Anspruch der Moral nach Absolutheit unhaltbar wird.

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3. Der Begriff des Rechts im Rechtspositivismus Nachdem der Rechtspositivismus eine eigenständige Ortsbestimmung vollzieht, muß nun eine systemimmanente Bestimmung des Rechtsbegriffs erfolgen. Systemimmanent bedeutet: Recht muß allein durch die Prämissen und Basissätze des rechtspositivistischen Systems definiert werden, woraus eine formale Begriffsbestimmung folgt. Rechtssysteme legen selbst fest, was Recht ist. a) H. Kelsen H. Kelsen wählt den sprachanalytischen Zugang zum Rechtsbegriff,129 indem er die Verwendung des Begriffs Recht in verschiedenen Sprachen untersucht und von daher dann Recht "als Ordnung menschlichen Verhaltens" definiert: "Eine 'Ordnung' ist ein System von Normen, deren Einheit dadurch konstituiert wird, daß sie alle denselben Geltungsgrund haben;... eine Grundnorm, aus der sich die Geltung aller zu der Ordnung gehörigen Normen ableitet. Eine einzelne Norm ist eine Rechtsnorm, sofern sie zu einer bestimmten Rechtsordnung gehört, und sie gehört zu einer bestimmten Rechtsordnung, wenn ihre Geltung auf der Grundnorm dieser Ordnung beruht."130 Zentraler Begriff zur Definition von Recht ist bei Kelsen die Norm.131 Ein angemessener Rechtsbegriff kann nur durch eine präzise Verhältnisbestimmung von Geltung und Wirksamkeit von Normen erzielt werden, weil diese exemplarisch für das Verhältnis von Sollen (der Geltung) und Sein (der Wirksamkeit) steht. Um den Begriff der Norm zu bestimmen, führt Kelsen zuerst die Grundunterscheidung zwischen Handlung ("Akt") und der "rechtlichen Bedeutung" dieser Handlung ein:132 Eine Handlung kann, muß aber keine rechtliche Bedeutung haben. Er unterscheidet zwischen 129 Vgl. H. Kelsen, a.a.O., S. 31f. Radbruch wendet dagegen ein, daß mit einem sprachlichen Zugang der Rechtsbegriff nicht begründet werden kann. Vgl. Ders., a.a.O., S. 119. 130 H. Kelsen, a.a.O., S. 32, vgl. auch S. 48. 131 Dabei zeigt Kelsen auf, daß Normen in einem Rechtssystem sprachlich sowohl als Imperativ wie als Indikativ auftreten können, vgl. ebd. S. 73-77. 132 Vgl. ebd. S. lf.

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einem Gegenstand und einer Norm, zwischen Sein und Sollen.133 Dabei kann das Sein, verstanden als Handlung, Verhalten oder eine Sachgegebenheit, der Intention des Sollens entsprechen, ohne daß dann das Sein mit dem Sollen identisch ist. Das Sein kann dem Sollen nur "entsprechen". Kelsen spricht davon, daß weiterhin die "Modi" von Sein und Sollen unterschiedlich sind.134 Recht dient als Interpretation von Handlungen, wobei eine oder mehrere Normen als Deutungsschema dienen: "Das Urteil, daß ein in Raum und Zeit gesetzter Akt menschlichen Verhaltens ein Rechts- (oder Unrechts-) Akt ist, ist das Ergebnis einer spezifischen, nämlich normativen Deutung."135 Die Norm selbst ist die Folge einer Rechtssetzung, die ihrerseits als solche wiederum durch Normen konstituiert ist. Recht versteht Kelsen von daher als normative Ordnung oder als Normensystem, das als Funktion und Ziel die Regelung menschlichen Handelns und Verhaltens durch Normen hat.136 Eine Norm ist nur dann als eine rechtliche Norm anzusehen, wenn sie zum einen einer sie als rechtliche Norm ausweisenden Norm entspricht und zum anderen im Zusammenhang eines rechtlichen Normensystems auftritt.137 Den Normbegriff möchte Kelsen nicht nur als "Gebieten", sondern auch als "Zulassen von" oder "Ermächtigen zu" bestimmten Handlungen oder einem bestimmten Verhalten definieren.138 Als das Wesen einer Norm139 bezeichnet Kelsen ihre "Geltung",140 die zu unterscheiden ist von dem Willensakt einzelner oder mehrerer, die diese Norm - in Geltung - gesetzt haben. Weiter ist für eine rechtliche Norm ein "Minimum" an Wirksamkeit konstitutiv141; ohne 133

Diese Unterscheidung zwischen Sein und Sollen wird als nicht begründbar, als evident eingeführt, vgl. ebd. S. 5. 134 Vgl. ebd. S. 5ff. 135 136 137 138 139 140 141

Ebd. S. 3. Vgl. ebd. S. 4. S.S. 66-70. Vgl. H. Kelsen, a.a.O., S. 5 und 15f. Kelsen benutzt für "Wesen" den Ausdruck "Existenz", s. ebd. S. 10. Vgl. ebd. S. 9-15. Vgl. ebd. S. 10 und 215-221. Der Begriff der "Wirksamkeit" wird von Kelsen ebenfalls differenziert: Erstens ist eine Norm wirksam, wenn sie zu einem bestimmten Verhalten führt (Generalprävention), und sie ist zweitens auch dann wirksam, wenn dieses Verhalten nicht erreicht, ihm sogar zuwider gehandelt wird; in die-

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dieses "Minimum" könnte sie ihre Funktion nicht erfüllen, was sie ungültig werden lassen würde.142 Die Setzung einer Norm und ihre Wirksamkeit sind Voraussetzung für die Geltung einer Norm, aber nicht mit ihr identisch. Die Setzung und Wirksamkeit sind so konstitutiv für den Normbegriff, ohne daß sie sein Wesen abschließend charakterisieren.143 Das Wesensmerkmal einer Rechtsnorm besteht in einem Sollen, das ein Sein, seine Setzung, zur konstitutiven Voraussetzung hat und auf ein(e Veränderung von) Sein zielt, in dem es wirksam werden will. Zur Geltung der Norm gehört immer ein spezifischer Geltungsbereich: Sie gilt in einer bestimmten Zeit und Situation und in bezug auf ein bestimmtes Verhalten oder Handeln von Personen sowie in bezug auf Sachverhalte. Dieser Geltungsbereich bildet ein erstes inhaltliches Moment einer Norm: Normen und damit auch Rechtssysteme sind immer zeit- und situationsvariant und können sich geschichtlich verändern. Indem Normen ein spezifisches Verhalten oder Handeln bewirken wollen, bilden sie Werte, die immer relativ sind, da die sie konstituierenden Normen sich ändern können. Die Normen setzen Werte, die ohne die Normen nicht vorhanden sind, da sie dem Sein nicht vor- oder mitgegeben sind.144 Von diesem Normbegriff her definiert dann Kelsen das Recht als "eine Ordnung menschlichen Verhaltens"145. Diese Ordnung wird in doppelter Hinsicht näher präzisiert: Sie ist sowohl eine soziale oder Gesellschaftsordnung als auch eine Zwangsordnung, weil sie das Zuwiderhandeln gegen das von ihren Normen geforderte Verhalten oder Handeln an eine Sanktion knüpft,146 d.h. umgekehrt aber auch, daß sie kein Verhalten oder Handeln erzwingen kann.147 Durch die Ordnung hat die Rechtsgemeinschaft das Gewaltmonopol. Erst das

142

143 144 145 146 147

sem Fall, weil die mit den Rechtsnormen verbundenen Sanktionen ihre Wirksamkeit indirekt in Geltung halten. Kelsen führt hier das später von Luhmann stark betonte Funktionalitätskriterium für das Recht ein, zu Luhmann s. § 3. Vgl. H. Kelsen, a.a.O., S. 219. Vgl. ebd. S. 16-24 und 67f. S. ebd. S. 31ff. Vgl. ebd. S. 34ff., 41ff. und 52. Normen (der Verfassung), die nur die Gewinnung, den Geltungsbereich und die Legalität von Nonnen eines Rechtssystems regeln und deshalb mit keinen Sanktionen verbunden sind, gelten als "unselbständig", s. ebd. S. 52 und 55-59.

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Charakteristikum des Zwangs ermöglicht der Rechtsordnung, auch "Sicherheits-, und das heißt Friedensordnung"148 zu werden: die Sicherung des Friedens als wesentliche Funktion des Rechts. Zur Rechtsordnung gehört weiter auch die Eröffnung von Freiheit in zweifacher Hinsicht: Einerseits garantiert sie Freiheit, andererseits wahrt sie rechtsfreie Räume.149 So bestimmt Kelsen seinen Rechtsbegriff rein formal, die inhaltlichen Bestimmungen von Recht sind s.E. beliebig und können nicht von der Rechtswissenschaft oder einer Philosophie vorgegeben werden.150 Die Rechtswissenschaft beschreibt nur das vorhandene Recht und entwickelt selbst keine Vorstellung von dem, wie Recht sein sollte. Kelsen nimmt aber in diesem Zusammenhang die Erkenntnis Kants auf,151 daß beim Erkennen eines Gegenstandes der Gegenstand zugleich miikonstituiert wird, ohne daß damit die Rechtswissenschaft die Berechtigung hätte, ein "richtiges" Recht als kritischen Maßstab zum positiven Recht zu entwickeln152 oder das Recht an einem außerrechtlichen Wertmaßstab zu messen.153 b) G. Radbruch154 Radbruch gewinnt seinen Rechtsbegriff bewußt aus der Rechtsidee,155 die er als apriorisch gegeben versteht. Recht wird damit zu einem a priori gegebenen "Allgemeinbegriff", der nicht näher begründet werden kann.156 Er geht weiter bei seiner Bestimmung des Rechtsbegriffs auch davon aus, daß Recht ein "Kulturbegriff" ist, den er näher definiert als einen "Begriff von einer wertbezogenen Wirklichkeit, einer Wirklichkeit, die den Sinn hat, einem Werte zu die-

148 149 150 151 152 153 154 155 156

S. ebd. S. 39f. Vgl. ebd. S. 43ff. Vgl. ebd. S. 201 und 224. S.S. 49. Vgl. H. Kelsen, a.a.O., S. 74f. Vgl. ebd. S. 84. Vgl. G. Radbruch, a.a.O., S. 119-126. Vgl. ebd. S. 164-169 und 119-123. Vgl. ebd. S. 124f.

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nen"157. Daraus ergibt sich für das Recht zum einen: "Recht ist die Wirklichkeit, die den Sinn hat, dem Rechtswerte, der Rechtsidee zu dienen. "158 Die Funktion von Recht besteht folglich darin, "...die Rechtsidee zu verwirklichen ,.."159, wobei er unter Rechtsidee die höchsten Werte des Rechts, Gerechtigkeit, "Zweckmäßigkeit" und Rechtssicherheit versteht, die einerseits einander bedingen und andererseits zueinander in Spannung stehen.160 Seine Definition von Recht richtet Radbruch dann am Gerechtigkeitsbegriff aus, obwohl er alle drei Begriffe, Gerechtigkeit,161 Zweckmäßigkeit162 und Rechtssicherheit, als gleichermaßen konstitutiv für den Rechtsbegriff versteht, so "... daß Recht die Wirklichkeit sei, die den Sinn hat, der Gerechtigkeit zu dienen."163 Von seinem "relativistischen" Standpunkt her geht Radbruch dabei davon aus, daß gerechtes Recht jeweils sowohl von einem Gesellschafts- als auch von einem Wertesystem abhängig ist und deshalb nicht zeit- und situationsinvariant definiert werden kann. Obwohl aus diesem Grund auch Gerechtigkeit nur ein relativer Wertbegriff ist, will ihn Radbruch zum Maßstab für das positive Recht machen,164 auch dann, wenn dieses Unrecht darstellt. Zum anderen bestimmt Radbruch Recht "als den Inbegriff der generellen Anordnungen für das menschliche Zusammenleben"165. Dies 157

158

159 160 161

162

163 164 165

Ebd. S. 119, vgl. S. 91. Wert und Wesen werden bei Radbruch aufeinander bezogen und zugleich voneinander unterschieden, weil Sein und Sollen voneinander zu trennen sind. "Denn wir nennen es Wesen eines Dinges, wenn der Wert als Prinzip seines Seins begriffen wird." Ebd. S. 90, vgl. 93ff. Ebd. S. 119. Die Unterscheidung von Rechtswert und Rechtsidee fällt bei Radbruch in eins. Die Rechtsidee ist Gerechtigkeit und damit zugleich ein Wert. Die Rechtsidee muß notwendigerweise ein Wert sein, da Recht zuerst als Kulturbegriff, d.h. als Wertbegriff eingeführt wird. Dies führt bei Radbruch dazu, daß beide Begriffe synonym verwendet werden. Dabei versteht Radbruch "Idee" als etwas nicht metaphysisches, sondern im Gegenteil als menschliche Größe. Ebd. S. 91. Vgl. ebd. S. 164-169 und 119-123. Gerechtigkeit versteht Radbruch in erster Linie als formale, konstitutive Größe, vgl. ebd. S. 142. Zweckmäßigkeit versteht Radbruch in erster Linie als inhaltliche, konstitutive Größe, vgl. ebd. Ebd. S. 123. Vgl. ebd. S. 121ff. Ebd. S. 124, vgl. S. 164.

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ist in zweifacher Richtung eine konsequente Weiterentwicklung seiner ersten Definition: Weil eine Wirklichkeit, die sich auf Ideen bezieht, diese Ideen immer auch konkret werden lassen muß, ist die Wirklichkeit, die sich auf die Rechtsidee bezieht, als System von Anordnungen zu verstehen.166 Und Gerechtigkeit, als Rechtsidee im rechtlichen Sinne verstanden167, bezieht sich auf das menschliche Zusammenleben oder das Verhältnis der Menschen zueinander, sie ist eine soziale Größe. In der Idee der Rechtssicherheit ist der Überschritt zur Positivität des Rechts begründet. Es kann nicht letztgültig richtiges Recht bestimmt werden, von daher muß Recht durch eine Institution festgesetzt werden, die für die Durchsetzung des so festgesetzten Rechts bürgt und die Geltung der positiven Gesetze wahrt, auch wenn deutlich ist, daß diese Gesetze ungerecht sind.168 "Die Positivität des Rechts wird damit in höchst merkwürdiger Weise selbst zur Voraussetzung seiner Richtigkeit: es gehört ebensosehr zum Begriffe des richtigen Rechts, positiv zu sein, wie es Aufgabe des positiven Rechts ist, inhaltlich richtig zu sein."169 Deshalb hat der Gesetzgeber die Aufgabe, positives Recht zu setzen, unabhängig davon, ob dieses Recht auch gerecht ist. Dies versteht Radbruch als rein willkürlichen und autoritären Akt, dessen Legitimation gegenüber dem Einzelnen lediglich darin besteht, daß dadurch ein gewisses Maß an Ordnung und Sicherheit gewährleistet werden kann.170 Aber auch der Gesetzgeber muß sich einmal gesetztem Recht unterwerfen, was am besten

166 »wie fassen das Wesen der rechtlichen Anordnung dahin zusammen, daß sie positiver und zugleich normativer, sozialer und genereller Natur ist..." Ebd. S. 124. 167 Gerechtigkeit kann nach Radbruch als sittlicher wie auch als rechtlicher Wertbegriff verstanden werden, wobei sich der sittliche Gerechtigkeitsbegriff auf das Individuum bezieht, der rechtliche auf die Gesellschaftsordnung, vgl. ebd. S. 120f. 168 vgl. dazu die problematischen Ausführungen in ebd. S. 178f. und die spätere Korrektur in Ders., Gesetzliches Unrecht und iibergesetzliches Recht, a.a.O., S. 345f. 169 Ders., Rechtsphilosophie, S. 165, vgl. auch S. 175. 170 Die Erfahrungen des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkrieges lassen Radbruch diese Position später nicht mehr als haltbar erscheinen. Vgl. insb. Ders., Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, a.a.O., S. 339-350 und Ders., Erste Stellungnahme nach dem Zusammenbruch 1945, a.a.O., S. 105-110.

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in einem auf dem Prinzip der Gewaltenteilung beruhenden demokratischen Rechtsstaat gewährleistet werden kann. c) H.L.A. Hart171 Hart vertritt eine von der Analytischen Philosophie, insbesondere von der Philosophie L. Wittgensteins172 geprägte Rechtstheorie, die dem Rechtspositivismus und dessen Vorgänger, dem Utilitarismus, nahesteht und zugleich entschieden die Position von Kelsen und Radbruch (Spätwerk) kritisiert. Recht ist für Hart ein empirisch-soziales Regelsystem, das durch die "Einheit von primären und sekundären Regeln" gekennzeichnet ist.173 Unter primären Regeln versteht er solche Regeln, die die Menschen zu einem bestimmten Verhalten oder Handeln oder zu dessen Unterlassung verpflichten, sie sind "Verpflichtungsregeln"174. Dabei "verpflichten" Primärregeln nicht nur zu einem Verhalten oder Handeln, sondern sie rechtfertigen gleichzeitig auch die für den Fall des Verstoßes gegen diese Regeln aufgestellten Sanktionen. Diese Primärregeln besitzen eine offene Struktur einerseits in ihrer Abhängigkeit von Sprache, der Hart eine "charakterisch offene(n) Struktur" zuschreibt,175 und andererseits in ihrem notwendigen Allgemeinheitsgrad. Diese Offenheit von Primärregeln steht in Spannung zu dem Wunsch vieler Bürger nach Rechtssicherheit, nach einer bis ins Detail gehenden, eindeutig festgelegten Gesetzgebung. Die Vagheitsspielräume des Rechts eröffnen demgegenüber den Spielraum für die Organe der Rechtsanwendung und des -Vollzugs. Die sekundären Regeln legen die Gewinnung, Festsetzung und Anwendung der Primärregeln fest;176 sie sind "rules of recognition,

171 172

173 174 175 176

Vgl. H.LA. Hart, Der Begriff des Rechts, insb. S. 115-212. Hart beruft sich dabei auf Wittgenstein II, vgl. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen. Vgl. H.LA. Hart, a.a.O., S. 115 u.ö. Vgl. ebd. S. 117f. und 131. Vgl. ebd. S. 178. Vgl. ebd. S. 117f. und 131.

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change and adjudication"177. Erst "in der Vereinigung" von Primärund Sekundärregeln kann man von Recht sprechen: "If we stand back and consider the structure which has resulted from the combination of primary rules of obligation with the secondary rules of recognition, change and adjudication, it is plain that we have here not only the heart of a legal system, but a most powerful tool for the analysis of much that has puzzled both the jurist and the political theorist."178 Zu den Sekundärregeln gehört erstens eine "Erkenntnisregel", die Recht als Recht konstituiert, in der die Kriterien für die Primärregeln und ihre Gültigkeit verankert sind. Zweitens gehören dazu "Änderungsregeln", die das Verfahren der Veränderung von Rechtssätzen bestimmen, und drittens "Entscheidungsregeln", die das Verfahren der Rechtsanwendung klären. Die "Erkenntnisregel" muß nicht unbedingt schriftlich als solche fixiert sein, aber sie wird erkennbar in der Existenz- und Funktionsweise von Rechtssystemen: Die Erkenntnisregel "existiert... nur als komplexe, aber normalerweise koordinierte Praxis der Gerichte, Beamten und Privatpersonen, wenn sie mit Hilfe gewisser Kriterien identifizieren, was Recht ist. Die Existenz der Erkenntnisregel liegt in dieser Art von Faktizität."179 Diese allem Recht zugrundeliegende und meist die Grundlage einer Verfassung bildende Erkenntnisregel möchte Hart in Abgrenzung zu natur- und vernunftrechtlichen Rechtsbegriffen als rechtliche, dem Rechtssystem immanente Größe verstanden wissen. Die Primärregeln sind von allen Menschen, die in einem Rechtsbereich leben, zu befolgen, die Sekundärregeln müssen insbesondere von den "Rechtsorganen" befolgt werden. Das, was Recht ist und sein soll, muß auch im rechtspositivistischen System durch eine Grundnorm begründet werden, die Gerechtigkeitsvorstellung oder eine Sekundär-/Erkenntnisregel. Diese Begründung erfolgt systemimmanent und rein formal, auch die Gerechtigkeit ist hier kein inhaltliches Kriterium bzw. sie wird letztlich bedeutungslos, wenn sie, wie bei G. Radbruch, zum konsequenzenlosen 177

178 179

S. Ders., The Concept of Law, S. 95 u.ö. Dtsch: Der Begriff des Rechts, S. 140 u.ö. Ders., The Concept of Law, S. 95. Dtsch: Der Begriff des Rechts, S. 139f. Ders., Der Begriff des Rechts, S. 155, vgl. auch S. 157.

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Maßstab wird, dadurch, daß sie auch einem Unrechtssystem zugrundegelegt werden kann. So verständlich die Einsicht des rechtspositivistischen Systems ist, daß Recht immer einer Begründung bedarf, so offen ist es allerdings, ob eine so offene, formale Begründung, z.B. durch eine Grundnorm, ausreichend ist.

4. Recht als auf einer Grundnorm basierende Stufenordnung von Normen Als Beispiel für ein formales konstitutives Element des rechtspositivistischen Systems habe ich das auf seinen Überlegungen zum Rechtsbegriff aufbauende Verständnis von Recht als Stufenordnung bei H. Kelsen gewählt. Dieses formale konstitutive Element des rechtspositivistischen Systems ist systemspezifisch, da es sich hierbei um ein inneres Organisationsprinzip von Recht handelt, welches die Zuordnung, Unterscheidung und Gewichtung der einzelnen Rechtsnormen betrifft. Dies wird wiederum nach ausschließlich rechtsspezifischen Kriterien entschieden. Durch die Vorstellung von Recht als einer Stufenordnung soll die innere Einheit des Rechtssystems gewährleistet werden. Da Kelsen streng zwischen Sein, Gegenstand, und Sollen, Norm, unterscheidet, kann er Normen wiederum nur durch Normen rechtfertigen: Eine Norm kann allein aufgrund einer anderen Norm gelten. Normen können nur durch eine dazu ermächtigte Instanz180 in einem ebenfalls normierten Verfahren gesetzt werden. Um dieses Verfahren nicht zu einem regressus ad infinitum werden zu lassen, führt Kelsen eine höchste Grundnonn ein,181 deren Geltung nicht auf einer anderen Norm basieren und die auch nicht durch eine von einer Norm autorisierte Instanz gesetzt sein kann und muß.182 Die 180

Kelsen spricht von "Autorität". Vgl. H. Kelsen, a.a.O., S. 196-227. Seine Überlegungen zu einer "Grundnorm" sind vielfach kongruent zu denen von Hart zu einer "Erkenntnisregel", vgl. Ders., a.a.O., S. 135-155. 182 "AJs höchste Norm muß sie (sc. die Grundnorm) vorausgesetzt sein, da sie nicht von einer Autorität gesetzt sein kann, deren Kompetenz auf einer noch höheren Norm beruhen müßte. Ihre Geltung kann nicht mehr von einer höheren Norm 181

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Die grundlegenden Paradigmen

Grundnorm legitimiert die Geltung aller zu einem Rechtssystem gehörenden Normen, sie ist ihr "Geltungsgrund".183 Die Grundnorm legt als Bedingung der Geltung von Normen ihre Setzung und Wirksamkeit fest.184 Diese Grundnorm schafft die Einheit eines Rechtssystems. Daraus ergeben sich zwei mögliche Arten von Rechtssystemen, ein statisches, in dem mit der Grundnorm nicht nur die Geltung von Normen legitimiert, sondern auch ihr Inhalt begründet wird, und ein dynamisches, in dem mit der Grundnorm allein die Geltung von Normen legitimiert wird. Kelsen tritt für ein dynamisches Rechtssystem ein, da es s.E. keine allgemein evidenten Inhalte gibt. Die Grundnorm ist in der Verfassung eines Staates verankert; sie konstituiert und legitimiert die Geltung dieser Verfassung und wurde entweder bei der Konstitution eines Staates mitentwickelt oder ist entstanden, als durch eine Revolution eine Staatsverfassung durch eine andere abgelöst wurde. Da die Grundnorm eines dynamischen Rechtssystems hier die Geltung von Normen begründet, wird mit ihrer Annahme noch kein dem positiven Recht immanenter Wert bejaht.185 Kelsen möchte aber im Sinne von Kant die Grundnorm als "eine transzendental-logische Voraussetzung" eines Rechtssystems verstehen.186 Mit anderen Worten: Die Grundnorm ist aufgrund ihrer allgemein einsehbaren Funktion für ein Rechtssystem notwendig für das Verständnis und das Funktionieren von Rechtssystemen. Sie muß als vorgegeben angesehen werden. Sie ist als solche denknotwendig, ohne daß ein bestimmter Inhalt damit auch evident gemacht werden und sie zum Maßstab der Kritik von Normen und ihren Inhalten benutzt werden könnte. D.h. die Grundnorm ist denknotwendig zur Erklärung eines Rechtssystems, auch ohne daß sie explizit als solche gesetzt ist. Sie ist "hypothetisch".187 Weil mit ihr aber keine In-

183 184 185 186 187

abgeleitet, der Grund ihrer Geltung nicht mehr in Frage gestellt werden." H. Kelsen, a.a.O., S. 197. Vgl. G. Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 170f. Vgl. H. Kelsen, a.a.O., S. 197. Vgl. S. 91f. Vgl. H. Kelsen, a.a.O., S. 204. Vgl. ebd. S. 205. Vgl. ebd. S. 206-209, 224f. und 228. "Da diese Grundnorm keine gewollte ... Norm sein kann, und diese Norm (richtiger: ihre Aussage) für die Begründung der objektiven Geltung der positiven Rechtsnormen logisch unerläßlich ist, kann sie nur eine gedachte Norm sein, und zwar eine Norm, die als Voraussetzung gedacht

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halte gegeben sind und sie nur eine erkenntnistheoretische Funktion für das Verständnis von Rechtssystemen ausübt, ist nach Kelsen der gegen ihn gerichtete Vorwurf, er führe über die Grundnorm ein naturrechtliches Prinzip in seine rechtspositivistische Lehre ein, haltlos.188 Durch die Setzung einer Grundnorm und die These, daß Normen nur durch Normen gerechtfertigt werden können, ergibt sich notwendigerweise eine Stufenordnung innerhalb von Rechtssystemen.189 Oberste Stufe einer Rechtsordnung ist die Verfassung, die die Geltung und damit auch die Setzung und Wirksamkeit von Normen regelt, also formelle Normen beinhaltet. Dann folgen die generellen Normen, die durch Gesetzgebungsorgane gesetzt werden. Diese generellen Normen sind untergliedert in materiale und formale generelle Normen. Diese Stufenordnung führt Kelsen weiter über die Rechtssprechung bis hinunter zur Verwaltung aus. "Rechtsquelle" kann in dieser Stufenordnung nur das Recht selbst sein. Damit will aber Kelsen keinen indirekten Einfluß von anderen Normen etc. auf das Recht ausschließen. Ungeklärt ist der Zusammenhang von Theorie und Praxis, Begriff und Existenz bei Kelsens These von der Denknotwendigkeit der Grundnorm, die s.E. aber nicht unbedingt auch die geschichtliche Notwendigkeit einer Grundnorm innerhalb von Rechtssystemen zur Folge haben muß: Kann auf eine denknotwendige Grundnorm in einem real existierenden Rechtssystem verzichtet werden? Weiter stellt sich insgesamt für das rechtspositivistische System die Frage, ob eine formale Grundlegung eines Rechtssystems, allein durch formale konstitutive Elemente und eine Konzentration auf rein handlungstheoretische Grundnormen, die dann doch geschichtlich inhaltlich ausformuliert werden müssen, überhaupt ausreichen kann bzw. ob es zu rechtfertigen ist, das Recht inhaltlicher Beliebigkeit zu überlassen.

wird, wenn eine im großen und ganzen wirksame Zwangsordnung als ein System gültiger Rechtsnormen gedeutet wird." Ebd. S. 206-208. 188 Vgl. ebd. S. 223-226. 189 Vgl. ebd. S. 228-282.

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§ 3 Das systemtheoretische Verständnis von Recht bei N. Luhmann als Paradigma Spezifisch für das Verständnis von Recht bei Luhmann190 ist die Integration in seine Systemtheorie, die als Supertheorie konzipiert wird. Von diesem systemtheoretischen Ansatz her wird von Luhmann der Versuch unternommen, Recht systemimmanent zu erfassen. Da er sein System ständig weiter ausdifferenziert, zeigt sich auch eine Verschiebung in seinem Verständnis von Recht, auf die ich bei der Darstellung seiner Ortsbestimmung genauer eingehen werde. Hier zieht diese Verschiebung entscheidende Konsequenzen nach sich. Als für Luhmanns Rechtsverständnis zentrales konstitutives handlungstheoretisches Element im formalen Bereich stelle ich die "Legitimation durch Verfahren" dar, die zugleich auch die inhaltliche Legitimation leisten soll. Da die Vorstellung von Gerechtigkeit elementar für alle Rechtssysteme ist, soll nun diese Thematik am Beispiel von Luhmanns Aussagen zur Gerechtigkeit erarbeitet werden. Luhmann erhebt in diesem Zusammenhang den Anspruch, alle geschichtlichen Gerechtigkeitsvorstellungen in seinen Gerechtigkeitsbegriff integrieren zu können und eine eigenständige Neuformulierung zu vollziehen. Der Gerechtigkeitsbegriff, der ursprünglich ein konstitutives handlungstheoretisches Element im materialen Bereich bildet, wird hier als formales Element behandelt.

1. Luhmanns systemtheoretische Grundlegung von Recht Nachdem der systemtheoretische Ansatz bei Luhmann entscheidend für die Unterscheidung seines Verständnisses von Recht von dem des rechtspositivistischen Systems ist, sollen hier bei der Ortsbestimmung von Recht die für das Rechtsverständnis relevanten Aussagen des systemtheoretischen Ansatzes kurz mit entfaltet werden. Recht 190

Zum Verständnis von Recht bei Luhmann vgl. insb. Ders., Rechtssoziologie; Ders., Ausdifferenzierung des Rechts und Ders., Die soziologische Beobachtung des Rechts.

Das systemtheoretische Paradigma

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kann bei Luhmann nur angemessen verstanden werden, indem der Ort und damit die Funktionsbestimmung von Recht innerhalb der Theorie sozialer Systeme aufgezeigt wird. a) Der Ort des Rechts innerhalb der Systemtheorie Unter einem sozialen System versteht Luhmann einen "Sinnzusammenhang von sozialen Handlungen" oder "Kontakten", die in Relation zueinander stehen und die sich von anderen (sozialen) Systemen und der Welt, im Sinne von Wirklichkeit als Ganzem, abgrenzen lassen.191 So hat jedes System in der Welt seine eigene, systemspezifische Umwelt, von der es sich unterscheidet. Aufgrund dieser von einem System vollzogenen Unterscheidung von der Umwelt gewinnt es durch die damit gegebene Differenz seine eigene Identität. Die Umwelt eines Systems bilden (Elemente von) Welt und andere Systeme, für die das jeweilige System auch wieder Umwelt darstellt. Die Umwelt eines Systems ist immer komplexer und unbestimmter als das System.192 In der Welt als Ganzem und in den Systemen gibt es eine Menge der möglichen Ereignisse, die Luhmann unter den Begriff der "Komplexität" faßt. 193 Die Komplexität eines Systems ist abhängig von der es umgebenden Welt und seiner eigenen Differenzierungsfähigkeit; das System muß auf Veränderungen in der es umgebenden Welt reagieren können. Je komplexer die Welt begriffen wird, desto komplexer werden auch die sozialen Systeme. Um sich in der Welt angesichts von Komplexität orientieren zu können, muß die Komplexität der Welt aufgenommen und "reduziert" werden,194 um somit Sinn19S erfahrbar zu machen. "Sinn" versteht Luhmann als

191

192 193 194 195

S. N. Luhmann, Soziologie als Theorie sozialer Systeme. In: Ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 1, S. 115. Später ersetzt Luhmann den Begriff der Handlung durch den weitergehenden Begriff des "Kontaktes": "Jeder soziale Kontakt wird als System begriffen bis hin zur Gesellschaft als Gesamtheit der Berücksichtigung aller möglichen Kontakte." Ders., Soziale Systeme, S. 33. Vgl. ebd. S. 242-285. S. Ders., Soziologie als Theorie sozialer Systeme, a.a.O., S. 115. Vgl. ebd. S. 116 u.ö. "Sinn ist Selektion aus anderen Möglichkeiten und damit zugleich Verweisung auf andere Möglichkeiten." Ebd. S. 116. Vgl. auch Ders., Sinn als Grundbegriff der

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Die grundlegenden Paradigmen

Verweis auf andere Möglichkeiten, die zugleich als nicht sinnhafte abgewählt wurden. Sinn hat bei der hohen Komplexität sozialer Systeme die Funktion, aus den vorhandenen Möglichkeiten eine Möglichkeit auszuwählen (Selektion) und dabei auf die anderen Möglichkeiten zu verweisen. Die Bereitstellung von Sinn ist die Funktion sozialer Systeme.196 Dazu werden in den Systemen Strukturen gebildet, die eine grundsätzliche Orientierung innerhalb eines sozialen Systems bieten, indem sie die Handlungen eines Systems ordnen und Verhaltenserwartungen generalisieren.197 "Handlungssysteme strukturieren sich nicht durch Seinsgesetze, sondern durch Erwartungszusammenhänge."198 Strukturen schränken die Handlungsmöglichkeiten und die möglichen Relationen in einem System ein und eröffnen dadurch Sinn.199 Indem Strukturen die Handlungs- und Relationsmöglichkeiten einschränken und selbst dadurch schon Komplexität reduziert haben (1. Selektion), ermöglichen die mit ihnen gegebenen Handlungsmöglichkeiten (2. Selektion) für den Menschen die "Reduktion von Komplexität durch doppelte Selektivität"200. Strukturen selektieren in ihrer Ausbildung Komplexität und reduzieren diese schon selektierte Komplexität nochmals, indem sie reduzierte Handlungsmöglichkeiten anbieten. Recht definiert Luhmann innerhalb dieser "Theorie sozialer Systeme" dann als "Struktur sozialer Systeme"201. Recht wird damit zu einem unverzichtbaren und elementaren Bestandteil sozialer SySoziologie. In: J. Habermas, N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung? S. 25-100. 196 vgl. Ders., Soziologie als Theorie sozialer Systeme, a.a.O., S. 116. Diese Funktion der Aufnahme und Reduktion von Komplexität ist aus anthropologischen Gründen notwendig, da der Mensch nur eine bestimmte Kapazität zur Aufnahme von Komplexität zur Verfügung hat. 197 Vgl. ebd. S. 120-123. Zu Luhmanns Normbegriff s. S. 105f. 198 N. Luhmann, Rechtssoziologie, S. 116 und vgl. Ders., Soziale Systeme, S. 382. 199 Vgl. ebd. S. 384, vgl. auch S. 73f. und S. 92-147. 200 vgl Ders., Soziologie als Theorie sozialer Systeme, a.a.O., S. 119f. Luhmann definiert von diesem Begriff her Struktur auch auf funktionale Weise: Struktur ist "Selektivitätsverstärkung durch Ermöglichung doppelter Selektivität". N. Luhmann, Rechtssoziologie, S. 40. 201 vgl. z.B. Ders., Soziologie als Theorie sozialer Systeme, a.a.O., S. 122; Ders., Rechtssoziologie, S. 105, 134ff., 210, 219, 226, 297ff.; Ders., Legitimation durch Verfahren, S. 233-241.

Das systemtheoretische Paradigma

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steme.202 Indem Recht als "Struktur sozialer Systeme" bestimmt wird, wird dem Recht hier von Luhmann ein erster Ort in seiner Theorie sozialer Systeme zugewiesen, von dem her dann der Rechtsbegriff definiert wird: "Die in diesem Sinne kongruent generalisierten normativen Verhaltenserwartungen wollen wir als das Recht eines sozialen Systems bezeichnen. Das Recht leistet selektive Kongruenz und bildet dadurch eine Struktur sozialer Systeme."203 Die Ortsbestimmung von Recht durch Luhmann geschieht aufgrund der Funktionsbestimmung von Recht, und darin liegt zugleich das wesentliche Element für die Begriffsbestimmung. In seiner Systemtheorie nimmt Luhmann allerdings m.E. noch eine zweite Ortsbestimmung von Recht vor: Er bestimmt Recht nicht nur als "Struktur sozialer Systeme", sondern auch als (Teil)system.204 Dadurch bekommt das Recht einen anderen Ort, was Folgen für den Rechtsbegriff hat.205 Wenn Recht zum autopoietischen System wird, hat es einen eigenständigen Ort, wird gegenüber dem sozialen System, Gesellschaft, unabhängig. Recht als autopoietisches System erhält durch das soziale System zwar seine Funktion, bildet aber ein selbstreferentielles System aus. Meines Wissens schreibt Luhmann nicht explizit,206 warum er den Ort und den Stellenwert von Recht 202 203 204

205 206

Vgl. Ders., Rechtssoziologie, S. 294. Ebd. S. 99. Vgl. Ebd. S. 295, 354-363. In Ders., Ausdifferenzierung des Rechts tritt die Vorstellung von Recht als Struktur sozialer Systeme fast völlig hinter die Vorstellung von Recht als System zurück, ebenso in Ders., Soziale Systeme, S. 440f., 509-512, und insbesondere in seinem neuesten Beitrag zur Rechtssoziologie "Die soziologische Beobachtung des Rechts" spricht er nur noch von Recht als einem "selbstreferentiellen autopoietischen System". S.S. 104-112. Ein Hinweis findet sich lediglich im Vorwort zur 2. Auflage der Rechtssoziologie, S. VII, wo er schreibt, daß die Erkenntnisse der Systemtheorie neue Möglichkeiten für eine soziologische Theorie von Rechtssystowe/i eröffnen. Hier weist er darauf hin, daß er deshalb den Schluß der Rechtssoziologie "Rechtssystem und Rechtstheorie" gegenüber der 1. Auflage neu geschrieben habe. In diesem Schluß spricht er dann ausschließlich von Recht als System, ohne darauf einzugehen, daß in den vorherigen Kapiteln von Recht als Struktur die Rede ist. Als ein Bindeglied seiner bisherigen Ausführungen zu diesem Schlußkapitel gibt er im Vorwort die Differenz von normativen und kognitiven Erwartungen an. Weiter wäre an dieser Stelle zu überlegen, ob beim Rechtsverständnis Luhmanns implizit der von ihm in seinem Buch "Soziale Systeme" (erstmals 1984 erschienen)

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auf zwei unterschiedliche Weisen definiert.207 Mehr implizit begründet dies m.E. Luhmann damit, daß mit zunehmender Ausdifferenzierung und Positivierung des Rechts, die durch die ständige Komplexität von Gesellschaft als System bedingt ist, dieses zu einem Teilsystem von Gesellschaft wird.208 Strukturen sind neben Prozessen Elemente von Systemen und werden von Luhmann so definiert,209 daß sie möglicherweise auch Teilsysteme210 genannt werden können, insofern ein System eine Vielzahl von Handlungsmöglichkeiten (Komplexität) und Strukturen eine reduzierte Anzahl von Handlungsmöglichkeiten innerhalb eines Systems (doppelte Selektivität) umfassen. Offen bleiben dann dennoch eine Reihe von Fragen:211 - Können Strukturen in diesem Sinn immer oder erst von einem bestimmten Grad von Ausdifferenzierung an (welchem?) als Teilsystem von Gesellschaft begriffen werden? Wann und wie wird aus einem Teilsystem ein autopoietisches System (d.i. in der hier eingeführten Begrifflichkeit ein eigenständiges Teilsystem)?

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211

angekündigte Paradigmenwechsel in der Systemtheorie sichtbar wird. Vgl. Ders., Soziale Systeme, S. 15-29. Luhmann müßte aber explizit ausführen, warum und mit welchem Erkenntnisgewinn er jetzt Recht als (autopoietisches) System versteht und nicht länger als Struktur. Er müßte beide Aussagen über das Recht präzise in Beziehung setzen. Auf typische Weise sichtbar wird der Übergang, ohne daß dafür Gründe genannt werden, von der Vorstellung von Recht als Struktur von Gesellschaft zu Recht als Teilsystem von Gesellschaft in N. Luhmann, Rechtssoziologie, S. 294f.: "In evolutionärer Perspektive ist Recht als unaufgebbares Element der Gesellschaftsstruktur (Hervorhebung KG) immer Bewirktes und Wirkendes zugleich." (294) ... "Die Gesellschaft wird damit zum Objekt ihres eigenen Rechtsmechanismus; sie wird in einem ihrer Teilsysteme (Hervorhebung KG) als Ganzes reflektiert." (295). Vgl. ebd. S. 139, 190, 200, 294f. und 354. Ebenso Ders., Legitimation durch Verfahren, S. 141-150. Die These, daß es mit der zunehmenden Komplexität von Recht und der dadurch bedingten Ausdifferenzierung zu einer Teilsystembildung kommt, findet sich bereits in Ders., Soziologie als Theorie sozialer Systeme, a.a.O., S. 123. Hier geht Luhmann aber nicht darauf ein, inwieweit sich aus Strukturen von Systemen Teil- oder eigenständige Systeme entwickeln können. Vgl. S. 104-107. M.E. aber nicht Systeme, da Strukturen im Gegensatz zu Systemen nur bestimmte Handlungsmöglichkeiten darstellen. Ich entfalte diese kritischen Anfragen an Luhmann bereits an dieser Stelle, da sie m.E. für die weiteren Untersuchungen über das Rechtsverständnis von Luhmann mitbedacht werden müssen, um dieses Verständnis angemessen wiederzugeben.

Das systemtheoretische Paradigma

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- Wenn Strukturen zu Teilsystemen werden können oder Teilsysteme sind, warum verwendet Luhmann dann wechselweise diese beiden Begriffe und verzichtet nicht auf den Strukturbegriff? - Ist die Beschreibung von Recht als Struktur sozialer Systeme immer eine geschichtliche bzw. nur für eine bestimmte gesellschaftliche Entwicklungsstufe geltende?212 Beziehen sich die Aussagen über Recht als System dann auf die Gegenwart bzw. auf eine bestimmte gesellschaftliche Entwicklungsstufe? - Kommt es bei der Bestimmung von Recht als Struktur der Gesellschaft und von Recht als (Teil)system zu einem unterschiedlichen Rechtsbegriff? b) Die funktionale Trennung von Recht und Ethik Nachdem Luhmann dem Recht eine spezifische Funktion innerhalb seiner Systemtheorie zugewiesen hat, kommt es bei ihm auch, nicht zuletzt aufgrund seiner These von einer Reduktion von Komplexität und der sich notwendig ergebenden Ausdifferenzierung von Systemen, zu einer funktionalen Trennung von Recht und Ethik: Für Luhmann hat Moral im Sinne von Ethos für die Beziehung von einem Menschen zu anderen Menschen und von Menschen zu einem sozialen System eine multifunktionale Qualität,213 da sie in verschiedenen Bereichen Komplexität reduzieren kann, weil sie eine "binäre Schematisierung" von "Achtung und Mißachtung" darstellt 214 Die "Achtung und Mißachtung", die Moral, ist geschichtlich wandel212

Ein Hinweis darauf könnte sein, daß die Überschrift über Luhmanns geschichtliche Problemdarstellung in der Rechtssoziologie (S. 132) lautet: "Recht als Struktur der Gesellschaft". 213 Ygi £>erS ) Soziale Systeme, S. 317-325. Für Luhmann stellt ein Mensch im Sinne seiner Theorie sozialer Systeme ein autopoietisches System (s.u.) dar, das nach dem Modell der "Interpenetration " in Beziehung zu anderen Menschen und sozialen Systemen tritt. Unter Interpenetration versteht Luhmann, daß Systeme wechselseitig "die eigene Komplexität () zum Auft>au eines anderen Systems zur Verfugung" stellen. Ebd. S. 290. 214 "Alle Moral bezieht sich letztlich auf die Frage, ob und unter welchen Bedingungen Menschen einander achten bzw. mißachten." Ebd. S. 318. Diese Achtung oder Mißachtung, also Moral, kann auch innerhalb eines sozialen Systems gegeben sein, ebd. S. 319.

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bar, sie kann ein System sowohl stabilisieren als auch destabilisieren. Diese Funktion der Achtung bzw. Mißachtung, die die Moral wahrnimmt, wird nach Luhmann mit der zunehmenden Ausdifferenzierung von sozialen Systemen zu einem "Störfaktor, jedenfalls zu einer Attitüde, die nicht ohne Mißachtung beobachtet und in Schranken gehalten werden sollte"215, weil sie mit dieser Ausdifferenzierung nicht Schritt halten kann. Diese Ausdifferenzierung macht es notwendig, daß ein soziales System sich selbst begründet und seine Angemessenheit selbstreferentiell reflektiert. Dies gilt nach Luhmann insbesondere für das Recht, das von der Moral zu unterscheiden ist. Ethische Normen sind nur dann ein Teil des Rechtssystems, wenn damit die Möglichkeit verbunden ist, sie notfalls mittels Zwang durchsetzen zu können, da ethische Motivierung allein nicht genügt. Mit der zunehmenden Differenzierung und Spezifikation steigert sich die Komplexität derart, daß eine Orientierung des Rechts an relativ statischen und unflexiblen ethischen Werten und Normen dieser Komplexität nicht mehr gerecht werden würde. Geschichtlich hat es sich herausgestellt, daß das Naturrecht und die damit verbundene Vorstellung von zeit- und situationsinvariant gültigen Rechtssätzen zu statisch und unflexibel waren, um mit der ständig steigenden Komplexität sozialer Systeme Schritt zu halten. Das Recht will und kann es daher nicht leisten, daß seine Befolgung als Ausdruck einer positiven ethischen Grundeinstellung des Individuums gewertet werden kann. "Das Kriterium des Rechts kann daher nicht mehr die Form eines ethischen Zweckes der Gerechtigkeit als etwas (nur!) individuell Erstrebenswertes annehmen. Die Trennung von Recht und Moral wird zur Bedingung von Freiheit."216 Das Recht versteht Luhmann nur von seiner Funktion in der Gesellschaft her, und an seiner Funktionalität wird es gemessen. Gerechtigkeit als ethisches oder Wahrheit als erkenntnistheoretisches Prinzip können nicht mehr in das Rechtssystem integriert werden.217 Recht muß selbstreferentiell seine 215 216 217

Ebd. S. 325. Ders., Rechtssoziologie, S. 223. "Recht kann jetzt weder wahr noch unwahr sein, sondern nur gelten." Ders., Legitimation durch Verfahren, S. 145. Gerechtigkeit und Wahrheit werden von Luhmann nur noch von ihrer funktionalen Bedeutung für Systeme begriffen, nicht mehr als eigenständige Handlungs- und Erkenntnisprinzipien.

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eigene Theoriebildung leisten, sich von daher selbst begründen. Moral im Sinne von Ethos kann diese Funktion nicht erfüllen.218 Für Luhmann muß Recht als selbstreferentielles autopoietisches System aufgrund seines hohen Grades an Ausdifferenzierung selbst die Kriterien seiner Angemessenheit entwickeln, ohne daß es auf außerrechtliche Kriterien zurückgreifen könnte. "Es gibt keinen Import von normativer Qualität aus der Umwelt in das System, und zwar weder aus der Umwelt im allgemeinen (Natur) noch aus der innergesellschaftlichen Umwelt (etwa Religion, Moral). Kein Umweltsinn ist als solcher für das Rechtssystem normativ verbindlich (was nicht ausschließt, daß normative Erwartungen auch außerhalb des Rechtssystems gebildet werden können). Wenn das Rechtssystem sich auf außerrechtliche Normen bezieht, etwa auf Treu und Glauben oder auf gute Sitten, gewinnen diese Normen erst durch diese Bezugnahme rechtliche Qualität."219 Luhmann führt somit eine funktional begründete Trennung von Recht und Ethik in selbstreferentielle (Teil)systeme durch, indem er ihnen verschiedene Funktionen in getrennten Bereichen zuweist, wobei allerdings zu überlegen ist, ob generell (soziale) Systeme und spezifisch das Rechtssystem sich selbstreferentiell begründen können. Weiter ist zu überlegen, ob Luhmann seine eigene These hier genügend zur Geltung bringt, daß die Umwelt eines Systems, hier kann Ethik als Umwelt von Rechtssystemen bzw. von Recht als Struktur verstanden werden, ein System immer auch beeinflußt und dadurch zur Komplexitätsreduktion nötigt.

218 Ygj D e r S j D i e soziologische Beobachtung des Rechts, S. 15, 21 und 26. 219

Ders., Rechtssoziologie, S. 357.

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2. Die Funktionalität und Positivität von Recht Obwohl Luhmanns doppelte Ortsbestimmung von Recht innerhalb seiner Systemtheorie auch, wie noch zu zeigen sein wird, Auswirkungen auf seinen Rechtsbegriff hat, läßt sich sowohl für Recht als Struktur der Gesellschaft als auch für Recht als (Teil)system darstellen, daß Recht bei Luhmann immer von seiner Funktionalität und Positivität her begriffen wird. So soll in diesem Abschnitt zuerst die Funktionalität und Positivität von Recht untersucht werden. Die Funktion von Recht und seine zunehmende Positivität lassen Luhmann schließlich von Recht als einem selbstreferentiellen autopoietischen System sprechen. Nur mit Hilfe der Vorstellung eines selbstreferentiellen autopoietischen Systems meint Luhmann in jüngster Zeit der Funktion und dem Wesen von Recht gerecht zu werden 220 und so auf seine Weise einen angemessenen Rechtsbegriff zu entfalten. a) Die Funktionalität von Recht Nachdem Luhmann das Recht nicht aus vorgegebenen (ethischen) Normen, Prinzipien 221 oder "Fakten"222 entwickeln will, sondern von seinem Bezug zur Gesellschaft als System und seiner Funktion innerhalb der Gesellschaft her, ohne daß damit die Gesellschaft z.B. an die Stelle des Naturrechts tritt 2 2 3 ist Recht funktional zu begreifen, und seine Funktionalität ist ein Wesensmerkmal. 224 In der Gesellschaft hat es die Funktion, eine grundsätzliche Orientierung zu eröffnen, indem es Handlungsmöglichkeiten und mögliche Relationen einschränkt, Verhaltenserwartungen generalisiert und dadurch "Sinn" ermöglicht.225

220 vgl. Ders., Die soziologische Beobachtung des Rechts, S. llff. 221

S.S. lOlff. Mit "Fakten" bezeichnet Luhmann das, was klassisch als "Sein" oder "Natur der Sache" bezeichnet wird, vgl. Ders., a.a.O., S. 21. Zur Natur der Sache s. S. 63-66. 223 vgl. Ders., Rechtssoziologie, S. 23. 224 Vgl. ebd. S. 99. 225 S. S. 97f. 222

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Als zweites Wesensmerkmal ergibt sich die (doppelte) Selektivität von Recht,226 die zugleich die Grundfunktion von Recht in der Gesellschaft ist. Dadurch, daß das Recht selektiv ist, nimmt es als Struktur von Systemen oder als System eine Grundfunktion von sozialen Systemen wahr: Es reduziert Komplexität227 durch "kongruente Generalisierung von Verhaltenserwartungen"228. Die kongruente Generalisierung wird aufgrund von geschichtlichen Erfahrungen und Institutionalisierung möglich.229 Das Recht hat die Funktion, in jeder geschichtlichen Situation aufgrund steigender oder sich verändernder Komplexität neue, anschlußfähige Generalisierungen von Verhaltenserwartungen selektiv durchzuführen. Deshalb ist Recht nie statisch, sondern variabel. Luhmann nennt Erwartungen, die für die Sicherheit, die soziale Integration und für das Funktionieren einer Gesellschaft als unerläßlich erachtet werden, "normative Erwartungen"730. Im Unterschied dazu sind die "kognitiven Erwartungen" grundsätzlich variabel und können damit veränderten Situationen angepaßt werden. "Normen sind demnach kontrafaktisch stabilisierte Verhaltenserwartungen. Ihr Sinn impliziert Unbedingtheit der Geltung insofern, als die Geltung als unabhängig von der faktischen Erfüllung oder Nichterfüllung der Norm erlebt und so auch institutionalisiert wird."231 Das Recht hat nun die Aufgabe, normative Erwartungen, die sich auf das Handeln und Verhalten anderer Menschen richten, gegen Enttäuschungen zu sichern, indem es sie für einen bestimmten Zeitraum auf Dauer stellt. Recht dient somit der Kontin-

226

S. ebd. Die Reduktion von Komplexität erfolgt in drei Dimensionen, in der zeitlichen durch Normierung, in der sozialen durch Institutionalisierung und in der sachlichen durch kohärente Sinngebung, vgl. N. Luhmann, Soziologie als Theorie sozialer Systeme, a.a.O., S. 116-119 und Ders., Rechtssoziologie, S. 94ff. 228 vgl. Ders., Soziologie als Theorie sozialer Systeme, a.a.O., S. 120-123; Ders., Soziale Systeme, S. 444-452 u.ö. und Ders., Rechtssoziologie, S. 94-106. 229 vgl. Ders., Soziologie als Theorie sozialer Systeme, a.a.O., S. 122f. 230 vgl. Ders., Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft. Jetzt in: Ders., Ausdifferenzierung des Rechts, S. 114-118 und Ders., Rechtssoziologie, S. 40-53. 231 Ebd. S. 43. 227

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genzbewältigung232, indem es dadurch, daß es Handlungsmöglichkeiten gebietet oder verbietet, Kontingenz reduziert und Erwartungssicherheit eröffnet. Wenn normative Erwartungen zu Normen werden und mit ihnen Möglichkeiten, d.h. Sanktionen, verbunden werden, die eintreten, wenn diese Normen enttäuscht bzw. nicht erfüllt werden, dann möchte Luhmann von Recht sprechen: "Als positiv wird Recht bezeichnet, das gesetzt worden ist und kraft Entscheidung gilt."233 Wichtig ist die Unterscheidung Luhmanns, daß die kongruente Generalisierung von Verhaltenserwartungen ein "konstantes" Wesensmerkmal bzw. Funktion von Recht ist, der Grad der Institutionalisierung und die damit verbundenen Sanktionen aber ein "variables".234 Indem es geschichtlich immer mehr zu einer Ausdifferenzierung und Verselbständigung des Rechts und somit zu einer immer stärkeren Unterscheidung von anderen Strukturen bzw. Systemen gekommen ist, lassen sich von einer bestimmten geschichtlichen Entwicklungsstufe an Institutionalisierung und insbesondere Sanktionen als Unterscheidungsmerkmale zu diesen anderen Strukturen bzw. Systemen angeben.235 Zugleich kann Luhmann aber die Erzwingbarkeit von Normen als deren "Rechtsqualität" kennzeichnen236 - dies dürfte 232

"Unter Kontingenz wollen wir verstehen, daß die angezeigten Möglichkeiten weiteren Erlebens auch anders ausfallen können, als erwartet wurde ..." Ebd. S. 31, vgl. auch Ders., Soziale Systeme, S. 148-190. "Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist." Ebd. S. 152. 233 Ders., Positivität des Rechts, a.a.O., S. 122, vgl. auch Ders., Rechtssoziologie, S. 219f. 234 Vgl. Ders., Rechtssoziologie, S. 99-106. "Recht ist keinesfalls primär eine Zwangsordnung, sondern eine Erwartungserleichterung." Ebd. S. 100. 235 Vgl. ebd. S. 219. 236 "Erzwingbarkeit besagt mithin nicht, daß alles Recht, wie geschrieben, faktisch verwirklicht wird; vielmehr nur, daß die Rechtsgeltung mit einer wenn auch indirekten Vorsorge für den Erzwingungsfall gekoppelt und damit von anderen motivmäßigen Voraussetzungen abgelöst wird. Alle Rechtssprechung muß daher auch eine Erzwingungsplanung enthalten - gerade dann, wenn die Einzelentscheidung von einer besonderen Vorsorge für ihre Erzwingbarkeit entlastet werden soll." Ebd. S. 221. Der Soziologe T. Geiger gibt die Sanktionsfähigkeit von Recht demgegenüber als das entscheidende Kennzeichen an: Recht ist"... die soziale Lebensordnung eines zentral organisierten gesellschaftlichen Großintegrats, sofern diese Ordnung sich

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dann allerdings erst ab einer bestimmten geschichtlichen Entwicklungsstufe behauptet werden. Mit anderen Worten: Die Funktion von Recht, bestimmte normative Erwartungen in einer Gesellschaft durchzusetzen, ist nicht von Anfang an so gegeben. Wenn aber mit einem bestimmten Grad der Ausdifferenzierung von Recht die Funktion der Durchsetzung von Normen verbunden ist, ergibt sich als weitere Funktion von Recht, daß es das "Immunsystem" der Gesellschaft wird.237 Es hat als Immunsystem die Aufgabe, den Umgang der Gesellschaft mit Störungen, Abweichungen und Zuwiderhandlungen gegen normative Erwartungen zu regeln, den Umgang mit Eingriffen in die Gesellschaft als System zu ermöglichen. Klassisch formuliert: Es nimmt für die Gesellschaft die Konfliktregelung wahr, indem es zum einen versucht, Konflikte zu vermeiden und zum anderen, sie zu regeln. Es ist die "Fortsetzung der Kommunikation mit anderen Mitteln"238. Schließlich hat Recht die Funktion, die Grundlage der gesellschaftlichen Evolution zu sein. Dabei soll die durch das Recht gewonnene Reduktion von Komplexität nicht die weitere Steigerung von Komplexität innerhalb der Gesellschaft als System verhindern. 239 Daran wird auch die starke Interdependenz von Recht und Gesellschaft sichtbar. Die Evolution von Recht ist bedingt durch die Steigerung gesellschaftlicher Komplexität und Variabilität, und zugleich ermöglicht sie die Evolution und erneute Komplexitätssteigerung von Gesellschaft: Es ist "Instrument gesellschaftlicher Entwicklung"240.

auf einen von besonderen Organen monopolitisch gehandhabten Sanktionsapparat stützt." T. Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, S. 339. 237 Vgl. N. Luhmann, Soziale Systeme, S. 504-512. 238 S. ebd. S. 511. Zugleich ist Recht "primär ein Mittel der Erzeugung sozialer Konflikte: eine Stütze für Zumutungen, Forderungen, Ablehnungen". Ebd. S. 451. 239 V g l £) e r S ) Systemtheoretische Beiträge zur Rechtstheorie. Jetzt in: Ders., Ausdifferenzierung des Rechts, S. 269f. 240 S. Ders., Rechtssoziologie, S. 212, vgl. auch Ders., Evolution des Rechts. Jetzt in: Ders., Ausdifferenzierung des Rechts, S. 11-34.

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b) Die Positivierung von Recht und seine Positivität Luhmann folgert aus der These, daß das Recht einer ständigen Evolution unterworfen ist, daß Recht rein positiv zu verstehen sei, abgesehen von jeder metaphysischen, naturrechtlichen oder ideologischen Grundlegung. Dies versteht er als Einsicht in die "Umwertbarkeit" von eigentlich als zeitinvariant gültig angesehenen Werten. 241 So kommt er zu dem Schluß, daß die Ausdifferenzierung des Rechts durch zunehmende gesellschaftliche Komplexität und Variabilität immer weniger eine Begründung durch unveränderbare, immerwährende Normen und Werte möglich werden läßt.242 Die gesellschaftliche Evolution243 erfordert die zunehmende Ausdifferenzierung von Recht und bedingt damit seine Positivierung, da das Recht als Struktur oder System die ständig steigende und sich verändernde Komplexität reduzieren muß.244 Dieser Prozeß der Evolution und Durchsetzung von Recht innerhalb der Gesellschaft steht bei Luhmann für das traditionelle Problem der Rechtsfindung. Es gibt keine vorgegebene Quelle oder Idee, von der her Recht aufgrund bestimmter Kriterien "gefunden" werden kann. In diesem Prozeß der Durchsetzung von Recht vollzieht sich implizit weiter ein Erkenntnisakt. Wenn sich ein Rechtssatz innerhalb einer Geschichte realisieren läßt, dann kann darin implizit etwas von dem, was Recht ist, erkannt werden. Die Kriterien, die nach Luhmann für das Recht gelten, sind deshalb in erster Linie nicht Kriterien für die Erkenntnis von Recht aus vorgegebenen Setzungen, wie Vernunft oder Natur, sondern für das Bestimmen der Bedeutung von Recht in einer gesellschaftlichen Situation und seiner Funktionen. Für das, was "normative Erwartungen" in einer Gesell241 242 243 244

Vgl. Ders., Rechtssoziologie, S. 215f. Vgl. ebd. S. 219. S.S. 107. Luhmann sieht ein Anzeichen für die Grenzen der Reduktionsfähigkeit und damit zugleich der Komplexität von Rechtssystemen in der Tatsache gegeben, daß es offensichtlich nur sehr mühsam, wenn überhaupt, gelingt, ein weltweites Rechtssystem aufzubauen. Die dafür zu erbringende Reduktionsleistung und Komplexitätssteigerung scheint jedenfalls momentan (noch) nicht möglich. Vgl. Ders., Systemtheoretische Beiträge zur Rechtstheorie, a.a.O., S. 268.

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schaft sind, gibt Luhmann Kriterien an, die zur Erkenntnis dieser normativen Erwartungen dienen, ebenso Kriterien dafür, wie solche normativen Erwartungen als Recht durch den Gesetzgeber festzulegen sind. Da aber Recht einem ständigen Prozeß der Veränderung unterworfen ist, gibt es kein Recht schlechthin, das von einer Gesellschaft erkannt werden muß, und somit keine Notwendigkeit, Erkenntniskriterien für wahres Recht zu entwickeln. Der Gesetzgeber entscheidet darüber, ob normative Erwartungen in einem gesellschaftlichen System zu Recht werden, aber er schafft nicht aus dem "Nichts" Recht. Weiter unterscheidet sich Luhmanns Verständnis von Positivität gegenüber dem des rechtspositivistischen Paradigmas darin, daß für ihn Recht nicht ein für allemal gesetzt ist, sondern immer wieder neu darüber entschieden werden muß, ob etwas in der jeweiligen Situation Recht ist.245 Somit gehört zur Positivität von Recht unabdingbar der Gedanke seiner Veränderbarkeit, der "Legalisierung von Rechtsänderungen"246. Dadurch kommt das Kontingenzelement in das positive Recht, indem andere Normsetzungsmöglichkeiten für einen bestimmten Zeitraum ausgeschlossen werden. Diese Normsetzungsmöglichkeiten können, müssen aber nicht zwangsläufig, in einer anderen geschichtlichen Situation in ein Rechtssystem aufgenommen werden.247 So wird es möglich, Recht immer der sich verändernden Zeit und Situation anzupassen und zugleich durch das Recht neue Wirklichkeit mitzusetzen. Allerdings kann nach Luhmann aufgrund der Bedingungen innerhalb eines Systems248 nur Recht selbst neues Recht festlegen. Die Positivität des Rechts bezieht sich von daher sowohl auf die Rechtssetzung als auch auf die Rechtsgeltung.

245 246 247

248

Vgl. Ders., Rechtssoziologie, S. 208ff. S. ebd. S. 209. "... es (sc. das Recht) ist beliebig bestimmt, aber nicht beliebig bestimmbar." Ebd. S. 210. S.S. llOff.

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c) Recht als selbstreferentielles autopoietisches System Bei der Darstellung der Funktionalität und Positivität von Recht wurde deutlich, daß bestimmte Funktionen erst mit der Ausdifferenzierung von Recht voll ausgeprägt werden und die Positivität des Rechts sich erst dadurch entwickelt. Wie bereits aufgezeigt, schreibt Luhmann nicht explizit, wann und warum die Ausdifferenzierung und Evolution von Recht nur noch mit dem Verständnis von Recht als System und nicht mehr mit dem von Recht als Struktur angemessen erfaßt werden kann. Es kommt m.E. aber zu einer entscheidenden Veränderung im Verständnis von Recht bei Luhmann, wenn er von Recht als von einem selbstreferentiellen autopoietischen System spricht. Denn dadurch wird die für den Rechtsbegriff bei Luhmann relevante Interdependenz von Recht und Gesellschaft noch einmal neu bestimmt. Unter einem selbstreferentiellen autopoietischen System249 versteht Luhmann eine in sich geschlossene "Einheit", die sowohl die Einheit des Systems als auch die Einheit der das System konstituierenden Elemente selbst produziert und immer neu reproduziert: "daß sie (sc. autopoietische Systeme) die operative Einheit ihrer Elemente (also für unseren Bereich: rechtlich relevante Ereignisse und Entscheidungen) durch die Operation ihrer Elemente selbst herstellen und abgrenzen und daß genau dieser autopoietische Prozeß das ist, was dem System seine eigene Einheit gibt."250 So hängt in einem selbstreferentiellen autopoietischen System alles voneinander ab, ist aufeinander bezogen, ist kohärent. 251 Diese Einheit wird aber nicht von außen, z.B. durch eine vorgegebene Grundnorm oder Rechtsquelle, sondern autopoietisch immer wieder reproduziert. Ein selbstreferentielles autopoietisches System hat ein Selbstverhältnis und ein davon unterschiedenes Verhältnis zu seiner Umwelt und gewinnt so "Identität". Das, was Recht sein soll, die Identität des

249

250 251

Vgl. dazu N. Luhmann, Soziale Systeme, S. 30-91; Ders., Rechtssoziologie, S. 354f. und Ders., Die soziologische Beobachtung des Rechts. Ders., Rechtssoziologie, S. 355. Vgl. Ders., Die soziologische Beobachtung des Rechts, S. ISf. und 27.

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Rechtssystems, wird vom Rechtssystem selbst festgelegt.252 Identität kann nach Luhmann nur in der wahrgenommenen Differenz eines Systems zu seiner Umwelt bestehen. Allein das Recht selbst kann festlegen, was Recht sein soll (Zirkel). 253 Daraus folgt, daß das Rechtssystem ein normativ geschlossenes und zugleich kognitiv offenes ist. Es hat seine eigenen Normen und Handlungsweisen, seine eigene Theorie 254 , und zugleich hat es ja innerhalb der Gesellschaft die Funktion, Komplexität zu reduzieren. Komplexität kann aber nur durch Komplexität reduziert werden,255 so daß aufgrund der dadurch im Rechtssystem selbst wieder auftretenden hohen Komplexität, bedingt durch die noch höhere Komplexität der Gesellschaft, innerhalb des Systems selbst wieder Möglichkeiten zur Reduktion gegeben sein müssen.256 Diese Aufgabe haben systeminterne Strukturen zu erfüllen. Dieser Aufbau ermöglicht dem selbstreferentiellen autopoietischen System, seine Unabhängigkeit gegenüber der Umwelt und seine Abhängigkeit von der Umwelt selbst zu bestimmen. Wenn Recht als selbstreferentielles autopoietisches System definiert wird, ergibt sich eine Autonomie gegenüber der Gesellschaft als System. Damit geht die Gesellschaft das Risiko ein, um ihrer eigenen Funktionalität willen eine Funktion an ein anderes System abzugeben.257 Recht als Struktur der Gesellschaft verbleibt mehr oder weniger eigenständig innerhalb von Gesellschaft als sozialem System. Recht als selbstreferentielles autopoietisches System nimmt eine Funktion für die Gesellschaft wahr, indem es Komplexität reduziert. Um diese Funktion angemessen wahrnehmen zu können, braucht es aber Eigenständigkeit und Unabhängigkeit von der Gesellschaft, die Interdependenz zur Gesellschaft wird geringer. Dadurch wird von Luhmann nicht nur der Ort von Recht, sondern auch der Rechtsbegriff im Hinblick auf die Interdependenz zur Gesellschaft neu definiert, was auch Auswirkungen auf das Verständnis von Funktionalität und Positivität von Recht hat. 252

254 255 256 257

Vgl. ebd. S. 15 und 20f. Zu dem sich daraus ergebenden Problem der Legitimation s. S. 112ff. Es können deshalb keine ethischen Normen für ein Rechtssystem relevant sein. Vgl. Ders., Soziale Systeme, S. 48ff. Vgl. Ders., Systemtheoretische Beiträge zur Rechtstheorie, a.a.O., S. 247. Vgl. Ders., Die soziologische Beobachtung des Rechts, S. 12ff.

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Luhmanns Überlegungen zur Funktionalität und Positivität, die zentral für seinen Rechtsbegriff sind, sind in ihrer geschichtlichen Entfaltung durch den Versuch gekennzeichnet, Recht immer unabhängiger von Gesellschaft zu bestimmen. Während es zu Beginn seiner Überlegungen noch die Struktur von Gesellschaft bildet, wird es in seinen späteren Veröffentlichungen als autopoietisches System begriffen, um so selbstreferentiell Recht begründen zu können. Es bleibt aber, wie bei der Unterscheidung von Recht und Ethik, eine gewisse Spannung und damit Ungeklärtheit, wie die Funktion von Recht, Komplexität für eine Gesellschaft zu reduzieren, und ihre gleichzeitige Autopoiesis von der Gesellschaft zu denken ist.

3. Legitimation durch Verfahren Da es nach Luhmann im Zuge zunehmender gesellschaftlicher Komplexität nicht mehr möglich ist, Recht durch ethische oder vernünftige Normen oder durch eine Art vorgegebener Wahrheit zu legitimieren,258 kann nur noch eine Legitimation durch Verfahren erfolgen.259 Wenn Recht als positiv sowohl im Hinblick auf seine Setzung wie auf seine Geltung verstanden wird, bedeutet Legitimität die Anerkennung der dieser Setzung zugrundeliegenden Entscheidung, die der Reduktion von Komplexität dient.260 Weil mit dem Rechtssystem als einem selbstreferentiellen autopoetischen System die Vorstellung verbunden ist, daß nur systemimmanent darüber entschieden werden kann, was Recht sein soll, kann sich ein System nur durch sein Verfahren und dessen Kriterien legitimieren.261 Recht selbst legitimiert Rechtsänderungen, indem es selbstreferentiell Kriterien für Recht festsetzt, denen Rechtsänderungen genügen müssen: "Jede Rechtsän-

258

Vgl. Ders., Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft, a.a.O., S. 132. 259 Vgl. dazu N. Luhmann, Legitimation durch Verfahren. 260 "£)er Positivierung des Rechts, d.h. der These, daß alles Recht durch Entscheidung gesetzt ist, entspricht es, den Legitimitätsbegriff auf die Anerkennung von Entscheidungen als verbindlich festzulegen." Ebd. S. 31. 261 Vgl. Ders., Die soziologische Beobachtung des Rechts, S. 25ff.

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derung muß sich auf Recht stützen."262 So ist für die Rechtsgeltung charakteristisch, daß sie reversibel und "instabil", d.h. zeit- und situationsvariant ist.263 Bei der Legitimation durch Verfahren kommt es in einem Kommunikationsprozeß zu einer Veränderung von Erwartungen, zu einer Veränderung in der Reduktion von Komplexität. Ein wesentliches Kriterium für das Verfahren ist die Konsistenz der einzelnen Entscheidungen. Das Verfahren der Legitimation stellt Gründe für die Anerkennung von Entscheidungen bereit und zielt darauf ab, daß die in diesem Verfahren getroffenen Entscheidungen zur Reduktion von Komplexität durch die Generalisierung normativer Erwartungen intersubjektiv vermittelbar sind.264 Diese Vermittelbarkeit beruht nach Luhmann auf einer "Mischung" aus Konsens und Zwang. Dabei möchte er die Legitimationsfunktion auf soziale Systeme übertragen und sie von der subjektiven Legitimation loslösen.265 "Man kann Legitimität auffassen als eine generalisierte Bereitschaft, inhaltlich noch unbestimmte Entscheidungen innerhalb gewisser Toleranzgrenzen hinzunehmen."266 Das Verfahren selbst wird bei Luhmann zu einem sozialen Teilsystem, da es eine bestimmte Funktion hat: 267 die Selektion von Entscheidungen. Somit trägt das Verfahren zur Ausdifferenzierung von Recht bei. Verfahren können aber keine eigenständigen Systeme sein, da sie zum einen zeitlich begrenzt sind und zum anderen eine strukturelle, ihnen übergeordnete Rahmenordnung benötigen. Innerhalb dieser Grenzen ist das Verfahren dann relativ autonom. Es stellt sich bei der Legitimation durch Verfahren die Frage, ob eine so formale, inhaltlich völlig offene Legitimation überhaupt eine Legitimation ist oder als hinreichend angesehen werden kann, da hierbei doch auch die Möglichkeit in Betracht gezogen werden muß, daß in einem solchen Verfahren immer neues Unrecht entwickelt wird. Wenn Recht selbstreferentiell die Kriterien für das Verfahren 262 263 264 265 266 267

Ebd. S. 27. Ebd. Vgl. Ders., Legitimation durch Verfahren, S. 26. Vgl. ebd. S. 34. Ebd. S. 28. Vgl. ebd. S. 4Iff. und Ders., Rechtssoziologie, S. 142ff.

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der Rechtsgewinnung bereitstellt, wäre es wichtig, über diese Verfahrenskriterien die Möglichkeit unrechten Rechts auszuschließen. Dafür wäre aber eine inhaltliche Formulierung von Verfahrenskriterien und damit auch eine inhaltliche Formulierung der Legitimation solcher Verfahrenskriterien erforderlich, die Luhmann um der Prinzipien der Autopoiesis und der Selbstreferenz willen ausschließen will.

4. Systemtheoretische Neuformulierung des Gerechtigkeitsbegriffs 268 Ein inhaltlich konstitutives Element des metaphysischen, natur- bzw. vernunftrechtlichen Paradigmas ist der Gerechtigkeitsbegriff, der immer wieder zur Begründung und Legitimation von Recht herangezogen wird. Diesen von Aristoteles stammenden und in der Philosophiegeschichte weiterentwickelten Begriff der Gerechtigkeit sieht Luhmann, ebenso wie den Wahrheitsbegriff, als systemtheoretisch überholt an. 269 Erstens ist im Zuge der zunehmenden Positivierung des Rechts der Gerechtigkeitsbegriff, insbesondere als materiales Kriterium in Rechtssystemen, mehr und mehr in den Hintergrund getreten, weil er auf der Unterscheidung von Gleich und Ungleich beruht, die nicht in der Lage ist, mit der zunehmenden Ausdifferenzierung von Rechtssystemen Schritt zu halten. Gerechtigkeit geht davon aus, daß es bei der Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten die richtige Wahl, im Sinne einer gerechten, gibt,270 die dann zeit- und 268

269

270

Da Luhmanns Systemtheorie sich als eine formale Theorie versteht und materiale Elemente für eine angemessene Reduktion von Komplexität als ungeeignet klassifiziert werden, erscheint es mir angemessen, an diesem Punkt, entgegen dem Grobschema der Darstellung in diesem Kapitel, ein formales Element aufzuzeigen. Genauer muß gesagt werden, daß Luhmann die Gerechtigkeit als formales Element neu festzulegen versucht. In der übrigen Diskussion wird Gerechtigkeit als (zentrales) materiales Element von Rechtssystemen beurteilt. Vgl. Ders., Gerechtigkeit in den Rechtssystemen der modernen Gesellschaft. Jetzt in: Ders., Ausdifferenzierung des Rechts, S. 374-418 und die Kritik von R. Dreier, Zu Luhmanns systemtheoretischer Neuformulierung des Gerechtigkeitsproblems (1974). In: Ders., Recht - Moral - Ideologie, S. 270-285. Luhmann spricht deshalb von Gerechtigkeit und Wahrheit als Perfektionsbegriffen, vgl. Ders., a.a.O., S. 378ff.

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situationsinvariant bindend ist. Seit der Aufklärung werden grundsätzlich alle auf Letztbegründung angewiesenen Begriffe, wie der Gerechtigkeitsbegriff, hinterfragt. Zweitens wird nach Luhmann die Gerechtigkeit besonders von dem geschichtlich immer mehr dominierenden Begriff von Wirtschaftlichkeit her fraglich. Wirtschaftlichkeit beruht auf dem Streben, die Ungleichgewichtigkeit zwischen Haben und Nichthaben immer weiter auszubauen,271 so daß Gerechtigkeit als Kriterium zur Beurteilung wirtschaftlichen Handelns nicht mehr geeignet ist. Ziel wirtschaftlichen Handelns ist nicht die Gleichheit von Besitz, sondern die größtmögliche Besitzvermehrung, was durch das Gerechtigkeitskriterium nicht mehr zu beurteilen ist. Da das wirtschaftliche Handeln nach Luhmann sogar das politische Handeln in seiner gesellschaftlichen Bedeutung überholt, bedarf das Gerechtigkeitsprinzip als Handlungskriterium gegenüber seiner klassischen Fassung einer Neuformulierung. Drittens macht die Anwendung des so bestimmten Gerechtigkeitsbegriffs auf Rechtssysteme die Vorstellung von der Einheit eines Rechtssystems erforderlich, insofern alle Rechtssätze derselben Norm der Gerechtigkeit unterworfen sind.272 Recht wurde als von der Gerechtigkeit sowohl als Grundlage wie als Zielbestimmung durchdrungenes System verstanden, so daß das Unrecht als nicht zu einem Rechtssystem gehörend begriffen wurde. Diese Vorstellung ist aber nach Luhmann vom Normbegriff her so nicht zu halten, denn Normen, auch Rechtsnormen, legen, indem sie Recht festlegen, immer auch Unrecht fest. Recht als System muß nach Luhmann selbst klassifizieren nicht nur was Recht, sondern auch was Unrecht sein soll, um funktionieren zu können. Nur durch die Klassifikation von Recht kann seine Negation, das Unrecht, auch erfaßt werden. Die darausfolgende Konsequenz, die Einheit von Recht und Unrecht als Recht zu denken, führt zu einer Paradoxie, denn diese Einheit von Recht kann somit auch als Unrecht gedacht werden.273 Die Einheit 271

Vgl. ebd. S. 379-383. Vgl. ebd. S. 384-388. 273 vgl. Ders., Die soziologische Beobachtung des Rechts, S. 41 und Ders., Gerechtigkeit in den Rechtssystemen der modernen Gesellschaft, a.a.O., S. 384-388. 272

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von Recht und Unrecht gilt als nicht mehr steigerbar hin auf mehr Gerechtigkeit. Sie sprengt die ihr zugrundeliegende Perfektionsvorstellung. Aus diesen drei genannten Gründen ist nach Luhmann eine systemtheoretische Neuformulierung des Gerechtigkeitsbegriffs erforderlich, wenn Gerechtigkeit weiterhin als Kriterium von Recht gelten soll. In der systemtheoretischen Neuformulierung wird der Gerechtigkeitsbegriff nur formal gefaßt, indem auf inhaltliche Aussagen darüber, was Gerechtigkeit ist, verzichtet wird. Dieser Verzicht ist um der für ein Rechtssystem unerläßlichen, ständig neu zu vollziehenden Reduktion von Komplexität und der damit verbundenen Ausdifferenzierung und Positivität willen unumgänglich. Um dieser Reduktion von Komplexität durch ein Rechtssystem, der Ausdifferenzierung und Positivität eines Rechtssystems angemessen zu sein, muß Gerechtigkeit zu einem systemimmanenten und offenen, inhaltlich nicht weiter festgelegten Kriterium umformuliert werden: Da ein Rechtssystem für seine Funktionalität eine adäquate Komplexität benötigt, wird das systemimmanente Kriterium Gerechtigkeit als die "adäquate Komplexität eines Rechtssystems" begriffen.274 Dadurch bezieht Luhmann Gerechtigkeit ausschließlich auf ein System als Ganzes, nicht auf einzelne Rechtssätze etc. Adäquate Komplexität eines Rechtssystems versteht er dann als gegeben, "wenn und soweit sie mit konsistentem Entscheiden im System noch vereinbar ist"275. Konsistenz eröffnet die Möglichkeit, Gleiches gleich bzw. Ungleiches ungleich zu entscheiden. Dies bedeutet weiter, daß in einem Rechtssystem nur ein bestimmtes Maß an Komplexität möglich ist und es sich einem von außen kommenden Druck zur Steigerung seiner Komplexität aufgrund gestiegener gesellschaftlicher Komplexität, der die Konsistenz seiner Entscheidungen sprengen würde, verweigern muß, um eine Selbstüberforderung zu verhindern. Alle "Variablen" eines Rechtssystems müssen zur Erreichung von adäquater Komplexität berücksichtigt werden. Als "Variablen" werden z.B. die System-

274 275

S. ebd. S. 388, vgl. auch Ders., Die soziologische Beobachtung des Rechts, S. 38. Ders., Gerechtigkeit in den Rechtssystemen der modernen Gesellschaft, a.a.O., S. 390.

Das systemtheoretische Paradigma

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große oder die Interdependenz innerhalb des Systems eingeführt. 276 Adäquate Komplexität kann deshalb nur in einem Prozeß, der immer wieder neu in einem Rechtssystem stattfinden muß, gewonnen werden. Sie ist weder unabhängig von dem jeweiligen Rechtssystem, noch ist sie zeit- und situationsinvariant. Wenn Luhmann Recht als Struktur oder Teilsystem von Gesellschaft bestimmt, hat Gerechtigkeit die Aufgabe, die Funktionalität von Recht gegenüber der Gesellschaft zu gewährleisten; wird Recht als selbstreferentielles autopoietisches System verstanden, dann hat die Gerechtigkeit die Aufgabe, die Funktionalität des Systems selbst zu ermöglichen. Nachdem Luhmann so den Gerechtigkeitsbegriff neu zu definieren versucht, bleibt die Frage, ob die "adäquate Reduktion von Komplexität" innerhalb eines Systems als zentrales Kriterium für Rechtssysteme hinreichend ist, oder ob sie als Kriterium überhaupt geeignet ist, weil auch Unrecht durch eine "adäquate Reduktion von Komplexität" geschaffen werden kann. Ob durch dieses Kriterium Recht angemessen entwickelt werden kann, oder ob das Recht so der inhaltlichen Beliebigkeit preisgegeben wird, muß noch geprüft werden. Die genaue kritische Auseinandersetzung sowohl mit dem systemtheoretischen Verständnis von Recht bei Luhmann, wie dem rechtspositivistischen, als auch dem metaphysischen, natur- bzw. vernunftrechtlichen Paradigma soll zu Beginn des nächsten Kapitels als Grundlage für den Versuch durchgeführt werden, ein phänomenologisches, normativ kritisches Verständnis von Recht zu erarbeiten.

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Vgl. ebd. S. 401 und 404.

Kapitel 3 Inhaltliche Grundlegung von Recht als eigenständiges Teilsystem

In diesem Kapitel möchte ich versuchen, die aus der systemtheoretischen Untersuchung der drei grundlegenden Paradigmen von Recht gewonnenen Erkenntnisse für eine eigene inhaltliche Grundlegung von Recht als Teilsystem fruchtbar zu machen. Ziel ist es hierbei nicht, ein eigenes Paradigma von Recht zu entwerfen, sondern in kritischer Aufnahme 1 der drei geschichtlich bereits vorgegebenen Paradigmen von Recht ein Rechtsverständnis zu erarbeiten, das eine sinnvolle theologische Beschäftigung mit Recht eröffnet. Dieser Versuch einer inhaltlichen Grundlegung von Recht als Teilsystem hat die Funktion, die Basis zu bilden für eine kritische Untersuchung des theologischen Rechtsverständnisses, insbesondere in der Auseinandersetzung mit K. Barth. Nach einer Auseinandersetzung mit den drei grundlegenden Paradigmen von Recht soll in diesem Kapitel Recht als Teilsystem entfaltet werden, indem zuerst noch einmal die Systemwahl begründet wird, eine Ortsbestimmung vollzogen und die Systemteile benannt werden. In einem zweiten Schritt sollen dann die konstitutiven ontologischen, erkenntnis- und handlungstheoretischen Elemente näher beschrieben werden. Das schließt traditionelle Fragen, wie z.B. nach Die hier vorgetragene Kritik an den verschiedenen Paradigmen von Recht versucht der erkenntnistheoretischen Situation des 20. Jahrhunderts Rechnung zu tragen, die durch die Aufhebung von Evidenzen und Letztbegründungen gekennzeichnet ist. In dieser hier nicht weiter differenziert dargestellten Situation ist es m.E. nur möglich, mit guten Gründen für den eigenen Standpunkt zu argumentieren und von daher den Standpunkt anderer (mit guten Gründen) aufzunehmen oder ihn (mit guten Gründen) abzulehnen.

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dem Begriff, dem Wesen von Recht, der Rechtsgewinnung oder den Funktionen von Recht ein. Drittens erscheint es mir dann wichtig, die Grenze von Rechtssystemen aufzuzeigen.

§ 1 Zur kritischen Auseinandersetzung mit den drei grundlegenden Paradigmen von Recht

1. Zur kritischen Auseinandersetzung mit dem metaphysischen, natur- bzw. vernunftrechtlichen Paradigma Wie schon bei der Darstellung des metaphysischen, natur- bzw. vernunftrechtlichen Paradigmas mehrfach hervorgehoben, ist für dieses Paradigma charakteristisch, daß es seinen Ursprung in und seine Bindung an ein philosophisches Gesamtsystem hat. Daraus folgt, daß eine Kritik an einzelnen Punkten des Teilsystems immer auch eine Kritik am Gesamtsystem impliziert. Eine Auseinandersetzung mit den philosophischen Systemen von Aristoteles, Piaton, der Stoa, von Hegel oder Kant kann an dieser Stelle nicht erfolgen. So möchte ich mich in meiner kritischen Auseinandersetzung auf die für eine inhaltliche Grundlegung von Recht als Teilsystem relevanten Punkte beschränken, und selbst dann, wenn sie eine Kritik am philosophischen Gesamtsystem bedeuten, mich auf die Auswirkungen für das in diesem Paradigma sichtbar werdende Verständnis von Recht konzentrieren. Meine Auseinandersetzung mit dem metaphysischen, natur- bzw. vernunftrechtlichen Paradigma möchte ich an vier Punkten festmachen: 1. Das metaphysische, natur- bzw. vernunftrechtliche Paradigma versteht sich als integriertes Teilsystem, das aus einem philosophischen Gesamtsystem erwachsen und bleibend von ihm abhängig ist. Diese enge Bindung wird in der Systemwahl und in der durch das Gesamtsystem geprägten Interpretation der konstitutiven Elemente sichtbar. Dies hat in der Regel zur Folge, daß das Teilsystem die Per-

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spektive des Gesamtsystems übernimmt, das Verständnis von System und insbesondere auch die konstitutiven erkenntnistheoretischen Elemente. Auch die Festlegung der Eigenart des Grundbegriffs des Systems, Recht, wird durch das Gesamtsystem geleistet. Die im metaphysischen, natur- bzw. vernunftrechtlichen Paradigma vollzogene Ortsbestimmung innerhalb der Ethik ist einerseits aus folgenden Gründen zu bejahen: Die aus der engen Bindung von Recht und Ethik als Systemteil eines Gesamtsystems resultierende Aufnahme philosophischer, gerade auch ethischer Überlegungen in das Teilsystem ist grundsätzlich positiv zu bewerten, da Recht trotz aller gegenteiligen Überlegungen im rechtspositivistischen Paradigma nicht auf eine Orientierung an ethischen Werten, Normen und Zielen verzichten kann. Ethische Werte, Normen und Ziele beeinflussen sowohl die Rechtssetzung wie den Rechtsvollzug. Durch die enge Bindung an ein metaphysisches oder philosophisches Gesamtsystem übernimmt das Teilsystem auf diese Weise die zumeist dort philosophisch durchdachten und bestimmten ethischen Vorstellungen. Dies ist für einen angemessenen und reflektierten Umgang mit diesen ethischen Vorstellungen im Teilsystem Recht wichtig. Auch die Legitimationsfunktion der Ethik für das Recht ist notwendig, nicht zuletzt um seiner gesellschaftlichen Akzeptanz und Durchsetzung willen. Umgekehrt kann vom metaphysischen, natur- bzw. vernunftrechtlichen Paradigma die Funktion des Rechts für die Ethik aufgenommen werden: Recht hat die Funktion, daß jedem Menschen ein Handlungs- und Daseinsrahmen in einer Gesellschaft eröffnet und gewährleistet wird. Andererseits ist an der engen Bindung des Teilsystems Recht an ein philosophisches Gesamtsystem kritikbedürftig, daß hier keine eigene selbstreflexive Konstitution und Bestimmung des Teilsystems erfolgt. Eine solche selbstreflexive Konstitution ist erforderlich um der Besonderheit und Ausdifferenzierung von Recht willen. M.E. hat auch ein Teilsystem bei aller zu bejahenden Bindung an ein Gesamtsystem die Aufgabe einer eigenständigen Grundlegung. Dabei können dann begründet Elemente und Grundannahmen des Gesamtsystems übernommen werden. Um den Gegenstand Recht in einem

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Teilsystem zu erfassen, bedarf es einer selbstreflexiven Grundlegung des Teilsystems und seiner konstitutiven Elemente. 2. Im metaphysischen, natur- bzw. vernunftrechtlichen Paradigma wird von der Grundthese einer Einheit von Wirklichkeit und Wirklichkeitserkenntnis ausgegangen. Diese These kann seit Kant philosophisch als so nicht haltbar gelten. Menschen nehmen Wirklichkeit immer perspektivisch wahr, und es gibt kein Kriterium dafür, die Angemessenheit der menschlichen Erkenntnis von einem Gegenstand letztgültig zu überprüfen. Damit entfällt die Möglichkeit einer Letztbegründung von Recht. Das metaphysische, natur- bzw. vernunftrechtliche Paradigma stellt sich der Umstrittenheit von Erkenntnis und Erkenntniszugang nicht. Auch die von Kant vorgeschlagene Begründung von Ethik und damit auch von Recht aus der menschlichen Vernunft stellt sich nicht der auch für die Vernunft geltenden Umstrittenheit. Die Ableitung aus dem unbedingten Sollensanspruch ist, wie Kant selbst entfaltet, eine Annahme und führt zu einer relativ offenen und formalen Bestimmung des Guten und damit auch von Gerechtigkeit und Recht. 3. Kritisch ist weiter die Bestimmung des Wesens von Recht und die daraus folgende Normgewinnung zu beurteilen. Typisch für das metaphysische, natur- bzw. vernunftrechtliche Paradigma ist sein Versuch, eine Begründung von Recht, die über die Wesenserfassung von Recht erfolgt, zu leisten. Der Notwendigkeit einer solchen Begründung und einer Grundlegung von Recht, wobei ich lieber von einem Rechtsbegriff, nicht von einem Wesen von Recht sprechen möchte,2 ist zuzustimmen. Nur ist die Durchführung der Begründung und Wesensbestimmung von Recht in diesem Paradigma kritisch zu beurteilen. Auch hier muß wieder nach der Erkennbarkeit eines metaphysischen Prinzips, von Natur oder Vernunft, die dann sowohl der Begründung wie dem Wesen von Recht zugrundeliegen, kritisch gefragt werden. Es ist der Umstrittenheit eines Natur- oder Vernunftbegriffs Rechnung zu tragen. Die Übernahme eines außer- oder metajuristischen Begriffs, Natur oder Vernunft, wird im metaphysischen, natur- bzw. vernunftrechtlichen Paradigma immer als Zielvorstellung für das Recht angegeben, auf die hin das positive Recht imS. S. 142-145 und 160ff.

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mer neu zu verändern ist. Diese Argumentation hat, wie z.B. bei Hegel deutlich wird,3 dazu geführt, daß diese Differenz zwischen einem philosophisch konstruierten Rechtsbegriff und dem positiven einer Erklärung zugeführt werden mußte. Sie kann aber grundsätzlich nicht die Umstrittenheit dieser Zielvorstellung auflösen. Zudem hat dies immer wieder zu der berechtigten Frage geführt, ob das Naturrecht überhaupt als positives Recht jemals gedacht werden könne.4 Auch der Rekurs Kants auf die Vernunft kann, wie gezeigt, trotz seiner rein formalen Begründung diese Umstrittenheit nicht überwinden.5 Zudem blendet die Vorstellung von einem Natur- oder Vernunftrecht, das jedem Rechtssystem schon vorgegeben und im positiven Recht dann nur zu verwirklichen ist, eine Reihe wichtiger Faktoren aus, wie z.B. gesellschaftliche oder politische Gegebenheiten, die auch das Wesen von Recht konstituieren.6 Eine Ableitung von einem "Sein", metaphysischen Prinzip, Natur oder Vernunft, auf ein "Sollen", Recht, ist nicht eindeutig möglich.7 Positiv kann vom metaphysischen, natur- bzw. vernunftrechtlichen System aufgenommen werden, daß das Recht immer realitäts- bzw. Vgl. G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Zusatz zu § 258. So lehnt z.B. F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, Bd. 1, § 10, S. 69 es ab, daß Naturrecht als "positives" Recht zu verstehen sei. Zur Kritik an I. Kants Rechtsbegriff sei noch bemerkt, daß erstens ein so formaler Rechtsbegriff deshalb nicht haltbar ist, weil bei der Grundlegung eines Rechtssystems immer auch die Ausdifferenzierung in formale und materiale konstitutive Elemente erforderlich ist. Dem generell gegen Kant erhobenen Formalismusvorwurf ist eine gewisse Berechtigung nicht abzusprechen. Die Schwäche dieser ganz formalen Konzeption zeigt sich auch darin, daß Kant immer wieder Schwierigkeiten hatte zu einer klaren Stellungnahme zur Frage des Widerstands gegen moralisch nicht zu rechtfertigende Gesetze zu kommen. "Am Naturbegriff der alteuropäischen Tradition ist soziologisch bemerkenswert die Ausschaltung der Eigenkausalität des sozialen Systems bzw. ihre Beschränkung auf bloße Nachahmung und Vollendung der Natur - ein Symptom für das mangelnde Vertrauen in die effektive und hinreichend komplexe Organisation sozialer Prozesse. Naturrecht heißt, soweit es reicht, Leugnung der Eigenleistung des sozialen Systems der Gesellschaft bei der Konstitution von Recht. Diese Leugnung ist sinnvoll, ja unvermeidlich, solange und soweit die Verantwortung für das Recht nicht übernommen werden kann." N. Luhmann, Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft. In: Ders., Ausdifferenzierung des Rechts, S. 120/121. Diese Kritik am Naturrecht übt auch H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 227.

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sachgemäß sein muß. Darin liegt das näher zu diskutierende Wahrheitsmoment des Schlusses vom Sein auf das Sollen. Darüber hinaus hat Habermas zu Recht nachgewiesen, daß im naturrechtlichen System, und das gilt auch m.E. für das vernunftrechtliche System, für Normen derselbe Wahrheitsbegriff angewandt wird wie für deskriptive Aussagen. Es ist aber eine eigenständige "Rechtfertigung" von Normen erforderlich, die nach eigenständigen, speziell auf Normen bezogenen Kriterien erfolgen muß.8 Wie für den Naturbegriff hat sich die Umstrittenheit einer Natur der Sache oder des Menschen in der Neuzeit gezeigt. Es ist zu einer Fülle von inhaltlichen Näherbestimmungen der Natur der Sache oder des Menschen gekommen. Die Evidenz, die alle inhaltlichen Näherbestimmungen für sich beanspruchen, ist nicht zu begründen.9 Wie beim Begriff des Natur- oder Vernunftrechts können auch rechtliche Normen nicht als zeit- und situationsinvariant gedacht werden. 4. Der sich in der Neuzeit herausbildenden Idee von Menschenrechten als Konsens verschiedener natur- bzw. vernunftrechtlicher Systeme ist grundsätzlich zuzustimmen. Zwar kann die dort erfolgte Begründung von Wesensbestimmung und Letztbegründung so nicht nachvollzogen werden. Dennoch ist von der später noch genauer zu entfaltenden Orientierung des Rechts an dem Begriff der Gerechtigkeit und seiner differenzierten Zuordnung zur Ethik her die Idee der Menschenrechte zu bejahen. Die Menschenrechte können als Grund und Grenze von Rechtssystemen dienen und diese so von einem Willkürmoment und einem reinen Funktionalitätsanspruch befreien. Zugleich haben sie für jedes Rechtssystem eine unaufgebbar kritische Funktion im Blick auf die inhaltliche Angemessenheit von Rechtssätzen. Vgl. J. Habermas, Wahrheitstheorien. In: Wirklichkeit und Reflexion, hg. von T. Fahrenbach, S. 226ff., 230 und 237. "Sobald die Naturrechtslehre daran geht, den Inhalt der der Natur immanenten, aus der Natur deduzierten Normen zu bestimmen, gerät sie in die schärfsten Gegensätze. Ihre Vertreter haben nicht ein Naturrecht, sondern mehrere sehr verschiedene und einander widersprechende Naturrechte proklamiert." H. Kelsen, a.a.O., S. 226. Für E. Wolf liegt gerade in der Umstrittenheit und der hohen Variabilität des Naturrechtsbegriffs seine Stärke, sie stellt für ihn keine "Not", sondern eine im Recht mitgegebene "Notwendigkeit" dar. Ders., Das Problem einer Naturrechtslehre, S. 193-201.

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Das metaphysische, natur- bzw. vernunftrechtliche Paradigma zeigt die Wechselbeziehung oder aber auch die enge Bindung des Teilsystems Recht an ein Gesamtsystem auf, so daß deutlich werden kann, daß für eine inhaltliche Grundlegung von Recht besonderer Wert auf die Ortsbestimmung von Recht als Teilsystem gelegt werden muß. Zudem muß in diesem Zusammenhang auch bedacht werden, wie eine eigenständige selbstreflexive Grundlegung eines Teilsystems erfolgen kann, die den spezifischen Bedingungen und Problemen eines Teilsystems Rechnung trägt. Offen bleibt, inwieweit eine Begründung oder Legitimation von Rechtssystemen zu leisten ist. Es hat sich gezeigt, daß der hier eingeschlagene Weg mit den beiden Prämissen von der Einheit der Wirklichkeit und der Möglichkeit eines Schlusses vom Sein auf ein Sollen philosophisch in der Neuzeit nicht länger haltbar ist.

2. Zur Auseinandersetzung mit dem rechtspositivistischen Paradigma In der Darstellung ist noch einmal sichtbar geworden, warum es zu einem Paradigmenwechsel vom metaphysischen, natur- bzw. vernunftrechtlichen Paradigma zum rechtspositivistischen Paradigma gekommen ist. Die Kritik am rechtspositivistischen Paradigma ist m.E. an vier Punkten festzumachen: 1. Im Blick auf die Systemwahl, d.h. im Blick auf die philosophischen Voraussetzungen stimme ich dem Bemühen des Rechtspositivismus um eine gewisse Eigenständigkeit und Selbstreflexivität bei der Systemwahl zu. Das Teilsystem Recht muß auch den spezifischen Bedingungen seines Gegenstandes "Recht" Rechnung tragen. Problematisch ist das Bemühen um Selbstkonstitution durch den Rechtspositivismus aber insofern, als Recht als Teilsystem nicht im "luftleeren" Raum geschaffen werden kann. Bei der Systembildung muß das Verhältnis zu anderen Teilsystemen, insbesondere dem Teilsystem Wissenschaft und zu philosophischen Gesamtsystemen reflektiert werden. Auch das rechtspositivistische Paradigma übernimmt Einsichten von anderen Teil- und Gesamtsystemen, z.B. die Perspektive auf die Wirklichkeit oder den Ausgangspunkt bei dem

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positiv gegebenen Recht. Hier bricht aber der Diskurs im Teilsystem Recht oft willkürlich ab. Es wird für die Perspektive oder den erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt nicht weiter argumentiert um einer strengen Konzentration auf den Gegenstand Recht willen.10 Die Systembildung muß unter bewußter Aufnahme und in kritischer Auseinandersetzung mit Einsichten anderer (Teil)systeme vollzogen werden. Nur auf diese Weise ließe sich ein wirklich reflektiertes Rechtsverständnis gewinnen, ohne daß man damit von einem philosophischen Gesamtsystem abhängig wäre.11 Eine einfache Negation und die Behauptung völliger Eigenständigkeit sichert keine Eigenständigkeit. Dies gilt auch für die dezidiert in diesem Paradigma vorgetragene Trennung von Recht und Ethik. Die geforderte Trennung von Recht und Ethik erfährt durch den Rechtspositivismus selbst immer wieder eine gewisse Problematisierung. Es wird immer eine bestimmte Nähe von Recht und Ethik eingeräumt. Das von Kelsen und Radbruch in unterschiedlicher Ausprägung in den Diskurs eingeführte Relativitätskriterium 12 erklärt nicht, warum eine relative, immer zu bewährende Begründung von Recht durch das Ethos nicht denkbar sein soll. Eine Kongruenz von ethischen und rechtlichen Sätzen kann nicht, wie bei Hart, mit der These vom geschichtlich Zufälligen erledigt werden. Es geht mir aber in diesem Fall nicht um eine alleinige Begründung von Recht durch die Ethik, sondern um eine präzise Klärung der Unterscheidung und Zuordnung von Recht und Ethik/ Ethos. Die von Hart vorgeschlagene Trennung von Rechtswissenschaft und Recht halte ich für nicht nachvollziehbar, da auf eine wissenschaftliche Reflexion auch des positiven Rechts um seiner AngemesMan könnte z.B. bei Kelsen seine Abhängigkeit von Überlegungen Kants aufzeigen. Diese Überlegungen teilt prinzipiell auch G. Radbruch: "Rechtsphilosophie ist ein Teil der Philosophie. Es ist deshalb unerläßlich, zunächst die allgemeinen Voraussetzungen der Rechtsphilosophie aufzuzeigen." Ders., Rechtsphilosophie, S. 87. "Eine bloß empirische Rechtslehre ist ... ein Kopf, der schön sein mag, nur schade! daß er kein Gehirn hat." I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, WA VII, S. 336.

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senheit willen nicht verzichtbar werden kann. Rechtswissenschaft kann nicht losgelöst sein vom Recht, und umgekehrt braucht das Recht zu seiner eigenen Überprüfung die Wissenschaft. Inwieweit dann die von der Rechtswissenschaft für das Recht vorgeschlagenen Veränderungen etc. in das positive Recht einfließen können, ist eine andere Frage. Das rechtspositivistische Paradigma sieht in diesem Zusammenhang den Weg der Konsensusbildung für möglich an. 2. Für den Erkenntniszugang wählt das rechtspositivistische Paradigma den Ausgangspunkt beim positiven Recht, 13 um damit mögliche Überlegungen zu einem dem positiven Recht bereits apriorisch vorgegebenen Natur- oder Vernunftrecht abzulehnen. Aber auch für den Ausgangspunkt beim positiven Recht wie für alle anderen empirischen Zugänge zu Gegenständen, Strukturen etc. gilt, daß auch hier die Wirklichkeit nicht letzt- und allgemeingültig erfaßt wird, sondern eine bleibende Differenz zwischen Wirklichkeit und Erkenntnis von Wirklichkeit gegeben ist. Positiv können hier die Überlegungen von Rechtspositivisten, die von der Analytischen Philosophie herkommen, eingebracht werden, daß Recht immer nur ein in der Sprache gegebener und durch Sprache konstituierter Gegenstand ist. Der These, daß Recht zudem als abhängig von der Setzung der sich selbst bestimmenden Vernunft, von Erkenntnisbedingungen, politischen und gesellschaftlichen Interessen und Machtverhältnissen zu sehen ist, ist zuzustimmen. Die These vom Ausgangspunkt bei der Faktizität, um damit die Unveränderbarkeit von positivem Recht durch die Rechtswissenschaft zu begründen, kann mit einer anderen These des rechtspositivistischen Paradigmas widerlegt werden: der These von Recht als einer von Menschen geschaffenen Ordnung oder sozialen Struktur. Wenn Recht durch Menschen geschaffen und gestaltet wird, kann Recht auch durch den Menschen ständig verändert werden. Dies heißt, daß der Anstoß und die Gründe zu einer solchen Veränderung auch von der Rechtswissenschaft ausgehen können. Es

Es ist zu bedenken, daß alle Überlegungen zum Erkenntniszugang und zur Rechtsgestaltung durch Menschen auf philosophischen Grundannahmen beruhen. Eine solche Interdependenz ist nicht prinzipiell zu bestreiten, da sie in der Explikation des Systems nicht durchzuhalten ist und widerlegt wird.

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gibt m.E. kein Argument, warum ausgerechnet dies nicht von der Rechtswissenschaft her erfolgen sollte. Die in dieser erkenntnistheoretisch offenen Situation gefundenen Kriterien (Intersubjektivität, Funktionalität und Kohärenz), die der Konstitution des Rechts durch den Menschen Rechnung tragen, sind zu bejahen. Zu prüfen ist aber, ob die Kriterien hinreichend und wie sie konkret auszulegen sind.14 3. Das Wesen bzw. der Begriff von Recht wird im rechtspositivistischen Paradigma ganz formal und systemimmanent als Normenordnung (H. Kelsen), Verwirklichung einer Rechtsidee (G. Radbruch) oder als System von Primär- und Sekundärregeln (H.L.A. Hart) beschrieben. Dazu kommt noch die Vorstellung einer ebenfalls ganz formal gefaßten Grundnorm oder Erkenntnisregel zur Begründung des Wesens von Recht. Obwohl das rechtspositivistische Paradigma ganz bewußt vom Faktischen, also vom positiven Recht ausgehen will und sich dies auch in ganz formalen Wesens- und Begriffsbestimmungen niederschlägt, kann es entgegen seiner eigenen Zielsetzung nicht auf eine, wenn auch ganz formale Begründung verzichten. Hier ist eine gewisse Inkonsistenz im rechtspositivistischen Paradigma festzustellen. Es ist kritisch anzufragen, ob eine so offene, ganz formale Wesens- bzw. Begriffsbestimmung hinreichend ist. Systemimmanent hätten hier auf jeden Fall die an anderer Stelle eingebrachten Überlegungen zu rechtsgestaltenden Faktoren, wie die jeweiligen Erkenntnis- und Verstehensbedingungen fruchtbar gemacht werden können. Eine andere systemimmanente Möglichkeit wäre die Klärung der Frage von Subjekten der Rechtssetzung und -gestaltung. Diese rechtsgestaltenden "Faktoren" konstituieren auch das Wesen bzw. den Begriff von Recht mit. 4. Die Normgewinnung bzw. Begründung wird ebenfalls rein formal beschrieben, aber auch hier kommt das rechtspositivistische Paradigma nicht ohne eine, zwar formale Grundnorm aus, die allen an-

"Jeder soziale Kontakt wird als System begriffen bis hin zur Gesellschaft als Gesamtheit der Berücksichtigung aller möglichen Kontakte ... Ein solcher Universalitätsanspruch ist ein Selektionsprinzip. Er bedeutet, daß man Gedankengut, Anregungen und Kritik nur akzeptiert, wenn und soweit sie sich ihrerseits dieses Prinzip zu eigen machen." N. Luhmann, Soziale Systeme, S. 33.

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deren Normen zugrundeliegt. Der Verzicht auf jegliche Begründung kann auch hier nicht durchgehalten werden. Zu bejahen ist der Ansatz, daß Normen ein eigenes, von dem Begründungsverfahren für Aussagen unterschiedenes Begründungsverfahren erfordern und in einer geschichtlichen Situation gesellschaftlich und politisch bewährt werden müssen. Ich stimme auch der rechtspositivistischen These zu, daß Normen nicht zeit- und situationsinvariant gefaßt werden können, sondern in einem offenen Prozeß der Veränderung unterliegen. Es kann aber sinnvoll sein, in einer begründeten ethischen Entscheidung für zeit- und situationsinvariante Normen einzutreten, konkret für die Menschenrechte. Dafür wäre ein gesellschaftlicher Dialog darüber notwendig, ob nicht ein zeit- und situationsinvarianter "Normenkern" auch bei grundsätzlich für Veränderungen offenen Menschenrechten erforderlich wäre, um erstens das Recht nicht inhaltlicher Beliebigkeit preiszugeben. Zweitens könnte darin eine Grenze für das Recht liegen. Die dafür zu fällende Entscheidung kann nicht ohne eine materiale Stellungnahme getroffen werden. Es muß deshalb spätestens an dieser Stelle die Ablehnung bzw. der Verzicht auf konstitutive Elemente im materialen Bereich durch das rechtspositivistische Paradigma kritisch hinterfragt werden. Denn an der Frage von zeit- und situationsinvarianten Normen bzw. den Menschenrechten wird deutlich, daß ein Verzicht auf materiale Elemente nicht möglich ist. Eine solche materiale Grundlegung kann durchaus rechtssystemimmanent, offen und immer neu zu bewährend gedacht werden. Insgesamt ist der Gedanke des rechtspositivistischen Paradigmas aufzunehmen, daß eine für das Recht als Teilsystem spezifische und systemimmanente Systembildung angemessen ist. Dies darf aber nicht ein reflektiertes Verhältnis zu anderen (Teil)systemen ausschließen. Die Überlegungen zu rechtsgestaltenden Faktoren sind m.E. sehr wichtig. Der damit im rechtspositivistischen Paradigma verbundene Verzicht auf eine (inhaltliche) Begründung und eine inhaltliche Gestaltung ist demgegenüber kritisch zu bewerten. Ebenso ist der Konzeption einer präzisen Zuordnung und Unterscheidung von Recht und Ethos/Ethik der Vorzug zu geben.

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3. Zur Auseinandersetzung mit dem systemtheoretischen Verständnis von Recht bei N. Luhmann als Paradigma Für eine "universalistische Theorie" oder ein "Supersystem", wie es das Paradigma von Luhmann darstellt, ist charakteristisch, daß jede Kritik in das System integrierbar ist und dadurch zugleich aufgehoben wird.15 Der Frage, inwiefern Supersysteme dennoch kritisierbar sind, kann hier nicht nachgegangen werden,16 und eine Auseinandersetzung mit dem Supersystem Luhmanns kann im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden.17 So will ich mich auf einige, für eine inhaltliche Grundlegung von Recht relevante Kritikpunkte beschränken: 1. Ohne daß ich die Supertheorie Luhmanns übernehmen möchte, ist sein Versuch einer Zuordnung und Unterscheidung des "Subsystems", Recht, von dem Gesamtsystem, Systemtheorie, im Prinzip aufgrund der im ersten Kapitel vorgestellten Überlegungen zur Systemtheorie zu bejahen. Recht als Teilsystem übernimmt die Perspektive des Gesamtsystems, d.h. es sieht die Wirklichkeit als ein Geflecht von verschiedenen, unterschiedlich strukturierten und funktionierenden Systemen. Es übernimmt die Perspektive und das Grundverständnis von System und Systembildung, aber nicht unbearbeitet, sondern auf das Rechtssystem zugeschnitten. Inwieweit eine solche Übernahme von z.B. Grundannahmen oder -begriffen aus einem Gesamtsystem mit der von Luhmann geforderten selbstreferentiellen Zur Kritik an Supersystemen, insbesondere der "universalistischen Theorie" Luhmanns s. Wissenschaft der Wendezeit - Systemtheorie als Alternative? Hg. von J.-P. Regelmann und E. Schramm und K. Kasch, Kirche als erfahrbare Gegenwart des Heils Christi, S. 319-322. Zur Kritik gerade an Luhmanns Systemtheorie vgl. J. Habermas, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? Eine Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann. In: Ders./N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung? S. 142-190; Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung, hg. von H. Haferkamp und M. Schmid; B. Moldenhauer, Luhmanns 'Soziale Systeme' und die Theorie selbstreferentieller, autopoietischer Systeme. In: Wissenschaft der Wendezeit - Systemtheorie als Alternative? Hg. von J.-P. Regelmann und E. Schramm, S. 150-167 und T. Rendtorff, Gesellschaft ohne Religion, insb. S. 36ff. und 75ff. Eine präzise Auseinandersetzung mit Luhmanns Erkenntnistheorie und insbesondere seinem Wahrheitsbegriff leistet J. Habermas, a.a.O., S. 221-238.

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Begründung zu vereinbaren ist, muß kritisch angefragt werden. Auch die von Luhmann aufgezeigte Interdependenz zwischen Gesellschaft als System und Recht als System ist einsichtig. Daß aber Luhmann schließlich den Begriff der Autopoiesis zur ausschließlichen Kennzeichnung von Rechtssystemen gemacht hat, führt m.E. zu einer gewissen Inkonsistenz, weil die Autopoiesis die von Luhmann ebenfalls festgestellte Interdependenz von Rechtssystemen mit anderen Systemen nur einseitig berücksichtigen kann, nämlich in der autopoietischen Verarbeitung der Interdependenz im jeweiligen System. Unklar bleibt, wie hier die funktionale Beziehung der Systeme zueinander gedacht wird. Die Supertheorie kann diese Beziehung allenfalls beschreiben, nicht aber bestimmen. Weiter ist zu fragen, ob die These von der selbstreferentiellen Begründung von Rechtssystemen haltbar ist insofern, als die für dieses System entscheidende und seine Identität ausmachende Funktionsbestimmung durch das umfassendere System, Gesellschaft, erfolgt. Luhmann behauptet, daß nur innerhalb des Rechtssystems selbst Recht gesetzt werden kann. Positiv daran ist, daß immer ein systemimmanent begründetes Verfahren zur Rechtssetzung vorhanden sein sollte. Das schließt aber nicht die Möglichkeit einer rechtlich geregelten Einflußnahme außerrechtlicher, insbesondere gesellschaftlicher Faktoren auf die Rechtssetzung aus. In den Thesen von der Autopoiesis und der Selbstreferenz von Rechtssystemen ist implizit ein weiteres Problem mitgegeben: die Frage nach dem Subjekt/den Subjekten von Rechtssystemen. Luhmann will den Subjektbegriff durch den der Selbstreferenz überwinden und ersetzen.18 Er löst aber damit das Problem des Subjekts/der Subjekte von Systemen nicht befriedigend. Der neuzeitliche Subjektivitätsbegriff ist differenzierter als die von Luhmann kritisierte Unterscheidung in Subjekt und Objekt. Es ist zu fragen, ob bei Luhmann das System zum Subjekt wird. Ist es überhaupt möglich, ein System als Subjekt zu denken? Ist es nicht vielmehr so, daß verschiedene Subjekte, d.h. Menschen, das System konstituieren, seine Selbstreferenz und Funktionalität regeln? Dabei entstehen in einem System Bedingungen, die den Menschen als Subjekt in den KonstitutionsN. Luhmann, a.a.O., insb. S. 593-596.

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und Handlungsbedingungen innerhalb eines Systems leiten, bzw. von denen sich der Mensch leiten läßt um der Funktionalität eines Systems in der Gesellschaft willen. Den einzelnen Menschen und die Gesellschaft versteht Luhmann auch als autopoietisches System. Er hat aber m.E. nicht hinreichend reflektiert, daß das autopoietische System Mensch und das System Gesellschaft Recht als System erst entstehen lassen. Das Verhältnis des autopoietischen Systems Mensch oder Gesellschaft und des autopoietischen Systems Recht muß auf andere Weise bestimmt werden als das der autopoietischen Systeme Recht und Wirtschaft. Dazu ist m.E. der Subjektbegriff unumgänglich. Die Autopoiesis des Systems Mensch ist eine grundsätzlich andere als die des Systems Recht. Kritisch stehe ich auch der selbstreferentiell begründeten Erkenntnistheorie gegenüber. Eine selbstreferentiell begründete Erkenntnistheorie läßt die Frage der Kommunikabilität von Erkenntnis zwischen verschiedenen Systemen zu formal und unbestimmt.19 2. Kritisch habe ich bereits auf gewisse Inkonsistenzen bzw. offene Fragen im Hinblick auf die unterschiedliche Orts- und damit Begriffsbestimmung von Recht hingewiesen. Obwohl Luhmann so weit zuzustimmen ist, daß Recht und Ethik auf der Systemebene zu unterscheiden sind, ist auch hier zu fragen, ob nicht die Interdependenz von Recht und Ethik gesehen werden muß. Nach Luhmanns eigenem Verständnis sind Recht und Ethik gegenseitig füreinander "Umwelt" und beeinflussen sich so gegenseitig. Diese Überlegung hat Luhmann m.E. nicht genügend zur Geltung gebracht. Er hat vom rechtspositivistischen Paradigma die These übernommen, daß ethische Werte und Normen relativ statisch und unflexibel zu verstehen seien. Es ist aber noch zu klären, ob nicht auch ethische Werte und Normen zum einen sich in einem offenen Prozeß ständig neu bewähren müssen. Zum anderen, ob es durchaus in gewissem Maße bleibende ethische Normen und Werte gibt, die als Grundlage und Kriterien des offenen Prozesses der Normgewinnung sowohl für die Ethik als auch für das Recht betrachtet werden können. Die Frage, ob Luhmann nicht auch von einer "doppelten Komplexität" sprechen müßte, behandelt im Rahmen seiner religionssoziologischen Problemstellung auch K. Kasch, a.a.O., S. 186 und 360ff.

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3. Im Zusammenhang der Fragen einer Systemgrundlegung möchte ich hier wie beim rechtspositivistischen Paradigma anmerken, daß ich eine nur formale Systembildung mit konstitutiven Elementen allein im formalen Bereich als für nicht hinreichend erachte. Es stellt sich diese Frage hinsichtlich der in diesem Zusammenhang charakteristischen Überlegungen Luhmanns zur "Legitimation durch Verfahren". Es darf bezweifelt werden, ob die rein formale Legitimation durch Verfahren allein eine angemessene Rechtsordnung sicherstellen kann. M.E. kommt die Legitimation durch Verfahren bei der Unterscheidung von Legitimität und Legalität an ein Ende, da hier Legitimität und Legalität in eins gesetzt werden. Damit fehlt aber in Luhmanns System ein Kriterium für die Legitimation von Recht. Ein solches Kriterium muß m.E. immer ein inhaltlich formuliertes sein. Habermas zeigt auf, daß die Legitimation durch Verfahren in bestimmten Bereichen durchaus möglich ist. Dies hat nicht zur Konsequenz, daß diese Legitimation durch Verfahren sich nicht weiterhin anhand von Kriterien bewähren sollte. In anderen Bereichen, wie den verfassungsrechtlichen Grundlagen eines Systems oder im Str-vfrecht, ist dies schon der Sache nach nicht möglich, weil hier auf eine "materiale Rechtfertigung" von Rechtsänderungen nicht verzichtet werden kann.20 Ein solches Legitimationskriterium stellt geschichtlich das konstitutive handlungstheoretische Element der Gerechtigkeit dar, das Luhmann ebenfalls formal neu faßt. Damit verliert die Gerechtigkeit aber ihre Funktion einer inhaltlichen Legitimation und eines inhaltlichen Kriteriums der Normgewinnung. Es ist die Frage, ob die wissenschaftstheoretische Infragestellung von Letztbegründungen nur die Möglichkeit einer formalen systemtheoretischen Neuformulierung offen läßt. Auch hier besteht die Gefahr, daß ein Rechtssystem der inhaltlichen Beliebigkeit preisgegeben wird. Das reibungslose Funktionieren allein darf nicht zum übergeordneten Kriterium gemacht werden - denn so könnte auch inhaltliches Unrecht legitimiert werden. Damit ist zugleich das Problem eines formalen Rechtsbegriffs mitangesprochen. Zuzustimmen ist Luhmann darin, daß er die Vgl. J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, S. 536. Zu Habermas Ablehnung der Legitimation durch Verfahren s. ebd. S. 522-547.

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wichtige Bedeutung der Funktion(en) von Recht in einer Gesellschaft hervorhebt. Solange aber der Rechtsbegriff so formal wie bei Luhmann definiert wird, stellt sich wiederum das Problem, ob eine inhaltliche Begründung um der Angemessenheit von Recht willen ebenfalls notwendig ist. Systemimmanent ist Luhmann sowohl im Hinblick auf die Frage, ob das Funktionalitätskriterium verbunden mit dem Sinnkriterium allein hinreichend ist, als auch auf den Verzicht auf materiale Elemente aufgrund seines Komplexitätsbegriffs zu kritisieren. Es ist zu überlegen, ob analog zu einer "doppelten Selektivität" nicht auch eine "doppelte Komplexität" gedacht werden muß.21 Luhmann denkt Komplexität nur für den Gegenstand, Welt, nicht aber für das Erkenntnis- und Handlungssubjekt, Mensch, das diesen Gegenstand, Welt, erfassen und mit ihm umgehen will. Das Subjekt Mensch hat dazu selbst viele Möglichkeiten: seine eigene Komplexität in Form von Erkenntnismöglichkeiten, Gefühlen etc. Daß Luhmann nicht die Notwendigkeit erkannt hat, auch eine "doppelte Komplexität" zu denken, liegt sicher in seinem nicht hinreichenden Subjektbegriff mitbegründet. Er denkt den Menschen nicht als Subjekt von Systemen. Ebenso wird das Verhältnis des autopoietischen Systems Mensch zum autopoietischen System Recht nicht differenziert erarbeitet. Für eine solche Erarbeitung ist die Vorstellung einer "doppelten Komplexität" unverzichtbar. Es stellt sich nun die Frage, ob diese Komplexität funktional, auch mit einem allein funktional verstandenen Sinnkriterium, und formal bearbeitet werden kann, oder ob es dazu weiterer und zudem materialer Kriterien bedarf. Nach dieser kritischen Auseinandersetzung mit den verschiedenen Paradigmen von Recht möchte ich nun versuchen, ein zusammenfas-

Die Differenzierung zwischen Teilsystem und Systemteil ist in der hier vorgeschlagenen Art geschichtlich so nicht erfolgt. Es gibt zum einen die Ausbildung von philosophischen Ethiken. Hier wäre die Bezeichnung Teilsystem angebracht. Vielfach wird aber auch die Ethik innerhalb einer umfassenden philosophischen Konzeption in einem nicht immer deutlich getrennten Systemteil bearbeitet. Dort wäre dann die Bezeichnung "Strukturmodeir/Systemteil angebracht. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß die Unterscheidung in Erkenntnistheorie, Philosophie, Praktische Philosophie/Ethik sich erst in der Neuzeit durchgesetzt hat.

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sendes Ergebnis für die inhaltliche Grundlegung von Recht als Teilsystem zu gewinnen.

4. Ergebnis Zur Erfassung und Klassifikation der unterschiedlichen Konzeptionen hat sich m.E. der systemtheoretische Zugang bewährt. So konnten die verschiedenen Zugangsweisen, die im Laufe der Geschichte entwickelt wurden, und das komplexe Phänomen Recht präziser in ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden dargestellt werden. In den weiteren Paragraphen dieses 3. Kapitels soll nun versucht werden, ausgehend von den durch den systemtheoretischen Zugang und die Explikation der drei grundlegenden Paradigmen von Recht gewonnenen Erkenntnissen "ein Rechtsverständnis" zu entfalten. Es ist meine Zielsetzung, Recht als Teilsystem zu verstehen und zu begründen. Im Hinblick auf die einzelnen Elemente und Bereiche hat sich dafür in der Untersuchung folgendes Ergebnis gezeigt: - Die zentrale Bedeutung der Systemkonstitution und dabei insbesondere der Frage der Inbeziehungsetzung zu umfassenden Systemen:

Die Entscheidung, ob Recht als ein in ein Gesamtsystem integriertes, eigenständiges oder autopoietisches Teilsystem verstanden wird, prägt die gesamte Systembildung. Davon hängt ab, in welchem Maße die Perspektive und die Systemkonstitution von Gesamtsystemen aufgenommen wird, oder ob versucht wird, eine eigenständige, spezifisch auf den Gegenstand Recht zugeschnittene Systembildung zu leisten. Es erscheint mir hier wichtig, genau zu überlegen, inwieweit es zur Erfassung des Gegenstandes Recht einer eigenständigen Systembildung bedarf, und inwieweit jede Systembildung immer in Relation zu anderen Systembildungen steht, von ihnen beeinflußt wird. Es ist zu fragen, ob nicht auch für den Bereich der Systembildung so etwas wie konstitutive Elemente gegeben sind: Klärung der Perspektive, Systemwahl und -begriff, Bereichsbestimmung etc. Die Klärung dieser Elemente bedingt m.E. immer den Rückgriff auf ein philosophisches bzw. wissenschaftstheoretisches Gesamtkonzept und die dort gegebene Theoriebildung, weil sie über die spezifischen Fragestellun-

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gen eines Teilsystems hinausgehen, das sich charakteristisch immer nur auf einen bestimmten Teilbereich von Wirklichkeit bezieht. Um aber diesen Teilbereich angemessen zu erfassen, muß im Rahmen der Systemkonstitution eine umfassende Grundlegung erfolgen. Weiter scheint mir immer - und sie ist auch in allen Paradigmen vorgenommen worden - eine Klärung des Verhältnisses zur Ethik und speziell eine Unterscheidung von Recht und Ethos erforderlich. Dies ist damit zu begründen, daß sowohl Recht als auch Ethik als (Teil)systeme handlungs- und daseinsorientiert sind. Ich gehe davon aus, daß die im Folgenden aufgezählten konstitutiven Elemente sich in allen geschichtlichen Konzeptionen nachweisen lassen, wenn auch manchmal nur implizit. Kommt es zum Verzicht auf eine Interpretation eines dieser Elemente, kann das als eine extreme Form der Interpretation gewertet werden. Dennoch gibt es hier neben der phänomenologischen Seite auch die normativ kritische, weil die Behauptung noch zu bewähren ist, daß diese hier aufgeführten Elemente für alle Teilsysteme von Recht konstitutive Elemente sind. Es könnte sich herausstellen, daß einige nicht konstitutiv sind und andere fehlen. - Als konstitutive erkenntnistheoretische Elemente ergeben sich für das Teilsystem Recht aufgrund der Untersuchung der drei grundlegenden Paradigmen: 1. Der Rechtsbegriff 2. Die Kriterien zur Gewinnung und Begründung von Recht: - Korrespondenzkriterium - Konsenskriterium - Kohärenzkriterium Im Rahmen der Entfaltung dieser Kriterien können der Erkenntniszugang, das Erkenntnisziel und -interesse sowie die wahrheitstheoretischen Voraussetzungen geklärt werden. Eine nähere Darstellung und Begründung soll in § 3 dieses Kapitels vollzogen werden. - Als konstitutive ontologische Elemente ergeben sich: 1. Der Gegenstand Recht und sein Wesen 2. Ontologische Voraussetzungen: - Recht als Teil von Wirklichkeit - Anthropologische Voraussetzungen und Bedingungen

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- Recht als Element von Geschichte - Die Implikationen von Gesellschaft, Staat und Institutionen Die Darstellung und Begründung dieser konstitutiven ontologischen Elemente soll in § 4 geleistet werden. - Als konstitutive handlungstheoretische Elemente ergeben sich: 1. Recht als Handlungsgeschehen 2. Die funktionale Orientierung von Recht 3. Die ethische Orientierung von Recht 4. Die Grenze von Rechtssystemen Die Darstellung und Begründung dieser Elemente soll in § 5 erfolgen.

§ 2 Die Konstitution von Recht als Teilsystem

Ich möchte wie in den beiden vorangegangenen Kapiteln bei der Entfaltung der Systeme den strukturellen Aspekt hervorheben, da ich die Voraussetzung mache, daß dieser Aspekt für die Theologie entscheidend ist bzw. den Bereich bildet, wo ihr Aussagen zum Recht möglich sind. Der Gestaltzusammenhang von Rechtssystemen tritt deshalb in den Hintergrund. Der Eigenständigkeit von Rechtssystemen und der mit ihnen verbundenen Rechtswissenschaften ist hier Rechnung zu tragen. Beginnen möchte ich diesen Paragraphen über die konstitutiven Elemente von Recht mit der Ortsbestimmung, da hier bei der Verhältnisbestimmung zu anderen (Teil)systemen die Weichenstellung für die Konstitution eines Teilsystems erfolgt.

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1. Zur Ortsbestimmung des Teilsystems Recht a) Das Verhältnis des Teilsystems Recht zu anderen Teil- und Gesamtsystemen Die Ortsbestimmung ist für das Recht als Teilsystem von konstitutiver Bedeutung, weil hier die Entscheidung zum einen über die Notwendigkeit der Schaffung eines Teilsystems Recht und zum anderen über die Legitimation eines solchen Teilsystems getroffen wird. Es wird erstens darüber entschieden, warum und mit welcher Zielsetzung es überhaupt Recht geben soll. Zweitens, mit welcher Begründung Recht als Teilsystem verstanden wird. Für das metaphysische, natur- bzw. vernunftrechtliche Paradigma hat sich gezeigt, daß das Recht in vielen philosophischen (Gesamtsystemen einen Ort innerhalb von Ethik als Teilsystem oder Systemteil22 besitzt und dort als Strukturmodell ausgebildet wird. Es muß aber, und hier stimme ich dem rechtspositivistischen Paradigma zu, Ich spreche hier bewußt von einer Verhältnisbestimmung von Recht und Ethik, obwohl in der Diskussion häufiger die von Recht und Moral untersucht wird. Unter "Moral" verstehe ich die durch die Mehrheit einer Gesellschaft befürworteten Handlungsschemata, die sich zumeist zu normativen Geboten, aber auch Verboten zusammenfassen lassen. Bei diesen Handlungsschemata und der damit verbundenen Lebensweise geht es um die von der Mehrheit der Gesellschaft oder einer Gruppe als angemessen, richtig und ethisch zu rechtfertigend verstandene Lebens- und Handlungsweise. Diese Handlungsschemata, die dem oft nicht genau definierten Moralkodex einer Gesellschaft zugrundeliegen, beeinflussen und bestimmen sowohl bewußt wie unbewußt das Leben von Einzelnen und Gruppen. Solche Moralvorstellungen werden oft über einen langen Zeitraum hinweg tradiert, ohne auf ihre Angemessenheit hin geprüft zu werden, da sie als bewährt gelten. Änderungen der Moral aufgrund einer geänderten geschichtlichen Situation, neuer Erkenntnisse oder eines neuen Weltverständnisses sind vielfach nur schwer durchzusetzen. Unter Ethik hingegen verstehe ich entweder ein Systemteil eines (philosophischen) Gesamtsystems oder ein eigenständiges Teilsystem. Das ethische Verhalten oder besser: das Ethos eines Menschen oder einer Gesellschaft sind eine bewußt vollzogene Lebens- und Handlungsweise und die diese Lebens- und Handlungsweise begründenden Werte, Nonnen und Ziele, wobei es zur bewußten Bejahung, Korrektur oder Ablehnung von gesellschaftlichen Moralvorstellungen kommen kann. Die Ethik reflektiert das Ethos des Einzelnen und das einer Gesellschaft, fragt nach ihrer Begründung und Angemessenheit. Darin schließt Ethik die Moral ein.

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zu einer eigenständigen Teilsystembildung für das Recht kommen. Nur so kann eine für den Gegenstand Recht umfassende, spezifische und differenzierte Bearbeitung erfolgen, wie sie innerhalb eines philosophischen Gesamtsystems nicht geleistet werden kann. Philosophie wäre überfordert, wenn sie für alle Gegenstände, Strukturzusammenhänge etc. Teilsysteme schaffen sollte. Dazu sind die Problem- und Aufgabenstellungen heute zu komplex. Eine eigenständige, selbstreflexive Teilsystembildung für das Recht bedeutet aber nicht, daß eine Interdependenz zu anderen Systemen ausgeschlossen ist. Eine Teilsystembildung beinhaltet immer z.B. eine Perspektive, einen Systembegriff oder eine Erkenntnistheorie, die sich in Aufnahme und kritischer Auseinandersetzung mit gegebenen Perspektiven, Systembegriffen etc. erschließen. Weiter machen andere Teilsysteme, wie die Soziologie, auch Aussagen zum Recht insgesamt oder zu Einzelaspekten. Deshalb ist eine selbstreflexive Grundlegung für das Teilsystem Recht wichtig, um die Interdependenzen zu anderen Systemen aufzeigen und so die Entscheidungen für die Grundannahmen in einem Teilsystem präzise offenlegen und begründen zu können. Das Verhältnis des Teilsystems Recht zu anderen Teil- und Gesamtsystemen kann als in sich differenziertes und durch das Teilsystem selbstreflexiv zu begründendes begriffen werden, wobei von einer grundsätzlichen Eigenständigkeit ausgegangen werden sollte. Dies bedeutet aber nicht, daß zur Konsensbildung und Durchsetzung von Recht in einer Gesellschaft auf andere Teilsysteme, insbesondere Ethik und Religion, verzichtet werden kann. Dies läßt sich auch empirisch belegen. Zur Durchsetzung und Geltung von Recht ist eine soziale Kontrolle und Einbettung von Recht in andere Teilsysteme unverzichtbar. Das Recht kann auch bei seiner Anwendung desavouiert werden, wenn eine gesellschaftliche Akzeptanz nicht gegeben ist. So ist generell eine Interdepenz zu anderen Teilsystemen für das Recht als Teilsystem notwendig.23

Vgl. dazu u.a. G. Kaiser, Kriminologie, S. 216-222.

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b) Das Verhältnis zur Ethik Es ist vom metaphysischen, natur- bzw. vernunftrechtlichen Paradigma her die Überlegung zu übernehmen, daß in einem (philosophischen) Gesamtsystem der Ort von Recht in der Ethik, verstanden als Systemteil, liegt. Wenn aber Recht zudem als eigenständiges Teilsystem ausgebildet wird, ist eine vom metaphysischen, natur- bzw. vernunftrechtlichen Paradigma unterschiedene Verhältnisbestimmung von Recht und Ethik durchzuführen. Der Versuch, Recht als eigenständiges Teilsystem zu begreifen, hat aber nicht die im rechtspositivistischen Paradigma und bei N. Luhmann gezogene Konsequenz, daß Recht und Ethik getrennt werden müssen. Die Eigenständigkeit von Recht als Teilsystem wird durch eine reflektierte Verhältnisbestimmung zur Ethik nicht eingeschränkt. Dem Teilsystem Recht, und hier nehme ich wieder Überlegungen des metaphysischen, naturbzw. vernunftrechtlichen Paradigmas auf, kann eine Funktion für die Ethik zugewiesen werden, ebenso umgekehrt der Ethik für das Recht. Beide Teilsysteme, Recht und Ethik, verstehen sich als handlungs- und daseinsorientierende Systeme. Von dieser gleichen Grundfunktion her hat eine Differenzierung in Recht und Ethik stattzufinden, die aber nicht zu einer absoluten Trennung, sondern zu einer Unterscheidung und Zuordnung führen kann: Die Ethik nimmt eine Legitimationsfunktion für das Recht in der Gesellschaft wahr. Das Recht übernimmt die Durchsetzung von noch genauer zu klärenden ethischen Vorstellungen in einer Gesellschaft. Bei der Interpretation von konstitutiven ontologischen und handlungstheoretischen Elementen im materialen Bereich werden durch das Teilsystem Recht Grundannahmen der Ethik aufgenommen und für das Recht spezifisch umgesetzt. Das Verhältnis von Recht zur Ethik, beide verstanden als eigenständige Teilsysteme, kann als ein differenziertes Zuordnungs- und Unterscheidungsverhältnis gekennzeichnet werden.

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2. Systemtheoretische Bestimmung von Recht Es soll nun geklärt werden, wie Recht als Teilsystem verstanden werden kann, welche Elemente es prägen. Wie kann die Konstitution von Recht als Teilsystem vorgestellt werden? Was bedeutet es, wenn Recht durch die Systemvorstellung definiert wird? Auch Fragen der Grundfunktion spielen hier eine Rolle. a) Recht als Teilsystem - seine Systemteile Recht als Teilsystem wird neben der Ortsbestimmung durch die Systemwahl und sein Systemverständnis geprägt. Dabei bedingen sich Ortsbestimmung und Systemwahl/-Verständnis gegenseitig und sind nicht losgelöst voneinander zu denken. Mit der Ortsbestimmung, der Systemwahl, dem -Verständnis wird dann auch die Perspektive des Teilsystems Recht auf die Wirklichkeit mitgegeben. Das Teilsystem Recht hat die Aufgabe, das Recht als einen Teilbereich von Wirklichkeit zu erfassen. Um diesen Teilbereich Recht zu erschließen, wird im System Recht als ein Struktur- und Gestaltzusammenhang zu beschreiben versucht. Zentral sind für dieses Teilsystem weiter der Grundbegriff, Recht, und die formalen und materialen konstitutiven ontologischen, erkenntnis- und handlungstheoretischen Elemente, zu denen Basisannahmen gemacht werden. Als Systemteile ergeben sich für das Teilsystem Recht: - Rechtswissenschaft, durch die die Konstitution von Recht als Teilsystem theoretisch erfolgt - Recht als Struktur- und Gestaltzusammenhang menschlicher Handlungs- und Daseinsorientierung - Recht als aktueller Gestaltzusammenhang menschlicher Handlungsund Daseinsorientierung. Hierzu gehören auch die Institutionen, wie z.B. Gerichte oder Gesetzgebungsorgane. b) Recht als handlungs- und daseinsorientierendes Teilsystem Recht ist eine grundlegende Struktur und Gestalt sowie eine bestimmte Handlungs- und damit verbundene Daseinsorientierung, die in allen we-

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sentlichen Bereichen menschlicher Beziehungen und Interaktionen zur Mit- und Umwelt die Rahmenbedingungen festlegt und im Konfliktfall auch gewährleistet Recht stellt die allgemein verbindlichen Rahmenbedingungen des Handelns dar, innerhalb derer dann der Einzelne seine individuelle und spezifische Daseins- und Handlungsorientierung entwickeln kann. In diesem Rahmen kann sich eigenständiges, ethisch verantwortetes Handeln vollziehen. Die vom Recht festgesetzten Rahmenbedingungen wollen es dem Einzelnen in einer Gemeinschaft oder Gesellschaft ermöglichen, sein Leben zu gestalten und zu entfalten, indem sie es im Konfliktfall auch vor Übergriffen anderer schützen. Zugleich werden der individuellen Gestaltung von Leben Grenzen gesetzt, um anderen ebenfalls eine Gestaltungsmöglichkeit ihres Lebens zu eröffnen. Das Recht eröffnet und läßt dem Individuum sein Recht zukommen und gewährt ihm dabei Recht, das das Individuum wahrnehmen kann. Zugleich fordert das Recht das Individuum unter Androhung von Strafe auf, die Rechte anderer zu respektieren. Recht kann charakterisiert werden als Konsens über die dem Einzelnen generell, nicht im Einzelfall zugebilligten Freiheiten und Handlungsspielräume gegenüber anderen Individuen, der Gesellschaft und der Um- und Mitwelt. Recht stellt das in einer Gesellschaft akzeptierte Maß an Freiheiten und Rechten sowie Grenzen und Pflichten für den Einzelnen und die Gesellschaft als ganze dar. Die Kriterien für die Angemessenheit, die Richtigkeit des Handlungsrahmens werden durch das Recht selbst festgelegt. Damit ist Recht als Teilsystem selbstreflexiv. Recht hat die Aufgabe, "Richtung und Linie" (K. Barth) menschlicher Beziehungen festzulegen, so daß die Rahmenbedingungen für ein sinnvolles Zusammenleben gegeben sind. Dadurch beschäftigt sich Recht als Teilsystem mit Handlungen, den diese Handlungen leitenden Normen und somit auch mit Sinnfragen, weil es ja um eine angemessene Gestaltung der Rahmenbedingungen von Leben und des durch sie eröffneten Handlungsspielraums geht. Es ist von daher sowohl handlungs- als auch daseinsorientierend. Daseinsorientierend deshalb, weil die Fragen nach der Angemessenheit und dem Sinn von Handeln und den damit verbundenen Normen immer auch eine Daseinsorientierung implizieren. So

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hat Recht einen Doppelcharakter: Es ist Handlungs- und Daseinsorientierung, weil es das Handeln und von daher auch das Dasein von Menschen mitbestimmen will. Wichtig ist allerdings in diesem Zusammenhang ein selbstbegrenzendes Moment im Recht als Teilsystem, durch das verhindert wird, daß das Recht zur alles bestimmenden Kategorie menschlichen Handelns wird.

§ 3 Die konstitutiven erkenntnistheoretischen Elemente eines Rechtssystems

Die in diesem und in den beiden nächsten Paragraphen dargestellten konstitutiven Elemente haben sich als in allen Rechtssystemen interpretierte Elemente erwiesen. Es hat sich gezeigt, daß für eine systematische Bearbeitung eine Unterscheidung in erkenntnis- und handlungstheoretische sowie ontologische Elemente notwendig und sinnvoll ist, aber für ein angemessenes Verständnis und eine angemessene Interpretation der einzelnen Elemente sind der innere Zusammenhang und die wechselseitige Abhängigkeit zwischen den drei Elementengruppen entscheidend. Diese Elemente interpretieren sich gegenseitig mit. Zu den konstitutiven erkenntnistheoretischen Elementen würden im strengen Sinne auch die Systemwahl und das Systemverständnis gehören. Da diese aber von so hoher Relevanz für die Teilsystembildung sind, habe ich sie aus der Gruppe der konstitutiven Elemente herausgenommen und vorweg behandelt.

1. Zur Eigenart des Rechtsbegriffs Den von der Metaphysik herkommenden, auch in der klassischen Rechtsphilosophie verwendeten Terminus "Wesen" oder "Idee" von Recht möchte ich aufgrund in der Neuzeit und insbesondere durch

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die Analytische Philosophie erarbeiteten Erkenntnisse differenzieren, indem ich zwischen dem Begriff eines Gegenstandes24 und dem Gegenstand selbst unterscheide. Die Analytische Philosophie nimmt dazu die Definition Kants von Begriff als "... eine allgemeine Vorstellung oder eine Vorstellung dessen, was mehreren Objekten gemein ist, also eine Vorstellung, so fern sie in verschiedenen enthalten sein kann"25, auf. Die Analytische Philosophie erkennt aber über Kant hinausgehend, daß eine allgemein einsichtige Bestimmung eines Gegenstandes und seines Wesens nicht geleistet werden kann. Ich möchte über die in der Analytischen Philosophie gemachten Aussagen hinausgehend versuchen, auch eine Wesensbestimmung von Recht durchzuführen, um so die ontologischen Elemente des Gegenstandes Recht ebenfalls in den Blick zu bekommen. Der Begriff Recht wird hier im Rahmen der erkenntnistheoretischen Elemente behandelt, während die Frage nach dem Wesen von Recht im Rahmen der ontologischen Elemente näher untersucht wird. Das erlaubt auch einen differenzierteren Zugang zu dem traditionellen Verständnis von Recht, welches Aussagen über das "Wesen" oder die "Idee" von Recht einschließt. Begriff soll in dieser Arbeit die sprachliche Beschreibung eines Gegenstandes, hier des Rechts, bezeichnen.26 Der Terminus "Begriff beinhaltet einen Hinweis darauf, daß sich sowohl unsere Wahrnehmung eines Gegenstandes wie auch unser Denken innerhalb von 24

25 26

"Denn die Annahme, daß die Unterscheidung von Wortbedeutungen bloß Worte erhellt, ist falsch. Viele wichtige, aber nicht unmittelbar offensichtliche Unterscheidungen zwischen Typen sozialer Situationen und Beziehungen können dadurch am besten ans Licht gebracht werden, daß man den Standardgebrauch der entsprechenden Worte untersucht und erforscht, wie diese vom sozialen Kontext abhängen. Dies wird ja häufig nicht direkt ausgesprochen. Hier könnten wir uns durchaus von J.L. Austin sagen lassen, daß 'ein geschärftes Bewußtsein für Worte unsere Wahrnehmung der Phänomene schärfen wird'." H.LA. Hart, Der Begriff des Rechts, S. 8. I. Kant, Logik (1800), WA V, S. 521. Vgl. die drei gleichnamigen Untersuchungen zu diesem Thema: H.LA. Hart, a.a.O., H. Kantorowicz, Der Begriff des Rechts und R. Dreier, Der Begriff des Rechts. In: NJW 39, 1986, S. 890-896. Weiter den Sammelband: Begriff und Wesen des Rechts, hg. von W. Maihofer; N. Brieskom, Rechtsphilosophie, S. 32-56 oder die sehr formale Untersuchung des Rechtsbegriffs bei E. Stammler, Rechtsphilosophie, S. 46-93.

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Sprache vollzieht und durch sie vermittelt wird.27 Ein Begriff kann sowohl die Extension wie die Intension28 eines Gegenstandes erfassen. Die Extension des hier zu erarbeitenden Rechtsbegriffs bezieht sich grundsätzlich auf alle Rechtssysteme, die aber im Rahmen dieser Untersuchung nur bedingt aufgenommen werden können. Hier soll es insbesondere um die Intension des Rechtsbegriffs gehen, um dann den Gegenstand in seinem Wesen näher zu erfassen.29 Der Terminus "Wesen" soll einen Gegenstand in seiner Identität bezeichnen, die ihn von allen anderen Gegenständen unterscheidet. a) Zur Begriffsgeschichte Der Begriff "Recht"30 geht auf den lateinischen Begriff "rectum" zurück.31 "Rectum" bedeutet ursprünglich (regere) "etwas aufrichten" oder "geraderichten", d.h. in gerade, also waagrechte oder senkrechte

"Sprache ist die nicht hintergehbare transzendentale Bedingung der Möglichkeit jeglicher Erkenntnis in Wissenschaft und Philosophie." J. Track, Sprachkritische Untersuchungen, S. 36. Bei der Extension des Rechtsbegriffs wird untersucht, um welches oder welche Rechtssystem(e) es sich handelt. Die Intension fragt danach, was ein Rechtssystem zum Rechtssystem macht. H. Alwart vereinfacht m.E. das Problem, wenn er davon spricht, daß Rechtsphilosophie das Recht als ihren Gegenstand "eigens" konstituiert. Recht ist nicht nur ein Begriff, sondern auch vorgegebener Gegenstand. Vgl. Ders., Recht und Handlung, S. 8. Vgl. die sehr ausführliche und präzise Darstellung über die Herkunft und die Verwendung des Begriffs "Recht" bis ins 19. Jahrhundert von F. Frensdorf, Recht und Rede. In: Historische Aufsätze, S. 433-490 und die sehr materialreiche und detaillierte Darstellung des Art. Recht. In: Deutsches Wörterbuch von Wilhelm und Jakob Grimm, Bd. 14, S. 364-406. Im griechischen Denken wird Recht als δίκη bezeichnet. In den ethymologischen Untersuchungen ist dann umstritten, ob über δείκνυμι (zeigen, weisen) "Gerechtigkeit und Recht", "Herkommen und Sitte" oder beide Begriffspaare als die ursprüngliche Bedeutung abzuleiten sind. Die Grundbedeutung der Wurzel δείκ ist "eine Richtung weisen", "zeigen", "anzeigen", "stellen" und "festsetzen". Dadurch sind dann Parallelen zwischen dem griechischen δίκη und dem lateinischen Äquivalent "rectum" gegeben, obwohl im Griechischen über den lateinischen Begriff hinaus durch die Begriffe "zeigen", "Richtung weisen" dynamische Elemente in den Rechtsbegriff kommen, die in Spannung zu dem mehr statischen "stellen" oder "festsetzen" stehen.

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Position bringen.32 Daraus entwickelt sich schon sehr früh die übertragene Bedeutung "richtig". Bis heute werden die Begriffe "recht" und "richtig" parallel oder synonym gebraucht. Das, was als "recht" bezeichnet werden kann, ist richtig und umgekehrt.33 Diese parallele und synonyme Verwendung von "recht" und "richtig" ist in der Umgangssprache immer mehr zugunsten des Begriffs "richtig" aufgegeben worden.34 Weiter wird Recht jahrhundertelang synonym mit "Rede" verwendet, was seine "Sprachlichkeit", sein in Sprache Gegründetsein und sich durch die Sprache Vollziehen unterstreicht. 35 Nicht jede beliebige Beziehung wird als rechtmäßig oder jeder beliebige Sachverhalt als dem Recht entsprechend bezeichnet, denn der Begriff "Recht" hat einen bestimmten Platz im gesellschaftlich geprägten Zusammenhang von Sprache und wird jeweils nur aufgrund festgelegter Kriterien vergeben. Diese kurzen ethymologischen Überlegungen sollen nur erste Hinweise für die systematische Entfaltung eines Rechtsbegriffs sein. b) Systematische Entfaltung Auch für den Rechtsbegriff gilt die Einsicht L. Wittgensteins, daß sich seine Bedeutung in seinem Gebrauch zeigt.36 Dabei wird nach Wittgenstein die Bedeutung eines Wortes immer auch von seinem sprachlichen und außersprachlichen Kontext mitkonstituiert. Diesen Kontext nennt er "Sprachspiel"37. Das, was Recht ist, wird von der Art und Weise, wie wir den Begriff "Recht" gebrauchen, und der Situation, in der wir ihn gebrauchen, miYkonstituiert. Losgelöst von 32

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Auch Kant versucht auf diesem Weg die Herleitung des Rechtsbegriffs. Vgl. Ders., Metaphysik der Sitten, WA VII, S. 340. Die Silbe "rieht" findet sich in einigen Begriffen aus dem juristischen Bereich, so z.B. bei Gericht oder richten. Als ein Grund dafür läßt sich vielleicht die immer stärkere Verrechtlichung der Gesellschaft nennen, wodurch der Begriff "recht" immer mehr in einer bestimmten Weise festgelegt wird. Vgl. F. Frensdorf, a.a.O., S. 433-490. "Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache." L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Nr. 41. Vgl. ebd. Nr. 23.

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dem Begriff "Recht" gibt es kein sozusagen vor und außerhalb unserer Sprache liegendes "Recht", das wir erst entdecken, finden müßten. Um das Wesen von Recht, seine Eigenarten und Funktionen verstehen zu können, muß man von den "Sprachspielen" ausgehen, in denen etwas als Recht bezeichnet wird. Der für das Teilsystem konstitutive Grundbegriff "Recht" muß in seiner Intension festgelegt werden. Dadurch erfolgt die Bestimmung seiner Wesensmerkmale und ergibt sich die Klassifikation. Recht ist ein aus menschlichen Handlungen38 hervorgehendes System, das in seinem Wesen immer durch menschliche Handlungen gesetzt und neu aktualisiert wird. Zu seiner Eigenart gehört es, daß eine abschließende (inhaltliche) Definition nicht möglich ist.39 Der Grundbegriff "Recht" impliziert weiter, daß ein Sachverhalt, eine Beziehung oder eine Interaktion aufgrund von Kriterien von einer oder mehreren Personen als richtig oder angemessen beurteilt wird.40 Umgekehrt orientiert sich das Recht explizit an den Metaprädikatoren41 richtig, gerecht und gut 42 Damit ist ein normatives EleH. Alwart versucht aufgrund seiner durch die Beschäftigung mit der "analytischen Hermeneutik" gewonnenen Einsichten, den Rechtsbegriff als "Handlungs-Recht" zu konzipieren, wobei Recht durch das Handeln des Rechtsstabes (Juristen etc.) konstituiert wird. Vgl. Ders., a.a.O., insb. S. 138-169. Man kann zwar durchaus beim Handlungsbegriff ansetzen, dieser muß aber im Blick auf seine Elemente stärker differenziert werden. Trotz der inhaltlichen Offenheit des Rechtsbegriffs kann ich mich nicht der These R. Dreiers anschließen, daß verschiedene Perspektiven auf das Recht auch verschiedene Rechtsbegriffe legitim machen. Vgl. R. Dreier, Der Begriff des Rechts, a.a.O., Sp. 893f. Vgl. dazu W. Kamiah und P. Lorenzen, Logische Propädeutik und F. von Kutschera, Grundfragen der Erkenntnistheorie. Etwas ist aufgrund von ... für jemanden richtig etc. Diese explizite Orientierung an den Metaprädikatoren richtig, gerecht und gut weist auf die Interdependenz mit der Ethik hin. Selbst Luhmann kommt nicht ohne diese "binäre Schematisierung" Recht - Unrecht aus. Auch dort, wo er sie durch das Kriterium der "adäquaten Komplexität" in den funktionalen Zusammenhang einholen will, bleibt diese Schematisierung doch ein Problem der Adäquatheit selbst. In gleicher Weise wie bei der Ablösung traditioneller Metaphysik das Subjektivitätsproblem in Luhmanns System systemimmanent nicht schlechterdings ausblendbar ist, so ist dies auch bei der ethischen Problematik nicht möglich. Vgl. die späteren Überlegungen zur Gerechtigkeitsproblematik, S. 183-186.

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ment im Rechtsbegriff mitgesetzt. Wenn Recht ein normativer Begriff ist, benötigt er Kriterien zur Rechtfertigung der in ihm enthaltenen Normen. Diese Rechtfertigung von Normen ist im Grundbegriff Recht impliziert. Von daher ist das Recht als selbstreflexiv zu kennzeichnen. Diese Orientierung an den Metaprädikatoren richtig, gerecht und gut bildet zugleich eine Schnittstelle zur Ethik als Teilsystem. Das auch im Rechtsbegriff mitbegründete Element der Handlungs- und Daseinsorientierung durch ein Rechtssystem steht in Korrelation zu den im Rechtsbegriff enthaltenen Metaprädikatoren richtig, gerecht und gut. So ist im Recht zum einen ein Element enthalten, das explizit über die Angemessenheit der im Recht festgelegten Rahmenbedingungen reflektiert, und zum anderen ein Element, das über das, was an Handlungs- und Daseinsorientierung durch das Recht geregelt werden soll, reflektiert. Hier wird der erkenntnis- und handlungstheoretische sowie der ontologische Charakter von Recht selbst deutlich. Recht als Teilsystem ist folglich selbstreflexiv, da das, was Recht sein soll, auch inhaltlich jeweils neu gesetzt und umgestaltet wird. In diesem Prozeß der Rechtsgestaltung sind die Elemente Erfahrung und Erkenntnis leitend. Recht kann als "Begriff mit offenem Horizont" verstanden werden.43

2. Die Kriterien zur Gewinnung und Begründung von Recht Um in einem Teilsystem Recht begründen und bewähren zu können, ist es unumgänglich, erkenntnistheoretische Kriterien zu entwickeln, die die in der Neuzeit grundsätzlich offene erkenntnistheoretische Situation nicht überspringen, sondern in dieser Situation einen gangbaren Weg suchen. Die Neuzeit ist von der Umstrittenheit der Wahrheit, der Auflösung des Evidenz- und Letztbegründungspostulats gekennzeichnet. Dasselbe gilt auch für die Rechtfertigung von Normen, um deren Gewinnung und Begründung es im Teilsystem Recht vor"Man macht daher Jagd auf ein Phantom, wenn man das Wesen des Rechts (in der genauen Umgrenzung seiner Begriffsmerkmale) als etwas Vorgegebenes mit theoretischer Notwendigkeit erfassen will." R. Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 6.

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wiegend geht.44 Diese Kriterien versuchen zum einen, die wahrheitstheoretischen Voraussetzungen im Teilsystem Recht zu klären. Zum anderen dienen sie dazu, den Erkenntniszugang, die -absieht oder das -interesse offenzulegen und die erkenntnistheoretische Zielbestimmung zu zeigen. a) Die Entfaltung der Kriterien Die gegenwärtige Debatte zeigt, daß drei Kriterien im Blick auf die Wahrheitsfrage grundlegend sind. Diese drei Kriterien lassen sich auch sinngemäß für die Gewinnung und Begründung von Recht heranziehen und müssen im Blick auf die Besonderheit des Rechts, insbesondere auf das normative Element im Recht hin erweitert und präzisiert werden. Als erstes Kriterium nehme ich das Korrespondenzkriterium auf. Da Recht die Rahmenbedingungen für menschliches Handeln und menschliche Interaktionen regelt, muß es den diesem Handeln zugrundeliegenden Gegenständen, Strukturen und Situationen gemäß sein. Dieser Sach-, Struktur- und Situationsgemäßheit soll das Korrespondenzkriterium Rechnung tragen. Um aber eine Korrespondenz aufweisen zu können, ist ein Dialog aller an der Rechtsgestaltung Beteiligten notwendig. Allerdings möchte ich nicht nur für den Aufweis von Korrespondenzen das Konsenskriterium als zweites erkenntnistheoretisches Kriterium benennen. Das Konsenskriterium trägt in besonderer Weise der Umstrittenheit der Wahrheit und der Rechtfertigung von Normen Rechnung und sieht das Bemühen um einen Konsens und dadurch um Intersubjektivität als Möglichkeit an, mit der Umstrittenheit umzugehen, ohne sie aufheben zu können. Als drittes Kriterium halte ich das Kohärenzkriterium für erforderlich, damit die in einem Rechtssystem gewonnenen Es ist insbesondere J. Habermas zu verdanken, daß in der gegenwärtigen Diskussion zwischen der Wahrheit von Aussagen und der Rechtfertigung von Normen deutlich unterschieden wird. Vgl. Ders., Wahrheitstheorien, a.a.O., S. 211-265. Trotz dieser Differenzierung zwischen der Wahrheitsfrage in bezug auf die Wirklichkeitserkenntnis und der Rechtfertigung von ethischen Normen versucht Habermas, eine durch die Vernunft im Diskurs zu erzielende eigenständige Wahrheit ethischer Aussagen zu erweisen, vgl. insb. Ders., Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, S. 131-196.

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Aussagen und Normen auch miteinander vereinbar sind und so im System Konsistenz von Aussagen und Normen herrscht. Diese drei Kriterien ermöglichen nicht die im metaphysischen, natur- bzw. vernunftrechtlichen Paradigma versuchte Letztbegründung von Recht, befreien aber das Recht von der Gefahr, menschlicher Willkür oder Macht bedingungslos unterworfen zu sein, die ich im rechtspositivistischen oder im Paradigma Luhmanns für denkbar erachte. Auch um seiner gesellschaftlichen Akzeptanz und Durchsetzung willen braucht das Recht Kriterien zu seiner Begründung, die aber in der gegenwärtigen Situation nur zur Bewährung ausgesetzt werden können. b) Begründung und Bewährung Ich gehe hier von der Prämisse aus, daß die drei erkenntnistheoretischen Kriterien zur Gewinnung und Begründung von Recht immer des Dialogs bedürfen, um in der Umstrittenheit zu einem gemeinsam vertretenen Rechtssystem zu kommen. Sowohl die Wahrheitsbehauptungen bedürfen einer Begründung im Dialog und dort der Bewährung wie auch die Rechtfertigung von rechtlichen Normen und Gesetzen. Es ist im Dialog nicht möglich, durch den Rekurs auf Wahrheitsbehauptungen über einen Gegenstand rechtliche Normen oder Gesetze zu begründen,45 da von einem Gegenstand oder Sachverhalt nicht logisch evident auf das diesem angemessene Recht geschlossen werden kann. Auch für die Rechtfertigung rechtlicher Normen und Handlungsanweisungen sind keine Letztbegründungen zu erzielen. Im Dialog kann die Angemessenheit der Rechtfertigung von Normen zwar widerlegt, aber nie letztgültig begründet werden.46 Es geht darum, im Dialog aufzuweisen, inwiefern die Rechtfertigung von rechtlichen Normen und von Gesetzen nicht willkürlich ist und bewährt

Diesen Versuch unternimmt das naturrechtliche System. Insbesondere der Kritische Rationalismus setzt sich mit dem Problem der Letztbegründung von Aussagen auseinander. Vgl. z.B. K. Popper, Logik der Forschung; H. Albert, Traktat über kritische Vernunft und Ders., Erkenntnis und Recht. Die Jurisprudenz im Lichte des Kritizismus. In: Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft, hg. von H. Albert u.a., S. 80-%.

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werden kann.47 Neben der Bewährung im Dialog gibt es die geschichtliche Bewährung: Alle Rechtfertigungen von Normen und alle Wahrheitsaussagen sind der Bewährung in der Geschichte ausgesetzt. Zur Einführung von Normen dient die Bewährung im Dialog, zur Beibehaltung ihre Bewährung in der Geschichte. c) Offenheit und Revidierbarkeit Wenn die erkenntnistheoretischen Kriterien immer nur zur Bewährung ausgesetzt werden können, bedarf es für die Erkenntnistheorie von Rechtssystemen Kriterien der Offenheit und Revidierbarkeit. Die Offenheit für neue Argumente zur Angemessenheit der Rechtfertigung rechtlicher Normen und Gesetze impliziert deren prinzipielle Revidierbarkeit. Wenn die Rechtfertigung dieser Normen und Gesetze nur zur Bewährung ausgesetzt werden kann, weil eine Letztbegründung der Rechtfertigung von Normen prinzipiell nicht gegeben ist, muß die Möglichkeit bestehen, bei rechtlichen Normen oder Gesetzen, die sich nicht oder nicht mehr bewähren, im Dialog eine Revision zu erreichen. Eine institutionalisierte Form der Revision innerhalb der Rechtsordnung der BRD selbst sind die Legislative und die verschiedenen gerichtlichen Instanzen bis hin zum Bundesverfassungsgericht. Die so verstandenen erkenntnistheoretischen Kriterien bedingen ein geschichtlich sich veränderndes Recht, woraus sich das Kriterium der Offenheit für eine veränderte geschichtliche Situation und neue Erkenntnisse und Erfahrungen ergibt.

Zur Überprüfung von ethischen Sätzen und Entscheidungen entwickelt H. Albert drei "Brückenprinzipien". In Anlehnung an die Überlegungen zur Wahrheitslehre sind dies das Kohärenzprinzip, daß alle ethischen Aussagen untereinander kohärent sein müssen, und das Kongruenzprinzip, daß die ethischen Aussagen kongruent zu bewährtem Wissen sind. Weiter führt Albert für ethische Aussagen ein Realisierungspostulat ein, womit er die Forderung erhebt, daß das ethisch geforderte Handeln auch von Menschen befolgt werden kann, s. Ders., Traktat über kritische Vernunft, S. 73-79.

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3. Zum Korrespondenzkriterium a) Recht und Grenze des Korrespondenzkriteriums Unter dem Korrespondenzkriterium oder der Korrespondenztheorie, die aus der traditionellen Metaphysik stammt und in der aristotelisch-scholastischen Philosophie entfaltet wird, versteht man klassisch: 'Veritas est adaequatio rei et intellectus."48 Auf das Recht angewandt, geht es bei der Korrespondenztheorie um das Verhältnis von Recht und Realität in erkenntnistheoretischer Hinsicht. Das Recht braucht das Korrespondenzkritierum für eine angemessene Wirklichkeitserkenntnis, um seine Normen zu der erkannten Wirklichkeit in Beziehung setzen zu können. Die Korrespondenz von rechtlichen Normen und von Gesetzen einerseits und der Realität andererseits möchte ich näher als Sach-, Struktur- und Situationsgemäßheit qualifizieren. Die rechtlichen Normen sind immer auf Gegenstände oder Strukturen der Realität bezogen und versuchen, die Rahmenbedingungen für einen sach-, struktur- und situationsgemäßen Umgang des individuellen oder gesellschaftlichen Handelns anzugeben. Dies bedeutet aber nicht, wie es die traditionellen Überlegungen zu einer "Natur der Sache" oder einer "Natur des Menschen" vertreten, daß in den Gegenständen oder Strukturen selbst das angemessene Recht begründet liegt, sondern daß im Dialog der durch das Rechtssystem geforderte Umgang mit den Gegenständen oder Strukturen für die jeweilige Situation, deshalb auch Situationsgemäßheit als Kriterium, gerechtfertigt werden muß. Ein Element des Korrespondenzkriteriums ist auch das dritte "Brückenprinzip" von H. Albert, das Realisierungspostulat,49 das eine Realisierungsmöglichkeit von Normen fordert. Rechtliche Normen müssen auch der Realität in einer Situation korrespondieren, damit ihre Realisierung sowohl in bezug auf die Inhalte als auch 48

49

Diese Formel wird von T. von Aquin in die Diskussion eingebracht, der sie auf Isaac Israeli zurückführt. Vgl. T. von Aquin, S Th I q 16 a 1. Vgl. zur Korrespondenztheorie weiter L.B. Puntel, Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie, S. 26-40. Vgl. Anm. 47.

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auf die Durchsetzung gesichert werden kann. Die Grenze des Korrespondenzkriteriums liegt darin, daß die Wirklichkeit als solche nie letztbegründbar erkannt werden kann, sondern eine bleibende Differenz zwischen Wirklichkeit und Wirklichkeitserkenntnis konstatiert werden muß. b) Sach-, Struktur- und Situationsgemäßheit von Recht Seit Kant wird immer wieder die Frage diskutiert, ob aus einem Sein ein Sollen notwendigerweise folgen muß, und ob ein bestimmtes Sein ein von ihm abhängiges, bestimmtes Sollen erfordert. Ich habe mich hier für die Lösung entschieden, daß bestimmte, nicht alle Strukturen, rechtliche Regelungen erforderlich machen. Welche Strukturen dies sind und wie diese Regelungen dann aussehen, muß aber immer wieder neu in einem geschichtlichen Prozeß und Dialog entwickelt werden. Aus einem Sein können nicht direkt Sollensnormen abgeleitet werden. Recht wird durch vorgegebene Gegenstände und Strukturen in einer geschichtlichen Situation geprägt, die einen Teil des Rechtssystems ausmachen: - Gegenstände, wie Müll, Fahrzeuge etc. - Strukturen des individuellen Lebens, z.B. der Anthropologie - Strukturen des gesellschaftlichen Lebens, z.B. der Wirtschaft - Strukturen von Sachzusammenhängen. Das Recht ist auf diese Strukturen und Sachzusammenhänge bezogen.50 Diese Strukturen und Sachzusammenhänge kommen ohne Recht nicht aus, sie erfordern in unterschiedlich hohem Maß rechtliche Regelungen.51 Recht ist bedingt durch diese Strukturen, spiegelt sie wieder, prägt sie auch mit und ordnet die Formen des Zusammenlebens innerhalb dieser Strukturen.52 Das Recht nimmt in der Nach Luhmann ist nicht die Sach-, Struktur- und Situationsgemäßheit entscheidend, sondern die Funktionalität von Sach- und Strukturzusammenhängen muß in der jeweiligen Situation durch das Recht gewährleistet sein. Dies wird z.B. daran deutlich, daß selbst der Verband einer nomadischen Großfamilie Rechtsformen ausprägt, wie sie dann im AT sichtbar werden. Vgl. HJ. Boecker, Recht und Gesetz im Alten Testament und Alten Orient. Vgl. W. Maihofer, Die gesellschaftlichen Funktionen des Rechts. In: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 1, S. 13-36.

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Gesellschaft dadurch erstens bestimmte Funktionen wahr, eröffnet zweitens die Möglichkeit der Wahrnehmung von Funktionen und gewährleistet drittens Funktionen, die in der Gesellschaft notwendig sind. Wie die rechtlichen Rahmenbedingungen dieser Strukturen aussehen, darüber muß jeweils gesellschaftlich in der Situation neu ein Konsens gesucht werden: Situationsgemäßheit von Recht. Recht korrespondiert immer geschichtlichen Bedingungen, Einsichten und Erfahrungen. Die Strukturen und Gegenstände in der jeweiligen geschichtlichen Situation nehmen selbst wiederum Einfluß auf die Bildung ihrer Rahmenbedingungen durch das Recht. Recht kann sich nicht jenseits dieser Strukturen vollziehen, kann sie nicht einfach überspringen, sondern muß ihnen Rechnung tragen. Recht, Gegenstände und Strukturen sind einem ständigen wechselseitigen Prozeß unterworfen. Nicht nur die vorgegebenen Gegenstände, Strukturen, Sachzusammenhänge und die jeweilige geschichtliche und gesellschaftliche Situation prägen die Gestalt des Rechts, das Recht prägt umgekehrt die Gestalt von Wirklichkeit mit, indem es z.B. die Bauweise von Fahrzeugen bestimmten Normen unterwirft oder der Wirtschaft durch eine Wirtschaftsordnung einen Handlungsrahmen vorgibt. So gesehen, gibt es im Rechtssystem eine doppelte Offenheit: Das Recht muß die Wirklichkeit, Gegenstände, Strukturen und Situationen, beachten. Dies kann nur unter gleichzeitiger Berücksichtigung der ethischen Brückenprinzipien geschehen. Dabei ist zwar kein direkter Schluß von einem Sein auf ein Sollen möglich, aber die Überlegungen zu einer Natur der Sache oder einer Natur des Menschen haben hier ihr Wahrheitsmoment. Aber auch die Überlegungen zu einer Sach-, Struktur- und Situationsgemäßheit von Rechtssystemen können keinen Verzicht auf normative Entscheidungen begründen diese normativen Entscheidungen müssen sach-, struktur- und situationsgemäß gefällt werden.

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4. Zum Konsenskriterium a) Recht und Grenze des Konsenskriteriums Voraussetzung für das Verständnis des Konsenskriteriums sind Überlegungen zum Dialog, der die Basis und die Bedingung für den Konsens darstellt. Das, was Recht sein soll und welche Inhalte in einem Rechtssystem enthalten sein sollen (Rechtsfindung und -Setzung), kann angemessen nur in einem Dialog erarbeitet werden. Der dialogische Charakter von Recht53 wird hier zugleich als normativ orientiertes Charakteristikum zur Beschreibung des Gegenstandes Recht in ontologischer Sicht eingeführt. Er ist für die Angemessenheit und größtmögliche Akzeptanz von Recht in einer Gesellschaft notwendig. In einem gesellschaftlichen Dialog können sowohl die Bereiche der Handlungsorientierung durch das Recht ermittelt werden, als auch die Inhalte der Handlungsorientierung in diesen Bereichen. Der auf Konsens zielende Dialog ermöglicht dem jeweiligen Rechtssystem zum einen eine weitgehende Akzeptanz in einer Gesellschaft. Zum anderen ermöglicht er die Zeit- und Situationsgemäßheit des Rechts, da eine erkenntnistheoretische Bedingung die prinzipielle Revidierbarkeit von Rechtssätzen sein soll. Von daher kann jeweils neu in einem Dialog nach dem angemessenen Recht für eine Gesellschaft und einen geschichtlichen Zeitpunkt gefragt werden. Das schließt nicht aus, daß viele Elemente eines Systems über einen langen Zeitraum hinweg unverändert übernommen werden, da sie in geschichtlich veränderten Situationen weiterhin angemessen sind. Der Dialog schafft sowohl die Offenheit eines Rechtssystems, auf gesellschaftliche Veränderungen oder neue Anforderungen an das Recht einzugehen, als auch Raum für geschichtliche Erfahrungen zu bieten. In der Spannung einer sich ständig geschichtlich verändernden Situation und geschichtlich gewachsener Erfahrungen muß im Dialog Recht gesucht werden. Ziel des Dialogs ist die Begründung und Bewährung der Rechtfertigung durch Konsens der im Recht gegebenen Normen und HandZum dialogischen Charakter von Recht vgl. auch R. Gröschner, Dialogik und Jurisprudenz.

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lungsanweisungen in der jeweiligen geschichtlichen Situation aufgrund von Intersubjektivität. Intersubjektivität ist Kriterium und Ziel des Konsenses im Dialog über das in einer Gesellschaft angemessene Recht. Erreicht werden soll dabei aber nicht ein beliebiger, eher zufälliger Konsens, sondern ein durch andere Kriterien begründeter. Es geht weiter darum, den Konsens möglichst aller zu erreichen: in der "idealen Sprechsituation" (J. Habermas) möglichst herrschaftsfrei und allein argumentativ. Nur so kann er sich auf Dauer bewähren.54 Da der Konsens vielfach geschichtlich der Konsens einer Mehrheit ist, kann er nicht zum alleinigen Kriterium der Rechtfertigung von Normen gemacht werden.5S b) Herrschaftsfreiheit und Partizipation (möglichst aller) Als grundsätzliches Kriterium für das Gelingen eines Konsenses im Dialog über das Recht möchte ich das Kriterium der Herrschaftsfreiheit einführen.56 Unter Herrschaftsfreiheit verstehe ich näher, daß alle Mitglieder einer Gesellschaft die prinzipielle Möglichkeit haben, am Dialog über die Rechtfertigung von rechtlichen Normen und Handlungsanweisungen (Gesetze) teilzunehmen und somit an der Gestaltung von Recht mitzuwirken. Jedes Mitglied einer Gesellschaft muß die Chance haben, einen Dialog über rechtliche Regelungen eröffnen zu können. Mit dem herrschaftsfreien Dialog ist deshalb als weiteres Kriterium untrennbar die Partizipation (möglichst) Vgl. J. Habermas, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz. In: Ders./N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung? S. 136. Darüber hinaus bleibt auch bei im Dialog gewonnenem Recht das Element des Minderheitenschutzes, das insbesondere die Menschen- und Grundrechte verbürgen, unverzichtbar. Ich nehme hier die Überlegungen von J. Habermas zum "herrschaftsfreien Dialog" und zur "idealen Sprechsituation" auf. Ich schließe mich aber nicht der These von Habermas an, daß der in einer "idealen Sprechsituation" gewonnene Konsens alleiniges Kriterium für die Wahrheit von Behauptungen oder die Rechtfertigung ("Richtigkeit") von Normen sei. Vgl. u.a. Ders., Technik und Wissenschaft als "Ideologie". In: Ders., Technik und Wissenschaft als "Ideologie", S. 48-103; Ders., Erkenntnis und Interesse. In: Ebd. S. 146-168; Ders., Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz, a.a.O., S. 101-141 und Ders., Wahrheitstheorien, a.a.O., S. 211-265.

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aller Mitglieder einer Gesellschaft verbunden. Herrschaftsfreiheit ist nur dann wirklich gegeben, wenn die Partizipation (möglichst) aller zu gleichen Bedingungen gewährleistet ist. Grundvoraussetzung der herrschaftsfreien Partizipation ist, daß jedem Dialogteilnehmer die Kompetenz zur Teilnahme am Dialog aufgrund seiner Vernunft zugesprochen wird. Daraus folgt, daß alle Teilnehmer das gleiche Rederecht und das Recht, an den Entscheidungen gleichberechtigt beteiligt zu sein, haben. Von jedem Dialogteilnehmer soll gefordert werden, daß er auf den Einsatz jeglicher Art von Macht verzichtet, seine Absichten offenlegt und die anderen Teilnehmer als gleichberechtigt versteht. Die hier geforderten Kriterien für die Herrschaftsfreiheit eines Dialogs sind sicherlich ideale Kriterien, die nicht immer so geschichtlich verwirklicht werden können, grundsätzlich aber angestrebt werden sollen. Das erste Gegenargument, daß nicht jedermann in der Lage und willens sei, am Dialog teilzunehmen, darf nicht dazu benutzt werden, die Möglichkeit einer Partizipation aller grundsätzlich auszuschließen. Das zweite Gegenargument, daß die große Zahl von Mitgliedern einer Gesellschaft einen solchen Dialog aller aus praktischen Gründen unmöglich macht, weist darauf hin, daß demokratische Delegationsstrukturen gegeben sein müssen, die über Wahlen eine indirekte Einflußnahme eröffnen. Jeder einzelne sollte die Gelegenheit besitzen, sich direkt am Dialog beteiligen zu können. Dies kann geschehen durch die Teilnahme an der öffentlichen Diskussion in den Medien, die Mitwirkung in Parteien, Teilnahme an Demonstrationen etc. Exkurs: Recht, Macht und Interessen Recht hat geschichtlich gesehen immer schon ein ambivalentes Verhältnis zu Macht und Interesse: Einerseits konnte Recht immer schon dazu mißbraucht werden, die Macht und die Interessen Einzelner oder von Gruppen zu festigen sowie zu legalisieren, weil der herrschaftsfreie und die Partizipation aller ermöglichende Dialogcharakter von Recht nicht (genügend) zur Geltung gebracht wurde. Andererseits diente das Recht, nicht zuletzt unter Berufung auf ein

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zeit- und situationsinvariantes Naturrecht oder die Menschenrechte, dazu, Macht und Interessen zu begrenzen und zu delegalisieren. So ist es bis heute umstritten, ob ein Konflikt-(marxistische Rechtstheorie) oder ein Konsensusmodell (E. Dürkheim) für die Gewinnung von Rechtssätzen als grundlegend anzusehen ist. Dabei wird insbesondere für das Strafrecht von einem Konsensusmodell ausgegangen, da sonst das Strafrecht in seiner Effektivität und Akzeptanz in Frage gestellt werden kann. Für diese These spielt auch das Kriterium der Generalprävention durch das Strafrecht eine Rolle. Die Vertreter des Konfliktmodells gehen vielfach davon aus, daß sich in einem Konflikt immer die gesellschaftlich stärkere Macht- und Interessengruppe durchsetzt und sich dies dann auch im Recht niederschlägt.57 Gesellschaftlich hat das Recht demgegenüber grundsätzlich die Aufgabe, Macht einzugrenzen und Interessen auszugleichen und ist darin zugleich Ausdruck gesellschaftlicher Machtund Interessenverhältnisse. Wenn Recht als in einem geschichtlichen oder gesellschaftlichen Prozeß zu gestaltendes System begriffen wird, das die Rahmenbedingungen des Handelns von Einzelnen, Gruppen und der Gesellschaft als ganzer festlegt, muß gesehen werden, daß bei einer gesellschaftlich so entscheidenden Institution versucht wird, immer wieder Interessen- und Machtansprüche durchzusetzen. Auch das Rechtsverständnis ist interessenbedingt, und auch im herrschaftsfreien Dialog werden Erkenntnisse immer interessengeleitet eingebracht und gewonnen.58 Der Dialog ist aber zugleich zusammen mit seinen Dialogkriterien die einzige Möglichkeit, Macht wirksam zu begrenzen und Interessen gleichberechtigt auszugleichen. Dies erfordert eine rechtlich garantierte Gewaltenteilung in Exekutive, Legislative und Judikative sowie eine demokratische Rechtsstaatlichkeit. Nur so kann verhindert werden, daß Recht als Machtmittel Einzelner oder von Gruppen mißbraucht wird. Recht sollte immer die Macht der "Machtlosen" sein, um ihre berechtigten Interessen auch durchsetzen zu können. Nicht zuletzt deshalb muß mit dem Recht selbst ein Element von Macht verbunden sein, um berechtigte Interessen, Vgl. exemplarisch für das Strafrecht D.K. Pfeiffer, S. Scheerer, Kriminalsoziologie, S. 76-84. Vgl. J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, a.a.O.

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um Recht durchsetzen zu können, um die menschliche Würde und Freiheit vor Übergriffen effektiv zu schützen.

5. Zum Kohärenzkriterium a) Recht und Grenze des Kohärenzkriteriums Das Kohärenzkriterium ist ein systemimmanentes, selbstreflexives59 Kriterium innerhalb des Teilsystems Recht.60 In einem Teilsystem muß die Kohärenz von rechtlichen Normen und von Gesetzen gefordert werden. Das Kohärenzkriterium schließt die Widerspruchsfreiheit und Konsistenz von rechtlichen Normen und von Gesetzen ein. Es soll aber dahingehend präzisiert werden, daß inhaltlich zum einen die Kohärenz aller rechtlichen Normen und Gesetze zu den materialen Grund- bzw. Menschenrechten61 bestehen sollte. Zum anderen muß nicht die Kohärenz aller einzelnen rechtlichen Normen und Gesetze untereinander gegeben sein, wenn sie sich auf verschiedene Bereiche beziehen, z.B. internationales Seerecht und Urheberrecht. Das Kohärenzkriterium bezieht sich auch nicht auf außerrechtliche Normen und Handlungsanweisungen. Seine Grenze hat das Kohärenzkriterium darin, daß die Möglichkeit gegeben ist, daß auch unangemessene Normen miteinander kohärent sein können. Deshalb sind die beiden anderen Kriterien, Korrespondenz und Konsens, ebenfalls notwendig. b) Rechtssetzung, Rechtsverfahren und Rechtsdurchsetzung Zum Kohärenzkriterium gehören die Fragen von Rechtssetzung, -verfahren und -durchsetzung, die zum einen selbst dem Kohärenzkriterium unterliegen und zum anderen die Kohärenz schaffen und Die Frage der Selbstreflexivität wird bei H.LA. Hart unter dem Begriff der "Sekundärregeln" verhandelt, s. S. 91ff. Eine Variante des Kohärenzkriteriums stellen die Überlegungen von Kelsen (s. S. 93ff.) dar, daß alle Normen mit einer Grundnorm vereinbar sein müssen. Zur Begründung dieser These s. S. 186f.

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aufrechterhalten können. Rechtssetzung, -verfahren und -durchsetzung haben wie das Kohärenzkriterium für das Teilsystem eine selbstreflexive Funktion, und zugleich werden durch selbstreflexive Rechtssätze die Kriterien für die Rechtssetzung, das -verfahren und die -durchsetzung festgesetzt. Sie regeln damit die Anwendung, Zuordnung und den Umgang der bis jetzt genannten Elemente. In der Rechtssetzung werden die institutionellen Verfahrensregeln bestimmt. Der institutionelle Charakter von Recht prägt nicht nur die Sätze der Rechtssetzung, sondern er wird auch durch diese mitkonstituiert. Dies gilt ebenso für Sätze des Rechtsverfahrens und der Rechtsdurchsetzung. Hier wird darüber entschieden, wie Recht in einer Gesellschaft wirksam wird.62 Diese auf das Rechtssystem selbst bezogenen Festsetzungen sind auch um der Rechtssicherheit und der Rechtsgewißheit der von einem Rechtssystem betroffenen Menschen willen notwendig. Das Rechtssystem muß von vornherein erklären, was die Nichtbeachtung von Rechtssätzen für Folgen mit sich bringen kann, nicht zuletzt um die Schutzfunktion63 in einer Gesellschaft wahrnehmen zu können. Charakteristisch für ein Rechtssystem sind deshalb Sanktionen und die Verfahrensregelungen und Institutionen, um diese Sanktionen auch durchsetzen zu können.64 Die Eigenart der Durchsetzungsfähigkeit, auch durch Sanktionen garantiert, bedingt die Realisierung eines Rechtssystems. Dies allerdings auf Dauer nur, wo das Rechtssystem einschließlich der damit verbundenen Sanktionen von einer breiten Mehrheit in einer Gesellschaft akzeptiert wird. In der Eigenart der gesellschaftlichen Realisierungsfähigkeit, notfalls auch durch Zwang, unterscheidet sich das Recht von der Ethik. Die Rechtssetzung, das Rechtsverfahren und die Rechtsdurchsetzung sollen normativ an der Gerechtigkeit und einer Sach-, Strukturund Situationsgemäßheit orientiert sein. Ziel eines dialogischen Prozesses der Rechtssetzung muß die weitgehende Verwirklichung von Sach-, Struktur- und Situationsgemäßheit und der Gerechtigkeit sein, 62 63 64

Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 228ff. Vgl. S. 171f. Vgl. Luhmanns stark an der Durchsetzungsfähigkeit orientierten Rechtsbegriff, S. lOlff.

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weil so m.E. ein inhaltlich angemessenes Recht angestrebt werden kann. In der Anwendung von Rechtssätzen im Rechtsverfahren und der Rechtsdurchsetzung sollen wiederum diese Kriterien ein normativ kritischer Maßstab sein. Zugleich werden in den Kriterien der Rechtssetzung, des -Verfahrens und der -durchsetzung die notwendige Bindung des Rechts an (bestimmte) ethische Werte und Normen sowie die Bedeutung von Menschen- bzw. Grundrechten für ein Rechtssystem festgelegt. Entscheidend für die selbstreflexiven Elemente von Recht ist die kritische Selbstbegrenzung von Recht durch die Gewährleistung von rechtsfreien Räumen und Freiheit, 65 die dann in Rechtssetzung, -verfahren und -durchsetzung eine kritisch normative Funktion haben.

§ 4 Die konstitutiven ontologischen Elemente eines Rechtssystems

Bei der Darstellung der konstitutiven erkenntnistheoretischen Elemente wird schon deutlich, daß dies immer nur unter Verweis auf die anderen konstitutiven Elemente möglich ist. Nachdem für die konstitutiven erkenntnistheoretischen Elemente die Untersuchung des Rechtsbegriffs und von Erkenntnis- und Gestaltzugängen zum Recht wesentlich war, geht es hier ganz zentral um die Frage nach Recht als Gegenstand und die Charakteristika von Recht.

1. Recht als Gegenstand - zum Wesen von Recht In der Begriffsanalyse wird davon ausgegangen, daß der für das Teilsystem konstitutive Grundbegriff Recht in seiner Intension in einem ersten Zugang über den Begriff der "Handlung" erschlossen werden kann. Recht verdankt sich einem spezifischen (menschlichen) Handeln. Darum muß zu seiner weiteren Wesensbestimmung dieses spezifische Handeln näher expliziert werden. Dies ergibt Rahmenbe65

S. S. 190f.

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dingungen für das jeweilige Verständnis von Recht und zugleich für seine inhaltliche Ausgestaltung. Diese Rahmenbedingungen sind in zweifacher Hinsicht als offen zu kennzeichnen: Zum einen sind diese Rahmenbedingungen nicht abschließend zu formulieren aufgrund des mit diesen Rahmenbedingungen selbst gegebenen Prozeß- und Erfahrungscharakters des Rechts. Es ist von einem möglicherweise erweiterungsfähigen Bestand solcher Rahmenbedingungen auszugehen. Zum anderen gehört zu dem mit diesen Rahmenbedingungen gegebenen Wesen von Recht auch die Einsicht in die Möglichkeit einer inhaltlichen Rechtsgestaltung - sei es im Blick auf notwendige Ausdifferenzierungen, situationsbezogene Rechtssetzungen und -erweiterungen oder auch einen Spielraum in der inhaltlichen Gestaltung der vorgegebenen Rahmenbedingungen. Mit diesem Verständnis wird die Auffassung vertreten, daß Recht nicht nur ein "Begriff mit offenem Horizont" (R. Zippelius), sondern auch ein "Gegenstand mit offenem Horizont" ist. Weiter wird in dieser Fassung des Rechtsbegriffs davon ausgegangen, daß es einen der "Sache" des Rechts entsprechenden Bestand für das Recht charakteristischer Rahmenbedingungen gibt, die Recht zu Recht machen. Zugleich erfolgt immer vom Begriff und vom Gegenstand des Rechts her eine normative Bestimmung von Recht. Die bisherigen Erörterungen haben gezeigt, daß nach meiner Auffassung in dieser normativen Orientierung eine jeweils näher zu bestimmende Orientierung am ethischen Charakter des Rechts, insbesondere dem Begriff der Gerechtigkeit, eingeschlossen sein muß. Indem diese Wesensmerkmale aber als Rahmenbedingungen formuliert werden, kommt es zu keiner statischen, sondern zu einer dynamischen und offenen Wesensbestimmung, nicht zuletzt deshalb, weil zu diesen Rahmenbedingungen selbst der Erfahrungs- und Prozeßcharakter gehört. Dieses dynamische Verständnis gilt auch für die Orientierung am Begriff der Gerechtigkeit, für den ethischen Charakter und die Bedeutung der Menschenrechte für das Recht. Recht habe ich bei der Systemkonstitution als Handlungs- und Daseinsorientierung beschrieben. Der Handlungscharakter ist zum einen ein konstitutives ontologisches Element und zum anderen ein konstitutives handlungstheoretisches Element. Dies verdeutlicht die

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zentrale Bedeutung des Handlungsbegriffs für das Recht. Untersuchen möchte ich den Handlungscharakter näher bei den konstitutiven handlungstheoretischen Elementen. Als fünf spezifische Wesensmerkmale von Recht können neben dem Handlungscharakter m.E. genannt werden: erstens der sprachliche Charakter von Recht. Recht besteht aus (mündlichen) Aussagen, aus Sätzen, und ist nur in Sprache gegeben und durch Sprache vermittelbar. Ein zweites Wesensmerkmal ist der Prozeßcharakter von Recht. Recht ist immer Ausdruck eines geschichtlichen und gesellschaftlichen Prozesses, in dem Erfahrung und Erkenntnis jeweils neu aufeinander bezogen werden, um so ein zeit- und situationsgemäßes Recht zu entwickeln. Wenn dieser Prozeß wirklich gelingen soll, dann ist als normativ orientierter Zugang erneut der Dialog einzuführen, da er Voraussetzung für ein Gelingen der Entwicklung von Recht innerhalb eines geschichtlichen und gesellschaftlichen Prozesses ist. Ein drittes Wesensmerkmal von Recht ist die Institutionalisierung, die unverzichtbar im Hinblick auf Rechtsfindung, -erkenntnis und -durchsetzung ist. Der ethische Charakter als viertes Wesensmerkmal von Recht, der sowohl normativ kritisch als auch phänomenologisch zu verstehen ist, bedingt zum einen eine Orientierung an ethischen Werten und Normen, und zum anderen beinhaltet das Recht selbst (ethische) Werte und Normen. Wesensmerkmale von Recht, die zugleich aber auch das Recht begrenzen, sind die durch das Recht eröffneten rechtsfreien Räume und die Freiheit. Die Frage nach der ethischen Legitimität von Recht sollte als kritisches Korrektiv auch innerhalb von Rechtssystemen verankert sein. Als letztes spezifisches Charakteristikum des Gegenstandes Recht möchte ich den Realitätscharakter einführen. Bei der Bearbeitung des Korrespondenzkriteriums als erkenntnistheoretischem Element wurde schon die Bezogenheit von Recht auf die Realität sichtbar: Sach-, Struktur- und Situationsgemäßheit von Recht. a) Sprachlicher Charakter Wie schon in den Überlegungen zum Begriff von Recht gezeigt, ist Recht ein durch Sprache mitkonstituierter Begriff: Ohne Sprache

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gibt es kein Recht. Sprache eröffnet dem Menschen Recht und ermöglicht es ihm, Recht zu erfassen. Recht ist auch ein Sprachgeschehen; es besteht aus mündlich und schriftlich gefaßten Sätzen.66 Eine inhaltliche Grundlegung von Recht muß deshalb zeigen, wie man Recht mit Wörtern macht - "how to do law with words"67. Die Wirklichkeit, auf die sich das Recht bezieht, kann von den Organen der Rechtssetzung nur sprachlich vermittelt erfaßt und durch die Sprache ins Recht aufgenommen werden. Gründe für den sprachlichen Charakter von Recht bilden weiter das stark normative Element im Recht und der Dialog als Kommunikationsgeschehen. Juristisches Handeln, z.B. durch den Richter, ist immer auch ein Sprachgeschehen, wie Gerichtsverhandlungen oder Richterspruch. Das gesetzte Recht, die Gesetze, bedürfen dabei immer der sprachlichen Interpretation. b) Prozeßcharakter Der Prozeßcharakter von Recht68 hat eine ständige Weiterentwicklung und Veränderung des Rechtssystems zur Folge. Er schließt nicht über lange Zeiträume sich gleichbleibende Elemente in einem Rechtssystem aus, wenn sie sich in einem geschichtlichen Prozeß bewähren.69 Der Prozeßcharakter von Recht ist nicht vereinbar mit Vorstellungen von einem unveränderbaren Rechtssystem, sondern er geht davon aus, daß nach dem, was Recht ist und sein soll, immer wieder neu gefragt werden muß. Ein Rechtssystem muß in einem geschichtlichen und gesellschaftlichen Prozeß immer weiter entwickelt, Deshalb nimmt unter den juristischen Disziplinen die Hermeneutik einen großen Raum ein. Der Satz "how to do law with words" ist eine auf das Recht hin spezifizierte Umformulierung eines Buchtitels von J.L. Austin, How to Do Things with Words. Austins Theorie der Sprechakte hat die Überlegungen Harts u.a. zum Verständnis von Recht und Sprache entscheidend beeinflußt. Aber auch wenn in einer geschichtlichen Situation der dialogische Prozeßcharakter eines Rechtssystems nicht gegeben ist, ist dieses dann autoritär gesetzte Recht Ausdruck eines gesellschaftlichen Prozesses. Zu diesem Prozeßcharakter trägt auch wesentlich die Rechtsauslegung bei, die rechtsgestaltende Urteile (Gestaltungsurteile) fällen kann und in veränderten Situationen oft auch fällen muß.

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in Grenzfällen - wenn eine Veränderung des gesellschaftlichen Systems und seiner Strukturen geschichtlich notwendig oder möglich ist - durch ein anderes ersetzt werden. Der Prozeßcharakter steht immer in Spannung erstens zu der Vorstellung von zeit- und situationsinvarianten Menschenrechten und zweitens zum Element der Rechtssicherheit. c) Institutioneller Charakter Der institutionelle Charakter von Recht70 steht in Spannung zum Prozeßcharakter, da mit der Institutionalisierung von Recht das Moment des Auf-Dauer-Stellens verbunden ist. Zugleich ist der institutionelle Charakter für den Dialog der Rechtsfindung und -Setzung unverzichtbar, da der Dialog, seine Kriterien und die sich daraus ergebenden Verfahrensregeln nur dann in einer Gesellschaft verwirklicht werden können, wenn dieser Dialog institutionalisiert und dadurch auch garantiert wird. Der institutionelle Charakter von Recht ist nicht nur für die Rechtsfindung und -Setzung notwendig, sondern auch für die Rechtsanwendung und -durchsetzung. Recht als Teilsystem ist zu seiner geschichtlichen Verwirklichung auf seine Institutionalisierung angewiesen. Zum Recht gehört es im Unterschied zum Ethos, daß es "gesetzt", d.h. als solches eingesetzt wird. Der institutionelle Charakter von Recht kann noch präziser bestimmt werden: Recht ist eine selbstreflexive Metainstitution. Es ist eine selbstreflexive Metainstitution insofern, als es selbst die zu ihm gehörenden Institutionen der Rechtssetzung etc. begründet und festsetzt. Das Recht ist eine Metainstitution, weil es die Rahmenbedingungen anderer Institutionen, wie Wirtschaft, festlegt. Es ergibt sich aus dem institutionellen Charakter von Recht eine weitere Eigenart: Ein Rechtssystem ist immer entscheidungs- und anwendungsorientiert. Recht ist in sich entscheidungs- und anwendungsorientiert, da es einerseits Handlungsanweisungen beinhaltet, die eine Entscheidung fordern, und andererseits so konzipiert ist, daß es in Konfliktfällen Entscheidungskriterien zur Verfügung stellt. Zum Recht gehöDer Gedanke von Recht als Institution geht auf das germanische Denken des Mittelalters zurück.

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ren deshalb zentral Kriterien der Entscheidungsfindung und eine Praxis der Rechtsauslegung und -anwendung. Zusammen mit dem institutionellen Charakter kommt es hier zu einem zweifach begrenzenden Moment für die Charakteristika des Dialogs und des Prozesses. Das, was Recht sein soll, muß zum einen als Recht immer wieder anwendbar und institutionalisierbar sein, oder, anders ausgedrückt, die Möglichkeit zur Verrechtlichung eines Wertes oder einer Norm muß gegeben sein. Allerdings sind zum anderen der Institutionalisierung selbst Grenzen gesetzt, so daß diese einer immer stärkeren Verrechtlichung entgegensteht. Exkurs: Rechtsorgane und Sanktionen Der institutionelle Charakter von Recht bedingt die Einrichtung von Rechtsorganen, wie z.B. Gerichten, zur Regelung und Gewährleistung von Recht. Welche Rechtsorgane notwendig sind und welche Kompetenzen sie haben, wird durch das Recht festgelegt. Sie lassen sich in drei institutionelle Gruppen einteilen: Legislative (Rechtssetzung), Judikative (im Sinne von Rechtsprechung) und Exekutive (im Sinne von [Straf]rechtsvollzug). Diese drei institutionellen Bereiche sind aufeinander bezogen und voneinander abhängig. Legislative und Judikative haben eine begrenzende Funktion für die jeweils anderein) Gruppe(n). Die Exekutive im Sinne von (Straf)rechtsvollzug und Rechtsdurchsetzung wird zumeist als spezifisches Wesensmerkmal betont, da es zum Recht im Unterschied zum Ethos gehört, daß es durch Sanktionen (Gewaltmonopol des Staates) erzwungen werden kann.71 Die Sanktionen, d.h. die gesamte Strafgesetzgebung sind ein, aber nicht das Wesensmerkmal von Recht. Darüber hinaus sind Rechtsorgane und Sanktionen entscheidend für die Rechtssicherheit in einem Staat.

"Eine Ordnung soll heißen ... Recht, wenn sie äußerlich garantiert ist durch die Chance (physischen oder psychischen) Zwanges durch ein auf Erzwingung der Innehaltung oder Ahndung der Verletzung gerichtetes Handeln eines eigens darauf eingestellten Stabes von Menschen." M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1. Halbbd., S. 17. Vgl. die Weber modifizierenden Überlegungen von T. Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, S. 338ff.

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d) Ethischer Charakter Im Zuge der Arbeit wurde bereits mehrfach auf die Unterscheidung und Zuordnung von Recht und Ethik hingewiesen. Aus dieser Unterscheidung und Zuordnung folgt, daß im Recht bestimmte ethische Werte, Normen und Ziele entweder aufgenommen und verrechtlicht oder zur Interpretation von Rechtssätzen herangezogen werden können. Klassisch finden sich diese ethischen Werte, Normen und Ziele in den Menschen- bzw. Grundrechten wieder, die den Anspruch erheben, (unveränderliche) Grundlage jedes Rechtssystems sein zu wollen.72 Der Zusammenhang von Recht und Ethik darf sich nicht auf die Frage nach der "Gerechtigkeit" in Rechtssätzen oder -systemen reduzieren. Das traditionelle Kriterium der Gerechtigkeit ist ein ethischer Grundwert, der auch zum Grundwert in Rechtssystemen gemacht werden sollte. Die Menschen- bzw. Grundrechte betonen die menschliche Freiheit und Würde gegenüber jedem Rechtssystem. Von daher ergeben sich Werte und Normen sowie die Gewährung von rechtsfreien Räumen und von Freiheit als mehr normativ kritisch orientierte Wesensmerkmale von Recht. Diese normativ kritischen Elemente halten in jedem Rechtssystem selbst die auch von außen herangetragene Spannung von Legalität und Legitimität präsent. e) Realitätscharakter Wie es bei den erkenntnistheoretischen Elementen um die Erkenntnis von Wirklichkeit für das Recht und um Sach-, Struktur- und Situationsgemäßheit geht, so spielt die Realität auch für die Bestimmung der ontologischen Elemente eine Rolle. Der Realitätscharakter ist hier dreifach zu differenzieren: - Recht bildet Realität ab - Recht geht mit der Realität um und - Recht setzt Realität. "Das Recht hängt nicht ab von seiner (u.U. höchst strittigen) moralischen Begründetheit; es wäre jedoch ein Mißverständnis, wollte man daraus schließen, daß in der Rede vom 'Recht* auch jedes emphatische Moment der Begründungsbedürftigkeit verzichtbar sei..." H. Alwart, a.a.O., S. 107.

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Wenn das Recht die Aufgabe hat, die Rahmenbedingungen menschlicher Beziehungen und Interaktionen festzulegen, dann bezieht sich das Recht auf die diesen Rahmenbedingungen zugrundeliegende Wirklichkeit in Form von Gegenständen, Strukturen und Situationen. Dadurch bildet Recht Realität ab. Die durch das Recht festgelegten Rahmenbedingungen ermöglichen den Menschen einen bestimmten Umgang mit der ihnen vorgegebenen Wirklichkeit: Das Recht geht von daher mit der Realität um und leitet zu einem bestimmten Umgang mit der Realität an. Die durch das Recht geschaffenen Rahmenbedingungen, Strukturen und Institutionen sind selbst Realität: Das Recht setzt Realität und ist zugleich ein Struktur- und Gestaltbereich von Wirklichkeit, der sich auf vorgegebene Wirklichkeit bezieht, mit ihr umgeht und dabei selbst zur Wirklichkeit wird.

2. Ontologische Voraussetzungen Die Wirklichkeit insgesamt kann zur Voraussetzung für das Recht werden. Es wird dabei immer so sein, daß bestimmte Gegenstände, Strukturen etc. keiner näheren rechtlichen Regelung bedürfen. Prinzipiell kann aber die gesamte Wirklichkeit zum Gegenstand von Recht werden. Ich habe hier exemplarisch drei Elemente von Wirklichkeit als ontologische Voraussetzungen von Recht herausgehoben und untersucht: - Anthropologie - Geschichte - Gesellschaft, Staat und Institutionen. Diese drei Elemente scheinen mir ganz prägnante ontologische Voraussetzungen von Recht zu sein. a) Anthropologische Voraussetzungen und Bedingungen Wenn Recht eine Handlungs- und Daseinsorientierung ist, die in allen wesentlichen Bereichen menschlicher Beziehungen und Interaktionen zu anderen Menschen und zur Umwelt die Rahmenbedingungen festlegt, dann ist die Anthropologie die wesentliche ontologische

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Bedingung und Voraussetzung von Recht. In der Anthropologie liegt die Notwendigkeit von Recht begründet, und Anthropologie macht Recht überhaupt erst möglich. Der Mensch ist aufgrund seiner ontologischen Voraussetzungen und Bedingungen derjenige, der Recht braucht und der sich deshalb selbst Recht schafft.73 Dabei werden die anthropologischen Gegebenheiten zur elementaren Grundlage der Gestalt und Struktur von Recht. An fünf Hauptpunkten möchte ich die anthropologischen Voraussetzungen und Bedingungen aufzeigen:74 1. Der Mensch ist ein soziales Wesen, und zur Gestaltung und Regelung seiner Beziehungen zu anderen Menschen und zu seiner außermenschlichen Umwelt braucht er rechtliche Rahmenbedingungen, nicht zuletzt zur Konfliktvermeidung bzw. -bewältigung. Menschsein gewinnt seine Gestalt insbesondere durch Interaktionen. Die menschlichen Beziehungen erfordern durch das Recht geschützte und gestaltete gesellschaftliche Institutionen, um ein sinnvolles Zusammenleben zu ermöglichen. 2. Der Mensch ist ein offenes Wesen, das eine Vielzahl von Verhaltens· und Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung hat. Um mit dieser Fülle oder der Komplexität von Verhaltens- und Handlungsmöglichkeiten umgehen zu können, ist das Recht unverzichtbar.75 3. Der Mensch ist ein geschichtliches Wesen, das seine geschichtlich gewachsenen Erkenntnisse und Erfahrungen in das Recht einbringt. Und zu den geschichtlich gewachsenen Erkenntnissen und ErDie Anthropologie ist nach Meinung von N. Brieskorn zentral für die Rechtsphilosophie, und er vertritt von daher folgende Rechtsdefinition: "Als Recht wird eine Sollensordnung des sozialen Lebens bezeichnet, welcher die Vermittlung der Freiheitsräume, die Stabilisierung, die Entlastung und die Orientierung aufgegeben ist, deren Satzung und Inhalt von einem angebbaren Menschenkreis als verbindlich angesehen und deren Durchsetzung letztlich von einem organisierten Verfahren und von bestimmten Institutionen besorgt wird." Ders., a.a.O., S. 33. Es ist hier nicht möglich, die anthropologische Debatte in ihrer Gesamtheit auch nur annähernd darzustellen, sondern ich möchte mich darauf beschränken, die für das Recht relevanten Punkte aus der Diskussion darzustellen. Vgl. näher H.-G. Gadamer/P. Vogler, Neue Anthropologie, 7 Bde.; A. Gehlen, Der Mensch und W. Kamiah, Philosophische Anthropologie. Hier hat die Luhmannsche These von der Reduktion von Komplexität durch das Recht ihre Berechtigung.

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fahrungen gehört die Einsicht, daß Recht für menschliches Zusammenleben notwendig ist. 4. Der Mensch ist ein Sprachwesen, was den sprachlichen Charakter von Recht bedingt. Recht ist den Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Sprache unterworfen. 5. Weiter gehört zu den anthropologischen Voraussetzungen und Bedingungen die Einsicht, daß das Recht immer von den menschlichen Erkenntnis- und Verstehensbedingungen abhängig ist. Diese fünf Punkte stehen auch für die Berechtigung der Überlegungen zu einer "Natur des Menschen". Sie zeigen aber auch, daß die "Natur des Menschen" ein inhaltlich offenes und deshalb immer umstrittenes Element ist, das inhaltlich nicht letztgültig festgelegt werden kann. Aber gerade bei der Anthropologie, die die einzelnen Rechtssysteme mitprägt, geht es um den Versuch der "Sachgemäßheit" von Recht. Hier haben dann auch Fragen nach der Determiniertheit menschlichen Handelns, den Verhaltensdispositionen, der Prägung und Struktur von Menschsein, von individuellem Personsein ihren Ort. Die Menschenrechte als Grundlage möglichst jeden Rechtssystems sind inhaltlicher Ausdruck der Überlegungen sowohl zur "Natur des Menschen" wie zur anthropologischen "Sachgemäßheit" von Recht. b) Geschichte als Element von Recht Inhaltlich erfolgt sowohl die Rechtsfindung wie die Rechtssetzung auf der Grundlage von intersubjektiven, geschichtlich und gesellschaftlich gewachsenen und bedingten Erfahrungen76 und Erkenntnissen. Deshalb werden geschichtliche Erfahrungen und Erkenntnisse, die in geschichtliche Rechtsinhalte bzw. Rechtssätze eingegangen sind, zu einem Element von Recht: Geschichte selbst wird zu einem Element von Recht und umgekehrt Recht zu einem Element von Ge-

Zum Erfahningsbegriff s. J. Track, Sprachkritische Untersuchungen zum christlichen Reden von Gott; Ders., Art. Erfahrung (Neuzeit). In: TRE Bd. X, S. 116128 und Ders., Erfahrung Gottes. In: KuD 22, S. 1-21.

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schichte.77 Geschichte möchte ich hier zum einen verstehen als Perspektive auf und Interpretation vergangener Wirklichkeit in ihren Struktur- und Gestaltzusammenhängen als Ganzes, womit ein Versuch der Bestimmung des Sinns und Ziels von Geschichte verbunden sein kann.78 Zum anderen ist wesentlich für Geschichte, daß es sich um einen gestalteten, irreversiblen Ablauf von Zeit handelt. Das bedeutet, daß sich im Prozeß von Geschichte Strukturen und Modelle menschlicher Beziehungen und Interaktionen entwickelt haben, die zur Grundlage von Recht wurden oder werden, bzw. sich in der Geschichte die Notwendigkeit ergibt, neue rechtliche Rahmenbedingungen dort zu setzen, wo sich alte nicht bewährt haben. Oder in der Geschichte haben sich neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet, die eine rechtliche Regelung erfordern. Es bedeutet aber weiter, daß auch das Recht von einer irreversibel ablaufenden Zeit mitgeprägt ist, selbst dann, wenn es Beziehungs- und Interaktionsmodelle auf Dauer stellt. So gehört es zum Wesen von Recht, daß es Ausdruck unwiederholbarer Geschichte ist, von in der Geschichte entstandenen Erfahrungen, bewährtem Wissen und vernünftigen Einsichten im Hinblick sowohl auf die für das individuelle Leben zu gewährleistenden Rechte und Freiheiten, aber auch unumgänglichen Pflichten und Grenzen, als auch auf das innergesellschaftliche Leben und auf den Umgang mit der Um- und Mitwelt. Über die Freiheiten und Grenzen, die Rechte und Pflichten muß immer wieder in einem geschichtlichen Dialog und Prozeß ein weitgehender Konsens auf der Grundlage der in Geschichte und Gesellschaft damit gemachten Erfahrungen erzielt werden.

Es ist hier nicht die Diskussion um das Geschichtsverständnis aufzunehmen. Zu verweisen ist auf die folgende ausführliche Darstellung: G. Lanczkowski u.a., Art. Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie. In: TRE Bd. XII, S. 565-696. Eine solche Perspektive und Interpretation von vergangener Wirklichkeit, d.h. die Geschichtsdarstellung, ist selbst ein Teil des geschichtlichen Prozesses und der immer in die Gegenwart hineinwirkenden Vergangenheit.

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c) Gesellschaft, Staat und Institutionen - ihre Implikationen für das Recht Noch direkter als bei den Überlegungen des Verhältnisses von Recht und Geschichte müssen die wechselseitigen ontologischen Implikationen von Recht auf der einen und Gesellschaft, Staat und Institutionen auf der anderen Seite gesehen werden. Gesellschaft, Staat und Institutionen sind ein wesentliches Element von Recht - ohne irgendeine Form von Gesellschaft, Staat und den damit verbundenen Institutionen 79 gäbe es kein Recht, das immer dann notwendig wird, wenn Menschen in einer größeren Gruppe zusammenleben. Aber Gesellschaft, Staat und Institutionen - in welcher konkreten Gestalt auch immer - gewinnen ihre Struktur und Gestalt grundlegend durch das Recht. Recht ist eine politisch-gesellschaftliche Setzung und bestimmt die Struktur und Gestalt von Gesellschaft, Staat und Institutionen entscheidend mit. Dies gilt insbesondere seit der Neuzeit: Alle modernen Staaten verstehen sich als Rechtsstaaten. Die Rechtssetzung, das Rechtsverfahren und die -durchsetzung sind institutionalisiert - Recht selbst ist eine gesellschaftliche bzw. staatliche Institution. Der Rechtsstaat wird somit durch das Recht in entscheidender Weise konstituiert. Er erhält von ihm her seine Legitimation und Funktion, und das Recht garantiert zugleich das Bestehen des Staats in der durch das Recht festgesetzten Form. Der seit dem 19. Jahrhundert aufgekommene Rechtsstaatsbegriff impliziert aber auch eine Disziplinierung und Kontrolle der staatlichen Macht und Gewalt durch das Recht. Der Rechtsstaat soll die Freiheit des einzelnen Bürgers gegenüber dem Staat schützen. Weiter setzt das Recht als Metainstitution80 die Institutionen und Rahmenbedingungen für die Setzung von Staat und die Gestaltung von Staat und Gesellschaft fest. Der dialogische, institutionelle und

79

80

Das institutionelle Rechtsdenken geht auf F.C. von Savigny zurück und wird im 20. Jahrhundert u.a. von C. Schmitt, Über die drei Arten rechtswissenschaftlichen Denkens wieder nachdrücklich in die Diskussion eingebracht. Aus philosophischer und theologischer Sicht vgl. R.-P. Callies, Eigentum als Institution. S. S. 164f.

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Prozeßcharakter von Recht sind umgekehrt Ausdruck der Implikationen von Staat, Gesellschaft und Institutionen für das Recht.

§ 5 Die konstitutiven handlungstheoretischen Elemente eines Rechtssystems

Für das Teilsystem Recht sind die handlungstheoretischen Elemente von besonderer Bedeutung: Recht wird durch menschliches Handeln gesetzt, und Recht will menschliches Handeln regeln. Die bereits bei der Erörterung der erkenntnistheoretischen und ontologischen Elemente erfolgten Verweise auf die handlungstheoretischen Elemente machen noch einmal die gegenseitige Relation und Interpretation der konstitutiven Elemente deutlich.

1. Recht als sinn- und zielorientiertes Handlungsgeschehen Recht ist primär eine Handlungsorientierung, damit ist immer implizit auch eine Daseinsorientierung verbunden. Wenn das Recht eine Handlungsorientierung vermitteln will, kann es nicht darauf verzichten, sie als eine sinn- und zielorientierte auszuweisen. Das Ziel von Recht als einem Handlungsgeschehen ergibt sich formal aus der Definition von Recht: für alle wesentlichen Bereiche menschlicher Beziehungen und Interaktionen zur Mit- und Umwelt die Rahmenbedingungen festzulegen. Diese Rahmenbedingungen werden sich nur dann, wenn sie auch als sinnvoll erkannt werden, geschichtlich und im aktuellen Dialog über das Recht bewähren. Die Näherbestimmung von Recht als sinn- und zielorientiert verweist auf eine ethische Orientierung von Rechtssystemen. Mit dieser ethischen Orientierung werden der Sinn und das Ziel rechtlicher Handlungen inhaltlich qualifiziert.

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a) Allgemeiner Handlungsbegriff Die Definition von Handlung birgt in sich die Schwierigkeit, daß das Definieren selbst eine Handlung ist. Dennoch möchte ich nicht von der "Undefinierbarkeit des Handlungsbegriffs" (B. von Brandenstein) sprechen, sondern versuchen, die verschiedenen Elemente von Handlung aufzuzeigen. Der Begriff "Tätigkeit" kann nur schwer zur Definition von Handlung verwandt werden, da "Handlung" und Tätigkeit" eher als synonyme Begriffe zu verstehen sind. Über die klassische Unterscheidung von Handlungen in praktische, theoretische und poietische (Aristoteles) hinausgehend, möchte ich folgende Elemente bzw. Charakteristika von Handlung einführen: Erstens gehört zur Handlung immer ein Handelnder, ein Subjekt, das diese Handlung ausführt. Dieser Handelnde will durch seine Handlung in Beziehung treten zu anderen Subjekten oder Objekten. Zweitens ist Handlung mit Zeit verbunden: Handlung geschieht in der Zeit und ist immer vergänglich. Auch wenn eine bestimmte Handlung durchaus zu einem anderen Zeitpunkt wiederholt werden kann, ist sie dann aufgrund des neuen Zeitpunktes nicht mehr dieselbe Handlung. Zugleich wird an der Handlung der Ablauf von Zeit und Geschichte erfahrbar. Handlung setzt und qualifiziert Zeit. Darin liegt auch der ereignishafte Charakter von Handlung. Zum Handlungsbegriff gehört drittens das Moment des Überraschenden und Neuen. Viertens ist mit einer Handlung immer eine Entscheidung verbunden, so und nicht anders zu handeln. Eine Handlung bedeutet immer fünftens eine Auswahl aus anderen Handlungsmöglichkeiten aufgrund einer Entscheidung: Selektionscharakter von Handlung. Aus dem Selektions- und Entscheidungscharakter von Handlung folgt sechstens, daß mit einer Handlung immer eine Sinnsetzung erfolgt. Handeln unterscheidet sich somit von einem rein instinkthaften Verhalten oder einem Reflex. Siebtens ist Handeln eine Form der Kommunikation bis dahin, daß das Sprechen selbst eine Handlung ist. Aber auch Handlungen, die nicht von Sprechakten begleitet sind, stellen eine Form von Kommunikation dar. Insgesamt verändert eine Handlung mit all ihren verschiedenen Elementen Wirklichkeit und setzt damit neue Wirklichkeit.

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b) Zur Eigenart von rechtlichen Handlungen Recht, so wurde bereits gezeigt, ist erstens ein aus menschlichen Handlungen erwachsendes System:81 Menschliche Handlungen setzen Recht. Zweitens will Recht menschliche Interaktionen und damit Handlungen regeln, will Handlungsorientierung sein. Und drittens vollzieht sich Recht durch Handlungen bis hin zu sanktionierenden Handlungen. Dabei spielt sowohl das Entscheidungs- als auch das Sinnelement des allgemeinen Handlungsbegriffs für das Recht eine Rolle in allen drei Punkten. Bei der Rechtssetzung als Handlung wird immer eine Entscheidung über die Sinnhaftigkeit von einzelnen Normen oder Sätzen für das Recht getroffen. Nur solche für das Recht sinnvoll erscheinenden Normen oder Sätze werden zu Rechtsnormen oder -sätzen. Das bedeutet, daß zum einen die mit dem Rechtssystem gegebene Handlungsorientierung auf einer Entscheidung beruht, und zum anderen, daß damit bestimmte Handlungsmöglichkeiten als sinnvoll qualifiziert werden. An dieser Stelle wird die Handlungsorientierung des Rechts, die immer schon eine Daseinsorientierung voraussetzt, auch explizit zu einer Daseinsorientierung dadurch, daß sie Sinn eröffnet und vermittelt. Die Handlungsorientierung durch das Recht basiert auf einer Selektion einer Vielzahl von Handlungsmöglichkeiten. Im Rechtsvollzug kommt es permanent zu Entscheidungen über Handlungen und deren Sinnhaftigkeit im Sinne eines Rechtssystems. Die Zielrichtung des Rechts ist dabei insgesamt immer der Handelnde, ihm soll eine Orientierung für sein Handeln, seine Interaktionen und Beziehungen vermittelt werden. Das Recht reagiert, falls es angewandt werden muß, auf die Handlungen und läßt den Handelnden die Konsequenzen - positiv wie negativ - seines Handelns erfahren. Durch die Rechtssetzung als Handlungsakt wird Wirklichkeit gesetzt, und das Recht selbst verändert dann sowohl durch seine Handlungsorientierung wie durch seine Rechtshandlungen die Wirklichkeit.

Vgl. dazu H. Alwart, a.a.O.

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2. Die funktionale Orientierung von Recht Zu den handlungstheoretischen Elementen von Rechtssystemen möchte ich die Funktionen von Recht82 zählen, die in engem Zusammenhang mit den anderen Elementen des Rechtssystems stehen und zumeist durch diese bedingt sind: a) Gestaltende Funktion Das Recht hat als Grundfunktion eine gestaltende Funktion, aus der sich alle anderen Funktionen ergeben. Das, was Recht ist, muß einerseits immer wieder in einem Dialog und dynamischen Prozeß in den unterschiedlichen geschichtlichen und gesellschaftlichen Situationen gefunden werden. Sich ändernde geschichtliche Situationen und ein sich wandelndes ethisches Bewußtsein stellen ein Rechtssystem vor immer neue Aufgaben. Recht hat in bezug auf sich selbst eine gestaltende Funktion. Insbesondere die selbstreflexiven Elemente, das Konsenskriterium und der Prozeßcharakter, führen dazu, daß das Recht als Ganzes in der Form einer Verfassung begründet wird. Sie leisten zugleich die Begründung und den Weg zur einzelnen Gesetzgebung. Recht begründet und gestaltet Recht selbst, indem es festlegt, was Recht sein soll. Das Recht hat in sich selbst eine rechtsbegrenzende Funktion, indem es seine Geltungsbereiche und Reichweiten festlegt, um dadurch Freiheit, nicht zuletzt durch rechtsfreie Räume, zu eröffnen. Diese rechtsbegrenzende Funktion wirkt einer immer weitergehenden Verrechtlichung der Gesellschaft entgegen. Da Recht eine grundlegende Kategorie und bestimmte Handlungs- und Daseinsorientierung in allen wesentlichen Bereichen menschlicher Beziehungen zur Festlegung und Gewährleistung der Rahmenbedingungen menschlichen Zusammenlebens ist, müssen die Rahmenbedingungen in sich wandelnden geschichtlichen Situationen neu gestaltet werden. Recht gestaltet Bereiche menschlicher Beziehungen durch die Setzung von Rahmenbedingungen mit. Gerechtigkeit, Sach-, Struktur- und Situationsgemäßheit von Recht und die Menschen- bzw. Grundrechte haben in diesem gestaltenden Prozeß 82

Vgl. W. Maihofer, a.a.O.

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eine kritische Funktion, sind aber auch selbst diesem Prozeß unterworfen. Weiter hat Recht nicht nur die Aufgabe, die Rahmenbedingungen des gegenwärtigen menschlichen Zusammenlebens festzusetzen, sondern auch die Rahmenbedingungen für das zukünftige Zusammenleben bereitzustellen. Recht hat in der gegenwärtigen Situation die dringende Aufgabe, das Leben zukünftiger Generationen zu schützen, wenn nicht überhaupt zu ermöglichen angesichts vielfältiger Bedrohungen, z.B. der Umweltzerstörung oder des Verbrauchs von unersetzbaren Ressourcen oder der immer mehr sich verstärkenden Eingriffe in das menschliche Leben, z.B. durch die Gentechnologie. b) Handlungs- und daseinsorientierende Funktion Indem das Recht die Rahmenbedingungen des menschlichen Zusammenlebens mitgestaltet, nimmt das Recht eine zweite Grundfunktion wahr: Es hat die Funktion, handlungs- und daseinsorientierend zu sein. Und zwar nimmt es diese Handlungs- und Daseinsorientierung in doppelter Hinsicht wahr: im individuellen Bereich und im gesellschaftlich sozialen Bereich insgesamt. Recht allein reicht als Handlungs- und Daseinsorientierung nicht aus, da es nur indirekt einen "Sinn", eine Grundlegung einer Handlungs- und Daseinsorientierung vermitteln kann. Diese Grundlegung und Sinngebung einer Handlungs- und Daseinsorientierung kann in der Ethik erfolgen. Das Recht beinhaltet aber immer ethische Werte und Normen,83 was dem Einzelnen und der Gesellschaft eine erste Handlungs- und Daseinsorientierung eröffnet. Es bestimmt die Freiheit und Grenzen des Einzelnen und der Gesellschaft, innerhalb derer dann eine individuelle und soziale Handlungs- und Daseinsorientierung sich entfalten kann.

W. Krawietz, Die Ausdifferenzierung religiös-ethischer, politischer und rechtlicher Grundwerte. In: Begründungen des Rechts II, hg. von K. von Bonin, S. 58 spricht näher von einer "wertekonstituierenden Funktion von Recht".

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c) Soziale Funktionen Die sich aus der gestaltenden sowie der handlungs- und daseinsorientierenden Funktion des Rechts ergebende soziale Funktion ist die dritte Grundfunktion, aus der sich eine Reihe von weiteren Funktionen ergeben, dadurch daß die soziale Funktion die Rahmenbedingungen menschlicher Beziehungen und Interaktionen in der Gesellschaft näher regelt. Das Recht versucht, den Handlungsspielraum des Einzelnen mit seinen Freiheiten und Rechten, Grenzen und Pflichten so zu bestimmen, daß es in einer Gesellschaft zu einem angemessenen Miteinander kommt. 1. Zur sozialen Funktion von Recht gehört seine gemeinschaftskonstituierende Funktion. Zu einer größeren Gemeinschaft von Menschen gehört immer ein Rechtssystem, so daß mit der Bildung von Gemeinschaften Recht konstituiert wird. Umgekehrt gilt, daß auch die Bildung von Gemeinschaften durch das Recht mitkonstituiert wird. In diesen Bereich gehört auch die staatstragende und zugleich staatsbegrenzende Funktion von Recht, insofern zum einen durch das Recht eine bestimmte Staatsform legitimiert und in Konfliktfällen auch durchgesetzt wird. Das Recht hat zum anderen aber auch die Funktion, Bürger vor Übergriffen des Staates zu schützen, gerade auch im Hinblick auf das staatliche Gewaltmonopol, indem es dem Bürger Möglichkeiten zur Wahrnehmung seiner Rechte gegenüber dem Staat bietet. Der Begriff Rechtsstaat verdeutlicht die staatstragende Funktion des Rechts, z.B. in der Bundesrepublik. 2. Aus dieser gemeinschaftskonstituierenden Funktion des Rechts ergibt sich eine integrierende. Recht hat demnach die Aufgabe, für die verschiedenen Mitglieder einer Gesellschaft die Basis für den Handlungsspielraum und die Rahmenbedingungen zu bieten, so daß ein Leben in angemessener und gesicherter Weise gestaltet werden kann. Das, was jeweils als Recht gilt, muß Konsens unter der Mehrheit der Mitglieder einer Gesellschaft sein und leistet somit einen entscheidenden Beitrag zur Integration in einer Gesellschaft.

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3. Die integrierende Funktion bedingt die regulativ-ordnende Funktion von Recht.84 Von daher hat Recht die Funktion, Realisierungssicherheit zu eröffnen85 und Kontinuität zu stiften. Dadurch daß das Recht Rahmenbedingungen des menschlichen Zusammenlebens festlegt und Handlungsspielräume eröffnet, stellt es Regeln, Normen und Werte zur Orientierung des Einzelnen und der Gesellschaft bereit. Es kommt bei dieser regulativ-ordnenden Funktion sehr auf ein angemessenes Maß der Wahrnehmung dieser Funktion durch das Recht an, weil sonst auch die Kontinuität des Handelns entweder zu wenig oder zu stark gegeben wäre. Die Realisierungssicherheit, die das Recht schafft, bietet über die ordnende Funktion hinaus die Gewähr, daß rechtliche Normen durchgesetzt werden können. 4. Recht hat weiter eine Legitimationsfunktion für die durch das Recht festgesetzten Rahmenbedingungen und eröffneten Handlungsspielräume. Es kann aber immer wieder vorkommen, daß Handlungen zwar als legal, aber nicht (mehr) als legitim qualifiziert werden, weil sich in einer Gesellschaft ein Umbruch im ethischen und damit dann auch im rechtlichen Bewußtsein vollzieht. 5. In zweifacher Hinsicht nimmt das Recht eine protektive Funktion wahr: Erstens schützt es die Freiheit des Einzelnen, die Rechte von Schwachen und Minderheiten etc., und zweitens schützt es den Einzelnen und die Gesellschaft vor Übergriffen auf den eigenen Lebens- und Handlungsspielraum. Diese protektive Funktion findet sich deshalb insbesondere in der Sozialgesetzgebung und im Strafrecht. 6. Als Eigenart von Recht wurde sein Dialogcharakter bestimmt, der dazu führt, daß Recht in einer Gesellschaft so weitgehend wie möglich akzeptiert wird. Dennoch erhält das Recht letzte Effektivität durch seine sanktionierende Funktion, die die Disziplinierung staatlicher Gewalt, die zur Rechtsdurchsetzung erforderlich ist, mit einschließt. Keine Gesellschaftsform und kein Rechtssystem hat bisher darauf verzichten können, dem Recht vielfach dadurch Geltung zu 84

85

Vgl. W. Maihofer, Das Verhältnis von Rechtssoziologie und Rechtstheorie. In: Rechtstheorie, hg. von G. Jahr und W. Maihofer, S. 246 und R. Zippelius, a.a.O., S. 2 und 157-169. Vgl. T. Geiger, a.a.O., S. 103ff.

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verschaffen, daß im Recht selbst Sanktionen, bis hin zur disziplinierten staatlichen Gewaltanwendung, im Falle eines Verstoßes gegen das Recht eingeschlossen sind. d) Rechtsbegründende und -begrenzende Funktion Aufgrund der Eigenständigkeit im Teilsystem und der Selbstreflexivität des Teilsystems hat das Rechtssystem eine sich selbst begründende und zugleich begrenzende Funktion. Damit wird, auch bedingt durch die vom Recht gewährten rechtsfreien Räume und Freiheiten, die Festlegung des Geltungsbereichs und der Reichweite für ein Rechtssystem insgesamt, von Teilen eines Rechtssystems und einzelner Rechtssätze vollzogen. Die Festlegung des Geltungsbereichs und der Reichweite für ein Rechtssystem insgesamt ist Folge einer Gemeinschafts- bzw. Staatenbildung, ist selbst umgekehrt Teil einer Gemeinschaftsbildung und hat dadurch gemeinschaftsbildende Funktion.86 Rechtsfreie Räume und Freiheiten werden sowohl durch die Festlegung des Geltungsbereichs und der Reichweite eines Rechtssystems insgesamt als auch von Teilen oder Sätzen des Rechtssystems konstituiert. Durch die Festlegung seines Geltungsbereichs und seiner Reichweite begründet und begrenzt sich somit ein Rechtssystem. Zur rechtsbegründenden Funktion kann noch festgestellt werden, daß im Recht selbst geregelt wird, wie Recht gewonnen wird, d.h. die gesellschaftlich-politischen Verfahren werden geregelt. Die rechtsbegründende Funktion besteht aber auch darin, daß das Recht selbst seine Anwendung, seinen Vollzug und seine Durchsetzung regelt.

3. Die ethische Orientierung von Recht: Werte, Normen und Ziele Wie in der Auseinandersetzung mit dem rechtspositivistischen Paradigma bereits gezeigt,87 bin ich grundsätzlich der Meinung, daß es auch innerhalb von Rechtssystemen zu begründeten ethischen Entscheidungen kommen muß. In einer solchen Entscheidung muß in86 87

Vgl. R. Zippelius, a.a.O., S. 185-191. S. S. 124-129.

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haltlich für die Aufnahme von zeit- und situationsinvarianten Normen und Werten in ein Rechtssystem argumentiert werden. Das bedeutet aber nicht das Aufgeben der Vorstellung von Recht als einem offenen Prozeß, sondern in diesem offenen Prozeß kommt es zu einer solchen ethischen Entscheidung. Damit kommt in den offenen Prozeß ein notwendiges Element der Selbstbegrenzung, das inhaltlich und aufgrund von geschichtlichen Erfahrungen begründet werden kann. So werden in einem gesellschaftlichen Diskurs über das Recht erstens bestimmte ethische Normen verrechtlicht, und zweitens haben ethische Werte, Normen und Ziele die Bildung von Rechtssätzen zur Folge und prägen ihre inhaltliche Ausformulierung. Drittens werden ethische Werte, Normen und Ziele in der Rechtsauslegung und -anwendung vielfach, gerade für die Auslegung der Grundrechte, herangezogen. Allerdings werden bei weitem nicht alle ethischen Werte, Normen und Ziele verrechtlicht. Zu Problemen kommt es immer dort, wo ethische Werte, Normen und Ziele und rechtliche Werte, Normen und Ziele nicht übereinstimmen.88 Der Grund kann zum einen darin liegen, daß das Recht einem veränderten ethischen Bewußtsein noch nicht Rechnung trägt und daß es aufgrund politischer Mehrheitsverhältnisse zu einer gesamtgesellschaftlich vielfach noch nicht im ethischen Bewußtsein nachvollzogenen Veränderung von Rechtssätzen kommt. So bestehen im Bereich von Werten, Normen und Zielen starke Wechselwirkungen zwischen dem ethischen System und dem Rechtssystem.89 Dabei bezeichnen Werte90 diejenigen Gegebenheiten und Gegenstände, die aufgrund von Erfahrungen für ein gelingendes Leben als Die Diskussion um den § 218, den sogenannten "Kuppeleiparagraphen", oder auch die Änderung des Stralvollzugsgesetzes von 1977 zeigen dies hinreichend. Eine sehr stark an der Norm orientierte Definition von Recht vertritt R. Marcic, Rechtsphilosophie, S. 138: "Das Recht ist die beständige Ordnung von Normen und deren Vollzugsakten, die das Zusammenleben der Menschen ermöglichen und erhalten, indem sie Kollisionen von Handlungen der Ordnungsgenossen verhindern, Konflikte, die entstehen, austragen und lösen." Der Versuch, das Recht unter Aufnahme von Überlegungen M. Schelers mit einem intuitiv zugänglichen ethischen Wertesystem zu verknüpfen, ist sehr umstritten. Die These von einer schon immer vorgegebenen "Rechtsidee" soll hier nicht weiter bearbeitet werden, da ihr Begründungselemente des metaphysischen, natur- und vernunftrechtlichen Paradigmas zugrundeliegen. Vgl. dazu die Ausfüh-

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entscheidend von Einzelnen oder Gruppen beurteilt werden. 91 Im Wertbegriff liegt immer ein ihn sehr stark prägendes, subjektives Element, und der Einzelne oder eine Gruppe muß sich einen Wert zu eigen machen. Es ist allerdings so, daß in einer Gesellschaft durch ihre Festschreibung im Recht (Grundgesetz, Verfassung) bestimmte Grundwerte für alle, unabhängig von ihrer subjektiven Aneignung durch den Einzelnen, verbindlich gemacht werden. Der Begriff "Grundwerte"92 impliziert, daß es eine Differenzierung und unterschiedliche Gewichtung innerhalb der Werte gibt: Werte, generelle Werte, Basiswerte und Grundwerte. Diese sind wechselseitig voneinander abhängig. Die Unterscheidung von Werten besteht auch im Recht bzw. wird durch das Recht mit festgesetzt.93 Grundwerte enthalten immer ein Moment des Unableitbaren und Unverfügbaren, die sie ebenso wie die mit ihnen verbundenen Grundrechte umstritten machen und für die in jeder geschichtlichen Situation neu ein gesellschaftlicher Konsens gefunden werden muß. Die Menschen- bzw. Grundrechte können sowohl Grundnormen wie auch Grundwerte eines Rechtssystems sein, aus denen sich dann die weiteren Rechtsnormen und -werte ableiten. Diese Grundrechte sind zwar in vielen Verfassungen "unabstimmbar" und zentral verankert, ihre Anwendung und Auslegung bedarf aber immer wieder eines gesellschaftlichen Konsenses. rungen zur Begründung einer Rechtsidee bei H. Coing, Rechtsphilosophie, insb. S. 95-270. Der Begriff "Wert" stammt aus dem ökonomischen Bereich, wo Wert und Gegenwert von Dingen zuerst beim Tauschhandel festgelegt wurden. Dieser ökonomische Tauschwert wird insbesondere durch die Philosophie des 19. Jahrhunderts, aber auch durch die Philosophie M. Schelers übertragen auf ontische und sittliche Werte, die im ethischen Handeln zu bewahren sind. Vgl. J. Track, Grundwerte. Gesichtspunkte zur gegenwärtigen Diskussion aus evangelischer Sicht. In: Jubiläumsgabe zum 25jährigen Bestehen des Katechetischen Amtes, S. 4-26; B. Fraling, Grundwerte und Dekalog. In: LebZeug 33,1977, S. 5-27; Grundwerte in Staat und Gesellschaft, hg. von G. Gorschenek und Was sind Grundwerte? Hg. von O. Kimminich. Zur gegenseitigen Abhängigkeit und Interpretation von z.B. Grundwerten, Basiswerten, generellen Werten und Werten einerseits und von Normen, Werten und Zielen andererseits s. J. Track, a.a.O. Vgl. zur Interdependenz von Werten auch N. Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 213-216 u.ö.

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Diese Werte lassen sich in Ziele überführen, die ebenfalls weiter differenziert werden können. Eine klassische rechtliche Zielformulierung, die u.a. auf dem ethischen Ziel und Wert Solidarität basiert, ist das Sozialstaatlichkeitsprinzip. Werte und Ziele rechtfertigen Normen, wobei sich Normen, Werte und Ziele gegenseitig interpretieren und beeinflussen. Normen bezeichnen Handlungen, die generell oder in bestimmten Situationen für alle oder bestimmte Menschen vorgeschrieben bzw. geboten sind.94 Normen haben immer einen Imperativischen und einen urteilenden Charakter. Die Rechtfertigung für die Verrechtlichung von Normen wird aus dem jeweiligen Verständnis der Werte und Ziele gewonnen, wenn sich die Notwendigkeit einer Verrechtlichung von Normen zu ihrer Durchsetzung aufgrund der Einschätzung der ihnen zugrundeliegenden Werte und Ziele ergibt, die durch das Recht geschützt werden sollen.95 Durch die Verrechtlichung von ethischen Werten, Normen und Zielen kommt es zu einer präzisen Festlegung ihres Geltungsbereiches und ihrer Reichweite. Durch diese Festlegung ihres Geltungsbereiches und ihrer Reichweite werden sie auch innerhalb des rechtliStark am Normbegriff orientiert ist die Rechtslehre der Neukantianischen Schule, die das Recht als aus Geboten und damit aus Normen bestehend ansieht. Dies wird am Wert "Frieden" kontrovers diskutiert. Ist Frieden ein Grundwert und bedarf es der Aufnahme in die Grundrechte, so daß dann auch Normen gebildet werden, die diesen Wert Frieden durchsetzen und schützen, wie z.B. ein Verbot atomarer Waffen in einem Land? Vgl. dazu das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Nato-Nachrüstung vom 18.12.1984. In: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 68, S. 1-111 und insb. das Sondervotum von G. Mahrenholz, ebd. S. 111-132. Eine weitere Frage ist es, ob es einen Wert "Umweltverträglichkeit" oder "Unversehrtheit der Natur" etc. gibt, der dann auch in die Grundrechte aufgenommen werden müßte. Vgl. dazu die interessanten Ausführungen bei C.D. Stone, Umwelt vor Gericht. Stone versucht das Problem so zu lösen, daß er die Natur bzw. einzelne Naturelemente, wie einen bestimmten Fluß etc., zum Rechtssubjekt erklären lassen will. Wenn ein Fluß ein Rechtssubjekt wäre, könnte nach amerikanischem Recht ein Vormund die Rechte dieses "Subjektes" Fluß vor Gericht einklagen. Ausgehend von schöpfungstheologischen Überlegungen kommt es auch in der Theologie zu einer ersten Bearbeitung der Frage nach den "Rechten der Natur". Vgl. dazu z.B. J. Leimbacher, Die Rechte der Natur. In: EvTh 50, 1990, S. 450459.

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chen Werte- und Normensystems klassifiziert. In der Rechtsanwendung müssen dann oft die verschiedenen Geltungsbereiche und Reichweiten gegeneinander abgewogen werden. a) Gerechtigkeit Als Kriterium für das positive Recht und seine Legitimität wird die Gerechtigkeit nach 1945 durch die Überlegungen G. Radbruchs in den Dialog nachdrücklich wieder eingeführt: In einem Konfliktfall zwischen positivem Recht und Gerechtigkeit ist dem positiven Recht auch bei inhaltlichen Ungerechtigkeiten der Vorzug zu geben, "... es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als 'unrichtiges Recht' der Gerechtigkeit zu weichen hat"96. Die nähere Bestimmung von Gerechtigkeit vollzieht Radbruch implizit durch den Rückgang auf die Menschenrechte und orientiert sein Verständnis von Gerechtigkeit deshalb am Gleichheitsprinzip. J. Rawls bejaht diese Aussage Radbruchs und macht sie zum Ausgangspunkt weiterer Überlegungen zur Rechtfertigung zivilen Ungehorsams in einer Demokratie. Dabei geht er allerdings davon aus, daß einzelnen ungerechten Gesetzen nur innerhalb eines sonst gerecht aufgebauten Systems Folge zu leisten ist.97 Gewaltloser ziviler Ungehorsam will aufgrund eines mehrheitlich in einer Gesellschaft bestehenden Gerechtigkeitssinns, und nicht von individuell bestehenden ethischen Vorstellungen her, eine Änderung von Gesetzen bewirken. Davon ist die auf individuellen ethischen Gründen beruhende "Weigerung aus Gewissensgründen" zu unterscheiden (insbesondere die Kriegsdienst-

G. Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht. In: Ders., Rechtsphilosophie, S. 345. Vgl. J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 368-430. Es ist für Rawls keine Frage, daß gegenüber einem ungerechten Staatswesen und seiner Gesetzgebung passiver Widerstand zu leisten ist, vgl. ebd. S. 399f. Auch M. Kriele differenziert die Formel Radbruchs dahingehend, daß das positive Recht befolgt werden müsse, wenn es innerhalb eines ethisch zu rechtfertigenden Gesamtsystems von Recht, konkret dem System eines demokratischen Staatswesens, stehe. Vgl. Ders., Recht und praktische Vernunft, S. 111-135.

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Verweigerung). Beides ist für Rawls von seinem Gerechtigkeitsbegriff her legitim und trägt zur Stärkung eines Rechtssystems bei.98 Sowohl die Rechtsfindung, die Rechtssetzung als auch die Rechtsanwendung sollen normativ an der Gerechtigkeit orientiert sein. Genau wie für die Orientierung an ethischen Grundwerten und -normen von Rechtssystemen muß für die Aufnahme von Gerechtigkeit in ein Rechtssystem eine sowohl formal wie auch inhaltlich begründete Entscheidung gefällt werden. Und diese Entscheidung muß in einem offenen Prozeß herbeigeführt werden. Dem Kriterium des offenen Prozesses wird hier auch so Rechnung getragen, daß Gerechtigkeit als ein offener Begriff verstanden wird, der sich geschichtlich immer weiter entwickelt und ausdifferenziert. Die Aufnahme eines offenen Gerechtigkeitskriteriums in das Recht bedeutet, daß das Recht selbstreflexiv Gerechtigkeit als rechtssystemimmanenten Begriff99 ausbildet, indem selbstreflexiv und rechtsspezifisch der Dialog um die Gerechtigkeit geführt wird. Wenn Recht auf Gerechtigkeit basiert,100 wird Gerechtigkeit zugleich zum rechtskritischen Element, an dem das positive Recht zu messen ist.101 Gerechtigkeit wird im allgemeinen durch zwei Grundsätze definiert: einmal durch den der Reziprozität, den der vergeltenden Ge-

Vgl. J. Rawls, a.a.O., S. 421. Es ist in der Diskussion umstritten, ob Gerechtigkeit ein metajuristischer (so z.B. G. Radbruch, H. Kelsen) oder ein systemimmanent juristischer Begriff (so z.B. R. Marcic, E. Wolf) ist. 100 Fü r Aristoteles ist das Recht die Unterscheidung von Gerechtem und Ungerechtem: "... denn der gesetzliche Rechtsspruch ist nichts anderes als ein Urteil über Recht und Unrecht." Ders., Nikomachische Ethik, S. 116. Gerechtigkeit ist nach I. Kant die formale Bedingung dafür, daß Recht in einer Gesellschaft gewährt werden kann: "Der rechtliche Zustand ist dasjenige Verhältnis von Menschen unter einander, welches die Bedingungen enthält, unter denen allein jeder seines Rechts teilhaftig werden kann, und das formale Prinzip der Möglichkeit desselben, nach der Idee eines allgemein gesetzgebenden Willens betrachtet, heißt die öffentliche Gerechtigkeit..." Ders., Metaphysik der Sitten, WA VII, S. 422/423. 101 E. Wolf fordert drei Kriterien, an denen das positive Recht zu messen ist, das der "Sicherheit", der "Zweckmäßigkeit" und das der "Gerechtigkeit", wobei die Gerechtigkeit den beiden anderen Kriterien übergeordnet wird. Vgl. E. Wolf, Fragwürdigkeit und Notwendigkeit der Rechtswissenschaft, S. 20.

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rechtigkeit: "Wie Du mir, so ich Dir" (Grundsatz der Gleichheit)102, und zum anderen durch den des "suum cuique" (Grundsatz der Billigkeit).103 Diese beiden Grundsätze stehen in einer gewissen Spannung zueinander, und es ist oft eine Ermessensfrage, welchem der beiden im Konfliktfall der Vorzug gegeben wird. Der erste Grundsatz bedarf einer Werteordnung, denn es muß geklärt werden, was als gleichwertig anzusehen ist.104 Der zweite Grundsatz bedarf ebenfalls einer Näherbestimmung dessen, was dem Einzelnen als das "Seine"105 durch das Recht zuzugestehen ist (Sozialgesetzgebung).106 Weiter muß unterschieden werden zwischen einer distributiven Gerechtigkeit, ob jedem das "Gleiche"107 oder jedem das "Seine" zugeteilt werden soll, 102

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Dieses auch als Talionsformel bezeichnete Prinzip ist keineswegs genuin alttestamentlich. Dieser Grundsatz wird von der Stoa in Weiterentwicklung der Aristotelischen Unterscheidung von "austeilender" und "ausgleichender" Gerechtigkeit aufgestellt. Immer wieder wird bis heute z.B. in den USA diskutiert, ob die Todesstrafe eine angemessene Vergeltung für einen Mord sei oder besser auf sie verzichtet werden sollte. Dieser Grundsatz "jedem das Seine" war von der Antike bis zur Neuzeit oft die Rechtfertigung einer Gesetzgebung nach der Devise "jedem gemäß seinem Stand". Auf dem Hintergrund dieser Problematik hat J. Rawls die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze differenziert: "Erster Grundsatz Jedermann hat das gleiche Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist. Zweiter Grundsatz Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaffen sein: (a) sie müssen unter Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen, und (b) sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offenstehen." Ders., a.a.O., S. 336. Diese rein formale Differenzierung der beiden Gerechtigkeitsgrundsätze löst das Problem einer inhaltlichen Näherbestimmung der einzelnen Sätze und die damit verbundene Spannung zueinander nicht. Vgl. auch T. Rendtorff, Ethik, Bd. II, S. llOff. M. Kriele stellt die These auf, daß der Grundsatz "jedem das Gleiche" neuzeitlich sei, so daß erst von der Neuzeit an "... die Intention der Gesetze die Annäherung des Rechts an die Gerechtigkeit..." wirklich zur Geltung komme. S. Ders., a.a.O., S. 78.

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und einer kompensatorischen Gerechtigkeit, wie im Konfliktfall ein angemessener Rechtsausgleich bestimmt werden kann.108 Gerechtigkeit heißt über die distributive und kompensatorische Gerechtigkeit hinaus soziale Gerechtigkeit, die das Recht der Schwachen und der Minderheiten schützt. b) Menschen- bzw. Grundrechte Schon bei der Feststellung von Dialog und Prozeß als Eigenart von Recht ist die Frage entstanden, ob es nicht einen Katalog unveränderbarer (ewiger) Rechtssätze gibt, die zeit- und situationsinvariant gelten und die gesellschaftlichen Mehrheitsentscheidungen immer zugrundeliegen sollen, selbst aber diesen Mehrheitsentscheidungen nicht unterworfen, deshalb unabstimmbar sind. Wie für die Orientierung an ethischen Grundwerten und -normen und die Aufnahme von Gerechtigkeit in Rechtssysteme muß auch erkenntnistheoretisch für die Aufnahme von Menschenrechten in Rechtssysteme argumentiert werden. Diese Aufnahme muß aufgrund einer inhaltlich begründeten Entscheidung erfolgen. Für die Entscheidung sprechen die inhaltliche Überzeugung, daß eine Orientierung an der Menschenwürde unverzichtbar ist, und geschichtliche Erfahrungen, die diese Orientierung an der Menschenwürde als Schutz, nicht nur vor Willkürmomenten im Recht, als notwendig ausweisen. Das Recht eines jeden Menschen auf "sein Recht" soll die Grundlage von Rechtssystemen bilden und ist mit der Würde des Menschen zu begründen. Die Menschen· bzw. Grundrechte sollen den Schutz, die Freiheit und die Würde einer Person garantieren und dabei die Person vor Übergriffen eines Rechtssystems schützen. Die Menschenrechte bzw. die Grundrechte werden zum Kriterium für die inhaltliche Angemessenheit von Rechtssätzen und zum Kriterium der "Sachgemäßheit" im Blick auf die Anthropologie. Darüber hinaus sollen die Menschenbzw. Grundrechte auch zu Grundnormen eines jeden Rechtssystems werden. Sie bilden somit den Grund und die Grenze von Rechtssystemen. Die Verankerung dieser Menschen- bzw. Grundrechte in einem H. Coing möchte neben der Gerechtigkeit noch Frieden und Sicherheit als Kriterien von Rechtssystemen einführen. Vgl. Ders., a.a.O. S. 141-158 u.ö.

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Rechtssystem als normatives Element ist grundsätzlich zu bejahen und anzustreben. Auch wenn die Menschenrechte in der abendländisch westlichen Denktradition verwurzelt sind, haben sie universelle Gültigkeit, insofern sie angeborene, unveräußerliche Rechte jedes Menschen aufgrund seines Menschseins schützen sollen - unabhängig von der jeweiligen geschichtlichen Situation.109 Nicht aufrecht zu erhalten ist m.E. aber die These von der Unveränderbarkeit der Menschen- bzw. Grundrechte, die auf ihren Vernunft- bzw. naturrechtlichen Ursprung zurückgeht. Die Menschenbzw. Grundrechte sind in einem bestimmten geschichtlichen und gesellschaftlichen Kontext entstanden110, und auch sie befinden sich bis heute in einem offenen Prozeß.111 Offen deshalb, weil möglicherweise noch nicht alle Menschenrechte festgelegt wurden 112 oder eine veränderte Situation neue Menschen- bzw. Grundrechte erforderlich macht,113 ohne daß sie damit einer inhaltlichen Beliebigkeit preisgegeben wären. Ich halte auch das Erreichen von sozialen Menschenrechten, wie sie im "Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte" deklariert werden, für ein in jedem Rechtssystem anzustrebendes Ziel. Einer Lösung zugeführt werden muß m.E. noch die Frage der internationalen Einklagbarkeit von Menschenrechten und damit verbunden auch die Frage von Sanktionen - beides erscheint um ihrer internationalen gesellschaftlichen und politischen Wirksamkeit willen erforderlich.

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Das BVG bejaht ausdrücklich die Bindung an ein überpositives Recht und den Grundsatz materialer Gerechtigkeit durch das Grundgesetz. Vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 3, S. 232ff. HO vgl. L. Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte. 111 Das Verbot der Sklaverei war z.B. im 18. Jahrhundert noch nicht in den Katalog von Menschenrechten aufgenommen. Bis heute umstritten ist die Frage, ob das Verbot der Todesstrafe in die Menschenrechte explizit aufzunehmen ist. 112 Es gibt Überlegungen, ob zu den Menschenrechten nicht ein Recht auf Bildung oder Ernährung etc. hinzugefügt werden sollte. 113 Z.B. die Ächtung von Massenvernichtungsmitteln oder das Gebot zu einer aktiven Friedenspolitik.

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c) Legalität und Legitimität Grundsätzlich stellt sich das Thema von Recht und Ethos/Ethik noch einmal bei der Frage von Legalität und Legitimität:114 Ist das, was legal ist, auch legitim? Über die Kriterien der Legitimität bestehen in der gegenwärtigen Diskussion verschiedene Auffassungen, die auf verschiedenen ethischen Konzeptionen basieren. Klassisch ist das Gewissen des Einzelnen die Instanz, die über die Legitimität des Rechtssystems als Ganzem oder einzelner Gesetze befindet. Die Berufung auf die Gewissensfreiheit kann zur Infragestellung von einzelnen Gesetzen oder sogar eines Rechtssystems führen. Neben dem formalen Kriterium des Gewissens sind die Menschen- bzw. Grundrechte oder die Verfassungsmäßigkeit inhaltliche Kriterien, an denen sich die Legitimität von Recht zu erweisen hat. Da aber inhaltliche Kriterien zur Feststellung von Legitimität und die Frage nach einem allgemeingültigen Ethos umstritten sind, wird seit T. Hobbes immer wieder die Berechtigung der Frage nach der Legitimität bestritten. Der Staat müsse die Einhaltung des legalen Rechts garantieren, die Berufung auf das Recht zum zivilen Ungehorsam gegenüber einzelnen, als illegal klassifizierten Gesetzen 115 sei nicht legal und müsse um der Bewahrung des "inneren Friedens" willen unterbunden werden. Der Staatsbürger habe die Pflicht zum unbedingten Gehorsam gegenüber den Gesetzen, weil oder insofern sie auf legalem Wege zustandegekommen sind. Das Fehlen von einheitlichen inhaltlichen Kriterien oder eines allgemeingültigen Ethos mache es für den Bestand einer Gesellschaft notwendig, die Legitimation allein in dem legalen Verfahren, durch das die Gesetze geschaffen werden, zu sehen.116 Legales Verfahren bedeutet in diesem 114

115

116

Vgl. die überzeugende Darstellung dieser Problematik bei J. Habermas, Die Neue Unübersichtlichkeit, S. 79-117. Das Recht zum Widerstand gegenüber einem illegitimen Rechtssystem ist in den meisten modernen Verfassungen garantiert, käme aber praktisch nur dort zur Anwendung, wo die Staatsform als Ganze verändert werden sollte. Auch der Widerstand im Dritten Reich zielte ja auf die Aufhebung der NS-Diktatur sowie der damit verbundenen Rechtsordnung und die Wiederherstellung einer Demokratie. Diese Überlegungen tauchen bei Luhmann unter dem Stichwort "Legitimation durch Verfahren" wieder auf, s. S. 112ff.

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Fall meistens, daß im Prozeß der Rechtsgestaltung eine demokratisch zustandegekommene Mehrheit ein Gesetz festgelegt hat. Der Konsens der Mehrheit sichere die Legitimität - aber kann die Legitimität allein durch den Konsens der Mehrheit gewährleistet werden? M.E. kommt die Legitimität durch ein legales Verfahren hier an ihre Grenzen, denn ein legales, im Sinne von auf dem Konsens der Mehrheit beruhendes Verfahren garantiert nicht die Legitimität von Gesetzen. Der Konsens der Mehrheit muß auch ethisch begründet sein. Inhaltlich findet sich eine ethische Ausrichtung in den Menschen· bzw. Grundrechten, um deren Auslegung in der konkreten Situation von den unterschiedlichen Positionen her gestritten werden muß. Dabei muß auch der Minderheit das "Recht" zum zivilen Ungehorsam in Grenzfällen117 gegeben sein, um die Möglichkeit zu besitzen, über das Kriterium der Legitimität legale Gesetze in Frage zu stellen mit dem Ziel, den demokratischen Dialog über diese Gesetze erneut zu eröffnen. 118 Hier zeigt sich ein ähnliches Phänomen wie bei der Gerechtigkeit als Kriterium oder den Menschenrechten. Bei allem Wissen um die Relativität von Recht und um des Verständnisses von Recht als offenem Prozeß willen ist eine von daher begründete inhaltliche Unterscheidung für eine systemimmanent bejahte und verankerte außerrechtliche Korrekturmöglichkeit erforderlich für den Fall, daß die Legitimität legaler Rechtssätze angezweifelt wird. Die verfassungsmäßig verankerten Menschen- bzw. Grundrechte halten in einem Rechtssystem dabei die Frage der Legitimität von legal zustandegekommenen Gesetzen offen.

117

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Es soll an dieser Stelle nicht weiter geklärt werden, wann ein solcher Grenzfall vorliegen könnte. J. Habermas spricht deshalb davon, daß ein "qualifizierter" Rechtsgehorsam dem demokratischen Rechtsstaat mehr entspricht als ein unbedingter. Vgl. Ders., a.a.O., S. 83-86 und 110-114.

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4. Zur Grenze von Rechtssystemen a) Recht, rechtsfreie Räume und Freiheit Insbesondere das Charakteristikum der rechtsfreien Räume, die das Recht selbst festlegt, ist ein kritisch-regulatives, das der Tendenz zur Verrechtlichung119 entgegensteht. Vom rechtsfreien Raum ist zu unterscheiden der noch nicht durch das Recht geregelte Raum, der nicht prinzipiell rechtsfrei ist. Aber auch er ist kritisch regulativ gegenüber der Tendenz der Verrechtlichung. Die Tendenz der Verrechtlichung äußert sich auf dreifache Weise: 1. Die rechtsfreien oder noch nicht durch das Recht geregelten Räume entwickeln ein eigenes Recht. (Klassisches Beispiel ist das Kirchenrecht.) 2. Es kommt zu einer Überlagerung oder Überschneidung mit dem Recht. (Auch kirchliche Gebäude unterliegen z.B. der Denkmalschutzgesetzgebung.) 3. Die rechtsfreien Räume oder noch nicht durch das Recht geregelten Räume übernehmen immer mehr Rechtssätze in ihren Raum. (So übernimmt die Kirche z.B. die staatlichen Besoldungsvorschriften.) Rechtsfreie Räume sind weiter notwendig, um der Freiheit, der Selbstentfaltung und der eigenen ethischen Handlungskompetenz willen. Deshalb bedingen gerade Menschen- bzw. Grundrechte rechtsfreie Räume und schützen diese rechtsfreien Räume.120 Sowohl Menschen- bzw. Grundrechte als auch rechtsfreie Räume gewähren dem Individuum Freiheit. Freiheit ist somit ein Bestandteil von 119

120

Zur Kritik an der Verrechtlichung in modernen Rechtsstaaten vgl. J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, S. 522-547. Die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines fremden Staats stellt in etwa das Modell "Nationen als rechtsfreie Räume" dar. Dennoch ist dieses Modell heute so nicht mehr zu vertreten, denn die weltweite Verflechtung von Menschen, Wirtschaft und Nationen macht ein neues internationales Recht, z.B. eine neue Weltwirtschaftsordnung, erforderlich. Die weitgehende Wirkungslosigkeit bisherigen internationalen Rechts und die damit verbundene Umstrittenheit seines Rechtscharakters beruhen auf dem Fehlen wirksamer Mittel, notfalls auch Sanktionen, zur Durchsetzung dieses Rechts.

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Recht.121 "Recht ist ein gemeinschaftserhaltendes Regulativ der Freiheitsentfaltung."122 Es geht bei der Freiheit aber nicht nur darum, sie formal zu gewähren und zu begrenzen, sondern auch darum, durch das Recht Voraussetzungen für die Wahrnehmung von Freiheitsrechten zu schaffen, z.B. durch das Recht auf Bildung und Eigentum. b) Gnade und Amnestie Zur Grenze von Rechtssystemen gehört sicher die Gnade als ein rechtsfreier Raum mitten im Recht.123 Der Politiker (oder Souverän), der das Gnadenrecht besitzt, hat die Möglichkeit, ein rechtskräftiges Urteil aufzuheben oder, was die häufigere Möglichkeit ist, einzuschränken, indem er die Strafe mildert bzw. die Haftzeit verkürzt. Es wird dabei unterschieden zwischen "schenkender Gnade", d.h. Gnade im eigentlichen Sinn, und "berichtigender Gnade", d.h. Gnade zur Korrektur eines fehlerhaften oder zumindest fragwürdigen Urteils, die auf anderem Weg nicht (mehr) möglich ist. Das Gnadenrecht setzt insbesondere dem Rechtsvollzug bzw. der Rechtsdurchsetzung Grenzen und gibt so auch die Möglichkeit, ethische Kriterien in das Recht einfließen zu lassen, z.B. bei der Begnadigung von zu lebenslänglicher Haft Verurteilten. "Sie (sc. die Gnade) bedeutet nicht bloß eine mildere Form des Rechts, sondern den leuchtenden Strahl, der in den Bereich des Rechts aus einer völlig rechtsfremden Welt einbricht und die kühle Düsternis der Rechtswelt erst recht sichtbar macht ... so ist sie das gesetzlose Wunder innerhalb der juristischen Gesetzeswelt."124 Allerdings ist gegenwärtig in der Bundesrepublik die Gnadenpraxis stark verrecht121

Eine besondere Rolle spielt die Freiheitsthematik für das Strafrecht, und zwar in doppelter Hinsicht: einmal für den verantwortlichen Umgang mit Freiheit und zum anderen im Blick auf den Freiheitsentzug durch Gefängnisstrafen. 122 R. Zippelius, a.a.O., S. 2, vgl. auch S. 176-184. 123 vgl. zu Amnestie und Gnade J.-G. Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts; weiter K. Marxen, Rechtliche Grenzen der Amnestie; M. Breitbach, Über politische und rechtliche Legitimationskriterien von Amnestien. In: Demokratie und Recht 1984, S. 124-140 und Amnestie, Gnade, Politik. Loccumer Protokolle 62/1988. 124 G. Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 274/275.

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licht, um mögliche politische Willkür einzugrenzen. Der Widerruf eines Gnadenerweises kann juristisch überprüft werden, nicht aber der Gnadenerweis selbst. Ob also die Gnadenentscheidung selbst justiziabel ist, ist in der juristischen Diskussion umstritten. Es besteht aber ein breiter Konsens über die Justiziabilität der "berichtigenden Gnade".125 Die davon zu unterscheidende Amnestie bedarf eines Gesetzes und bezieht sich nicht auf den Einzelfall, sondern auf eine Vielzahl von bestimmten Fällen. Die Amnestie ist ein wichtiges Element des Rechtslebens; sofern sie nicht in Form einer "Jubelamnestie" erlassen wird, kann sie in erster Linie eine rechtskorrigierende Funktion ausüben. Daneben kann sie auch eine rechtsperpetuierende bzw. -konstituierende Funktion besitzen. In ihrer korrigierenden Funktion ist sie ein rechtlich geregeltes Instrument zur Korrektur und Begrenzung von Recht.

§ 6 Erste Fragestellungen und Überlegungen für die Auf nähme und den Umgang mit dem Teilsystem Recht in theologischen Systemen

Die Formulierung der Überschrift für diesen Paragraphen weist bereits darauf hin, daß die durch die Ortsbestimmung von Recht gewonnenen Erkenntnisse auch auf die Verhältnisbestimmung von Recht und Theologie angewandt werden sollen. Für eine präzise Unterscheidung und Zuordnung von Recht und Theologie ist es grundlegend, Recht als eigenständiges Teilsystem zu begreifen und von daher Recht als Teilsystem und Theologie als Gesamtsystem in Beziehung zu setzen.

125

Vgl. dazu K. Peters, Strafprozeß, S. 698-704.

Erste Fragestellungen

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1. Zusammenfassung Folgende Punkte erscheinen mir aus dem Versuch einer inhaltlichen Grundlegung von Recht als Teilsystem heraus für die Untersuchung des Rechtsverständnisses in der Theologie von besonderer Bedeutung zu sein: - Festhalten möchte ich auch im Gegenüber zur Theologie an dem Versuch, Recht als eigenständiges Teilsystem zu begreifen, da er sich im bisherigen Verlauf der Erörterung für das Recht als angemessen erwiesen hat. Einen Erkenntnisgewinn erwarte ich mir aus der sich daraus ergebenden Verhältnisbestimmung zur Theologie als Gesamtsystem. - Ebenfalls bewährt hat sich im Verlauf der inhaltlichen Grundlegung von Recht als Teilsystem die Definition von Recht als eine grundlegende Struktur und Gestalt sowie eine bestimmte Handlungsund damit verbundene Daseinsorientierung, die in allen wesentlichen Bereichen menschlicher Beziehungen und Interaktionen zur Mitund Umwelt die Rahmenbedingungen regelt. Diese Definition konnte durch die Entfaltung der konstitutiven Elemente präzisiert und verlieft werden. - Als Vorzug und zugleich als gewisse Schwierigkeit hat sich die Einsicht herausgestellt, daß Recht ein "Begriff mit offenem Horizont" ist. Positiv ist dabei, daß das Recht, und dies liegt auch in seinem Prozeßcharakter begründet, offen ist für neue Erkenntnisse und Erfahrungen und damit für eine Veränderung zum Positiven hin. Schwierig ist es, diese Offenheit konsequent durchzuhalten, dabei zum einen auf einen definitorischen Zugriff zu verzichten und zum anderen das Recht vor inhaltlicher Beliebigkeit und politischer Willkür zu schützen. Sowohl die Offenheit als auch der Schutz vor inhaltlicher Beliebigkeit oder politischer Willkür sollen durch die Kriterien der Rechtsgewinnung und -begründung gewährleistet werden. - Als bleibend schwierig hat es sich erwiesen, präzise inhaltliche Kriterien und Elemente zu finden. Die Menschen- bzw. Grundrechte sowie der Gerechtigkeitsbegriff sind hierbei aber als unverzichtbar zu werten. Ebenso müssen die ethischen Brückenprinzipien hier zur Geltung gebracht werden.

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Recht als eigenständiges Teilsystem

- Als prägend für die inhaltliche Gestaltung von Recht hat sich die Wechselbeziehung von Recht und Realität und insbesondere von Recht und Anthropologie gezeigt. - Der Einfluß von Politik, Gesellschaft, Institutionen und der damit verbundenen Machtverhältnisse auf das Recht muß sehr deutlich für das Verständnis von Rechtssystemen zur Geltung gebracht werden. Recht kann nie losgelöst von dieser Wirklichkeitsebene betrachtet werden. - Zentral für ein angemessenes Rechtsverständnis scheint mir die Klärung des Verhältnisses zur Ethik zu sein in Form einer präzisen Zuordnung und Unterscheidung von Recht und Ethik. Es muß immer wieder geklärt werden, welche Rahmenbedingungen menschlichen Zusammenlebens auf welche Weise rechtlich geregelt werden und wo ein notwendiger Freiraum für eigenverantwortetes ethisches Handeln gegeben sein muß. Hier kann m.E. eine funktionale Differenzierung von Recht und Ethik entscheidend weiterhelfen. - Um der Akzeptanz von Recht in einer Gesellschaft willen kann auf eine gewisse Sinn- und Zielorientiertheit von Recht nicht verzichtet werden. Anhand dieser hier noch einmal zusammengefaßten zentralen Punkte wäre nach der theologischen Kompetenz für das Recht zu fragen. Bevor dies aber möglich ist, muß geklärt werden, inwieweit das theologische Rechtsverständnis diese Punkte aufgenommen hat bzw. wo Unterschiede zwischen dem hier erarbeiteten Rechtsverständnis und dem in der Theologie vertretenen sind. Zu prüfen ist, ob die Theologie ein in diesem Sinne verändertes Rechtsverständnis braucht.

2. Fragen An dieser Stelle ergeben sich folgende erste Fragen für die Aufnahme und den Umgang mit dem Teilsystem Recht in theologischen Systemen: - Bilden die theologischen Gesamtsysteme wie die philosophischen Recht als ein Strukturmodell innerhalb ihres Systems aus?

Erste Fragestellungen

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Wäre es angemessen für die Theologie, Recht als Strukturmodell auszubilden, oder welchen Stellenwert sollten die theologischen Aussagen zum Recht überhaupt haben? Welchen Ort und welche Funktion hat Recht in theologischen Systemen? Wird die theologische Orts- und Funktionsbestimmung von Recht dem hier dargestellten Verständnis von Recht als Teilsystem gerecht? Welche(r) Rechtsbegriff(e) werden in der Theologie vertreten? Recht hat sich als komplexes und in sich differenziertes Teilsystem erwiesen: Kann die Theologie dem gerecht werden? - Worin besteht die theologische Kompetenz für das Recht? An welchen Punkten ist sie speziell gegeben? Inwieweit hat die Theologie Kompetenz gerade in der schwierigen Frage der inhaltlichen Kriterien? Inwieweit können punktuelle theologische Aussagen zu einzelnen Rechtsfragen sinnvoll und angemessen sein? Welche Rolle spielt hier der Prozeß- und Dialogcharakter von Recht? - Wie wirkt sich die andere Perspektive des Systems Theologie auf das Verständnis von Recht aus? Welchen Einfluß haben konstitutive theologische Elemente auf das Verständnis von Recht in der Theologie? Wie wirkt sich dies insbesondere auf die Frage der Begründung von Recht aus? Wie kann die theologische Aussage von der Setzung des Rechts durch Gott zur (rechts)philosophischen Aussage von Recht als einem von Menschen gestaltetem Teilsystem in Beziehung gesetzt werden? - Wie können die rechtliche Handlungs- und Daseinsorientierung und die theologische Daseins- und Handlungsorientierung miteinander in Beziehung gesetzt, und wo müssen sie deutlich voneinander abgegrenzt werden? - Wie wirkt sich die differenzierte (rechts)philosophische Zuordnung und Unterscheidung von Recht und Ethik auf die theologische Verhältnisbestimmung von Recht und Ethik aus?

C. Recht in der Korrelation von Dogmatik und Ethik Kapitel 4 Recht der Gnade - das theologische Paradigma Karl Barths und sein Rechtsverständnis Den für das Rechtsverständnis gewählten systemtheoretischen Zugang möchte ich auch auf die Darstellung des theologischen Paradigmas von K. Barth anwenden. Es scheint mir weder möglich noch für die hier gewählte Fragestellung geboten, das theologische System Barths als Ganzes aufzuzeigen. Ich möchte aber exemplarisch konstitutive Elemente seines Systems, die für sein Rechtsverständnis prägend erscheinen, erarbeiten. Das System von Barth habe ich aus folgenden Gründen für die Darstellung gewählt: Leitend ist der Gedanke, daß das theologische Rechtsverständnis im Zusammenhang der Verhältnisbestimmung von Dogmatik und Ethik gesehen werden muß. Das hat zur Folge, daß nur ein theologisches System in Frage kommt, daß zumindest ansatzweise sowohl eine ausgearbeitete Dogmatik wie eine ausgearbeitete Ethik besitzt und ausführlich die Frage der Verhältnisbestimmung von Dogmatik und Ethik reflektiert. Da eine explizite Unterscheidung von Dogmatik und Ethik sich erst in der Neuzeit langsam ausprägt, und damit verbunden eine Reflexion über das Verhältnis von Dogmatik und Ethik, entfallen die "Systeme" von T. von Aquin und M. Luther für die Untersuchung, obwohl sich hier viele bis heute prägende theologische Aussagen gerade zum Recht finden. F. Schleiermachers Konzeption wird nicht herangezogen, da sich bei ihm nur vereinzelte Aussagen zum Recht finden. Im 20. Jahrhundert haben P. Althaus, W. Eiert, W. Trillhaas, E. Brunner und K. Barth sowohl eine Dogma-

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tik wie eine Ethik geschrieben, die geschichtlich wirksam wurden. 1 Weitere theologische Konzeptionen im 20. Jahrhundert sind zum einen oftmals stärker ethisch (D. Bonhoeffer, E. Wolf, H. Thielicke u.a.) oder stärker dogmatisch (P. Tillich, W. Pannenberg, G. Ebeling u.a.) ausgerichtet. Zum anderen wird vielfach kein breiter ausgeführtes Rechtsverständnis entwickelt, so daß sie für diese Arbeit sich nicht als Gegenstand der Untersuchung anbieten. Unter den fünf Systemen von Althaus, Eiert, Trillhaas, Brunner und Barth habe ich mich aus folgenden Gründen für das von Barth entschieden: - E. Brunner2 war in den 20er Jahren Weggefährte Barths "zwischen den Zeiten" und ist theologisch bleibend von ihm beeinflußt, auch wenn es gerade aufgrund des auch für Brunners Ethik zentralen Verständnisses der Ordnungen zu einer immer stärkeren Unterscheidung von Barth kommt. Hier spricht für Barth seine Originalität und seine stärkere geschichtliche Wirksamkeit. Zudem sind Brunners Überlegungen zum Verhältnis von Dogmatik und Ethik sehr knapp. 3 Er schließt sich der These Barths an, daß eine Ethik nur innerhalb der Dogmatik ausgeführt werden kann. - W. Trillhaas* und W. Eiert5 beschäftigen sich ebenfalls nur kurz mit der Verhältnisbestimmung von Dogmatik und Ethik. W. Trillhaas betont die neuzeitliche Eigenständigkeit der Ethik. Die Verhältnisbestimmung von Dogmatik und Ethik bei W. Eiert ist demgegenüber nicht ganz eindeutig, de facto kommt es bei ihm zu einer Trennung von Dogmatik und Ethik. 6 Sowohl die Aussagen zum Recht von Trillhaas 7 wie auch die von Eiert 8 sind für diese Untersuchung bei weitem nicht umfassend genug. 1

2

3 4 5 6 7 8

Barth hat aus noch genauer zu entfaltenden Gründen später die Ethik innerhalb seiner Kirchlichen Dogmatik abgehandelt, während er beides früher trennte. Vgl. Ders., Die Kirchliche Dogmatik, 13 Bde.; Ders., Die christliche Dogmatik im Entwurf (1927); Ders., Ethik I (1928) und Ders., Ethik II (1928/29). Vgl. E. Brunner, Dogmatik I-III; Ders., Gerechtigkeit und Ders., Das Gebot und die Ordnungen. Vgl. ebd. S. 71-80. Vgl. W. Trillhaas, Dogmatik und Ders., Ethik. Vgl. W. Eiert, Der christliche Glaube und Ders., Das christliche Ethos. Vgl. ebd. S. 28-34. Vgl. W. Trillhaas, Ethik, S. 438-453. Vgl. W. Eiert, a.a.O., S. 140-161.

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- Wie Trillhaas geht auch P. Althaus9 zu knapp auf die Verhältnisbestimmung von Dogmatik und Ethik ein,10 wobei er im Unterschied zu Trillhaas eine Zuordnung von Dogmatik und Ethik befürwortet und eine Trennung beider nur aus Darstellungs- und Verständlichkeitsgründen vollzieht. Seine Aussagen zum Recht sind ebenfalls knapp gehalten11; lediglich zum Strafrecht und dabei zur Todesstrafe äußert er sich - auf problematische Weise - ausführlicher.12 Demgegenüber hat Barth sich ausführlich sowohl mit der Verhältnisbestimmung von Dogmatik und Ethik 13 wie mit dem Recht beschäftigt.14 Zudem läßt sich hier zeigen, wie seine theologischen Überlegungen in der Rechtsphilosophie von Erik Wolf aufgenommen wurden.15 Auch Theologen wie H. Gollwitzer, Ernst Wolf, J. Ellul oder W. Dantine haben die Überlegungen Barths aufgenommen und kritisch weitergeführt. An Barths Überlegungen kann gezeigt werden, wie sie in verschiedenen geschichtlichen Situationen, Drittes Reich und Nachkriegszeit, politisch wirksam wurden. Insgesamt beeinflussen seine ethischen Aussagen die theologische Diskussion bis heute. Alle diese Gründe haben mich dazu veranlaßt, die Theologie Barths hier kritisch zu untersuchen. Damit ergibt sich als Zielsetzung dieses Teils der Arbeit die exemplarische Darstellung konstitutiver Elemente der Theologie y

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Vgl. P. Althaus, Die christliche Wahrheit; Ders., Theologie der Ordnungen und Ders., Grundriß der Ethik. Vgl. Ders., Die christliche Wahrheit, S. 25ff. und Ders., Grundriß der Ethik, S. llf. Vgl. ebd. S. 130-140 und Ders., Recht und Vergebung. Jetzt in: Ders., Um die Wahrheit des Evangeliums, S. 293-303. Vgl. Ders., Die Todesstrafe im Lichte des christlichen Denkens. In: DtPfrBl 55, 1955, S. 457-461 und Ders., Die Todesstrafe als Problem der christlichen Ethik. In: Sitzungsberichte der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, philosophischhistorische Klasse 1955, Heft 2, S. 3-35. Vgl. insbesondere KD II/2, S. 564-612; weiter KD III/4, S. 1-50 und K. Barth, Ethik I, S. 1-29. Vgl. Ders., Rechtfertigung und Recht. Christengemeinde und Bürgergemeinde; Ders., Ethik II, S. 212-237 u.ö.; KD III/4, S. 499-515; KD IV/1, S. 589-634 u.ö.; KD IV/2, S. 765-824. Vgl. E. Wolf, Fragwürdigkeit und Notwendigikeit der Rechtswissenschaft; Ders., Rechtstheologische Studien; Ders., Rechtsphilosophische Studien und Ders., Recht des Nächsten.

Überlegungen zum theologischen Rechtsverständnis

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Barths für das Recht und die genaue Entfaltung seines Rechtsverständnisses in der Korrelation von Dogmatik und Ethik. In der kritischen Auseinandersetzung mit Barth soll versucht werden, die bei Barth gewonnenen Einsichten für die Theologie insgesamt fruchtbar zu machen. Die zweite Zielsetzung besteht in der genauen Inbeziehungsetzung von Theologie und Recht in der Korrelation von Dogmatik und Ethik, um so den Ort von Recht in der Theologie, seine Funktion und seinen Stellenwert festzustellen. Von daher können dann umgekehrt die Funktion und der Stellenwert von Theologie für das Recht geklärt werden.

§ 1 Erste Überlegungen zum Rechtsverständnis in der Theologie

1. Vorerwägungen Im vorangehenden Teil wurde gezeigt, daß sich der theologische Umgang mit dem Recht drei verschiedenen grundlegenden Paradigmen von Recht gegenübersieht. Das für die weitere Arbeit hier zugrundegelegte Rechtsverständnis geht davon aus, daß Recht ein Teilsystem darstellt. Recht wird definiert als eine grundlegende Struktur und Gestalt sowie bestimmte Handlungs- und damit verbunden Daseinsorientierung, die in allen wesentlichen Bereichen menschlicher Beziehungen und Interaktionen zur Mit- und Umwelt die Rahmenbedingungen menschlichen Zusammenlebens festlegt und im Konfliktfall auch gewährleistet. Demgegenüber entfaltet die Theologie eine grundsätzliche Perspektive auf die Wirklichkeit, die Gott, Welt und Mensch einander zuordnet, die einen eigenständigen Erkenntnis- und Erfahrungszugang besitzt. Sie bildet außer den vier Systemteilen Fundamentaltheologie, Dogmatik, Metaethik und Ethik keine weiteren eigenständigen Teilsysteme, wie Recht, aus. Theologie will Wirklichkeit als Ganze interpretieren, will Sinn-, Ziel-, Wert- und Normfragen klären, umfassende Daseins- und Handlungsorientie-

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rung vermitteln. Dazu gehören auch grundlegende Aussagen über Recht als Struktur- und Gestaltzusammenhang. Offen ist aber, wie ein theologisch vertretbarer Umgang mit Teilsystemen wie dem Recht genauer aussehen soll, welche formalen und inhaltlichen Aussagen zum Recht gemacht werden sollen. Grundsätzlich wird hier immer auch das Verhältnis von Theologie und Philosophie angesprochen, da auch die Philosophie Aussagen zum Recht formuliert. Philosophisch gesehen ist es formal und inhaltlich bis zu einem gewissen Grad offen, was Recht konstituiert, wie Recht inhaltlich zu bestimmen ist. Ich habe Recht in philosophischer Perspektive als Ausdruck eines geschichtlichen und gesellschaftlichen Prozesses charakterisiert, in dem unter spezifischen Kriterien Recht immer wieder in einem offenen Prozeß bewährt und neu gewonnen werden muß. Theologisch wird Recht klassisch als Ausdruck des für alle Menschen geltenden Willens Gottes verstanden, das Gottes erhaltendem Schöpferwillen dient. Wie können diese beiden Positionen gegenseitig vermittelt werden? Wie kann von diesen Ausgangspositionen her ein Dialog um die Gestalt von Recht stattfinden? In der Untersuchung der geschichtlichen Rechtssysteme hat sich ein sehr differenziertes Rechtsverständnis ergeben, und es wird auf diesem Hintergrund zu überprüfen sein, welches Rechtsverständnis Barth vertritt. Aus dem bisherigen Gang der Argumentation legt sich die Vermutung nahe, daß es hier und in den theologischen Konzeptionen insgesamt möglicherweise um die inhaltliche Interpretation nur ganz bestimmter formaler und materialer konstitutiver Elemente von Recht geht. Eine im Fortgang dieser Arbeit noch zu bewährende These ist, daß die Bestimmung des Rechts innerhalb der Theologie als Gesamtsystem einen doppelten Ort hat: Das Recht wird sowohl in der Dogmatik als auch in der Ethik thematisiert. In der Dogmatik spielt das Rechtsverständnis eine entscheidende Rolle und Funktion bei der Zuordnung und Unterscheidung von Gesetz und Evangelium bzw. Evangelium und Gesetz. Das hat zur Folge, daß es konstitutiv für die theologischen Handlungsmodelle ist: das der Rede von den zwei Reichen und Regimenten und das der Königsherrschaft Christi. Offen ist

Überlegungen zum theologischen Rechtsverständnis

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die Unterscheidung und Zuordnung von Recht und Ethik, die in der Grundlegung der Ethik, der Metaethik, zu erfolgen hätte. In der theologischen Ethik finden sich aber nur vereinzelt Grundsatzaussagen über das Recht, es spielt dort vielmehr bei der Bearbeitung verschiedener Sachthemen eine Rolle. Ein Ziel der Arbeit ist es aufzuzeigen, wie dieser doppelte Ort von Recht innerhalb der Theologie zu begründen ist, und was dies grundsätzlich für die Korrelation von Dogmatik und Ethik heißt.

2. Zum Vorgehen und zur Fragestellung Ausgehen möchte ich von der These, daß die Theologie Barths ein Gesamtsystem bildet, auch wenn sein Werk trotz der Vielzahl seiner literarischen Veröffentlichungen nicht letztlich abgeschlossen werden konnte. Das gilt sowohl für die Dogmatik als auch für die Ethik. Es ist aber als ein solches Gesamtsystem konzipiert. Die Theologie Barths und der ihm nahestehenden Theologen, wie H. Gollwitzer, E. Wolf, E. Jüngel, J. Moltmann u.a. bildet ein theologisches Paradigma. Ohne dieses Paradigma im Vergleich zu anderen Paradigmen im einzelnen zu untersuchen, ist es jedoch nötig um der Vergleichbarkeit der Theologie mit rechtlichen Paradigmen willen, die im theologischen Paradigma Barths für die Ausbildung seiner Aussagen zum Recht wichtigen Elemente herauszuarbeiten. So wird auch für die Erarbeitung der Auffassung von Barth der systemtheoretische Zugang und in seinem Rahmen die Untersuchung ausgewählter konstitutiver Elemente zugrundegelegt.16 Daß für das Verständnis von Recht, spezifisch für das von Kirchenrecht, die Erfassung des theologischen Gesamtsystems erforderlich ist, hat W. Steinmüller aufgezeigt und anhand der Darstellung der Systeme von J. Heckel, S. Grundmann, E. Wolf und H. Dombois auch explizit entfaltet. Vgl. Ders., Evangelische Rechtstheologie, 2 Bde. Sein Ziel ist es, durch das Aufzeigen des Gesamtsystems ("... ist hier die je spezifische Gesamtkonzeption eines Autors ..." Ebd. Bd. II, S. 791) erstens das Rechtsverständnis des einzelnen Autors besser aufweisen zu können und zweitens die s.E. zahlreichen Gemeinsamkeiten der einzelnen Entwürfe aufzuzeigen. Drittens will er (als katholischer Jurist) damit die Ergebnisse der evangelischen Rechtstheologie für den inneijuristischen und insbesondere auch ökumenischen Dialog fruchtbar machen. Er arbeitet dann heraus, daß Un-

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Recht der Gnade

Folgende Zielsetzungen, die zugleich das Vorgehen und die Fragestellungen implizieren, liegen von daher diesem Teil der Arbeit zugrunde: 1. Anhand der Theologie Barths soll gezeigt werden, inwieweit das theologische Rechtsverständnis von einem theologischen Gesamtsystem abhängig ist, welche konstitutiven Elemente in hohem Maße relevant für das Recht sind. Weiter soll gefragt werden, ob das in den dogmatischen und ethischen Aussagen Barths vertretene Rechtsverständnis kohärent ist. Welche Rolle spielt das Verständnis von Recht in der von Barth postulierten Einheit von Dogmatik und Ethik?17 2. Auf dem Hintergrund der durch die Darstellung des von Barth herkommenden Paradigmas gewonnenen Einsichten soll erstens eine Erklärung für die Schwierigkeiten im theologischen Umgang mit dem Recht überhaupt und die Spannungen und teilweise inkonsistenten Aussagen innerhalb des theologischen Rechtsverständnisses geleistet werden. Zweitens geht es darum, die Abhängigkeit des theologischen Rechtsbegriffs von den für die Theologie als System insgesamt konstitutiven Elementen und dabei insbesondere von der Zuordnung und Unterscheidung von Fundamentaltheologie, Dogmatik, Metaethik und Ethik aufzuzeigen. Dient das Recht der Theologie zur Durchsetzung von Ethik? Welche Funktion hat das Recht in der Theologie insbesondere für die Ethik? Drittens soll folgende These bewährt werden: Der theologische Umgang mit dem Recht ist nicht angemessen, weil die Zuordnung und Unterscheidung von Dogmatik und Ethik nicht angemessen ist. terschiede in der Gotteslehre, Anthropologie, dem Verständnis von Gottesrecht, Ekklesiologie und Methode Folgen für das Kirchenrechtsverständnis haben. Zugleich sind aber doch jenseits dieser Unterschiede viele Gemeinsamkeiten gegeben, gerade in der Rechtsanthropologie und auch im Kirchenrechtsverständnis. Vgl. ebd. Bd. II, S. 791-819. Vgl. W.-D. Marsch, Christologische Begründung des Rechts? In: EvTh 17, 1957, S. 145-170 und 193-218. Marsch versucht das Rechtsverständnis Barths, insbesondere sein Verständnis von Institutionen, von dogmatischen Grundeinsichten Barths her zu erheben, ohne auf die Unterscheidung von Dogmatik und Ethik einzugehen. Zentral für das Recht sind nach Marsch die dogmatischen Aussagen zur Eschatologie (Ebd. S. 155ff.), zur analogia fidei (Ebd. S. 158-162) und zur Prädestinationslehre (Ebd. S. 163-170).

Überlegungen zum theologischen Rechtsverständnis

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Umgekehrt formuliert: Am theologischen Umgang mit dem Recht läßt sich aufzeigen, daß die Zuordnung und Unterscheidung von Dogmatik und Ethik nicht angemessen durchgeführt wird. Zur Bewährung und genaueren Klärung dieser These müssen folgende Fragen beantwortet werden: Ist der sich in der Theologie ergebende doppelte Ort von Recht sowohl in der Dogmatik als auch in der Ethik zwingende Konsequenz des Verhältnisses von Dogmatik und Ethik im jeweiligen Paradigma, und läßt er sich von daher auch rechtfertigen? Bringt eine zweifache Ortsbestimmung auch Spannungen in das Rechtsverständnis? Sind diese Spannungen letztlich in der Zuordnung und Unterscheidung von Dogmatik und Ethik begründet? Oder können eventuell bestehende Spannungen darauf beruhen, daß der doppelte Ort von Recht in Dogmatik und Ethik nicht ausreichend thematisiert wird? 3. Von dieser Basis ausgehend soll es darum gehen, für die Theologie ein umfassendes Rechtsverständnis in der Korrelation von Dogmatik und Ethik zu gewinnen und dessen Bedeutung und Chancen für die Theologie aufzuzeigen. Was versteht man spezifisch theologisch jeweils unter Recht? Besitzt die Theologie ein eigenständiges Rechtsverständnis? Haben die verschiedenen theologischen Systeme teil am allgemeinen Rechtsverständnis? Rezipieren sie es umfassend? Oder nehmen sie nur einzelne Elemente auf? 4. Nach der präzisen Klärung des theologischen Rechtsverständnisses können dann in Aufnahme der Überlegungen aus Kapitel 3 die Fragen des Dialogs von Theologie als Gesamtsystem und Recht als Teilsystem behandelt werden. Solcher Dialog ist in Gesellschaft und Wissenschaft sowohl um das Rechtsverständnis (Recht als Strukturund Gestaltzusammenhang) als auch über die davon bestimmte Praxis des Rechts zu führen. Worin besteht die theologische Kompetenz für das Recht in diesem Dialog? Wo sind theologische Aussagen sinnvoll? Wo sollte auf Aussagen verzichtet werden? Besteht die theologische Kompetenz weniger im Bereich der Konstitution von Recht als Teilsystem als im Bereich materialer Aussagen? Welche Bedeutung hat insbesondere die theologische Anthropologie für die inhaltliche Gestaltung von Recht? Welche Aufgabe hat die Theologie bei der ethischen Orientierung von Recht? Wie kann die Unter-

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Recht der Gnade

Scheidung und Zuordnung von Gesetz und Evangelium für die Unterscheidung und Zuordnung von Recht und rechtsfreien Räumen, Recht und Gnade oder Recht und Liebe fruchtbar gemacht werden? Um in diesen Fragen einen Ansatzpunkt zu haben, habe ich für die Untersuchung des Rechtsverständnisses in der Theologie Barths folgende konstitutive Elemente 18 ausgewählt: 1. Das Sündenverständnis, weil hier innerhalb der Anthropologie, die als Ganzes genommen erst ein konstitutives ontologisches Element bildet, Entscheidungen für die grundsätzliche Notwendigkeit und die materiale Ausgestaltung von Recht fallen. 2. Die Zuordnung und Unterscheidung von Evangelium und Gesetz, weil dieses Element der klassische theologische Ort für die Begründung von Recht ist. 3. Barths Rede von der Königsherrschaft Christi, in der die Funktion von Recht festgelegt wird. 4. Die Unterscheidung und Zuordnung von Dogmatik und Ethik, die, wie bereits mehrfach behauptet, m.E. zentral für das theologische Rechtsverständnis ist. Zudem prägt die Unterscheidung und Zuordnung von Dogmatik und Ethik in einem System das Verständnis von Daseins- und Handlungsorientierung und beeinflußt somit entscheidend das Recht als Handlungs- und Daseinsorientierung. Die Bedeutung dieser vier konstitutiven Elemente für das Recht soll im Anschluß daran an materialen Aussagen Barths zum Recht konkretisiert werden. Die materialen Aussagen sind eine Möglichkeit, die Konsistenz seiner dogmatischen und ethischen Grundsatzaussagen und ihre Anwendung zu überprüfen. Barth selbst hat aufgrund seiner geschichtlichen Erfahrungen die Zusammengehörigkeit von Dogmatik und Ethik betont, auch weil er die Gefahr erkannte, die eine falsche Exegese und Dogmatik für die Ethik bedeuten können: So kam er angesichts des Manifestes der 93 deutschen Intellektuellen von 1914 zur Einsicht: "An ihrem 'ethischen Versagen' zeigt Es ist immer wieder, z.B. von W.-D. Marsch, a.a.O. darauf hingewiesen worden, daß Barths Rechtsverständnis immer im Gesamtzusammenhang seiner Dogmatik gesehen werden muß. Vgl. dazu auch O. Bleibtreu, Von den Zwecken des Staates und der Rechtsordnung. In: Antwort. Karl Barth zum siebzigsten Geburtstag, S. 336-345 und R. Mumm, Theologische und christologische Begründung des Rechts in der evangelischen Theologie der Gegenwart, insb. S. 86-96.

Recht und Sünde

205

sich, 'daß auch ihre exegetischen und dogmatischen Voraussetzungen nicht in Ordnung sein können'."19 So gilt es nun für Barth, selbst zu überprüfen, ob seine dogmatischen und ethischen Grundvoraussetzungen für seine materialen ethischen Aussagen "in Ordnung" sind. Abschließend soll dann insgesamt nach der Bedeutung des Rechts für seine Theologie gefragt werden.

§ 2 Recht und Sünde

In der dogmatischen Tradition wird die Sündenlehre im Rahmen der theologischen Anthropologie entfaltet, bei Barth aber im Rahmen der Versöhnungslehre. Gemeinsamer Bezugspunkt für die Anthropologie20 und die Versöhnungslehre ist Jesus Christus, der Grund und Mitte von beiden Themenkreisen ist. Dieses Vorgehen Barths erfordert und ermöglicht eine Darstellung der Sündenlehre im Rahmen der Versöhnungslehre und eine Inbeziehungsetzung der Aussagen Barths über die Sünde bzw. den Menschen als Sünder zur Anthropologie. Darum soll in einem ersten Schritt das von Barth in seiner Versöhnungslehre ausgearbeitete Sündenverständnis nachvollzogen werden.21 In einem zweiten Schritt soll dann gezeigt werden, welche Konsequenzen sich einerseits aus dem Sündenverständnis und andererseits aus den Äußerungen Barths zur Anthropologie mit ihrer Zentrierung auf Jesus Christus als den wahren Menschen ergeben. Für das Verständnis des Rechts ist - wie gezeigt - ein konstitutives Element das Verständnis der Anthropologie. So wird zu untersuchen sein, welche Bedeutung Barths Aussagen zum Menschsein - insbesondere zum Sündersein - für sein Verständnis des Rechts haben. Dabei hat das Verständnis des Staates als Rechtsstaat eine Schlüssel19 20

21

E. Busch, Karl Barths Lebenslauf, S. 93. Vgl. dazu W. Krötke, Sünde und Nichtiges bei Karl Barth; H.U. von Balthasar, Karl Barth, S. 169-175; H. Küng, Rechtfertigung, S. 53-64 und W. Härle, Sein und Gnade, S. 99-171 und 246-255. Zur Anthropologie bei Barth vgl. u.a. K. Stock, Anthropologie der Verheißung.

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funktion. Durch die Inbeziehungsetzung dieser Aussagen über die Sünde zum Strafrecht soll hier die Konsistenz der dogmatischen Grundlegung überprüft werden.

1. Die Lehre von der Sünde a) Zum Ort der Lehre von der Sünde und der Sündenerkenntnis Eine erste Besonderheit von Barths Sündenlehre ist ihre Zuordnung zur Versöhnungslehre, nicht zur Anthropologie oder einer Lehre von "Schöpfung und Fall".22 Für Barth kann es "... in der Dogmatik einen selbständigen, im leeren Raum zwischen Schöpfungs- und Versöhnungslehre zu konstruierenden locus De peccato nicht geben ..,"23. Auch die Sündenlehre wird bei ihm an die Christologie rückgebunden. Einen Ort in der Anthropologie gibt Barth m.E. aus zwei Gründen der Sündenlehre nicht: Zum einen, da der Eindruck vermieden werden soll, daß die Sünde notwendig zum Menschsein gehört, auch wenn ihre (unmögliche) Möglichkeit im Mißbrauch der menschlichen Freiheit begründet ist. Zum anderen wählt Barth die Versöhnungslehre und nicht die Anthropologie als Ort für die Sündenlehre, um zu zeigen, daß weder Gottes Menschwerdung noch seine Versöhnung mit den Menschen Reaktion auf die menschliche Sünde sind. Gottes Bund ist der Grund für seine Versöhnung,24 nicht die menschliche Sünde, die Gott eben nicht zu einer ihr "entsprechende(n) Verlegenheitsauskunft" der Versöhnung nötigt.25 Für Barth ist die Sünde ein

22 23 24

25

Vgl. KD I V / l , S. 152-162. KD I V / l , S. 155. Vgl. KD I V / l , S. 22-70. Diese Argumentation findet sich durchgängig bei Barth: "Daß Gott zuvor in sich selbst der ist, als der er sich offenbart - das ist die entscheidende Einsicht, die hier gewonnen wird. Eben darum, weil er in sich der bewegte, lebendige Gott ist, weil sein Wesen in dieser trinitarischen Bewegtheit und Lebendigkeit besteht, kann sich dieser Gott offfenbaren, voll, ganz, vorbehaltlos. Weil er Gott ist in seiner ihm eigenen, trinitarischen Selbstunterscheidung darum hat er seine Gottheit nicht in seiner Unterscheidung von der Welt." F. Mildenberger, Theologie für die Zeit, S. 133. Vgl. KD II/2, S. 97.

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unbegründeter "Zwischenfall"26: "... sie ist geradezu das Überphänomen aller Zwischenfälle, der Inbegriff des Nicht-Notwendigen, NichtOrdnungsmäßigen, alles Sinn- und Planwidrigen."27 Deshalb entfaltet er im Gesamtzusammenhang seiner Dogmatik zuerst die Christologie, dann die Anthropologie und in der Versöhnungslehre jeweils die christologische Grundlegung der Versöhnung aufgrund der drei Ämter Christi, bevor er die Sündenlehre jeweils im Anschluß an ein Werk thematisiert. In der Versöhnungslehre wird die Sündenthematik dreimal behandelt: 1. im Kapitel: "Jesus Christus, der Herr als Knecht"28, 2. im Kapitel: "Jesus Christus, der Knecht als Herr"29, 3. im Kapitel: "Jesus Christus, der wahrhaftige Zeuge"30. In allen drei Kapiteln ordnet er die einzelnen Paragraphen parallel an: - Erniedrigung / Erhöhung / Herrlichkeit Jesu Christi - die Sünde des Menschen bzw. der Mensch der Sünde - Rechtfertigung / Heiligung / Berufung - Heiliger Geist und christliche Gemeinde - Heiliger Geist und christlicher Glaube / Liebe / Hoffnung. Daraus ergibt sich für die Sündenlehre, daß die Sünde erst in der in Jesus Christus geschehenen Erniedrigung,31 der danach vollzogenen Erhöhung32 und schließlich von seiner Herrlichkeit her33 erkannt und verstanden werden kann. Das heißt für Barth immer: Sünde wird als Sünde erkannt. Auf dem Hintergrund der Sünde wird dann die Rechtfertigung, Heiligung bzw. Berufung des Menschen durch Gott entfaltet, um so ihren Gnaden- und Geschenkcharakter besonders hervorzuheben.34 26 27 28 29 30 31 32 33 34

Vgl. KD IV/1, S. 48. Ebd.; vgl. auch S. 449. Vgl. ebd. S. 171-872. Vgl. KD IV/2, S. 1-954. Vgl. KD IV/3,1 und KD IV/3,2. Vgl. KD IV/1, S. 395-573. Vgl. KD IV/2, S. 423-564. Vgl. KD IV/3,1, S. 425-551. Vgl. KD IV/1, S. 573-717; KD IV/2, S. 565-694 und KD IV/3,1, S. 553-779.

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Dieser von der Tradition stark unterschiedene Ort wird erkenntnistheoretisch formal damit begründet, daß auch eine Erkenntnis der menschlichen Sünde erst von der in Jesus Christus geschehenen Offenbarung her möglich ist.35 Der Mensch ist in seinem Bemühen um Erkenntnis immer von seinem Sündersein geprägt, was ihm nach Barth eine wahre Erkenntnis seiner selbst, gerade seiner selbst als Sünder,36 versperrt. "Daß der Mensch böse ist, d.h. daß er sich im Widerspruch zu Gott und zu seinem Nächsten und darum und von daher zu sich selbst befindet, das kann er nicht aus sich selbst wissen, das kann er also aus keinem Selbstgespräch, das kann er aber auch aus keinem Gespräch mit seinem Mitmenschen erfahren ,.."37 Die lutherische Lehre von der Möglichkeit der Erkenntnis von Sünde aus dem Gesetz lehnt Barth von seinem Gesetzesbegriff her ab. "Daß der Mensch der Mensch der Sünde ist, was seine Sünde ist und was sie für ihn bedeutet, das wird erkannt, indem Jesus Christus erkannt wird, nur so, so wirklich,"38 Erkenntnis ist nur durch das Evangelium möglich. Wer der Mensch vor Gott ist, wird durch Jesu Leben, Sterben und Auferweckung "nachträglich aufgedeckt"39. Erkenntnistheoretisch material wird die Sünde des Menschen bzw. der Mensch der Sünde erst in ihrer ganzen Tragweite von dem Weg des Sohnes in die Erniedrigung und seiner Auferweckung durch Gott her begriffen.40 Sünde hat immer eine ambivalente Gestalt, die als Sünde erst von dort her aufgedeckt und gerichtet werden kann. Weiter kann inhaltlich von Jesus Christus her die "Wahrheit" der Sünde erkannt werden, die besagt, daß alle Menschen gleichermaßen Sünder sind und es keine Differenzierung in verschiedene Grade von Sündhaftigkeit gibt. Diese Wahrheit hebt die Unterscheidung von Sünde und Sünder auf. Der Mensch ist Sünder und hat mit seiner ganzen Person für seine Sünde einzustehen. Schließlich wird erst von der Offenbarung her die Bedeutung und Tragweite von Sünde deut35

36 37 38 39 40

Vgl. KD I V / l , S. 395-439. Vgl. dazu F. Mildenberger, Geschichte der deutschen evangelischen Theologie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 232ff. Vgl. KD I V / l , S. 398. Ebd. S. 397. Ebd. S. 430, vgl. ebd. S. 400-430 oder KD IV/2, S. 425f. Vgl. KD I V / l , S, 432. Vgl. ebd. S. 439-458.

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lieh. Hier liegt zugleich der Übergang zur Lehre vom Bösen, der Macht des Bösen, die Barth im Zusammenhang seiner Überlegungen zum "Nichtigen" entfaltet. Ebenso wie die Sünde kann auch das Nichtige nur von dem in der Offenbarung sichtbar werdenden Christusereignis her erkannt werden41 als ein überwundenes und immer schon entschiedenes Problem Gottes. Von der Offenbarung her ist um eines angemessenen Wirklichkeitsverständnisses vom Nichtigen zu reden. Das Nichtige, dem Barth weder ein schöpfungsgegebenes Sein noch ein Sein als Gegengott zugestehen möchte, kann aber verschiedene Gestalten in der Schöpfung annehmen: Sünde, Tod und Übel/ Böses. Darin wird es zur Urbedrohung des Menschen. Diese Gestalten sind nicht nur Teile des Nichtigen, sondern das Nichtige insgesamt. Die Unterscheidung von Sünde und Nichtigem darf aber nicht so erfolgen, daß das Nichtige als abstraktes Allgemeines gedacht ist, während die Sünde als das Konkrete verstanden wird, denn so bekäme das Nichtige eine ontologische Qualität, die es nach Barth gerade zu vermeiden gilt. Demgegenüber ist für das Nichtige charakteristisch, "... daß der Urgegensatz, die Urbegegnung, in der es sein Wesen hat, seine Gegenüberstellung zu Gott selbst ist: die Gegenüberstellung, die Gott sich in voller Freiheit darum gefallen läßt, weil seine Freiheit die seiner Gnade, seiner Liebe und Treue, weil seine ganze Herrlichkeit die seiner Herablassung zu seinem Geschöpf ist. Alles dreht sich letztlich um diesen einen Punkt."42 Das Nichtige ist von Gott nicht gewollt und bekommt gerade von daher seine Existenz als bleibend "unmögliche Möglichkeit". Auf der Grundlage seiner Überlegungen zum Ort und zur Erkenntnis von Sünde entfaltet dann Barth inhaltlich seinen Sündenbegriff. b) Das inhaltliche Verständnis von Sünde Inhaltlich wird die Sünde näher charakterisiert als Hochmut, Trägheit und Lüge des Menschen, wobei die Einheit von Sünde und Sün41

42

Zur Lehre vom Nichtigen bei Barth vgl. KD III/3, S. 327-425; weiter W. Krötke, a.a.O., insb. S. 17-52 und W. Härle, a.a.O., S. 227-269. KD III/3, S. 416.

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der kennzeichnend ist. Dem Hochmut korrespondiert der Fall des Menschen, der Trägheit sein Elend und der Lüge seine Verdammnis. Hochmut steht bei Barth für Ungehorsam und Unglauben als Gestalten von Sünde. "Des Menschen Hochmut ist eine konkrete Gestalt dessen, was man ... mit Recht des Menschen Ungehorsam und im Bereich der christlichen Erkenntnis mit besonderem Recht, des Menschen Unglauben genannt hat."43 Ungehorsam besteht zum einen darin, daß der Mensch Gottes Willen nicht ausführt, indem er Gottes Gebot ignoriert. So verweigert sich der Mensch der guten Möglichkeit zum Leben, die Gottes Gebot dem Menschen und der Schöpfung insgesamt eröffnen will. Ungehorsam ist zum anderen auch eine Folge des Unglaubens als Gestalt der Sünde. "Es ist also wahr, daß eben der Unglaube die Sünde, die Urgestalt und der Ursprung aller Sünden, endlich und zuletzt die einzige, weil alle anderen hervorrufende und in sich befassende Sünde ist."44 Der Unglaube als Gestalt der Sünde zeigt sich darin, daß der Mensch Gott und sein Gottsein nicht erkennt und anerkennt. Sichtbar wurden nach Barth Unglaube und der daraus folgende Ungehorsam am deutlichsten an der Kreuzigung Jesu Christi. Während Gott in Jesus Christus Mensch, ja mehr noch Knecht wurde, sich erniedrigte, sind der Unglaube und der Ungehorsam des Menschen letztlich im menschlichen Hochmut begründet, der für Barth grundlegend in dem Bestreben, sein zu wollen wie Gott, besteht.45 Menschliches und göttliches Verhalten laufen diametral auseinander: Hochmut und Demut. 46 Der menschliche Hochmut besteht deshalb weiter darin, daß der Mensch Herr sein will. Warum der Mensch sein will wie Gott und gerade darin sich selbst verfehlt, kann nach Barth nicht begründet, sondern nur noch konstatiert werden. Der Mensch verfehlt sich erstens gerade auch darin, daß der Mensch Richter - auch Richter über sich selbst - sein will, wo doch Gott als Richter in Jesus Christus sich selbst richtete. 47 In dem menschlichen Bestreben zu richten, ist gleichzeitig der Versuch zu

43 44 45 46 47

KD IV/l, S. 459. Ebd. S. 460. Vgl. ebd. S. 479-494. Vgl. ebd. S. 464f. u.ö. Vgl. ebd. S. 494-508.

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unterscheiden zwischen gut und böse eingeschlossen. Diese Unterscheidung, verbunden mit dem Bemühen, das Gute zu wählen und zu tun, mißlingt dem Menschen aufgrund der mit dem Wirksamwerden des Bösen gegebenen Ambivalenz: des Gebrauchs und zugleich der Verfehlung schöpfungsgegebener Möglichkeiten. Erst vom Wort Gottes her können Böses und Gutes erkannt und unterschieden werden. Das Menschsein wird zweitens auch darin verfehlt, daß der Mensch meint, sich selbst und allein helfen48 und damit auf Gott verzichten zu können.49 Wenn der Mensch dabei sich selbst gnädig sein will, wird er sich selbst schließlich zum Feind.50 Eine weitere Folge des Hochmuts ist das falsche Verständnis Gottes als eines allein auf sich selbst bezogenen, dem Menschen feindlich gegenüberstehenden. Weiter versteht Barth die Sünde des Menschen als Trägheit. Während Jesus Christus als Menschensohn erhöht wird, will der Mensch der Sünde nicht erhöht werden, sondern verharrt in seiner Sünde der Trägheit. Es geht bei der Sünde nicht nur um die "böse Tat", sondern auch um das "böse Unterlassen".51 Diese Trägheit, im Sinne von den göttlichen Willen nicht tun, ist auch wieder Hochmut, eine Form des Ungehorsams, und im Sinne von Nicht-Zum-Glauben-Kommen eine Folge des Unglaubens52 Aufgrund seiner Trägheit, die dazu führt, daß der Mensch die christliche Freiheit nicht annimmt, versagt der Mensch in seinem geschöpflichen Sein, indem er seinem Verhältnis zu Gott, dem Mitmenschen, seiner eigenen Geschöpflichkeit und Endlichkeit nicht gerecht wird.53 Dabei zeigt Barth auf, daß ein Versagen in einer Beziehung das Versagen in allen anderen Beziehungen

48

49 50 51 52 53

"Hinsichtlich seiner (sc. menschlichen) Fähigkeit bzw. Unfähigkeit, als homo sapiens zu leben, sein Sein und Zusammensein auch nur im Blick auf eine gewisse Erträglichkeit, auch nur auf eine gewisse Dauer in Griff zu bekommen, ist er vielmehr wunderbar stationär, in seinem Agieren und Reagieren einen am Göpel im Kreis herum laufenden, höchst unvernünftigen Rindvieh leider gar sehr vergleichbar." Ebd. S. 565. Vgl. ebd. S. 509-531. Vgl. ebd. S. 517 u.ö. Vgl. KD IV/2, S. 453. Vgl. ebd. S. 454ff. Vgl. ebd. S. 559-564.

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zur Konsequenz hat. Aus dem Versagen im Verhältnis zu Gott folgt die Dummheit als Gestalt der Sünde, im Verhältnis zum Mitmenschen die Unmenschlichkeit,54 im Verhältnis zur eigenen Geschöpflichkeit die Verlotterung und im Verhältnis zur eigenen Endlichkeit die Sorge. Dummheit bedeutet primär den Widerstand des Menschen gegen Gott - der Mensch läßt Gott nicht seinen Gott sein. Unmenschlichkeit bedeutet, daß der Mensch dem Menschen nicht Mitmensch ist, sondern auf sich selbst bezogen bleibt. Die Geschöpflichkeit verfehlt der Mensch dadurch, daß er die Einheit von Leib und Seele aufhebt, was zu seiner Verlotterung führt. Das Nicht-Akzeptieren der eigenen Endlichkeit hat den Versuch zur Folge, das Leben selbst voller Angst und Sorge zu meistern, und nicht im Vertrauen auf die gnädige Bewahrung des Menschen im Tod durch Gott. Durch die Trägheit verwirklicht der Mensch seine schöpfungsgegebenen Möglichkeiten nicht, nimmt sie nicht wahr. Von Jesus Christus her können Trägheit und Hochmut als Gestalten der Sünde grundsätzlich erkannt werden. Die Lüge als Gestalt der Sünde tritt erst und immer wieder neu in der existentiellen Begegnung mit dem Evangelium, in der Begegnung mit Jesus Christes zutage.55 "Des Menschen Lüge ... ist des Menschen Unwahrheit in seinem Verhältnis zu der ihm begegnenden Wahrheit Jesu Christi. "56 Durch die Lüge will sich der Mensch der ihm in Jesus Christus begegnenden Wahrheit entziehen, will diese Wahrheit nicht als Wahrheit anerkennen, will sie relativieren. Barth nennt sie deshalb die "spezifisch christliche Gestalt der Sünde"57, denn die Lüge weiß um die Wahrheit und versucht, ihr dennoch "auszuweichen". So akzeptiert die Lüge die Wahrheit in vier Punkten nicht: (1) in ihrer Identität mit der Person Jesu Christi, (2) als Wahrheit des Wortes vom Kreuz, 54

55 56 57

Interessant ist in diesem Zusammenhang Barths Bemerkung zu den Sachzwängen: "Nicht die verschiedenen 'Sachen' und nicht die ihnen zugewandte Sachlichkeit sind ja schon schlimm, sondern der Urmensch in uns, der sich ihrer unter dem Vorwand des Dienstes am Menschen so unheimlich zu bemächtigen und zu bedienen weiß." Ebd. S. 496. Vgl. KD IV/3,1, S. 499-531. Ebd. S. 500. S. ebd. und S. 519ff.

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(3) als den Menschen im Wort Gottes betreffende Wahrheit, (4) als die den Menschen wirklich befreiende Wahrheit. Wichtig ist Barth sowohl bei seiner Darstellung der Sünde als auch des Sünders, daß die Sünde keinen Grund hat. 58 Sie ist eine Tatsache und kann als solche nur beschrieben, nicht erklärt werden. "Sie hat keinen Grund, so gewiß sie eben als solche direkt aus dem Nichtigen stammt und in des Menschen Zuwendung zum Nichtigen besteht."59 c) Die Folgen der Sünde - der Mensch als Sünder Während der Begriff des Hochmuts die Sünde näher bestimmt, charakterisiert der des Falls den Sünder näher unter der Voraussetzung der Einheit von Sünde und Sünder.60 Durch seinen Hochmut fällt der Mensch in die "Tiefe", "nach unten". Der Fall steht bei Barth für das Abwenden des Menschen von Gott. Der Mensch läßt Gott nicht mehr Gott sein und wird darin zum Feind Gottes. "Sondern das macht den Ernst der Situation aus, daß der eine ganze Mensch, den Gott gut geschaffen und den er in seiner guten Geschöpflichkeit erhält, begleitet und regiert, der von ihm dasselbe ist wie am ersten Tag, den er auch als seinen Bundesgenossen zu anerkennen, zu ehren und zu beanspruchen nicht im Geringsten aufhört ... daß dieser ... Mensch als solcher sich von Gott abwendet und nun ist, was er in dieser Abwendung sein muß: verkehrt, schuldig, Gottes Feind, indem er Gott als seinen Feind betrachtet und behandelt, Gegenstand seines Zornes, da er es sich nicht gefallen läßt, Gegenstand seiner Gnade zu sein."61 Dieser Fall ist Ausdruck des menschlichen Ungehorsams gegenüber Gott und zieht den Ungehorsam gegenüber Gottes Gebot nach sich. Im Rahmen seiner Überlegungen zum Fall des Menschen behandelt Barth auch die Problematik der Erbsünde.62 Voraussetzung seiner 58 59 60 61 62

Vgl. KD IV/2, S. 467 und S. 559ff. Ebd. S. 467 und vgl. KD III/3, S. 347. Vgl. KD IV/1, S. 531-573. Ebd. S. 550. Vgl. ebd. S. 557f, 568 u.ö.

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Überlegungen ist die Einsicht, daß der Mensch als Geschöpf Gottes gut geschaffen ist, als Gott entsprechender Mensch, nicht als Sünder.63 Weiter hat die Vorstellung der Erbsünde nach Barth für den Einzelnen eine gewisse Entlastungsfunktion. Er möchte deshalb lieber von "Ursünde" (für peccatum originale) sprechen. "Ursünde" heißt, daß seit Adam alle Menschen außer Christus von Anfang an Sünder und dafür selbst verantwortlich sind. Den klassischen Terminus "status corruptionis" interpretiert Barth mit dem Begriff des Elends als Konsequenz der menschlichen Trägheit. Unter Elend versteht er in letzter Konsequenz "eine Krankheit zum Tode"64. Das Elend besteht darin, daß der Mensch der Sünde seine positiven schöpfungsgemäßen Möglichkeiten nicht ergreift, seine Freiheit als Freiheit in Gott verfehlt. Insbesondere bei seinen Überlegungen zum Elend des Menschen beschäftigt sich Barth mit der Frage nach der Freiheit des Menschen.65 Der Mensch im Elend hat immer nur ein "servum arbitrium"66. Barth hat schon früher festgestellt, daß es für den Menschen keine Freiheit jenseits von Christus gibt67 - erst von Gott her und in der Beziehung zu Gott besitzt der Mensch Freiheit. Das schließt aber nicht aus, daß der sündige Mensch nicht in dem eingeschränkten Sinne eine Freiheit der Wahl hat, daß er zumindest auf den Gebrauch seiner Freiheit verzichten kann. Barth billigt dem Menschen als Möglichkeit den "Nichtgebrauch" seiner Freiheit zu. Dies nicht zu tun, würde nach Barth sonst bedeuten, ihm sein Menschsein abzusprechen. Aber Freiheit ist mehr als ein rein formales Können. Der Mensch als Geschöpf Gottes hat von Gott nicht die Möglichkeit der Freiheit, die Sünde zu wählen, bekommen. Dies ist für Barth undenkbar, da doch die Sünde die "unmögliche Möglichkeit", "absurd" ist. Die wahre Freiheit schließt die Möglichkeit des Sündigenkönnens aus. Der Mensch kann nur sündigen, indem er in seiner Trägheit die Freiheit nicht ergreift. "Es ist das Ergreifen der Möglichkeit, die kei63 64 65 66 67

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

z.B. ebd. S. 398. KD IV/2, S. 449f. ebd. S. 558-564. ebd. S. 558. KD IV/1, S. 454.

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ne ist, die sich nur als Unmöglichkeit charakterisieren läßt."68 Hier liegt allerdings insofern eine Äquivokation in der Verwendung des Freiheitsbegriffs vor, als auch der Nichtgebrauch von Freiheit als ein Element der freien Wahl angesehen wird. Die Neubestimmung des Freiheitsbegriffs enthebt nicht der Problematik, die mit dem Element der Wahl bzw. dem Verzicht auf die Wahl als einem Wahlakt verbunden ist. Hier wird die grundsätzliche Problematik sichtbar, die mit Barths Verhältnisbestimmung von Gottes Handeln und menschlichem Handeln, seiner Konstitutionstheorie der Wirklichkeit gegeben ist. Darauf wird unten noch genauer einzugehen sein. Der Lüge als Gestalt der Sünde korrespondiert die Verdammnis, weil der Mensch die ihm offenbarte Wahrheit nicht annehmen möchte, sie bewußt ablehnt.69 Der Sünder will seine Rechtfertigung, die Vergebung seiner Schuld nicht annehmen. Deshalb droht dem Menschen die Verdammnis. Zugleich aber gilt das Angebot der Gnade. Überhaupt betont Barth bei der Darstellung seiner Sündenlehre immer wieder, daß Gott den Menschen, auch den gefallenen und elenden Menschen, nicht losläßt,70 sondern die Folgen der Sünde, die Tiefe des menschlichen Falls und Elends überwunden hat.

2. Zum Verhältnis von Recht und Sünde Aus zwei Gründen hat die Verhältnisbestimmung von Recht und Sünde für das theologische Verständnis von Recht Relevanz: Erstens wird Recht in der klassischen Tradition als eine Reaktion Gottes auf die Sünde des Menschen verstanden. Weil der Mensch Sünder ist und deshalb auch im Umgang mit anderen sein Menschsein verfehlt, schuldig wird, braucht er den Staat und damit auch das Recht als Ordnung gegen die Sünde. Unter den Bedingungen der Sünde ist Recht ein notwendiges Element der göttlichen Erhaltung und Vorsehung.

68 69 70

Vgl. KD IV/2, S. 560. Vgl. KD IV/3,1, S. 531-551. Vgl. z.B. KD IV/1, S. 534.

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Zweitens ist das Verhältnis von Recht und Sünde theologisch relevant, weil die materiale Gestaltung des Rechtes, nicht nur in der Theologie, von der Anthropologie abhängig ist. Und innerhalb der Anthropologie spielt theologisch gesehen das Sündenverständnis eine entscheidende Rolle, nicht zuletzt im Hinblick auf das Strafrecht. Ob das jeweilige Rechtssystem eine "gute Lebensordnung" oder mehr eine "Zwangs- bzw. Strafordnung" ist, darüber entscheidet theologisch die Gewichtung der Sündenlehre innerhalb der Anthropologie. Deshalb ist neu zu untersuchen, wie Barth diese Verhältnisbestimmung vollzieht. Kennzeichnend für Barth in seiner gesamten Anthropologie ist, daß er diese von der Christologie her entwirft: In Christus wird positiv sichtbar, wie wahres Menschsein zu verstehen ist, welche Gestalt das Menschsein von Gott her hat.71 Davon hebt sich negativ die Verfehlung dieses wahren Menschseins durch den Menschen selbst ab. Dennoch ist Menschsein in erster Linie durch das positive Verständnis als Geschöpf Gottes geprägt, wie es in dem wahren Menschen Jesus Christus zur Verwirklichung kommt:72 "Daß der wirkliche Mensch von Gott zum Leben mit Gott bestimmt ist, hat seine unangreifbare Entsprechung darin, daß sein geschöpfliches Sein ein Sein in der Begegnung ist: zwischen Ich und Du, zwischen Mann und Frau. Und in dieser Begegnung ist es menschlich, und in dieser seiner Menschlichkeit ist es das Gleichnis des Seins seines Schöpfers und ein Sein in der Hoffnung auf ihn."73 Die Darstellung der Sünde in der Versöhnungslehre ist sehr deutlich und scharf: Der Mensch ist der Mensch der Sünde. Die Auswirkungen und Folgen der Sünde entfaltet Barth immer relational: in der Selbstbeziehung des Sünders, in seiner Beziehung zu anderen Menschen und zu Gott.74 Barth weiß um das ambivalente Wirksamwerden der Sünde, ihre Verdecktheit unter dem Guten bzw. in ihm.

71 72 73 74

Vgl. KD III/2, S. 50. Vgl. KD III/2. Ebd. S. 242. Vgl. F. Mildenberger, a.a.O., S. 232f.

Recht und Sünde

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Dieses Gute, in das sich die Sünde verkleiden kann, können auch Recht und Staat sein.75 Die nach Barth erkenntnistheoretisch unumgängliche und sachlich gebotene Trennung von Anthropologie und Sündenlehre macht es schwierig zu erfassen, wie jeweils die Aussagen zur Anthropologie und zum Sündenverständnis in seinem Rechtsverständnis zur Geltung kommen. Anthropologisch denkt Barth immer von zwei verschiedenen Seiten her, ohne sich letztlich um eine differenzierte Inbeziehungsetzung zu bemühen: Einerseits ist der Mensch, weil er Geschöpf Gottes und als solcher von Gott gut geschaffen ist, primär von der Verwirklichung des wahren Menschseins in Jesus Christus her zu verstehen; andererseits ist aber dieser Mensch de facto immer Sünder ("Ursünde"), ohne daß dieses Sündersein erklärt oder begründet werden kann und darf, - es kann nur in seiner Faktizität als unbegründeter "Zwischenfall" konstatiert werden. Es kann weiter nur im Rahmen der Versöhnungslehre erkannt werden. Diese beiden Zugänge zum Verständnis des Menschseins werden von Barth nicht direkt miteinander vermittelt, so daß in seiner Dogmatik einerseits eine sehr positive Sicht des Menschen und eine deutlich negative nebeneinander bestehen. Eine gewisse Vermittlung ergibt sich dadurch, daß sowohl in der Anthropologie als auch in der Sündenlehre Jesus Christus Grund und Mitte ist. In der Lehre von Gottes Gnadenwahl entfaltet Barth, daß die Gnade Anfang und Ziel aller Wege Gottes ist und Gott nicht hinreichend verstanden werden kann ohne seine Gemeinschaft mit den Menschen. In Jesus Christus werden der erwählende Gott und der erwählte Mensch anschaubar und darin das Menschsein, das dem Nichtigen, dem Urteil über die Sünde entrissen ist und so Gegenwart und Zukunft in Gott hat. Damit ist aber nicht die Frage - zumindest noch nicht hinreichend - beantwortet, wie mit der bestehenden faktischen Macht der Sünde umzugehen, wie diese in der Ethik und in den Aussagen zum Recht zu berücksichtigen ist. Es ist für das Recht zu fragen, ob Barth sich mehr am Menschenbild des wahren Menschen Jesus Christus oder dem faktischen Menschen der Sünde orientiert.

75

Vgl. KD IV/2, S. 495.

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Recht der Gnade

Es wird zu zeigen sein, daß die Doppelgleisigkeit, in der er Aussagen zum Menschen und zum Menschen als Sünder formuliert, auch sein Rechtsverständnis prägt. Einmal will er von seiner christologischen Begründung des Rechts her76 das Recht streng sowohl formal als auch material christologisch denken - zugleich wird die Notwendigkeit von Recht mit der Sünde begründet.77 So kommt es zu einer doppelten Begründung des Rechts: Von der Christologie bzw. von der Versöhnungslehre und von der Sündenlehre her, die für das Rechtsverständnis, anders als in der Versöhnungslehre, eine begründende Funktion erhält. So begründet er einerseits in seiner Ethik von 1928/29 die Notwendigkeit und Gestalt von Recht mit der Sünde78: "Gerade das, was für den Begriff des Rechtes das Bezeichnende ist: seine Aufrichtung in Form von öffentlicher Gesetzgebung und seine Aufrechterhaltung in Form von öffentlicher Strafgewalt, kann nur dann sinnvoll sein, wenn der Mensch eben ein Sünder ist, vor dem die anderen Menschen geschützt werden müssen, dem die Kompetenz, in seinem Zusammenleben mit anderen seine eigene Lebensordnung zum Diktat zu erheben, dem das Recht zu einer schrankenlosen Entfaltung seiner ihm eigentümlichen Lebensbetätigung grundsätzlich abgesprochen werden, dem dabei mindestens eine Anzahl schwerster und eingreifendster Vorbehalte mit auf den Weg gegeben werden müssen."79 Beim Recht verfährt er somit anders als bei der Sünde, wo er die Versöhnung um der Freiheit Gottes und seiner Gnade willen nicht als Reaktion auf die menschliche Sünde denkt. Andererseits wird auch das Recht streng christologisch begründet und gedacht: Es erhält seine Funktion und Aufgabenbestimmung von der Versöhnung her. "Der Begriff des Rechtes fällt ... unter den Begriff der Versöh-

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78 79

S. S. 231-235. Vgl. K. Barth, Rechtfertigung und Recht. Christengemeinde und Bürgergemeinde, S. 53f., 61, 64,68 und KD IV/2, S. 491f., 540. In den genannten KD-Stellen beschreibt Barth die Folgen der Sünde, wie Raub, Mord etc., woraus sich implizit die Notwendigkeit von Recht zur Verhinderung oder Begrenzung dieser Folgen ergibt. Vgl. Ders., Ethik II, S. 212-237. Ebd. S. 216, vgl. S. 221.

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nung, des Reiches Christi unter den Sündern."80 In diesen frühen Überlegungen Barths in der Ethik kommt dieser Versuch, das Recht einerseits von der Sünde her zu begründen und dann andererseits in der Versöhnungslehre zu verankern, bereits zum Tragen. Da bei Barth innerhalb der Versöhnungslehre das Recht aus der Rechtfertigung abgeleitet wird, ist zu fragen, ob er in dieser Bestimmung des Rechts Unterschiede zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden macht. Es ist zu prüfen, inwiefern dieses Recht aus Rechtfertigung für alle Menschen gilt, und inwiefern es für die Glaubenden gilt, die existentiell teilhaben an dem im Versöhnungsgeschehen begründeten Sein in Jesus Christus. Der Christ als gerechtfertigter und damit auch als geheiligter Mensch stellt ja noch einmal einen "Spezialfall" des Menschseins dar, - das ihm entsprechende und vom weltlichen Recht unterschiedene Recht ist deshalb das Kirchenrecht. Grundsätzlich trennt Barth zwischen weltlichem Recht und Kirchenrecht und nimmt damit die Unterscheidung von Schöpfung, Versöhnung und Heiligung ernst. Zugleich will er, nicht zuletzt in der Anthropologie, Schöpfung, Versöhnung und Heiligung eng zusammendenken, auch im Blick auf das weltliche Recht. Wie bringt Barth hier zur Geltung, daß der Mensch, der Bürger, nicht immer Christ ist und auch als Christ simul justus et peccator? Oder denkt er auch für das weltliche Recht den Menschen sowohl vom wahren Menschsein in Christus, also von seinen ihm als Geschöpf gegebenen Möglichkeiten her, oder als Sünder, also von der ständigen Verfehlung dieser Möglichkeiten her? Darauf wird in den weiteren Erörterungen zu achten sein. 3. Konkretion: Strafrecht Gegen die klassische Sühnetheorie des Strafrechts, wie sie in der Mitte des 20. Jahrhunderts vorherrschend war (P. Althaus, W. Eiert, H. Thielicke u.a.), und die auf alttestamentliche Vorstellungen, verbunden mit dem römischen Strafrecht, sowie auf A. v. Canterbury zuEbd. S. 212. Zum Verständnis des Rechts in der Ethik von 1928/1929 vgl. H.-R. Reuter, Rechtsbegriffe in der neueren evangelischen Theologie, a.a.O., S. 202208.

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Recht der Gnade

rückgeht,81 setzt Barth seine Theorie von der Strafe als Fürsorgemaßnahme.82 Ein erster Vertreter dieser Linie ist übrigens - auf gleiche Weise wie Barth argumentierend - F. Schleiermacher: Es gibt für Christen "... zur Besserung keine Strafe und zum Freiwerden von Schuld keine Wiedervergeltung, da wir beides durch unser Verhältnis zum Erlöser haben"83. Wie Schleiermacher geht Barth vom Versöhnungsgeschehen aus für das Verständnis von Strafe, wobei aber der Ort innerhalb der Dogmatik die Schöpfungslehre, und dort speziell die Ethik, ist. Barth kommt zu Aussagen über Strafe, speziell über die Frage der Todesstrafe, im Zusammenhang der Überlegungen zum Leben als Gabe Gottes, dem das Gebot zum Schutz des Lebens als dieser Gabe Entsprechendes korrespondiert. Ein Verständnis von Leben läßt sich nur von Jesus Christus her begründen. Deshalb ist Leben immer geschenktes Leben, über das der Mensch keine absolute Selbstverfügung hat. Zum Schutz des Lebens und im Sinne der Fürsorge für die zu einer Gesellschaft gehörenden Menschen kann und muß der Staat die Strafe als "Zwangsmaßnahme" gegen den Täter verhängen.84 Das von Gott gegen die Sünde aufgerichtete Recht muß ebenfalls um seiner Schutz- und Ordnungsfunktion willen geschützt werden:85 "Sinn und Ziel der Strafe als einer menschlichen Fürsorgemaßnahme, ... ist eine ernste Proklamation der Hoheit des Staates."86 So bejaht Barth die Strafe als Fürsorgemaßnahme, lehnt aber ein Schuldstrafrecht ab. Vom Versöhnungsgeschehen ausgehend kommt Barth zu einer Ablehnung des Schuldstrafrechtes, weil zum einen der menschliche Urteilsspruch ein begrenzter ist und auch fehlbar sein kann; zum an81

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Vgl. dazu Strafe: Tor zur Versöhnung? Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, S. 66-72 und H.-R. Reuter, Recht und Strafe. In: ZEE 31, 1987, S. 372-381. Vgl. KD III/4, S. 499-515 und Ders., Antworten auf Grundsatzfragen der Gefangenenseelsorge. In: Strafvollzug, hg. von U. Kleinen, S. 46-52. Vgl. dazu H. Gollwitzer, Kommentar und Kritik zu Karl Barths Äußerungen über Gefangenenseelsorge. In: Strafvollzug, hg. von U. Kleinert, S. 53-67. F. Schleiermacher, Die christliche Sitte, Werke 1,112, S. 98. Vgl. K. Barth, Antworten auf Grundsatzfragen der Gefangenenseelsorge, a.a.O., S. 47f. Vgl. KD III/4, S. 501. Ders., Antworten auf Grundsatzfragen der Gefangenenseelsorge, a.a.O., S. 48.

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deren, weil Gottes "vergeltende" Gerechtigkeit durch den Tod Jesu Christi überwunden ist.87 Vom ein für allemal geschehenen Sühnetod Christi für alle Menschen her ist der Sühnegedanke abzulehnen. Strafe nicht als Sühne, sondern als Fürsorgemaßnahme bezieht sich auf die Fürsorge für die Gesellschaft und zugleich auf die Fürsorge für den Täter. Dem Täter soll durch die Strafe die Wiedereingliederung in die Gesellschaft ermöglicht werden. Die gesellschaftliche Mitschuld bei Straftaten wird von Barth gesehen, und er verweist deshalb auf die gesellschaftliche Verantwortung für Strafe und Strafvollzug. Weil Gott in seiner Gnadenwahl die Errettung aller beschlossen hat, ist gerade auch dem Straftäter das Evangelium von der Gnade Gottes zu sagen.88 Strafe hat somit für Barth eine spezialpräventive Funktion im Sinne von Schutz des Lebens - eine Generalprävention lehnt er entschieden ab.89 Weil erstens für Barth das Leben grundsätzlich zu schützen ist, auch das des Täters,90 und zweitens die Vergebung Christi allen Menschen, auch dem Täter, gilt, lehnt Barth die Todesstrafe deutlich ab. Nur im Ausnahmefall des Landesverrats hält Barth zunächst die Todesstrafe unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges für zulässig,91 lehnt sie aber später entschieden ab.92 Barth entwickelt sein Verständnis hier in der aufgezeigten Linie der Anthropologie weiter. Zum einen: Vom wahren Menschsein Christi her ist der Schutz des Lebens, auch des Täters als Sünder (!), primär; zum anderen: Von der in Christus geschehenen Sühne und der allen Menschen geltenden Gnadenwahl Gottes her kann Strafe nur Fürsorgemaßnahme sein. Es zeigt sich also bei Barth, daß er einerseits aufgrund des Wissens um die Sünde und um der Schutzbedürftigkeit des Lebens willen 87 88

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Vgl. KD III/4, S. 505f. Vgl. Ders., Antworten auf Grundsatzfragen der Gefangenenseelsorge, a.a.O., S. 47. Vgl. KD III/4, S. 509. Die einzige Ausnahme vom Gebot des Schutzes des Lebens ist der Tyrannenmord, vgl. ebd. S. 513f. Vgl. ebd. S. 512f. Vgl. Ders., Antworten auf Grundsatzfragen der Gefangenenseelsorge, a.a.O., S. 49f.

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Recht der Gnade

auf Zwangs- und darin Strafmaßnahmen nicht verzichten kann, daß er aber die inhaltliche Näherbestimmung dieser Zwangsmaßnahmen vom Versöhnungsgeschehen her vornimmt. Darum soll Strafe nicht Sühneleistung oder Vergeltung angesichts von Schuld sein, sondern Fürsorgemaßnahme. Hier zeigt sich im Ansatz ein Argumentationsmodell bei Barth, das auch seine weiteren Ausführungen zum Recht bestimmt. In spezifischer Weise nimmt Barth hier die Begründungen von Recht und Strafrecht auf, die in der Unterscheidung und Zuordnung der beiden Reiche und Regimente vorgegeben sind, ohne das genauer auf den Begriff zu bringen.

§ 3 Evangelium und Gesetz

"Evangelium und Gesetz" und "Königsherrschaft Christi" sind die dogmatischen Themen, die den Überschritt zur Ethik eröffnen und bei Barth dann auch vollziehen. Die in diesem und im folgenden Paragraphen dargestellten Ausführungen Barths sind grundlegend für seine Verhältnisbestimmung von Dogmatik und Ethik. Zugleich werden in diesen konstitutiven Elementen der Dogmatik der Ort und die Funktion von Recht festgelegt. Es soll nun versucht werden zu zeigen, was es für das Recht bedeutet, hier dogmatisch seinen Ort zu haben, von dem her sich dann auch die Funktion von Recht ergibt, einen Ort, an dem die Dogmatik sich auf die Ethik hin öffnet. Darüber hinaus muß hier gefragt werden, was das Recht für die Verhältnisbestimmung von Dogmatik und Ethik leisten kann. Die Aussagen Barths zu "Evangelium und Gesetz" und zur "Königsherschaft Christi" sind aber auch diejenigen, die geschichtlich gerade durch die Bekennende Kirche am meisten bewirkten und um die sehr intensiv und nachhaltig gestritten wurde.

Evangelium und Gesetz

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1. Das Verhältnis von Evangelium und Gesetz a) Dogmatische Voraussetzungen Von Anfang seiner theologischen Wirksamkeit an hat Barth dieses Thema immer wieder behandelt, ohne konsequent die Terminologie "Evangelium und Gesetz" zu verwenden.93 Bei Barth steht im Unterschied zu Luther nicht die Rechtfertigungslehre und von ihr her die Frage von Gesetz und Evangelium bzw. Evangelium und Gesetz im Mittelpunkt seiner Theologie. Er ist der zentralen Stellung der Rechtfertigungslehre in der Theologie Luthers und in der weiteren reformatorischen Theologie gegenüber distanziert. Für ihn ist das Zentrum seiner Theologie die Offenbarung Gottes in Jesus Christus, und er integriert die Rechtfertigungslehre in die umfassendere Versöhnungslehre.94 Dort bildet die als Soteriologie entfaltete Christologie den Schwerpunkt.95 So findet sich in der KD kein Paragraph oder Abschnitt mit der Überschrift "Evangelium und Gesetz": Karl Barth zieht den Begriff der "Versöhnung", der "Verheißung" oder der "Gnade" dem Begriff "Evangelium" vor; den des "Gebotes", "Gerichtes" oder der "Verdammnis" dem des "Gesetzes". Der Sache nach behandelt er aber die damit verbundene Fragestellung immer wieder, vor allem in KD II/2. Von "Evangelium" spricht er pointiert im Rahmen

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Vgl. dazu insbesondere Ders., Evangelium und Gesetz. Jetzt in: Gesetz und Evangelium, hg. von E. Kinder und K. Haendler, S. 1-29; Ders., Die christliche Dogmatik im Entwurf. I, S. 424-428; Ders., Ethik I (1928), S. 81-101,150ff. u.ö. Aus der Fülle der Sekundärliteratur seien hier genannt die Beiträge in dem Sammelband Gesetz und Evangelium, hg. von E. Kinder und K. Haendler (insb. die Beiträge von H.J. Iwand, H. Gollwitzer, E. Wolf und P. Althaus); F. Mildenberger, a.a.O., S. 235-238; A. Peters, Gesetz und Evangelium, S. 105-144; W. Dantine, Der Welt-Bezug des Glaubens. Jetzt in: Ders., Recht aus Rechtfertigung, S. 143-188; E. Jüngel, Evangelium und Gesetz. Zugleich zum Verhältnis von Dogmatik und Ethik. In: Ders., Barth-Studien, S. 180-209 und W. Joest, Karl Barth und das lutherische Verständnis von Gesetz und Evangelium. In: KuD 24, 1978, S. 86-103. Vgl. KD IV/1, S. 573-718. Vgl. KD IV/1 - IV/3.

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der Prädestinationslehre.96 Inhaltlich wird sowohl in den beiden Bänden der Ethik als auch in der KD das Thema "Evangelium und Gesetz" bei Barth unter dem Terminus "Gebot" behandelt. Dies geschieht ausschließlich im Kontext der Ethik innerhalb der Dogmatik.97 Da bei ihm die Ethik als Frage nach dem menschlichen Handeln immer aus dem Sein und Handeln Gottes erwächst, immer Gottes Gebot an den Menschen ist, ergibt sich hieraus schon die Reihenfolge erst Evangelium, dann Gesetz: Gottes Offenbarung in Jesus Christus ist das Erste, Evangelium, aus dem sich das Zweite, Gesetz, ergibt. Damit lehnt er auch von Aufbau und Durchführung her die bei Luther vertretene Lehre vom usus politicus legis ab.98 Luther geht davon aus, daß Gott mit dem usus politicus die Welt regieren und sie vor dem Chaos bewahren will. Dieses Gesetz in Form der zweiten Tafel des Dekalogs99 und des jeweiligen positiven Rechts ist für alle Menschen erkenn- und einsehbar, es ist allen Menschen, auch den Heiden, ins Herz geschrieben.100 Einen solchen, für alle Menschen erkennbaren Willen Gottes lehnt Barth scharf ab. Dies kommt für ihn einer "natürlichen Theologie" gleich. Die bei Luther mit dem usus elenchticus101 verbundene Erkenntnis der Sünde durch

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Vgl. KD II/2, so bereits in der Einleitungsthese zu § 32. Sehr genau hat A. Peters, a.a.O., insb. S. 110 und 115-122 den Sprachgebrauch Barths im Blick auf "Evangelium und Gesetz" untersucht. Vgl. KD 1/2, S. 397-504; KD II/2, S. 564-875; KD III/4, S. 1-20 und Ders., Das christliche Leben, S. 1-73. Anstatt vom "usus politicus" kann Luther auch vom "usus civilis" oder "primus usus" sprechen. Zu den beiden Funktionen des Gesetzes vgl. M. Luther, Kommentar zum Galaterbrief. 1519, WA 2, S. 451-618; Ders., Galatervorlesung. 1531 (1535), WA 40 I und Ders., Zweite Disputation wider die Antinomer. 1538, WA 39 I, S. 419-485. Die zweite Tafel des Dekalogs sieht Luther unter Aufnahme der scholastischen Tradition als identisch mit dem Sittengesetz an. Unter "Sittengesetz" bei Luther kann durchaus die Vorstellung von einem Naturrecht verstanden werden. Eine ausführliche Darstellung des Naturrechtsgedankens bei Luther bietet J. Heckel, Lex charitatis, S. 68-93,99-174 u.ö. Luther spricht auch von "secundus usus" oder "praecipuus usus" oder "usus theologicus legis".

Evangelium und Gesetz

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das Gesetz102 lehnt Barth ebenfalls deutlich ab103 - deshalb geht in der KD die Christologie der Hamartologie voraus: Erst und allein von Christus her kann die Sünde erkannt und aufgedeckt werden. Auch hier ist das Evangelium primär, das Gericht über die Sünde durch das Gesetz sekundär.104 Eine Erkenntnis der Sünde durch das "Gesetz" jenseits von Christus, und nicht vom in Jesus Christus offenbarten Gott her, würde nach Barth eine "Aufspaltung der Erkenntnis und des Wortes Gottes"105 und letztlich eine Aufhebung der Einheit Gottes, die Schaffung eines "abstrakten Gottes" bedeuten.106 "Und der eine Gott, sein eines Werk und Wort heißt ... Jesus Christus ... Gottes Aufteilung in einen Gott in und außer Christus ist nicht durchführbar."107 Diese theologischen Überlegungen Barths, die den Rahmen und die Grundlegung für sein Verständnis von Evangelium und Gesetz abgeben, sind, wie die Luthers zu Gesetz und Evangelium, von existentiellen Erfahrungen und der jeweiligen Zeitsituation geprägt. Barth steht in einer Frontstellung gegenüber einer "natürlichen Theologie" oder einer "Bindestrich-Theologie"108, die ihm zum einen infolge des Ersten Weltkrieges gerade in ihren ethischen Konsequenzen fragwürdig geworden ist. Zum anderen sieht er auch im Luthertum des 19. und 20. Jahrhunderts eine Variante der "natürlichen Theologie", die im Dritten Reich und im Zweiten Weltkrieg zudem fatale ethische Konsequenzen hatte.109 Der Aufsatz "Evangelium und Gesetz" ist für einen Vortrag im Oktober 1935 in Barmen geschrie102

Der usus elenchticus hat die Aufgabe, den Menschen seines Sünderseins zu überführen, indem er ihm seine Übertretungen gegenüber dem Willen Gottes aufdeckt und ihm darin sein Sündersein bewußt macht. 103 Vgl. KD IV/1, S. 397-413. 104 Vgl. dazu E. Jüngel, a.a.O., S. 191-195. 105 S. KD IV/1, S. 400. 106 S. ebd. S. 401. 107 Ebd. 108 Seine Gründe für eine Ablehnung von natürlicher Theologie hat er in der Auseinandersetzung mit E. Brunner klargestellt, vgl. K. Barth, "Nein!" - Antwort an Emil Brunner. Jetzt in: "Dialektische Theologie" in Scheidung und Bewährung, hg. von W. Fürst, S. 208-258. 109 Yg[ insbesondere den verhängnisvollen "Ansbacher Ratschlag zur Barmer Theologischen Erklärung". Abgedruckt in: Die Bekenntnisse und grundsätzlichen Äußerungen zur Kirchenfrage, hg. von K.D. Schmidt, Bd. II, S. 102-104.

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ben worden, und die bereits 1934 verabschiedete Banner Theologische Erklärung ist von den dort formulierten Thesen schon geprägt.110 Die Äußerungen namhafter lutherischer Theologen zu Rasse, Volk und Führer als Schöpfungsordnungen gilt es für Barth als natürliche Theologie abzuwehren. Den Ursprung der lutherischen Rede von den Schöpfungsordnungen sieht er zurecht in der lutherischen Verhältnisbestimmung von Gesetz und Evangelium. Hier ist für ihn die Möglichkeit einer natürlichen Offenbarung Gottes im Gesetz und in den Schöpfungsordnungen gegeben, die der Offenbarung Gottes im Evangelium vorausgeht. Demgegenüber betont Barth, daß es nur ein Wort Gottes gibt: Jesus Christus, in dem die Einheit von Evangelium und Gesetz begründet ist: "... wir müssen es wieder lernen, die Offenbarung als Gnade und die Gnade als Offenbarung zu verstehen und uns damit von aller 'rechten' oder 'unrechten' theologia naturalis in immer neuer Entscheidung und Bekehrung entschlossen abzuwenden."111 Diese Zurückführung von Evangelium und Gesetz auf Jesus Christus allein bedeutet aber nicht die Aufhebung der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Das Evangelium ist nicht das Gesetz und umgekehrt. b) Was ist Evangelium - was ist Gesetz? "Wer zu unserem Thema recht reden will, der muß zuerst vom Evangelium reden."112 Die Gnade Gottes, die in Jesus Christus zur Vollendung kommt, indem Gott in Christus Mensch wurde, für sich selbst das Gericht und für die Menschen das Heil erwählt, ist Inhalt des Evangeliums. Die Unverfügbarkeit und der Geschenkcharakter der Gnade Gottes werden hervorgehoben. Dadurch, daß Gott das Gericht für die Menschen auf sich genommen hat, bekommt Gott recht.113 HO Vgl. Barmer Theologische Erklärung. Abgedruckt in: Die Bekenntnisse und grundsätzlichen Äußerungen zur Kirchenfrage, hg. von K.D. Schmidt, Bd. II, S. 91-98. 111 K. Barth, "Nein!" - Antwort an Emil Brunner, a.a.O., S. 211. 112 Ders., Evangelium und Gesetz, a.a.O., S. 1. 113 "Das aber ist der Gnade eigentliches Werk, daß sein ewiges Wort - indem es Fleisch wurde, indem es im Fleische Gehorsam bewährte, indem es in diesem

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Das Evangelium besteht deshalb gerade darin, daß Gott durch seine Menschwerdung und durch das Aufsichnehmen des Gerichtes für die Menschen gerade die Menschen, die in die Macht der Sünde verstrickt sind, bejaht. Jesus Christus als das eine Wort Gottes bildet somit den alleinigen Inhalt des Evangeliums. Der Mensch erfährt aus der Predigt des Evangeliums den Zuspruch der Gnade Gottes und ebenso den Anspruch des Willens Gottes, der vom Zuspruch umschlossen, aber nicht durch ihn aufgehoben ist. Die Rechtfertigung des Sünders bedeutet die Anerkennung des Willens Gottes. Jesus Christus als der Inhalt des Evangeliums hat das Gesetz erfüllt. Dies wird sowohl zum Ausgangspunkt als zum Kriterium für die Definition des Gesetzes. Der Zuspruch der Gnade durch das Evangelium begegnet dem Menschen als befreiender und gehorsame Antwort fordernder Anspruch und damit als Gesetz. Auf diese Weise wird das Gesetz zur "notwendigen Form" des Evangeliums. "... das Gesetz ist nichts anderes als die notwendige Form des Evangeliums, dessen Inhalt die Gnade ist. Gerade dieser Inhalt erzwingt diese Form ... die gesetzliche Form."114 Das Gesetz offenbart den Willen Gottes. Von daher sieht Barth das Gesetz im Evangelium begründet und verankert, denn in dem Moment, wo das Evangelium dem Menschen offenbar und verkündigt wird, wird es für ihn zum Gesetz. Der Weg führt deshalb nach Barth immer vom Evangelium zum Gesetz, nie umgekehrt.115 In der Wirklichkeit der Sünde aber wird das Gesetz Gottes zum Gesetz der Sünde und des Todes. Die Sünde betrügt den Menschen um das (gute) Gesetz und mit dem Gesetz. So wird das Gesetz zum "Vollstrecker des göttlichen Zorns" (Rom 4,15). Der usus elenchticus legis wird hier dem Evangelium und dem Gesetz zugeordnet.116 "Wo ihm Gottes Gnade widerfährt, da wird seine Sünde

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115 116

Gehorsam die Strafe litt und also starb - es übernommen hat, an unserer Stelle die rettende Antwort zu geben, die menschliche Eigenmächtigkeit und Gottlosigkeit preiszugeben, das Bekenntnis der menschlichen Verlorenheit abzulegen, Gott gegen uns recht zu geben und also die Gnade Gottes anzunehmen." Ebd. S. 4. Ebd. S. 9. E. Jüngel weist zurecht auf das logische Problem dieser Definition hin. Vgl. Ders., Evangelium und Gesetz, a.a.O., S. 195. Vgl. KD 1/2, S. 484. Vgl. Ders., Evangelium und Gesetz, a.a.O., S. 13f.

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und daß er der Mensch der Sünde ist, offenbar. Wo sein Heil vollbracht ist, da wird das Unheil, dem er dadurch entrissen ist, unübersehbar und unwidersprechlich. Es ist das von keinem Menschen ersonnene, entworfene und konstituierte, sondern allen Menschen ... dann gerade nur als Gottes freie Offenbarung begegnende Evangelium - es ganz allein - das Gesetz, in dessen Erkenntnis der Mensch sich als angeklagt, verurteilt, verdammt finden wird."117 Vor dem Gesetz versuchen sich die Menschen zu rechtfertigen.118 Da der Mensch sich vor dem Gesetz nicht rechtfertigen kann, sondern zwangsläufig scheitert, wird das Gesetz dem Menschen zum richtenden und tötenden Gesetz.119 Das Gesetz, das ursprünglich Gabe Gottes für ein gelingendes Leben war, vom Menschen aber zur Selbstrechtfertigung mißbraucht wurde, wird durch das Evangelium wieder als eine Leben ermöglichende Größe hergestellt und tritt dem Menschen nicht mehr als Imperativ, sondern als futurischer Indikativ gegenüber ("Du wirst sein!").120 "Du wirst", das ist ein "sanftes Joch".121 Dabei muß das Gesetz von Jesus Christus her, der das Gesetz erfüllt hat, neu interpretiert werden. Glauben an Christus bedeutet Kreuzesnachfolge und Gehorsam gegenüber dem Gesetz, ein Halten und Erfüllen aller Gebote im Glauben. Die Aussagen über das Gesetz im Zusammenhang mit einem neuen Gehorsam und der Heiligung lassen die Frage aufkommen, ob Barth der Sache nach so etwas wie einen tertius usus legis vertritt.122 Um der Einheit des göttlichen Seins und um der Einheit seines Handelns willen rechnet Barth so das Gesetz dem Evangelium zu. Auch das vom Sünder mißbrauchte, "entehrte" und "entleerte" Gesetz bleibt Gottes gutes Gesetz. Es ist Gottes gnädiger Anspruch an uns. 117

KD IV/2, S. 426. 118 vgl. Ders., Evangelium und Gesetz, a.a.O., S. 17f. 119 Vgl. KD II/2, S. 819-875: § 39 "Das Gebot als Gottes Gericht". 120 "Daß das Gebot Gottes auf alle Fälle das Gebot Jesu Christi und also das Gesetz des Evangeliums die Gestalt der Gnade ist, das ist das Merkmal, durch das es von anderen ... Imperativen zu unterscheiden ist." Ders., Das christliche Leben, S. 55. 121 Vgl. KD 1/2, S. 424f. 122 So W. Dantine, a.a.O., S. 167 oder E. Schlink, Gesetz und Paraklese. Jetzt in: Gesetz und Evangelium, hg. von E. Kinder und K. Haendler, S. 257.

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Dabei kommt es aber bei Barth zu einer Unklarheit und Äquivokation in der Verwendung des Begriffes "Evangelium". Nach Barth ist das Evangelium seinem Inhalt nach Gnade, seiner Form nach Gesetz. Es bleibt dann zu fragen, wenn üblicherweise Form und Inhalt von einem Begriff ausgesagt werden, warum er a) keinen Inhalt des Gesetzes bestimmt und b) keine dem Evangelium als Zuspruch entsprechende Form nennt, die die Einführung des Evangeliums überhaupt verständlich werden und Barth von Gesetz und Gnade sprechen läßt. Streng logisch ergibt sich bei Barth die Gleichung: Der Inhalt des Evangeliums ist die Gnade, seine Form ist das Gesetz. Oder anders ausgedrückt: Evangelium ist Gnade in Form des Gesetzes. Barth kann aber auch formulieren, daß das eine Wort Gottes seinem Inhalt nach Evangelium, seiner Form und Gestalt nach Gesetz ist.123 Dabei kommt es nicht auf die sprachlichen Ungenauigkeiten als solche an. Es ist aber zu vermuten, daß sich dahinter sachliche Unklarheiten verbergen. Dies wird bei Barths Aussagen zum Recht noch zu zeigen sein. c) Die Zuordnung von Evangelium und Gesetz und ihre Unterscheidung Geht es bei Luther um die richtige Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, liegt bei Barth die Betonung auf ihrer Zuordnung 124 aufgrund seiner These, daß es nur ein Wort Gottes gibt.125 "Das Wort Gottes ist eines: In der Inanspruchnahme vollzieht sich die Zuwen123

Vgl. KD II/2, S. 567. E. Jüngel, a.a.O., S. 187 weist zu Recht darauf hin, daß es bei Barth um die Zuordnung des Gesetzes zum Evangelium und nicht des Evangeliums zum Gesetz geht. 125 vgl. auch die zweite These der Barmer Theologischen Erklärung, a.a.O., S. 93f. Die Konzentration und der Ausgangspunkt bei der Lehre vom Wort Gottes bei Barth ist nach HJ. Iwand "... eine Lehre vom Worte Gottes jenseits des Gegensatzes von Gesetz und Evangelium, nicht so als ob dieser Gegensatz ... nicht gesehen, bzw. nicht anerkannt wäre, aber das Wort Gottes ist in seiner Wirklichkeit d.h. in seinem Wesen nicht von diesem Gegensatz her dargestellt und gelehrt, sondern Barth versucht hinter diesem Gegensatz auf das zurückzugehen, worin sie beide eins sind, denn Gesetz und Evangelium sind ja in gleicher Weise Gottes Wort." Ders., Jenseits von Gesetz und Evangelium. In: Ders., Um den rechten Glauben, S. 100. 124

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dung, und die Zuwendung geschieht nicht ohne Inanspruchnahme. Indem der Mensch wirklich und ernstlich unter das Gesetz getan wird, kommt es zum Evangelium, und indem er durch Offenbarung und Glauben zum Evangelium kommt, wird er wirklich und ernstlich unter das Gesetz getan. Gottes Zorn und Gericht ist nur die harte Schale, das opus alienum der göttlichen Gnade, aber gerade wer um Gnade, um das opus Dei proprium weiß, der und nur der weiß, was Gottes Zorn und Gericht ist."126 Die Zuordnung erfolgt auch in der Weise, daß die Gnade der "Inhalt" und das Gesetz die "Form" oder "Gestalt" des Evangeliums ist.127 Das Gesetz wird vom Evangelium umschlossen, so daß es kein Gesetz losgelöst vom Evangelium gibt. Das Gesetz ist bei Barth keine eigenständige theologische Größe mehr. Die theologische Funktion des Gesetzes ist im Tod Jesu Christi endgültig erfüllt.128 Gesetz und Evangelium werden durch die Reihenfolge Sünde und Gerechtigkeit, Tod und Leben einander zugeordnet. Parallel zu dieser Zuordnung liegt die von Imperativ und Indikativ.129 Das Evangelium erst ermöglicht eine Unterscheidung von Evangelium und Gesetz, und diese Unterscheidung möchte Barth keineswegs aufheben130 - hatte doch Luther formuliert: "Qui igitus bene novit discernere Evangelium a lege, is gratias agat Deo et sciat se esse Theologum."131 Aufgrund der engen Zuordnung liegt der Unterschied zwischen Evangelium und Gesetz zum einen in der Form, nicht aber im Inhalt begründet. Das Evangelium begegnet als Zuspruch, und das Gesetz als Anspruch. Zum anderen unterscheiden sich beide in ihren Wirkungsweisen: Das Evangelium wirkt Leben, das Gesetz den Tod. Das Evangelium ist insofern Evangelium, als das vom Gesetz her ursprünglich zu vollziehende Gericht Gottes zur Gnade wird. Das Gesetz aber bedeutet bleibend den Tod des Sünders. 126

KD I / l , S. 186/187. Vgl. KD II/2, S. 567 und Ders., Evangelium und Gesetz, a.a.O., S. 9. 128 Vgl. KD II/2, S. 849f. 129 Vgl. Ders., Evangelium und Gesetz, a.a.O., S. 26f. und KD II/2, S. 567f. 130 Vgl. Ders., Die christliche Dogmatik im Entwurf. I, S. 424. 131 WA 40 I, S. 207 - ob Barth dieses Zitat kannte, ist mir nicht bekannt, aber ein guter Luther-Kenner war er allzumal. 127

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Hinzu kommt eine doppelte Vorrangstellung des Evangeliums vor dem Gesetz bei Barth. Dadurch, daß der Wille Gottes und sein Anspruch gegenüber dem Menschen nur in Jesus Christus offenbar werden, ist eine sachliche Vorordnung des Evangeliums vor dem Gesetz notwendig. Diesen sachlichen Vorrang des Evangeliums versucht Barth schon für das Alte Testament nachzuweisen, zum Beispiel mit einer Exegese von Gal 3,17 und Rö 5,20.132 Dem korrespondiert ein inhaltlicher Vorrang der Gnade, da Gottes Wort in Evangelium und Gesetz letztlich Gnade ist.133 Diese Überlegungen zu Evangelium und Gesetz gehören für Barth zum "eisernen Bestand" seiner Dogmatik, aber: "Das beweist gewiß nicht, daß sie richtig sind."134 Da die Grundlegung des Rechts nicht, wie etwa bei Luther, im usus civilis legis verankert wird, kommt es zu einer charakteristischen Verschiebung im Rechtsverständnis. Von der christozentrischen Ausgerichtetheit seiner Dogmatik und, wie noch zu zeigen sein wird, auch seiner Ethik her, wird nun der theologische Ort des Rechts in der Dogmatik in der Rechtfertigungslehre festgelegt.

2. Recht aus Rechtfertigung Es geht hier nicht um eine Darstellung der Rechtfertigungslehre Barths im allgemeinen, sondern es sollen die jeweiligen Aspekte der Rechtfertigung zur Geltung gebracht werden, die für den Ort des Rechts in der Rechtfertigung als Ort des Rechts in der Dogmatik insgesamt zentral sind.135 Barth weist der Rechtfertigung, wie bereits 132

Vgl. K. Barth, Evangelium und Gesetz, a.a.O., S. lf. Vgl. ebd. S. 14 u.ö. 134 KD IV/3,1, S. 427. Barth setzt sich hier mit an sein Verständnis von Evangelium und Gesetz gerichteten Anfragen "auseinander" - indem er darauf hinweist, daß er die gegen ihn erhobenen Einwände aus jeweils genannten Gründen nicht versteht. Ebd. S. 427f. 135 v g l . Ders., Rechtfertigung und Recht. Christengemeinde und Bürgergemeinde; KD IV/1, S. 573-718. Aus der Sekundärliteratur sei verwiesen auf H. Küng, Rechtfertigung; W. Dantine, Rechtfertigung und Gottesgerechtigkeit. Jetzt in: Ders., Recht aus Rechtfertigung, S. 23-58 und A. Peters, Rechtfertigung, S. 128170. 133

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der Sündenlehre, einen Ort in der dreimal viergegliederten Versöhnungslehre136 zu und zeigt mit dieser Ortsbestimmung bereits an, daß für ihn die Rechtfertigungslehre nicht ein solches Gewicht hat wie bei den reformatorischen Theologen, insbesondere bei Luther. Sie ist für ihn ein wichtiges Element, aber nicht der Schlüssel zu seiner Theologie:137 "Der articulus stands et cadentis ecclesiae ist nicht die Rechtfertigungslehre als solche, sondern ihr Grund und ihre Spitze: Das Bekenntnis zu Jesus Christus, ... die Erkenntnis seines Seins, seines Tuns für uns, an uns und mit uns."138 Für Barth ist die Rechtfertigung zeitlicher Akt, in dem die Gnadenwahl Gottes für den Menschen, sein Bund mit den Menschen, geschichtlich konkret wird. Und die Rechtfertigung, nicht die Versöhnung, ist die eine Reaktion Gottes auf die menschliche Sünde: "Was in diesem Werk unbegreiflicher Barmherzigkeit geschieht, ist also wohl Gottes freies Verfügen, es ist aber kein willkürliches Übersehen und Offenlassen und auch kein künstliches Überbrücken, Verkleistern oder Verschleiern des von uns verschuldeten Bruches, Risses und Abgrunds zwischen Gott und uns, sondern dessen reale Schließung."139 Somit ist die Rechtfertigung in Gottes ewigem Bund und seiner ewigen Gnadenwahl begründet. Sie schließt den durch den Menschen gebrochenen Bund. Sie ist seine "Erfüllung". Der verworfene Mensch wird in der Rechtfertigung erwählt - zum Bundespartner. Die Erwählung des Sünders, des verworfenen, verurteilten Menschen, ist Gottes Gericht. Barth betont, daß Gott gerade in seiner Freiheit - ohne dabei ungerecht zu werden - "mit Recht Gnade walten lassen" konnte.140 Daß Gott das Gericht als Gnade vollzogen hat, war ein Akt göttlicher Freiheit, ohne daß damit die Sünder gebilligt werden, oder diese Gnade zur "billigen Gnade" wird.141 Rechtfertigung ist immer Gottes Urteil. Ein Urteil von Verwerfung "zur Linken" und Erwählung "zur Rechten". Ein Urteil über menschliches Un-

136 137 138 139 140 141

S.S. 207. So auch H. Küng, a.a.O., S. 25. KD IV/2, S. 588; vgl. dazu ebd. S. 577. KD IV/1, S. 11; vgl. ebd. S. 37. S. H. Küng, a.a.O., S. 50. Vgl. KD IV/1, S. 501.

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recht, das so "vernichtet", "beseitigt" wird.142 Ganz wichtig ist für Barth der Gedanke, daß Rechtfertigung primär eine Selbstrechtfertigung Gottes darstellt.143 Zu dieser Selbstrechtfertigung Gottes bestand aber keine Notwendigkeit. Auch sie ist in der Freiheit Gottes begründet.144 "Und eben als Gottes Werk in Jesus Christus ist sie als unsere, des Menschen Rechtfertigung zugleich - und hier gewissermaßen in ihrer innersten Mitte - die Rechtfertigung, in der Gott sich selbst rechtfertigt. "145 So ist Gott der, der Recht setzt, sein eigenes Rechtsurteil fertigt und sich darin selbstrechtfertigt. Das im Gericht ausgeübte Recht ist Gottes Recht, das dem menschlichen Recht "schlechthin überlegen" ist.146 Und das von Gott in seinem Gericht ausgeübte Recht ist wirkliches Recht und keinesfalls "exlex".147 Dieses Recht Gottes wird zur "Quelle", "Norm" und "Grenze" allen Rechtes,148 - Rechtfertigung als der Ort des Rechts, als Rechtsbegründung und Rechtsbegrenzung, als Rechtsquelle, als "rechtliches continuum".149 Darin, daß Gott mit sich selbst identisch ist150 und gerade deshalb die Rechtfertigung des Sünders vollzieht, setzt er sein Recht und so auch in dieser Selbstrechtfertigung neues Recht für den Menschen.151 "Gerade der Gott, der in des sündigen Menschen Rechtfertigung und also als der gnädige Gott auf dem Plan ist und handelt, hat Recht und ist im Recht. Er ist - keinem fremden Gesetz unterworfen, selber Ursprung, Grund und Offenbarer jedes wahren Gesetzes - in sich selber richtig. Das ist das Rückgrat des Rechtfertigungsgeschehens."152 Barth kann auch davon sprechen, daß Christus als "judex aeternus" die "lex aeterna"

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Vgl. ebd. S. 597. Vgl. ebd. S. 628-633. Vgl. ebd. S. 633f. Ebd. S. 629. Vgl. ebd. S. 590; vgl. auch ebd. S. 589-634. Vgl. ebd. S. 590. Vgl. ebd. Vgl. Ders., Rechtfertigung und Recht, a.a.O., S. 41; vgl. auch ebd. S. 5, 8 und 47f. und Ders., Christengemeinde und Bürgergemeinde, a.a.O., S. 68. Vgl. KD IV/1, S. 593. Vgl. ebd. S. 573 und Ders., Die Menschlichkeit Gottes, S. 11. KD IV/1, S. 592.

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über die Menschen vollzieht.153 So bedeutet das Urteil Gottes die Rechtfertigung des Sünders, die Schaffung eines neuen Menschen, des gerechtfertigten Menschen, und die Schaffung eines neuen Rechts. Die inhaltliche Füllung dieses Rechtsbegriffes, den Barth zunächst als einen rein formalen Begriff aufnimmt, ergibt sich aus der Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen, aus Gottes Gericht und Urteil.154 Dieses Recht ist Ausdruck göttlicher Gerechtigkeit.155 Gerechtigkeit Gottes wird bei Barth durch den Begriff Recht interpretiert. Die Aufgabe der Rechtfertigungslehre besteht im Aufzeigen der Gerechtigkeit in der Gnade Gottes.156 Barth versteht den forensischen Aspekt der Rechtfertigung des Sünders durch Christus als einen Akt, durch den Gott sein ursprüngliches Recht auf den Menschen wahrnimmt, und er richtet damit "analog"157 zu seinem eigenen (Gottes) Recht das irdische Recht des Menschen wieder auf. Jesus hat durch seinen Tod und seine Auferstehung sein "ewiges Recht" erworben, das zum Inhalt der Rechtfertigungsbotschaft wird. Das hat zur Konsequenz, "... daß die Predigt der Rechtfertigung als Predigt vom Reiche Gottes schon jetzt und hier das wahre Recht, den wahren Staat begründet"158. Weiter dienen ihm zur Stützung seiner These die Exegese der Aussagen des Johannes-Evangeliums über den Prozeß Jesu,159 eine exegetische Untersuchung von Rö 12 und 13160 sowie deuteropaulinische Stellen, womit er insbesondere seine Aussagen über die Königsherrschaft Christi begründet.161 Die Begründung des Rechts aus Rechtfertigung bei Barth ist aufgrund seiner Verhältnisbestimmung von Evangelium und Gesetz folgerichtig. Da das Gesetz die "Form des Evangeliums" ist, muß auch das Recht durch das Evangelium, die Versöhnung, wie sie in der 153 Vgl. ebd. S. 442-446. 154

Vgl. ebd. S. 576. 155 Yg] z u Gerechtigkeit und Barmherzigkeit als zwei göttliche Eigenschaften KD II/l, S. 413-457. 156 Vgl. KD IV/1, S. 578. 157 Zu Barths Ableitungs- oder "Analogieverfahren" s. S. 256-259. 158 Ders., Rechtfertigung und Recht, a.a.O., S. 28. 159 Vgl. ebd. S. 11-15. 160 Vgl. ebd. S. 17-23. 161 Vgl. ebd. und S. 25-35.

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Rechtfertigung vollzogen wird, konstitutiert werden - aus dem einen Wort Jesus Christus leitet sich alles andere ab. Er ist der Grund der Schöpfung, so auch der Grund des Rechts. Eine Begründung aus dem "Gesetz" ist Barths Meinung nach immer eine naturrechtliche Begründung.162 Er versucht zu zeigen, daß in der Art und Weise, wie Gott sein Gericht vollzieht, Gott Recht übt, als unverdiente Gnade, die auch zum Grund und continuum, zur Norm für menschliches Recht zu werden hat, da sich in Gottes Recht das allein wahre Recht offenbart. Von hier aus gesehen ist die Ablehnung des Naturrechts, gerade eines christlich begründeten Naturrechts, durch Barth nur konsequent.

3. Konkretion: Das Nein zu einem christlich begründeten Naturrecht Um Barths Ablehnung eines christlich begründeten Naturrechts deutlich werden zu lassen, erscheint es mir an dieser Stelle sinnvoll, in einem Exkurs den Naturrechtsgedanken bei Thomas von Aquin aufzuzeigen. Die Überlegungen von Thomas sind sowohl grundlegend für das christliche als auch für das philosophische Naturrechtsverständnis. Barth differenziert in seinen Aussagen in der Beurteilung des christlichen und des säkularen Naturrechts. Exkurs: Das Naturrecht bei T. von Aquin Das Recht, verstanden im Sinne von lex aeterna, ist bei Aquin 163 Ausdruck der göttlichen Vernunft. Es strukturiert und ordnet die Schöpfung. Der dogmatische Ort des Rechts ist deshalb zum einen die Gottes- und Schöpfungslehre - Recht als das, was die Welt dem Willen Gottes entsprechend strukturiert und gestaltet -, zum anderen die Anthropologie. Der menschlichen Vernunft ist die lex aeterna in162

Vgl. KD IV/3, S. 428. 163 Ygj γ v o n Aquin, S Th II 2 q 57. Aus der Fülle der Sekundärliteratur sei hier verwiesen auf: E. Wolf, Zur Frage des Naturrechts bei Thomas von Aquin und Luther. In: Ders., Peregrinatio I, S. 183-191; H. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 48-89. Vgl. aber auch die scharfe Kritik von E. Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, S. 38-49.

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sofern erkennbar, als sie das Naturrecht als Element der lex aeterna erfassen kann. Das Naturrecht entspricht der Natur des Menschen und zugleich dem Guten. Der Mensch, der dem Naturrecht entsprechend lebt, verwirklicht sein Menschsein, allerdings nur bedingt, im Blick auf sein Heil. Die letztlich wahre Bestimmung des Menschseins wird dem Menschen von Gott her offenbart und in Gnade geschenkt. T. von Aquin leitet aufgrund des Einflusses der aristotelischen Philosophie den Begriff "lex"164 von ligare ab,165 so daß das Recht bei ihm auf einen Zweck ausgerichtet ist. Der Begriff des Rechts ist hierarchisch aufgebaut166 und in sich vierfach differenziert: 1. Recht ist für Thomas im Weltgesetz (lex aeterna) gegründet und Teil dieses Weltgesetzes. Das Weltgesetz bildet die Struktur (Ordnung) und die angemessene Interpretation von Sinn, Funktion und Ziel der Schöpfung. Es ist direkt in Gottes Willen und Vernunft begründet.167 Das Weltgesetz wird als unveränderlich und ewig verstanden (lex aeterna), und von ihm her werden alle weiteren Gesetze abgeleitet und legitimiert (Rechtsquelle). In diesem Weltgesetz ist das Recht ein elementarer Bestandteil, da es den göttlichen Willen aufzeigt und die Funktion hat, die göttliche Weltordnung durchzusetzen. T. von Aquin betont weiter, daß die Relation die "Substanz" des Rechts konstituiert: "Dispositio designat ordinem, qua non est substantia, sed relatio."168 Das Weltgesetz ist dem Menschen durch die Offenbarung mitgeteilt.

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Im Unterschied zu T. von Aquin leitet Augustin im Anschluß an Cicero den Begriff lex von legere bzw. eligere ab. Vgl. S Th II 1 q 90 a 1: "dicitur lex a ligando, quia obligat ad agendum." Ν. Luhmann, Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft. Jetzt in: Ders., Ausdifferenzierung des Rechts, S. 121f. sieht darin die Voraussetzung für die in der Neuzeit sich herausbildende größere Variabilität und Flexibilität des Rechts. Die Sicherung des Rechts durch einen transzendentalen Rahmen ermöglicht Veränderungen innerhalb des positiven Rechts, da die noch für das römische Recht geltende Begründung durch die Tradition entfällt. Der Gedanke einer hierarchisch aufgebauten Gesetzesreihe stammt vermutlich schon aus der spätantiken Stoa. Vgl. H. Welzel, a.a.O., S. 39. "Lex aeterna nihil aliud est quam ratio divinae sapientiae secundum quod est directive omnium actuum at motionum." S Th II 1 q 93 a 1. S Th I q 116 a 2.

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2. Das göttliche Gesetz, wie es im AT und NT offenbart wird (lex divina), steht in der Hierarchie unter dem Weltgesetz. Der Dekalog, aber auch viele Moralgesetze sind identisch mit dem Naturgesetz bzw. lassen sich aus diesem ableiten. 169 Umgekehrt bietet der Dekalog auch einen Zugang zur Erkenntnis des Naturrechts. Das Gesetz des AT stellt weiter eine Ergänzung zum Naturrecht dar, während die nova lex des NT das Naturrecht bestätigt und vollendet. So wird in Gesetz und Evangelium als nova lex das Naturrecht völlig entfaltet, aber Gesetz und Evangelium gehen noch über das Naturrecht hinaus, sind nicht mit ihm identisch zu setzen. 3. Aus der lex aeterna leitet sich auch das Naturrecht ab (lex naturalis). Durch das Naturrecht kann allein der Mensch aufgrund seiner Vernunft am Weltgesetz teilnehmen. 170 Das Naturrecht gehört folglich zum Weltgesetz und ist zugleich als Ausdruck der göttlichen Vernunft der menschlichen Vernunft zugänglich.171 Die menschliche Vernunft kann insoweit die lex aeterna erfassen, als sich die lex aeterna dem Menschen im Naturrecht offenbart. Das Naturrecht ist somit ein Element des Menschseins.172 So ist das Naturrecht in der göttlichen Vernunft und der ihr entsprechenden menschlichen Vernunft 173 verankert. 174 Das Naturrecht ist unveränderlich, da es aus dem Weltgesetz abgeleitet wird, nicht aber unbedingt alle aus ihm gezogenen Folgerungen. Die oberste Norm des Naturrechts ist: "bonum est faciendum et prosequendum, et malum vitandum"175, was von Thomas gleichgesetzt wird mit der Norm: "Apud omnes enim hoc 169

Problematisch ist aber, daß Gott im AT Gesetze erläßt, die sowohl dem Dekalog als auch dem Naturgesetz widersprechen. Hier hat Thomas intensive und von Anfang an in der Diskussion heftig umstrittene Interpretationsversuche unternommen, um die Vereinbarkeit z.B. des Gebotes, Isaak zu opfern, mit dem Naturrecht aufzuweisen. Vgl. dazu H. Welzel, a.a.O., S. 62f. 170 Vgl. S Th I 2 q 91 a 2 und q 92 a 2. 171 "Pnmär ist es (sc. das Naturrecht) Teil der lex aeterna, sekundär befindet es sich im natürlichen Urteilsvermögen der menschlichen Vernunft." H. Welzel, a.a.O., S. 59. 172 Vgl. E. Wolf, a.a.O., S. 184. 173 "Es ist das dirigierende Sichselbstaussprechen der Weltvernunft Gottes in der Wesenheit der Dinge gegenüber der vernunftgemäßen Rezeptivität und Aktivität der creatura rationalis und für sie." Ebd. S. 191. 174 Vgl. ebd. S. 187. 175 S Th II 1 q 94 a 2.

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rectum est verum, ut secundum rationem agatur."176 Von daher sind alle andern Normen und Gesetze abzuleiten. Die im Weltgesetz liegenden Strukturen und Zielbestimmungen der Schöpfung bilden den Inhalt des Naturrechts, das dem Menschen den Weg zur Verwirklichung des von ihm immer angestrebten Guten bietet, so daß das Naturrecht der Inbegriff von Ethik ist. Die Natur des Menschen strebt immer zum Guten hin, und in seiner Vernunft kann der Mensch seine Natur erkennen und ihr entsprechend handeln. Aus der Natur des Menschen werden die obersten Rechtssätze abgeleitet, z.B. das Tötungsverbot des Staates als der menschlichen Natur entsprechende Ordnung, da diese auf Gemeinschaft ziele. Thomas differenziert das Naturrecht in die Rechte des Individuums sowie die der Gesellschaft und der Kirche.177 Er muß allerdings zugestehen, daß es in der Natur des Menschen unterschiedliche Strömungen gibt, und so unterscheidet er die vernünftige und die sinnliche Natur. Von daher muß Thomas in seine Naturrechtsbestimmung einen Zirkelschluß einführen: Das Gute, das Vernünftige muß zuerst festlegen, was die Natur des Menschen ist, und die vernünftige Natur des Menschen ist das Gute. Ein weiterer Erkenntniszugang zu den Inhalten des Naturgesetzes sind, wie bereits entfaltet, die in der Bibel offenbarten göttlichen Gesetze. Der Ort der Erkenntnis der grundlegenden Prinzipien des Naturrechts wird von T. von Aquin näher als synderesis bestimmt. Synderesis und conscientia zusammen bilden den Gewissensbegriff: synderesis bezeichnet die in der Vernunft verankerte Fähigkeit zur Erkenntnis der grundlegenden Naturrechtsprinzipien,178 conscientia die Fähigkeit, diese grundlegenden Naturrechtsprinzipien in der Situation anzuwenden.179 Die synderesis kann im Gegensatz zur conscientia nicht irren. Das Gewissen ist die letzte Handlungsinstanz im Menschen, der nie gegen sein Gewissen handeln soll (Autonomie des

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S Th II 1 q 94 a 4. Die Differenzierung ermöglicht von Aquin eine Begründung der Todesstrafe. Die Unverletzlichkeit des Individuums wird in dem Moment aufgegeben, wo es zu einem Verbrechen gegen die menschliche Würde kommt (a dignitate humana). Vgl. S Th II 1 q 94 a 1. Vgl. S Th I q 79 a 13.

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Gewissens), auch wenn dies die Exkommunikation zur Folge haben sollte.180 4. Das positive oder menschliche Gesetz (lex positiva seu humana) hat die Aufgabe, das Naturrecht anzuwenden und näher auszulegen und dabei den Sündenfall zu berücksichtigen. Die lex humana ist notwendig, weil die menschliche Vernunft nur die allgemeinen Richtlinien der lex aeterna erkennen kann, nicht aber die auch im Weltgesetz gegebenen positiven Einzelgesetze. Die positiven Gesetze müssen übereinstimmen mit den göttlichen Gesetzen und dem Naturrecht und haben nur in diesem Fall letzte Gültigkeit. Wenn ein positives Gesetz nicht dem Naturrecht entspricht, kann man es dennoch befolgen, ohne aber dazu verpflichtet zu sein. Entspricht ein Gesetz aber nicht der lex divina, darf man es auf keinen Fall befolgen. Dieser vierstufige Rechtsbegriff des Thomas beruht zum einen auf seiner Verhältnisbestimmung von Vernunft und Offenbarung. Die menschliche Vernunft kann die Offenbarung Gottes erkennen, und zugleich überhöht die Offenbarung die Vernunft. Der Mensch kann das die Schöpfung gestaltende Weltgesetz erkennen, insoweit er das Naturrecht als Element des Weltgesetzes erkennen kann. Zum anderen ist ein zentrales Element des thomistischen Rechtsbegriffs die Anthropologie, insbesondere die Verhältnisbestimmung von Natur und Gnade und der Gewissensbegriff. Die theologische Grundlegung für alle seine Äußerungen zum Naturrecht hat Barth in seiner Streitschrift "Nein!" vollzogen, wo er sich in der Auseinandersetzung mit E. Brunner um das Verständnis von "natürlicher Theologie" befindet.181 "Unter 'natürlicher Theologie' verstehe ich jede (positive oder negative) angeblich theologische, d.h. sich als Auslegung göttlicher Offenbarung ausgebende Systembildung, deren Gegenstand ein von der Offenbarung Gottes in Jesus Christus deren Weg also ein von der Auslegung der hl. (sie.!) Schrift grundsätzlich verschiedener ist."182 Ein solcher "Gegenstand" und ein sol180 181 182

Vgl. S Th I q 79 a 12 und II 2 q 47 a 6. Vgl. K. Barth, "Nein!" - Antwort an Emil Brunner, a.a.O. Ebd. S. 214.

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eher "Weg" ist das Naturrecht. Barth lehnt jede Form "natürlicher Theologie", die sich zum Beispiel in der Möglichkeit der Gotteserkenntnis in oder aus der Schöpfung durch die Vernunft äußert, kategorisch ab.183 Die einzig mögliche Form der Gotteserkenntnis ist demgegenüber im Wort Gottes, Jesus Christus, begründet, das in dreifacher Gestalt begegnet: Verkündigung, Schrift und Offenbarung.184 Dies hat sowohl eine enge Zuordnung von Evangelium und Gesetz als auch die Begründung des Rechts aus Rechtfertigung zur Folge. Materialethisch ergibt sich bei Barth daraus eine Ablehnung des christlichen Naturrechts, wobei er unter Naturrecht"... den Inbegriff dessen, was der Mensch angeblich 'von Natur', d.h. unter allen denkbaren Voraussetzungen, von Hause aus und also allgemein für Recht und Unrecht, für geboten, erlaubt und verboten hält"185, versteht. Der Wille Gottes kann nicht vom Menschen jenseits von Jesus Christus in der Schöpfung erkannt werden. Diese Lehre ist Barth auch entschieden zu katholisch, weil sie die Lehre von der analogia entis186 zur Voraussetzung hat. Auch die lutherische Rede von den Schöpfungsordnungen, wie dem Staat, zu denen dann auch ein im usus politicus legis erkennbares Naturrecht gehört, lehnt er von seiner christologischen Konzentration her ab.187 Zugleich ist seine Ablehnung des Naturrechts geschichtlich bedingt, weil er die Berufung auf ein Naturrecht im Dritten Reich erlebt hat, mit allen Konsequenzen bis hin zum Zweiten Weltkrieg,188 wodurch für Barth in aller Schärfe die fatalen Konsequenzen des Naturrechts sichtbar werden.

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"Sie (sc. die natürliche Theologie) kann nur der Kirche und Theologie des Antichrist (sie!) bekömmlich sein. Die evangelische Kirche und Theologie würde an ihr nur kranken und sterben können." Ebd. S. 258. Interessant ist, daß Barth eine Einladung annahm, die Gifford-Lectures in Aberdeen (Schottland) zu halten. Diese Gifford-Lectures - so die Stiftungsurkunde - sollten ein Thema der "natürlichen Theologie" behandeln. Barth las über den Unterschied zwischen natürlicher und reformatorischer Theologie. Vgl. KDI/1. Ders., Christengemeinde und Bürgergemeinde, a.a.O., S. 61. S.S. 256-259. Ebd. Für Barth hilft das Naturrecht nicht gegen Hitler, s. Ders., Ein Brief aus der Schweiz nach Großbritannien (1941). In: Ders., Eine Schweizer Stimme, S. 190/91.

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So weiß er prinzipiell um die geschichtliche Ambivalenz aller naturrechtlichen Aussagen.189 Es geht deshalb, wie er in jenen Jahren immer wieder betont, um die Entscheidung für Jesus Christus oder für das Naturrecht - das eine schließt das andere aus.190 Es kann keine Zuordnung - wie bei Thomas von Aquin - von lex Dei, die in der Offenbarung vermittelt wird, und lex naturae, die dem Menschen qua Vernunft einsichtig ist, geben.191 Barth lehnt die Möglichkeit der Erkenntnis eines von Gott gegebenen Naturrechts mit Hilfe der Vernunft ab, weil dies die Möglichkeit einer "natürlichen Gotteserkenntnis" bedeuten würde,192 ebenso den "göttlichen Charakter" oder eine "göttliche Verbindlichkeit" eines Naturrechts: 193 Das Recht Gottes ist allein in der Rechtfertigung erkennbar, die Behauptung, es gäbe ein Naturrecht, ist im Gegenteil Ausdruck menschlicher Sünde.194 Wenn so scharf die Unfähigkeit betont wird, (Gottes) Recht jenseits von Jesus Christus zu erkennen, stellt sich die Frage, wie überhaupt der Staat, der nach Barth nicht als christlicher Staat zu denken ist, zu einer angemessenen Rechtsgestaltung kommen kann. Der logische Schluß aus den vorangehenden Thesen Barths wäre, daß es sich dabei um eine nicht angemessen begründete und darin willkürliche Rechtssetzung handelt. Um dies zu vermeiden, kommt es zu folgender Argumentation: Der Bürgergemeinde, nicht der Christengemeinde!, gesteht Barth zu, daß sie von sich aus keine andere Möglichkeit hat, Recht zu begründen als durch das Natur-

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Vgl. ebd. S. 191. Vgl. ebd. S. 192-198; zum Naturrecht bei Barth vgl. weiter ebd. S. 190f.; Ders., Evangelium und Gesetz, a.a.O., S. 20; KD III/4, S. 21; KD IV/1, S. 65 und 412. An Sekundärliteratur sei verwiesen auf L.C. Midgley, Karl Barth and moral law: the anatomy of a debate. In: Natural law forum 13, 1968, p. 108-126 und Κ. Peschke, Naturrecht in der Kontroverse, S. 15-33. Eine juristische Auseinandersetzung mit dem Naturrechtsgedanken vollzieht auf der Linie von Barth J. Ellul, Die theologische Begründung des Rechts, insb. S. 45-55. Eine interessante Auseinandersetzung gerade auch um die Frage des Naturrechts, aber auch mit Barths Rechtsbegriff überhaupt, bietet B. Schüller, Die Herrschaft Christi und das weltliche Recht, S. 21-159. Vgl. KD III/4, S. 5f. Vgl. ebd. S. 427f. S. KD IV/1, S. 154. Vgl. ebd.

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recht und ihr Recht von da aus zu gestalten. 195 Dies ist immer eine sehr fragliche und ambivalente Möglichkeit - nur Gottes Gnade und nicht dem Naturrecht ist es zu verdanken, wenn es im Staat dann doch zum "Besseren" kommt, weil "... die unwissende, die neutrale, die heidnische Bürgergemeinde im Reiche Christi ist ... alles politische Fragen und alle politische Bemühung als solche in Gottes gnädiger, den Menschen bewahrender, seine Sünde und damit sein Verbrechen begrenzender Anordnung sind."196 Die Bedeutung des hier von Barth eingeführten Arguments vom erhaltenden Handeln Gottes wird später noch einmal zu bedenken sein.

§ 4 Königsherrschaft Christi

Ein weiteres zentrales konstitutives ontologisches Element ist für den theologischen Rechtsbegriff das Verständnis des Staates, speziell wie es in der Zuordnung und Unterscheidung von Staat und Kirche entwickelt wird. Charakteristisch ist hier für Barth zum einen, daß auch diese Zuordnung und Unterscheidung in einer streng christologischen Grundlegung erfolgt: in der Lehre von der Königsherrschaft Christi. Zum anderen versteht Barth den Staat immer implizit und explizit als einen Rechtsstaat - der allerdings zu einem Unrechtsstaat pervertieren kann. Die Lehre von der Königsherrschaft Christi entwickelt Barth in bewußter Auseinandersetzung mit der lutherischen "Zwei-Reiche-Lehre", und sein Staatsverständnis im speziellen in einer Abgrenzung zum lutherischen Verständnis von den Schöpfungsordnungen. Deshalb soll in zwei Exkursen sowohl die lutherische "Zwei-Reiche-Lehre" als auch die Theorie der Schöpfungsordnungen dargestellt werden.

195 vgl. Ders., Christengemeinde und Bürgergemeinde, a.a.O., S. 60ff. und S. 75. 196

Ebd. S. 61.

Königsherrschaft Christi

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Exkurs I: Zur lutherischen Rede von den zwei Reichen und Regimenten Als Fortführung der Unterscheidung und Zuordnung von Gesetz und Evangelium kann man in der lutherischen Theologie die Rede von den zwei Reichen und Regimenten verstehen. Innerhalb der lutherischen Theologie wird dem Recht dort ein Ort zugewiesen. Die Aussagen Luthers197 über die zwei Reiche und zwei Regimente vollziehen eine klare Abgrenzung gegen die mittelalterliche Zwei-StufenEthik198 und die Zwei-Schwerter-Theorie.199 In seiner Rede von den zwei Reichen und Regimenten versucht Luther eine neue Zuordnung von geistlichem und weltlichem Handeln und damit zugleich eine Trennung und neue Weise der Zuordnung von Staat und Kirche, indem er Staat und Kirche ihre je eigenen Aufgabengebiete zuweist, ohne daß dabei der einzelne Christ und die Kirche insgesamt aus ihrer Verantwortung für den Staat, die weltliche Gewalt, entlassen werden. Kirche und Staat sollen zu ver-

197

Die Termini "Zwei-Reiche-Lehre" und "Zwei-Regimenten-Lehre" erwecken den Anschein, als ob es bei Luther eine auch so bezeichnete Lehre im strengen Sinn gegeben hätte. Dies war sicher so nicht der Fall, vielmehr werden unter diesen Begriffen Luthers vielfältige und komplexe Aussagen zu diesem Thema, zu den zwei Reichen, zwei Regimenten und zur Ständelehre zusammengefaßt. Dabei ist Luther nicht immer einheitlich in seiner Terminologie. Obwohl Luther keine "Lehre" im klassischen Sinn entwickelt hat, sind seine Aussagen zu diesem Themenkomplex in sich konsistent. Barth verwendet 1922 in einer Auseinandersetzung mit P. Althaus den Begriff "Lehre von den zwei Reichen", s. Ders., Grundfragen der christlichen Sozialethik. Auseinandersetzung mit Paul Althaus. Jetzt in: Anfänge der dialektischen Theologie, Teil I, hg. von J. Moltmann, S. 152-165, insb. S. 156. Ob der Begriff allerdings von Barth selbst geschaffen wurde, ist in der Diskussion umstritten. 19 ® Die Zwei-Stufen-Ethik geht davon aus, daß nur Einzelne oder kleine Gruppen, wie z.B. Orden, die Ethik der Bergpredigt leben können. Die Mehrheit der Christen kann aufgrund der Sünde und des Bösen in der Welt lediglich nach den Geboten des Dekalogs leben und muß auch am politischen Leben teilnehmen. Das führt zu einer Überordnung des geistlichen über das weltliche Handeln. 199 Die Zwei-Schwerter-Theorie schreibt der Kirche die geistliche und weltliche Gewalt als von Gott gegeben zu, der weltliche Herrscher erhält die (Schwert)gewalt nur als Lehen durch den Papst. Dies führt zu einer starken Verquickung von staatlicher und kirchlicher Macht.

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antwortlichen Partnern werden.200 Luther entwickelt seine Überlegungen dazu zum einen auf dem Hintergrund der Unterscheidung und Zuordnung von Gesetz und Evangelium, zum anderen geht er von der paulinischen Rede von "schon jetzt" und "noch nicht" aus, die auf der Spannung zwischen dem alten und dem neuen Äon basiert. Von diesen beiden Ausgangspunkten her vollzieht er seine Unterscheidung der zwei Reiche und Regimente, von der her er das dem Christen eröffnete freie Handeln in und an der Welt aufweist. Denn der Christ hat eine von Gott gegebene Verantwortung für die konkrete Gestaltung des Staates und soll in dieser Weise handeln. Damit wendet sich Luther deutlich gegen eine Abstufung und Abwertung des weltlichen gegenüber dem geistlichen Handeln.201 Durch die Annahme der Rechtfertigung im Glauben kann der Christ auf neue Weise sein Leben gestalten und auch im Bereich des Politischen bewußt tätig werden. Für Luther bewährt sich das Christsein in der Welt, in der Politik. Es geht dabei um Gottes Willen und Wirken in der gefallenen Welt, wie es durch Christus sichtbar wurde. Es gibt aus diesem Grund auch in der Welt keine Sachzwänge oder Eigengesetzlichkeiten, die vom Willen Gottes losgelöst betrachtet werden können 202 Obwohl mit der Rede von den zwei Reichen und Regi200

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Vgl. M. Luther, Von weltlicher Obrigkeit, WA 11, S. 245-280. Dort stellt Luther seine Konzeption grundlegend dar. Aus der zahlreichen Literatur zu diesem Thema vgl. insbesondere: Gottes Wirken in seiner Welt, 2 Bde., hg. von N. Hasselmann und W. Joest, Die Lehre von den Zwei Regimenten Gottes und der Gedanke der Schöpfungsordnung. In: Schöpfungsglaube und Umweltverantwortung, hg. von W. Lohff/C.H. Knuth, S. 239-263. Diese Bejahung des Dienstes an der Welt durch die Christen wird von Luther Christologisch begründet: "Sollte ein Stand oder ein Amt deshalb nicht gut sein, weil Christus selbst es nicht getrieben hat, wo wollten sämtliche Stände und Ämter bleiben mit Ausnahme des Predigtamtes, welches er allein getrieben hat? Christus ist seinem Amt und Stand nachgekommen; damit hat er keines andern Stand verworfen." WA 11, S. 258. Es ist eine folgenschwere Fehlinterpretation von Luthers Aussagen zu den zwei Reichen und Regimenten, wenn sie als eine Zwei-Bereiche-Lehre dahingehend mißverstanden würden, daß das Reich Gottes und das Reich der Welt nichts miteinander zu tun hätten, und Gott nicht auch im Reich der Welt seinen Willen zum Heil für die Menschen zur Geltung bringen wollte. Vgl. H.E. Tödt, Die Bedeutung von Luthers Reiche- und Regimentenlehre für heutige Theologie und Ethik. In: Gottes Wirken in seiner Welt, Bd. 2, hg. von N. Hasselmann, S. 53-59 und 78-126. Neben Barth ist D. Bonhoeffer einer der ersten Kritiker dieser

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menten dem Christen eine Orientierung für sein Leben vermittelt werden soll, konzipiert Luther seine Überlegungen doch ganz stark von Gott her, weü er verdeutlichen will, daß und wie Gott in der Spannung der Äonen handelt.203 Für Luther ist Gott der Herr beider Reiche, und er will in beiden mächtig sein. Beide sind dem einen Willen Gottes unterworfen. Der Mensch erfährt im Reich Gottes den deus revelatus. Im Reich der Welt kann er auch den deus absconditus erfahren. Zu dieser Unterscheidung zwischen den beiden Reichen läuft die Unterscheidung der beiden Regimente parallel. Dem Reich der Welt wird das weltliche Regiment zugeordnet, dem Reich Gottes das geistliche. Beide Regimente oder Regierweisen Gottes kann man als "Handlungsweisen" Gottes näher charakterisieren.204 Im geistlichen Regiment handelt Gott durch Gesetz und Evangelium, durch die Vergebung der Sünden allein aus Gnade zum Heil der Menschen. Dieses Handeln vollzieht sich in Wort und Sakrament. Die geistliche Handlungsweise ist von der Liebe bestimmt, hat die Liebe zum Ziel. Der Christ soll dieser Handlungsweise Gottes entsprechend Liebe und Versöhnung üben, das Evangelium in Wort und Sakrament verkündigen und sein Handeln an der Bergpredigt ausrichten. Das weltliche Regiment ist als Gottes Handeln durch das Gesetz zu charakterisieren. Das Handeln Gottes hat hier das Ziel, die Schöpfung zu bewahren, das Leben zu erhalten und die Macht des Bösen in Grenzen zu halten. Dies geschieht durch den für alle Menschen geltenden usus civilis legis. Auch in den Dienst der weltlichen Handlungsweise Gottes hat sich der Christ aktiv zu stellen. Der Christ soll den Staat und seine Institutionen bewahren und fördern als von Gott gewollte Ordnungen in dieser Welt. Dieser Dienst im

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Fehlinterpretation Luthers geworden, vgl. Ders., Ethik, S. 208-220: "Es gibt kein Stück der Welt und sei es noch so verloren, noch so gottlos, das nicht in Jesus Christus von Gott angenommen, mit Gott versöhnt wäre." Ebd. S. 218. H.E. Tödt, a.a.O., S. 65 spricht von einer "theokratischen" Konzeption. Ich übernehme den Begriff "Handlungsweisen" von J. Track, so z.B. in: Ders., Dominium Terrae. In: Schöpfungsglaube und Umweltverantwortung, hg. von W. Lohff/H.C. Knuth, S. 226f.

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weltlichen Bereich ist für Luther genauso zu achten wie der im geistlichen, da beide Ausdruck des Willens Gottes sind.205 Beide Regimente, das geistliche und das weltliche, sind in der Spannung der Äonen notwendig und tragen dem Weiterbestehen des Reiches der Welt und dem schon in Jesus Christus angebrochenen Reich Gottes Rechnung. Der Christ wird von Gott für beide Handlungsweisen in Dienst genommen und ist selbst zugleich beiden Handlungsweisen unterworfen, denn in der Spannung der Äonen ist der Christ immer simul justus et peccator. Insofern er justus ist, hat er Teil am Reich Gottes, und insofern er peccator ist, ist er noch vom Reich der Welt bestimmt. Dem Christen gilt sowohl das Gesetz als auch das Evangelium.206 Von diesem Kontext her sind die Überlegungen Luthers zur Obrigkeit, zum Staat zu interpretieren. Die Obrigkeit hat im Reich der Welt die Funktion, das Recht und die Gerechtigkeit zu bewahren und zu fördern und diese auch, wenn es anders nicht möglich ist, mit Gewalt durchzusetzen. Diese Aufgabe ist notwendig, weil einerseits nicht alle Menschen Christen, und andererseits die Christen immer auch simul justi et peccatores sind. Alle weltliche Obrigkeit steht in diesem Dienst, in besonderer Verantwortung aber steht ein christlicher Fürst, da dieser um den Willen Gottes im weltlichen Regiment wissen und diesem Willen gemäß zu handeln versuchen kann. Auf diese Weise meint Luther einen Machtmißbrauch der Obrigkeit in begrenztem Maße verhindern zu können und zugleich auch im weltlichen Bereich Raum für die Liebe Gottes zu schaffen. An diese ihre Verantwortung sind die Fürsten immer zu erinnern. So redet Luther den Fürsten immer wieder energisch ins Gewissen, um sie auf ihre 205 "Fürs erste müssen wir das weltliche Recht und Schwert gut begründen, damit niemand daran zweifle, daß es durch Gottes Willen und Anordnung in der Welt ist." WA 11, S. 247. 206 "... diese Leute (sc. die zum Reich Gottes Gehörenden) brauchen kein weltliches Schwert oder Recht, und wenn alle Welt aus rechten Christen, d.h. aus wahrhaft Gläubigen bestünde, so wäre kein Fürst, König oder Herr, kein Schwert noch Recht nötig oder von Nutzen ... Nun aber ist kein Mensch von Natur ein Christ oder rechtschaffen, sondern es sind alle zumal Sünder und Böse (Rom 3,23); darum wehrt Gott ihnen allen durchs Gesetz, damit sie es nicht wagen, ihre Schlechtigkeit noch ihren Mutwillen äußerlich mit Werken zu bestätigen." WA 11, S. 250.

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Verantwortung vor Gott anzusprechen. Er ermahnt die Fürsten immer wieder, sich entschieden für ihre Untertanen einzusetzen um der Liebe willen, ihnen Recht zu gewähren und sie vor Übergriffen zu schützen.207 Für ihn überschreitet die Obrigkeit dort eindeutig ihre Grenzen, wo sie in den Gewissensbereich des Einzelnen drängt. Der Gewissensbereich untersteht allein dem geistlichen Regiment Gottes. Exkurs II: Das lutherische Verständnis von Schöpfungs- und Erhaltungsordnungen Die Rede von den "Schöpfungs- oder Erhaltungsordnungen" ist eine relativ späte theologische Begriffsbildung. Sie knüpft an Luthers Ständelehre und die Vorstellung von den "ordinationes Dei" (CA 16) an. In ausgeweiteter Bedeutung findet sich dieser Gedanke im 19. Jahrhundert bei A. von Harleß; aufgenommen, weitergebildet und für die Ethik angewendet werden diese Überlegungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorwiegend bei lutherischen Theologen, aber auch bei E. Brunner. Die einzelnen Differenzierungen übergehend kann das Grundschema der Argumentation so gekennzeichnet werden: Ausgangspunkt ist die Vorstellung, daß in der Schöpfung von Anfang an Ordnungen - modern gesagt: Institutionen - vorgegeben sind, zu denen sich jeder Mensch, nicht nur der Christ, in Beziehung setzen muß. Diesen Schöpfungsordnungen korrespondieren bestimmte, von Gott ebenfalls in der Schöpfung mit gesetzte Gebote. Ordnungen und Gebote regeln und strukturieren das menschliche Zusammenleben. 208 Dazu gehören Ehe, Familie, Staat, aber auch Volk und Rasse. Im Einhalten dieser Gebote, dieser mit der Schöpfung gegebenen Ordnungen, hat jeder Mensch sein Leben gemäß

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Luther hält die mittelalterliche Lösung, Geistliche zu weltlichen Herrschern zu machen, für wenig geglückt, da dies zu einer Vermischung von Staat und Kirche führt. "wj r verstehen darunter (sc. den Schöpfungsordnungen) solche Gegebenheiten des menschlichen Zusammenlebens, die allem geschichtlichen Leben als unveränderliche Voraussetzungen zugrunde liegen, darum in ihren Formen zwar geschichtlich variabel, aber in ihrer Grundstruktur unveränderlich sind ..." E. Brunner, Das Gebot und die Ordnungen, S. 194.

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dem Willen Gottes zu gestalten.209 Aufgrund der Sünde verfehlt der Mensch je aktuell den diesen Schöpfungsordnungen und Geboten zugrundeliegenden Willen Gottes. Zugleich aber sollen diese Ordnungen und Gebote vor den zerstörerischen Kräften der Sünde bewahren. In der theologischen Diskussion dieses Jahrhunderts wird dann zunehmend zwischen Schöpfungsordnungen (z.B. P. Althaus) und Erhaltungsordnungen (z.B. H. Thielicke) differenziert. P. Althaus210 geht bei seiner Bestimmung der Schöpfungsordnungen von einer Unterscheidung von Gebot, Gesetz und Evangelium aus. So wie von Beginn der Schöpfung an der Mensch unter dem Gebot steht, so gehören zu dieser Schöpfung Ordnungen, in die der Mensch hineingestellt ist. Die Gebote regeln näher, wie diese Ordnungen zu gestalten sind. Aufgrund des Falls erfährt der Mensch die Gebote als Gesetz, so daß er nun durch das Gesetz zu einem diesen Ordnungen entsprechenden Leben aufgefordert wird. Im Gegensatz dazu vertritt H. Thielicke211 die These, daß die Ordnungen Erhaltungsordnungen sind, die erst durch den Fall notwendig wurden, um in dieser Welt mit Hilfe dieser Ordnungen und dem Gesetz ein geregeltes Zusammenleben zu ermöglichen und dadurch die Welt vor dem völligen Einbruch des Bösen zu bewahren. In diesem Zusammenhang wird auch das Recht als Schöpfungsoder Erhaltungsordnung Gottes erkannt. Dabei geht es beim Recht primär um den Gedanken der Ordnung Gottes als solcher, und nicht um die jeweilige geschichtliche Gestalt. Die jeweilige geschichtliche Gestalt auch der Rechtsordnung muß sich an der durch Gott gegebenen Aufgabe der Ordnung messen lassen, und damit an der Gerechtigkeit. So wird die Ordnung des Rechts zu einer grundlegenden 209

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"Die heute weitverbreitete theologische Polemik gegen den von der alten Erlanger Theologie gebildeten Begriff der Schöpferordnung (Harleß) oder Schöpfungsordnungen ist nur aus dem Mißverständnis zu erklären, als sollte diese Ordnung als Quelle der Gotteserkenntnis oder als eine "Offenbarung" gelten. Aber darum handelt es sich gar nicht. Es kommt vielmehr darauf an, in der Ordnung der Schöpfung die jeweils notwendige Bedingung unserer qualifizierbaren irdischen Existenz zu erkennen und anzuerkennen." W. Eiert, Das christliche Ethos, S. 65. Vgl. u.a. P. Althaus, Theologie der Ordnungen. Vgl. H. Thielicke, Theologische Ethik, Bd. 1.

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Schöpfungs- oder Erhaltungsordnung, die in allen anderen Ordnungen - wie z.B. der Ehe - auch wirksam ist.

1. Christengemeinde und Bürgergemeinde unter der Königsherrschaft Christi a) Zur These von der Königsherrschaft Christi Auf dem Hintergrund von Barths Verständnis von Jesus Christus als dem einen Wort Gottes und der damit verbundenen Verhältnisbestimmung von Evangelium und Gesetz ist seine Ablehnung der Unterscheidung und Zuordnung von den beiden Reichen und Regimenten und die Entfaltung seiner These von der Königsherrschaft Christi zu sehen. Die damit gegebene Problematik ist hier nur im Blick auf den Ort und die Funktion des Rechts zu entfalten. Wie in der lutherischen Theologie in der Rede von den zwei Reichen und Regimenten bekommt das Recht innerhalb der Aussagen zur Königsherrschaft Christi seinen Ort und wird von daher seine jeweilige Funktion festgelegt. Aufgrund seiner Verhältnisbestimmung von Evangelium und Gesetz kann Barth nicht, wie in den lutherischen Aussagen von den zwei Reichen und Regimenten, den beiden Handlungsweisen Gottes in differenzierter Weise Gesetz und Evangelium, Staat und Kirche zuordnen. Für Barth gibt es nur den in Jesus Christus offenbar gewordenen Willen und Herrschaftsanspruch Gottes, der der ganzen Welt und allen Menschen gilt. Welt und Mensch sind der Königsherrschaft Christi unterworfen.212 Seine These von der Königsherrschaft Christi, der sowohl Christengemeinde als auch Bürgergemeinde unterstehen, begründet Barth christologisch.213 Jesus Christus ist der Schöpfungs-

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vgl. dazu insbesondere: K. Barth, Rechtfertigung und Recht. Christengemeinde und Bürgergemeinde und Barmer Theologische Erklärung, a.a.O. Vgl. weiter H. Lindenlauf, Karl Barth und die Lehre von der "Königsherrschaft Christi". "Das Bekenntnis der christlichen Gemeinde zu Christus als dem Herrn besagt, daß Gott in Jesus Christus seine Beziehung zur Welt bestimmt. Diese Selbstbestimmung Gottes gilt nicht nur der christlichen Gemeinde, sondern der natürli-

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mittler und wurde von Gott in Kreuz und Auferstehung mit seinem Anspruch, der Herr der Welt zu sein, ins Recht gesetzt. An Christus wird offenbar, wer Gott und wer der Mensch ist. Dies prägt die Sicht der Wirklichkeit und die Wirklichkeit selbst. Daraus folgt, daß alle Bereiche der Wirklichkeit, so auch das Recht, unter dem Zuspruch und Anspruch der in Christus offenbar gewordenen Gnade Gottes stehen.214 b) Der innere und der äußere Kreis: Christengemeinde und Bürgergemeinde Die Termini "Christengemeinde" und "Bürgergemeinde" anstelle der üblichen Termini "Kirche" und "Staat" hat Barth nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt,215 um parallel zur engen Zusammengehörigkeit von Evangelium und Gesetz auch die von Staat und Kirche deutlich zu machen. Der Terminus "Gemeinde" zeigt außerdem an, daß es sich zuerst um Menschen handelt, und nicht um Institutionen, und macht deutlich, daß Menschen - konkret die Christen - Glieder beider Gemeinden sind. Der Zuspruch und der Anspruch der Königsherrschaft Christi gilt gleichermaßen für die Christen- wie für die Bürgergemeinde.216 Gott will in beiden Gemeinden mit seinem einzigartigen Heilswillen zum Ziel kommen 217 Alle anderen Herrschafts- und Machtansprüche sind dadurch illegitim. Dieser Wille hat allein im Evangelium Gestalt gewonnen, also bezieht auch die Bürgergemeinde ihre Funktion und ihre Aufgabe von dort her.218 Auch bei Barth ist der Staat von Gott gewollt. Von daher ist die Gestalt des Staates nicht beliebig, sondern

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chen wie geschichtlichen Welt im Ganzen, deren Teil die Gemeinde ist." W. Huber, Recht im Horizont der Liebe. Jetzt in: Ders., Konflikt und Konsens, S. 241. Vgl. KD II/2, S. 63lf. und die 2. Barmer These, a.a.O., S. 93f. Vgl. dazu auch J. Track, 50 Jahre Theologische Erklärung von Barmen, insb. S. 22-28. Vgl. K. Barth, Christengemeinde und Bürgergemeinde, a.a.O., S. 49ff. Vgl. dazu D. Cornu, Karl Barth und die Politik, insb. S. 96-108 und W.-D. Marsch, Christologische Begründung des Rechts? A.a.O., S. 200-215. Barth betont immer wieder, daß dadurch der Staat nicht den Charakter einer von Gott gesetzten Ordnung bekommt. Zum Verfahren, wie Barth materiale ethische Sätze und damit auch die Funktion und Aufgabe der Bürgergemeinde bestimmt s. S. 256-259.

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prinzipiell verbesserungsbedürftig, ohne daß es jemals zu einer optimalen Gestalt des Staates kommen kann.219 Die Doppelgleisigkeit in der Argumentation für das Recht 220 findet sich bei Barth entsprechend auch für den Staat, die Bürgergemeinde: 221 Der Staat ist notwendig aufgrund der Sünde und bewahrt die Welt vor dem Nichtigen und dem Chaos.222 So ist der Staat kein "Produkt" der Sünde, sondern ein "Instrument der göttlichen Gnade"223. Der Staat ist hier genau wie in der dogmatischen Tradition in der göttlichen Erhaltung und Vorsehung begründet. Zugleich will Barth zur Vermeidung jeder Form von Eigengesetzlichkeit und in Abwehr einer falsch verstandenen Zwei-Reiche-Lehre den Staat von der Königsherrschaft Christi her konstituieren. Auch der Staat soll christologisch verstanden werden. Von der Königsherrschaft Christi her ergeben sich seine Gestalt und seine Aufgabe.224 So ist er immer mehr als eine Reaktion auf die Sünde und beschränkt sich nicht auf die Eindämmung der Sünde als solcher. Der Ort der Staatslehre liegt für Barth deshalb auch in der Versöhnungslehre, weil er in Gottes Bund als innerem Grund der Schöpfung und der Königsherrschaft Christi letztlich gegründet und begründet ist. Der Staat ist nicht Schöpfungs-, sondern Bundesordnung:225 "Der Staat gehört in die Ordnung der Erlösung."226 So geschieht dann auch der Wechsel der Staatsordnungen im Raum und im Rahmen der Heilsgeschichte.227

219 vgl. K. Barth, Die christliche Gemeinde im Wechsel der Staatsordnungen, a.a.O., S. 33 und 49. 220 S.S. 216-219. 221 vgl. Ders., Christengemeinde und Bürgergemeinde, a.a.O., S. 53f., 61, 64 und KD II/2, S. 805-808. Vgl. dazu weiter: P. Schneider, Zur Staatsauffassung von Karl Barth. In: ZGStW 110,1954, S. 522-535. 222 vgl. K. Barth, Ein Brief aus der Schweiz nach Großbritannien, a.a.O., S. 188. 223 Vgl. Ders., Christengemeinde und Bürgergemeinde, a.a.O., S. 54. 224 Vgl. KD 11/2, S. 806. 225 Vgl. KD III/4, S. 343. 226 Ders., Aus der Diskussion in Budapest. In: Ders., Christliche Gemeinde im Wechsel der Staatsordnung, S. 47. 227 Vgl. Ders., Die christliche Gemeinde im Wechsel der Staatsordnungen, a.a.O., S. 31f.

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In gleicher Weise wie bei der Begründung des Rechts erfolgt die Bestimmung des Staates so, daß vom Sündenverständnis her die Aufgabe des Staates zu schützen und auch die Möglichkeit staatlicher Gewaltanwendung in diesem Rahmen begründet werden. Die inhaltliche Näherbestimmung der Schutzaufgabe und die Bestimmung der positiven Gestaltungsaufgaben des Staates erfolgt von der Versöhnungslehre her mit Hilfe der Analogien. Auch für das Staatsverständnis Barths gilt, daß er das aufgezeigte Argumentationsmodell anwendet, es aber in seinem inneren Zusammenhang nicht näher reflektiert und auf den Begriff bringt. Wie von Christus her die Unterscheidung von Evangelium und Gesetz erfolgt, so auch die von Christengemeinde und Bürgergemeinde. Die Christengemeinde weiß darum, daß Christus der Herr ist, und versucht, diesem Anspruch Rechnung zu tragen. Der Bürgermeinde fehlt dieses Wissen, aber ohne daß sie sich von einer bewußten Beziehung zu Gott her versteht und verstehen kann, hat sie eine von Gott verliehene Funktion.228 "Der Staat als Staat weiß nichts von Geist, nichts von der Liebe, nichts von Vergebung."229 Die Bürgergemeinde hat die in diesem Äon noch notwendige Aufgabe, als Autorität notfalls auch mit Gewalt eine Rechtsordnung zu garantieren.230 Die Wahrung des Rechts ist die primäre Staatsaufgabe 231 der Staat ist für Barth immer Rechtsstaat, insofern er nicht zum Unrechtsstaat pervertiert. Barth betont sehr, daß der Staat Recht und nicht Liebe fordern, also keine Vermischung von Christengemeinde und Bürgergemeinde stattfinden soll. Hier ist er im Bereich der Funktionen für eine ganz klare Trennung von Christengemeinde und Bürgergemeinde.232 Das Recht kann vom Staat auch - notfalls - mit Gewalt eingefordert werden 233 Die Macht und die Gewalt des Staates sind das eine Kontinuum eines Staates.234 Sie verbinden sich mit 228 Vgl. Ders., Christengemeinde und Bürgergemeinde, a.a.O., S. 50f. 229 Ders., Rechtfertigung und Recht, a.a.O., S. 33. 230 vgl. Ders., Christengemeinde und Bürgergemeinde, a.a.O., S. 52ff. 231 vgl. Ders., Ein Brief aus der Schweiz nach Großbritannien, a.a.O., S. 187f. 232 Vgl. ebd. S. 187 und Ders., Rechtfertigung und Recht, a.a.O., S. 44. 233 Vgl. Ders., Ein Brief aus der Schweiz nach Großbritannien, a.a.O., S. 188. 234 Vgl. Ders., Die christliche Gemeinde im Wechsel der Staatsordnungen, a.a.O., S. 33 und 35.

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dem anderen Kontinuum, dem Recht. "Staatsordnung heißt: Rechtsordnung durch das Mittel der Macht, Machtordnung zur Ehre des Rechtes."235 Damit ermöglicht sie der Christengemeinde, daß diese die ihr spezifisch gegebene Aufgabe der Verkündigung der Rechtfertigung wahrnehmen kann. Dabei fordert Barth einerseits, daß die Bürgergemeinde dem Glauben gegenüber tolerant sein solle,236 und mahnt sie andererseits, an ihre Verantwortung vor Gott zu denken.237 Die Unterscheidung von Staat und Kirche, wie sie schon die Reformation vollzogen hat, wird damit von Barth bejaht, und er führt diese Unterscheidung dahingehend weiter, daß die Freiheit der Kirche gegenüber dem Staat auf jeden Fall zu wahren ist. Wie er der Bürgergemeinde eine Aufgabe für die Christengemeinde zuordnet, so sieht er auch eine Aufgabe der Kirche für den Staat als gegeben an. Diese Aufgabe besteht darin, daß die Christengemeinde in ihrem Reden und Handeln den Anspruch Gottes gegenüber der Bürgergemeinde vertritt und dabei insbesondere für die Verwirklichung von Menschenrechten eintritt, da diese, wie noch gezeigt wird, nach Barth dem Evangelium entsprechende Rechte sind. Dadurch wird die Kirche zum "politischen continuum"238 und ist ihre Predigt immer auch politische Predigt 239 Für die Unterscheidung von Bürgergemeinde und Christengemeinde wählt Barth das Bild von zwei konzentrischen Kreisen, in deren Zentrum Christus als der Herr steht. Der innere Kreis symbolisiert die Christengemeinde, der äußere die Bürgergemeinde.240 Dabei soll die Christengemeinde die ihr von Gott zugedachte Aufgabe

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Ebd. S. 33. Vgl. Ders., Christengemeinde und Bürgergemeinde, a.a.O., S. 51. 237 S. 5. Barmer These, a.a.O., S. 94. 238 S. Ders., Rechtfertigung und Recht. Christengemeinde und Bürgergemeinde, S. 41 und 53. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Hinweis F. Mildenbergers, daß Barth auch das Naturrecht ablehnt, um kirchliche Machtansprüche an den Staat zu verhindern. Denn in dem Moment, in dem ein Naturrecht gelten würde, wäre die Kirche die machtvolle Vertreterin und Interpretin dieses Naturrechts. Vgl. Ders., a.a.O., S. 214. 239 vgl. K. Barth, Christengemeinde und Bürgergemeinde, a.a.O., S. 79. 240 Vgl. ebd. S. 53f.

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für die Bürgergemeinde meist "anonym" wahrnehmen:241 Sie soll nicht den Versuch unternehmen, einen explizit christlichen Staat aufzubauen und eine explizit christliche Politik zu fordern, sondern sich vielmehr vom Evangelium her für den Menschen einsetzen und in Sachfragen so kompetent wie möglich reden und handeln. Der Staat ist zwar in der Königsherrschaft Christi begründet, das bedeutet aber nicht, daß die Gestaltung des Staates christologisch geprägt sein soll, sondern nach Humanitäts- und Vernunftprinzipien. Die Christengemeinde hat deshalb ein "prophetisches Wächteramt"242 und damit die Aufgabe, dafür zu sorgen, daß der Staat seine ihm von Gott zugewiesene Aufgabe wahrnimmt. Somit ist die christliche Gemeinde mitverantwortlich für den Staat, was ein unpolitisches Christentum ausschließt. Es wird sichtbar, daß das bereits aufgezeigte Argumentationsmodell, nach dem Barth Recht und Staat begründet, im Zusammenhang seiner Überlegungen zur Bürgergemeinde folgendermaßen erweitert wird: Die Bürgergemeinde als solche erkennt und anerkennt Jesus Christus nicht. Sie weiß nicht um ihre wahre Begründung in der Königsherrschaft Christi. Sie verdankt sich dem Handeln Gottes. Eine theologische Bestimmung der Bürgergemeinde erfolgt nun nach der Zuordnung von Schöpfung und Bund bei Barth. So wie die Schöpfung der äußere Grund des Bundes ist, so ist auch die Bürgergemeinde als "äußerer Grund" für die Christengemeinde zu verstehen. Die Bestimmung aber der Aufgabe der Bürgergemeinde muß vom "inneren Grund" her erfolgen, und zwar so, daß nicht die Voraussetzung gemacht wird, daß die Bürgergemeinde Christus erkennt und anerkennt, sondern so, daß die Christengemeinde darauf hinwirkt, daß die Bürgergemeinde in ihrer inhaltlichen Gestaltung dem entspricht, was sie von Gott her sein soll, nämlich Teil des "äußeren Grundes" des Bundes. Deshalb muß einerseits auf dem Weg der Analogie auf diese Entsprechung hingewirkt und kann andererseits gerade nicht

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Vgl. ebd. S. 58. "Im politischen Raum können nun einmal die Christen gerade mit ihrem Christentum nur anonym auftreten." Ebd. S. 78. Vgl. Ders., Die christliche Gemeinde im Wechsel der Staatsordnungen, a.a.O., S. 44.

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von der Zielvorstellung einer christlichen Bürgergemeinde oder eines christlichen Staates ausgegangen werden. c) Barths Stellung zur Rede von den "Schöpfungsordnungen" und den "Mandaten" In den Zusammenhang von Barths Auseinandersetzung mit der "natürlichen Theologie" fällt auch seine Ablehnung der Rede von den Schöpfungsordnungen.243 Alle Institutionen wie Ehe und Staat, die als Schöpfungsordnungen bezeichnet werden, sind nach Barth immer "Menschenwerk".244 Sie sind als solche nicht unveränderbar und gut, sondern als menschliche Werke immer einem ständigen Wandel unterworfen und nur relativ besser oder schlechter. Der Mensch als immer auch zugleich sündiger Mensch kann solche "Schöpfungsordnungen" zudem nicht erkennen, weder formal noch inhaltlich, "... dementsprechend sind schon die verschiedenen politischen Gestalten und Systeme menschliche Erfindungen, die als solche bezeugt werden und also auch nicht Anspruch auf Glauben erheben können"245. Zudem ist im Begriff der Schöpfungsordnung eine Trennung zwischen Gott dem Schöpfer und Gott dem Versöhner impliziert. Es kann aber nur ein Wort Gottes, des Schöpfers, Versöhners und Heiligers geben, dem der Mensch "gehorsam" sein muß.246 Barth kann den Be243

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Vgl. dazu Ders., "Nein!" - Antwort an Emil Brunner, a.a.O., S. 223ff. u.ö.; KD III/4, S. 20f., 31, 39ff. u.ö. Vgl. dazu auch die ausführliche Darstellung bei R.W. Palmer, Karl Barth and the Orders of Creation, insb. S. 194-254. Vgl. K. Barth, Die christliche Gemeinde im Wechsel der Staatsordnungen, a.a.O., S. 36. Ders., Christengemeinde und Bürgergemeinde, a.a.O., S. 58. In seinen frühen Schriften hatte Barth noch eine positivere Haltung dem Begriff der Schöpfungsordnungen gegenüber: "Reich Gottes ist auch das regnum naturae mit dem ganzen Schleier, der über dieser Herrlichkeit Gottes jetzt liegt - dem Schleier zum Trotz werden wir freilich sofort hinzufügen ... Es ist in allen gesellschaftlichen Verhältnissen ... ein Letztes, das wir erkennen, eine ursprüngliche Gnade, die wir als solche bejahen, eine Schöpfungsordnung, in die wir uns finden müssen ..." Ders., Der Christ in der Gesellschaft. In: Ders., Das Wort Gottes und die Theologie, S. 51f. "Der Hinweis der Romantik, daß das Reich Gottes nicht erst heute anfange, den Hinweis des Humanismus, daß auch der gefallene Mensch der Träger des göttlichen Lichtfunkens ist, wir bejahen ihn. Wir bejahen das Leben." Ebd. S. 58. Vgl. KD III/4, S. 39ff.

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griff "Schöpfungsordnung" nur auf folgende Weise definiert akzeptieren, und zwar als "... die Ordnung, d.h. der besondere Bereich göttlichen Gebietens und menschlichen Handelns, in welchem hier dem Menschen in Jesus Christus gnädige Gott auch als Schöpfer gebietet, und dort der Mensch, dem Gott in Jesus Christus gnädig ist, auch als sein Geschöpf vor ihm steht und durch sein Gebot geheiligt und befreit werden soll"247. Ein solcher Ordnungsbegriff trifft auch für den Staat und das Recht zu. De facto spricht Barth auch von "Staatsordnungen" und "Rechtsordnungen", die er aber immer in Jesus Christus begründet und der Königsherrschaft Christi unterstellt sieht, oder so, daß er den Ordnungen des Staates die Aufgabe zuweist, Demonstration der Ordnung des Reiches Gottes zu sein. Von seiner Ablehnung des traditionellen Verständnisses von Schöpfungsordnungen her bejaht er grundsätzlich den Ansatz Bonhoeffers bei den "Mandaten", da diese als Gestalt des Gebotes in diese Welt hineinkommen und ihr nicht inhärent sind. Der inhaltlichen Ausformulierung der Mandate bei Bonhoeffer steht er aber teilweise kritisch gegenüber. 248 2. Recht und Staat als "Gleichnis" und "Analogon" zum Reich Gottes Gegenstand dieses Abschnitts ist die Untersuchung von Barths Grundlegung für sein Verfahren zur Gewinnung materialer Rechtssätze. Er deutet von der Königsherrschaft Christi her den Staat und damit auch das Recht als "... ein Gleichnis, eine Entsprechung, ein Analogon zu dem in der Kirche geglaubten und von der Kirche verkündigten Reich Gottes" 249 . Von der biblischen Vorstellung des himmlischen Jerusalems ausgehend wird der Staat als Entsprechung dieses himmlischen Jerusalems auf Erden verstanden, auch wenn er seine ihm von Gott gegebene Aufgabe verfehlt. Die Königsherrschaft Christi oder "... die Herrschaft Jesu Christi ad dexteram patris omnipotentis - ist aber der i?ea/grund auch alles weltlichen Rechtes"250. 247 248 249

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Ebd. S. 49, vgl. S. 31. Vgl. ebd. S. 21ff. Vgl. weiter D. Bonhoeffer, Ethik, insb. S. 303-319. K. Barth, Christengemeinde und Bürgergemeinde, a.a.O., S. 65, vgl. dazu auch KD IV/3, S. 122-153 und dabei insbesondere das dort entfaltete Verständnis von "Gleichnis" und "Reich Gottes". KD IV/2, S. 822.

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Von daher ist das weltliche Recht "gleichnisbedürftig und gleichnisfähig" im Hinblick auf die Herrschaft Christi.251 Der Staat soll von Gott her "Gleichnis", "Entsprechung" und "Analogon" zum Reich Gottes sein.252 Die Christen haben die Aufgabe, darauf hinzuwirken, daß der Staat so weit wie möglich zum "Gleichnis" für das Reich Gottes wird, in dem Wissen darum, daß immer ein unaufhebbarer Unterschied zwischen dem Staat und dem Reich Gottes bestehen wird. Damit gehört zum Staat wesentlich ein dynamischer Prozeß hin auf eine größtmögliche Gleichnisfähigkeit zum Reich Gottes. Dies steht im Gegensatz zu eher statisch wirkenden Versuchen von lutherischer Seite, den Staat als Erhaltungsordnung zu verstehen. Der hier von Barth verwendete Begriff "Analogon" ist in seiner Bedeutung nicht ganz eindeutig. Denn normalerweise ist das, worin sich zwei verglichene Gegenstände (Analogate) ähnlich sind, das Analogon.253 Dies würde hier bedeuten, daß der irdische Staat das ist, worin sich das Reich Gottes und eine weitere Bezugsgröße ähnlich sind. Da aber eine zweite Bezugsgröße nicht genannt wird, kann man vermuten, daß Karl Barth von Analogien zwischen dem irdischen Staat und dem Reich Gottes ausgeht. Solche Analogien wären z.B. Freiheit oder Gerechtigkeit, die beide, Staat und Reich Gottes, gewähren wollen. Da Barth jede analogia entis als Element einer natürlichen (katholischen) Theologie ablehnt, ist auch hier seine in der Gotteslehre entwickelte Rede von der analogia fidei prägend.254 Die analogia fidei besteht darin, daß sich Gottes Handeln und das Handeln der Menschen trotz der fundamentalen Unterscheidung von Gott und Mensch entsprechen. Barth spricht von der analogia fidei als einer 251 252 253 254

Vgl. ebd. und Ders., Christengemeinde und Bürgergemeinde, a.a.O., S. 65f. Vgl. ebd. S. 65 u.ö. Vgl. J. Track, Art. Analogie. In: TRE Bd. 2, S. 626. Zur Analogia fidei bei Barth vgl. u.a. ebd. S. 640ff.; H.U. von Baltasar, a.a.O., insb. S. 93-181; G. Söhngen, Analogia entis in analogia fidei. In: Antwort. Karl Barth zum siebzigsten Geburtstag, S. 266-271; W. Kreck, Analogia fidei oder analogia entis. In: Antwort. Karl Barth zum siebzigsten Geburtstag, S. 272-286; W.-D. Marsch, a.a.O., S. 158-162; E. Jiingel, Die Möglichkeit theologischer Anthropologie auf dem Grunde der Analogie. In: Ders., Barth-Studien, S. 210-232 und K. Okayama, Zur Grundlegung christlicher Ethik, insb. S. 60-121.

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analogia relationis: "... die Entsprechung und Ähnlichkeit der beiden Beziehungen besteht darin, daß dieselbe ewige Liebe, in der Gott als der Vater den Sohn, als Sohn den Vater liebt und in der er als Vater vom Sohne, als Sohn vom Vater, wieder geliebt wird, auch die von Gott dem Menschen zugewendete Liebe ist."255 Das menschliche Recht kann dem göttlichen Recht, wie es in der göttlichen Rechtfertigung sichtbar geworden ist, entsprechen. Deshalb leitet er seine materialen Rechtssätze immer direkt aus der Schrift ab, so daß sich folgendes Argumentationsschema ergibt, z.B. in der Frage der Freiheit: Christen sind berufen "... durch den Geist der Liebe Gottes in Freiheit Gottes Kinder zu sein ,.."256. Ehe Barth nun die Analogie zwischen der Freiheit der Kinder Gottes und der Freiheit der Staatsbürger herstellt, betont er noch den Unterschied der "politischen Gestalt und Wirklichkeit" zwischen der Zeit der Bibel und der Nachkriegszeit und versucht unter Berücksichtigung dieses Unterschiedes folgende "Übersetzung": "... sie (sc. die Christengemeinde) bejaht als das jedem Bürger zu garantierende Grundrecht die Freiheit ,.."257 Analogate sind die Urchristen und die Staatsbürger in der Nachkriegszeit sowie die Freiheit der Rinder Gottes und die moderne staatsbürgerliche Freiheit. Das Analogon ist der univoke Kern des Freiheitsbegriffes: Frei zu etwas bzw. von etwas. Die Freiheit der Kinder Gottes ist in Rom 8,21 (auf diese Stelle bezieht sich Barth vermutlich) die Freiheit von der menschlichen Endlichkeit zu einem ewigen Leben. Die Freiheit der Staatsbürger in modernen Rechtsstaaten ist die Freiheit von ungerechter staatlicher Verfolgung und Begrenzung zu öffentlichen Meinungsäußerungen etc.258 Es kann m.E. zur Beschreibung dieser Methode am ehesten davon gesprochen werden, daß Barth auf dem Hintergrund eines unterschiedlichen Gebrauchs von Begriffen (unterschiedliche, z.T. äquivoke Teilintensionen) "Analogien" bildet. Genau gesehen, stellen diese Analogien die Herausarbeitung der gemeinsamen Teilintensionen auch bei unterschiedlicher Verwen-

255 256 257 258

KD III/2, S. 262. Ders., Christengemeinde und Bürgergemeinde, a.a.O., S. 69. Ebd. Weitere Beispiele s. S. 264-267.

Königsherrschaft Christi

259

dung eines Begriffs dar aufgrund einer analogia attributionis extrinsecae. In ähnlicher Weise ist Barths Hinweis zu verstehen, daß das Evangelium "Richtung und Linie" für das politische Handeln von Christen und damit auch für materiale Rechtssätze bzw. ethische Sätze überhaupt sein soll.259 "Richtung und Linie" deshalb, weil es das absolut richtige Recht oder den absolut vollkommenen Staat in diesem Äon nicht geben wird.260 Exkurs: Erik Wolfs Konzeption von Recht als biblischer Weisung Barths grundsätzliche Einsichten zum Recht und sein Verfahren, materiale Rechtssätze zu gewinnen, ist durch den Rechtsphilosophen Erik Wolf261 aufgenommen und weiterentwickelt worden. Hier wird die Wirksamkeit Barths im rechtsphilosophischen Raum sichtbar. Dabei geht Wolf von einer Verwiesenheit aller Rechtsphilosophie auf die Theologie aus.262 Von daher erfährt die Rechtsphilosophie ihre Begründung, dort hat sie ihre Quelle und ihren Erkenntniszugang. "Rechtsphilosophie gründet und mündet in Rechtstheologie. Sie muß es, weil die Rechtsontologie und die Rechtsethik die Frage nach dem Woher und Wohin des Rechtsseins und Rechtgesolltseins weder stellen noch beantworten kann."263 Nach Wolf ist die Recht^/ii7o£o/?Äi'e 259 260

261

262

263

Vgl. Ders., Christengemeinde und Bürgergemeinde, a.a.O., S. 60 u.ö. Vgl. Ders., Die christliche Gemeinde im Wechsel der Staatsordnungen, a.a.O., S. 49. Vgl. aus seinem vielfältigen Werk insbesondere E. Wolf, Rechtsphilosophische Studien; Ders., Rechtstheologische Studien und Ders., Recht des Nächsten. Eine ausführliche Darstellung des gesamten, auch kirchenrechtlichen Ansatzes von E. Wolf bietet W. Steinmüller a.a.O., Bd. I, S. 257-441. Steinmüller ist der Ansicht, daß Wolf den Ansatz Barths eigenständig verarbeitet: "Die Rechtstheologie Erik Wolfs kann nicht simplifizierend als 'barthianisch' bezeichnet werden, weder im negativen noch im positiven Sinne. Sie ist sui generis. In christozentrischer Grundhaltung ist sie trotz vieler Berührungspunkte mit K. Barth offen für die lutherischen Anliegen." Ebd. S. 444. Vgl. z.B. E. Wolf, Fragwürdigkeit und Notwendigkeit der Rechtswissenschaft, S. 25f. Ders., Rechtsphilosophie. Jetzt in: Ders., Rechtsphilosophische Studien, S. 80. Vgl. auch Ders., Fragwürdigkeit und Notwendigkeit der Rechtswissenschaft, S. 25f.

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Recht der Gnade

ein Teilsystem einer theologischen Ethik. Er stützt sich dabei auf die Grundlegung der Barthschen Ethik in der Königsherrschaft Christi: Christus will seine Herrschaft überall und damit auch im staatlichen Bereich zur Geltung bringen. Dadurch ergibt sich für Wolf die grundsätzliche Rechtfertigungsbedürftigkeit irdischen Rechts durch die göttliche Autorität. Von ihr her erhält das menschliche Recht seine prinzipielle Grenze. Wolf hält eine ethische Rechtfertigung von Recht für notwendig. Das positive Recht ist nur dann verbindlich, wenn es ethisch zu legitimieren ist.264 Das Sein von Recht ist immer an seinem Sollen zu orientieren. Bei Wolf findet sich darüber hinaus eine Zuordnung von Recht und Liebe. Damit wird das Recht über die ethische Rechtfertigung hinaus dem Evangelium zugeordnet und von daher interpretiert. Wahres Recht kann nur in der unauflöslichen Einheit von Recht und Liebe gewonnen werden. Recht und Liebe gehören in einer dialektischen Spannung zusammen. Von der göttlichen Rechtfertigung als Akt der Gnade und Liebe Gottes her, die allem menschlichen Recht zugrunde liegt und mit der das menschliche Recht nie identisch sein kann, wird dem Recht sein Ort im Heilswirken Gottes zugewiesen. Recht ist deshalb für Wolf nicht nur theologisch gesprochen "Gesetz", sondern gründet in der Liebe, von der her der Mensch als Sünder gerechtfertigt wird.265 Die geforderte Einheit von Recht und Liebe findet sich in den "biblischen Weisungen". "Biblische Weisungen" verkörpern wahres Recht.266 Sie sind keine Rechtssätze, sie sind vielmehr "Leitgedanken für das Recht"267. Eine Begründung des Rechts versteht Wolf allein von der "Autorität Gottes" her als letztlich gegeben, so daß sich jeder einzelne Rechtssatz vom göttlichen Willen her begründen lassen muß bzw. nicht im Widerspruch dazu stehen darf. Alle menschliche Begründung des Rechts gelangt dort an ihre Grenze, wo deutlich wird,

264 265

266 267

Vgl. ebd. S. 19. Vgl. Ders., Zur biblischen Weisung des Rechts. Jetzt in: Ders., Rechtstheologische Studien, S. 191. Vgl. ebd. S. 189-197. Vgl. Ders., Zur Frage nach der Autorität der Bibel. Jetzt in: Ders., Rechtstheologische Studien, S. 94.

Königsherrschaft Christi

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daß wirkliches "Ins-Recht-Setzen" und "Im-Recht-Sein"268 auf die Gnade und Liebe Gottes angewiesen ist und erst eschatologisch vollendet gegeben sein wird. Recht kann deshalb sowohl als Herrschaft Gottes als auch als "Dienstrecht am Nächsten" verstanden werden. Herrschaft Gottes steht für die von Gott gewollte Schöpfungsordnung und für sein Verhältnis zu den Menschen als Geschöpfen Gottes. Dienstrecht am Nächsten beschreibt das unter den Menschen geltende Recht.269 So besteht ein Begründungszusammenhang zwischen der Rechtfertigung Gottes und dem menschlichen Recht, der in der Dialektik von biblischer Weisung und menschlichem Recht deutlich wird. Da es wirkliche Gerechtigkeit nach Wolf nur von Gott her gibt, sollen sich alle grundlegenden Rechtssätze, auch natur- bzw. vernunftrechtliche, nur von dorther ableiten und damit begründen lassen.270 Das Gottesrecht ist dem Recht der Menschen vorgeordnet.271 E. Wolf geht sogar so weit zu sagen: "Gott selbst ist das Recht."272 Dem Menschen ist die Erkenntnis des wahren Rechts mit Hilfe der Natur oder Vernunft nach Ansicht von Wolf nicht möglich, da Recht eine Gabe Gottes ist. So ist der Mensch auf die Schrift zur Erkenntnis und Findung des Rechts angewiesen.273 Er begründet die These von der Verwiesenheit allen Rechts auf die in der Bibel enthaltenen biblischen Weisungen mit der Rede von der Königsherrschaft Christi, der auch alle Rechtsordnungen unterstehen. 274 Dies 268

S. z.B. Ders., Zur biblischen Weisung des Rechts, a.a.O., S. 189. Vgl. Ders., Recht des Nächsten, S. 17ff. 270 vgl. Ders., Mensch und Recht. Jetzt in: Ders., Rechtsphilosophische Studien, S. 88: "Ihre Ordnung (sc. der Christokratie), das Recht des Nächsten, gilt vor jedem Selbstbehaupten von menschlichem Recht aus Natur, Vernunft oder geschichtlicher Tradition; vor jedem Rechtsanspruch aus Individualität oder Sozialität; vor jeder aus Sympathie entsprungenen Symbiose oder Assoziation und vor jeder aus Antipathie erwachsenen Auseinandersetzung; aber auch vor jedem zweckbedingten Zuteilen und Verteilen, gestützt auf Verhältnisse sozialer Gleichheit und Ungleichheit." Ders., Recht des Nächsten, S. 17. 271 Vgl. Ders., Zur Dialektik von menschlicher und göttlicher Ordnung. Jetzt in: Ders., Rechtstheologische Studien, S. 221. 272 Ders., Die Rechtsweisung des Bundesbuches. Jetzt in: Ders., Rechtstheologische Studien, S. 203. 273 Vgl. Ders., Zur biblischen Weisung des Rechts, a.a.O., S. 189. 274 Vgl. Ders., Zur Frage nach der Autorität der Bibel, a.a.O., S. 89. 269

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Recht der Gnade

verleiht der Bibel Autorität in Rechtsfragen, die das Recht vor seiner Pervertierung und seinem Mißbrauch schützt. Die Autorität der Bibel selbst gründet allein darin, daß sie "Wort Gottes" ist. Grundsätzlich fordern die biblischen Weisungen eine soziale Rechtsordnung, da sie insbesondere auf den Schutz der Schwachen ausgerichtet sein soll.275 Die biblische Weisung, die lex Christi ist weder ein System allgemeiner noch christlicher Ethik, sondern das Liebesgebot. Recht soll weiter an den nicht näher bestimmten, zueinander in Spannung stehenden Kriterien von Sicherheit, Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit orientiert sein, wobei Gerechtigkeit von Wolf über Sicherheit und Zweckmäßigkeit gestellt wird.276 In den biblischen Weisungen wird dem menschlichen Recht die Verwirklichung der Gerechtigkeit Gottes als bleibende Aufgabe gegeben. Gerechtigkeit kann im tiefsten Sinn nur von der Gerechtigkeit Gottes her richtig verstanden, und von ihr her sollen alle Rechtssätze abgeleitet werden. Die Gerechtigkeit Gottes zeigt, daß Gerechtigkeit ohne Liebe nicht wirkliche Gerechtigkeit ist. Das Recht wird nicht explizit in göttlichen Satzungen offenbart auch nicht in der Bergpredigt -, sondern es soll aus den biblischen Weisungen per Analogie277 abgeleitet werden. Die offenbarten biblischen Weisungen dienen zur Erkenntnis und Findung des dem Gottesgebot, das in Jesus Christus letztgültig sichtbar geworden ist, entsprechenden Rechtes. Die biblischen Weisungen können nur im Hören auf Gottes Offenbarung erfaßt werden.278 Hermeneutisch hat Wolf das Ziel, hinter dem wörtlichen und zeitlich bedingten Sinn biblischer Sätze den verborgenen "Weisungs-Sinn" zu erfassen.279 Grundlage zur Erfassung dieses verborgenen "Weisungs-Sinns" ist die Orientierung an der Offenbarung Gottes in Jesus Christus, von der her die gesamte Schrift zu interpretieren ist.280 Es geht um ein "ge-

275 vgl. Ders., Zur biblischen Weisung des Rechts, a.a.O., S. 194f. 276 Yg] D e r S ( Fragwürdigkeit und Notwendigkeit der Rechtswissenschaft, S. 20f. 277

Wolf verwendet den Begriff "Analogie" in derselben Weise wie Barth. Vgl. E. Wolf, Zur biblischen Weisung des Rechts, a.a.O., S. 196. 279 Vgl. Ders., Die Rechtsweisung des Bundesbuches, a.a.O., S. 204 und 209. 280 Hier knüpft Wolf an das hermeneutische Prinzip M. Luthers "was Christum treibet" an. 278

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263

genwärtiges Hören und Nachdenken des Textes"281 im Gesamtkontext der biblischen Botschaft. Die biblischen Weisungen sind für Christen verpflichtend, insofern sie dem Menschen den Weg zu konkreten Entscheidungen weisen bzw. Richtschnur sind. "So wird Biblische Weisung zur Richtschnur eines sozialen Daseins, das dem offenbarten Gotteswillen, der Ordnung der Liebe in Gottesgebot und Nächstenrecht entspricht."282 Menschliches Recht ist demnach immer Menschenwerk und darf nicht vergöttlicht werden. Da es aber aus biblischen Weisungen deduziert wird, fällt ein "Abglanz des Lichtes 'von oben'" auf es, ist es "transzendent".283 Indem das menschliche Recht versucht, dem göttlichen Recht zu entsprechen, es zum Maßstab menschlichen Rechts macht, kommt es zu einer analogia actionis zwischen menschlichem und göttlichem Recht.284 Wolf versteht die biblischen Weisungen aber ausdrücklich nicht als normativ, sondern "direktiv" für menschliches Recht.285 Ausgangspunkt der Überlegungen Wolfs zu einem Recht des Nächsten286 ist die These, daß das menschliche Wesen durch Freiheit konstituiert wird. Freiheit bedeutet die Möglichkeit zur Entscheidung für den wirklichen Menschen, den Mitmenschen. Weiter führt er zwei "sozialtheologische Grundphänomene" ein287: Personalität und Solidarität. Die Hinwendung Gottes zum Menschen und die Gottesebenbildlichkeit begründen die Personalität des Menschen, die das "Urrecht" ist, von dem her sich alle Grundrechte ableiten,288 und die Gleichheit aller Menschen untereinander, durch die der Mitmensch zum Nächsten wird. Die Menschen sind durch die Nächsten281

Vgl. E. Wolf, Zur Dialektik von menschlicher und göttlicher Ordnung, a.a.O., S. 212.

282

283 284

285 286 287 288

Ders., Gottesrecht und Nächstenrecht. Jetzt in: Ders., Rechtstheologische Studien, S. 229. S. Ders., Zur biblischen Weisung des Rechts, a.a.O., S. 192. Vgl. Ders., Zur Dialektik von menschlicher und göttlicher Ordnung, a.a.O., S. 224. Vgl. z.B. Ders., Gottesrecht und Nächstenrecht, a.a.O., S. 229. Vgl. Ders., Recht des Nächsten. S . e b d . S . 16. Vgl. ebd. S. 16f. und Ders., Fragwürdigkeit und Notwendigkeit der Rechtswissenschaft, S. 26.

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schaft miteinander verbunden. Das Recht des Nächsten, das die Personalität des Nächsten im Anderssein wahrt, ist deshalb grundlegend für alles Recht. In der Anerkennung des Rechts des Nächsten sieht Wolf den Überschritt zwischen Sein und Sollen als möglich an. Das Recht des Nächsten wird für Wolf zur metajuristischen Kategorie.289 Die biblischen Weisungen bestimmen vom Bundesgedanken ausgehend das Recht des Nächsten inhaltlich, so daß es zu folgenden Grundsätzen des Nächstenrechts kommt: Anerkennung und Respektierung des Rechts der anderen, gegenseitige Gewährung von Recht, Verzicht auf das eigene Recht zugunsten des Rechts des Nächsten.

3. Konkretion: Die Orientierung an der Menschenrechtsidee als Mitte des Rechts und das Recht auf Widerstand als Grenze Barth gewinnt zum einen von seiner Einsicht her, daß der Staat und das Recht ein "Analogon" oder "Gleichnis" zum Reich Gottes sind, und zum anderen von der These, daß Christus als Wort und Wille Gottes in Staat und Kirche, in Evangelium und Gesetz zur Geltung kommen soll, folgende materialen Rechtssätze, die zudem auf biblischer Grundlage beruhen 290 : 1. 1. Kor 2,6ff.: Zwei gegensätzliche Äonen, daraus folgt: Die Notwendigkeit der Trennung von Kirche und Staat.291 2. Rom 13: Die Engelsmächte (exousia) haben auch in ihrer Entartung noch Christus zu dienen, daraus folgt: Der Staat hat Christus und der Rechtfertigung zu dienen. Auch wenn der Staat entartet, ist ihm Unterordnung zu leisten, indem z.B. weiterhin Zoll gezahlt wird. Seine Grenze findet dies aber darin, daß primär Gott zu geben ist, was Gottes ist 292

289 290 291

292

Vgl. Ders., Recht des Nächsten, S. 18. Vgl. dazu W.-D. Marsch, a.a.O., S. 200, Anm. 14 und D. Cornu, a.a.O., S. 99-108. Vgl. K. Barth, Rechtfertigung und Recht, a.a.O., S. 12f. und 5. Barmer These, a.a.O., S. 94. Vgl. Ders., Rechtfertigung und Recht, a.a.O., S. 19f. und 39.

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3. Luk 13,32: Jesus nennt Herodes einen "Fuchs", daraus folgt: Kritischer Respekt als angemessene Form der Unterordnung. 293 4. Erst das himmlische Jerusalem wird wahrhaft göttlich sein. Daraus folgt: Keine Vergöttlichung des Staates.294 5. Joh 18,36: "Mein Recht ist nicht von dieser Welt", daraus folgt: Es darf zu keiner Verkirchlichung des Staates kommen.295 6. Luk 10,36: Gott wurde Mensch. Daraus folgt: Der Mensch ist das Maß aller Dinge, und er muß gegenüber der Autokratie der Sachen in Schutz genommen werden.296 7. Rechtfertigung als der Akt, mit dem Gott sein ursprüngliches Recht auf den Menschen und das Recht des Menschen wieder aufgerichtet hat. Daraus folgt: Bejahung des Rechtsstaates.297 8. Gott ist gekommen, um das Verlorene zu retten, daraus folgt: Sozialstaatlichkeitsprinzip 298 9. Freiheit der Kinder Gottes. Daraus folgt: Bejahung der bürgerlichen Freiheitsrechte 299 10. Alle Menschen sind Glieder eines Leibes. Daraus folgt: Die "Grundpflicht der Verantwortlichkeit" aller Bürger und die Garantie der Menschenrechte.300 11. Ein Herr, eine Taufe, ein Geist. Daraus folgt: Die Gleichheit aller vor dem Gesetz.301 12. Verschiedenheit der Gaben und Aufträge. Daraus folgt: Das Gewaltenteilungsprinzip.302 13. Christus als Licht der Finsternis. Daraus folgt: Die Ablehnung von Geheimdiplomatie und -politik.303 14. Gottes Zorn währt nur einen Augenblick, Gottes Gnade in Ewigkeit. Daraus folgt: Die gewaltsame Konfliktregelung kann nur 293 294

296 297 298 299 300 301 302 303

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

ebd. S. 40. ebd. S. 23-27. Ders., Christengemeinde und Bürgergemeinde, a.a.O., S. 62f. ebd. S. 67. ebd. S. 68. ebd. S. 68f. ebd. S. 69 und 71f. ebd. S. 69f. ebd. S. 70. ebd. S. 70f. ebd. S. 71.

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als ultima ratio gelten, und es muß zu einer aktiven Friedenspolitik kommen.304 15. Weil Gott es in seiner Gerechtigkeit immer um den Menschen und sein ihm von Gott gegebenes Recht geht, ist es Aufgabe menschlicher Gerechtigkeit, ebenfalls für Menschenrechte und -würde einzutreten. 305 Insgesamt zeigen diese materialen Rechtssätze und Prinzipien der Rechtsgestaltung zum einen eine Orientierung sowohl an einem Sozial- und Rechtsstaatlichkeitsprinzip als auch an der Charta der Menschenrechte. Und beides meint Barth in der Heiligen Schrift als Wort und Wille Christi und im Sinne seiner Königsherrschaft begründet zu finden. Zum anderen finden sich hier, worauf in der Diskussion immer wieder hingewiesen wurde, Anklänge an das Naturrecht. Barth selbst hat diese Nähe zum Naturrecht gesehen und bejaht. 306 Diese punktuelle Übereinstimmung zwischen vom Evangelium her begründeten Rechtssätzen und naturrechtlichen Sätzen erklärt Barth mit der Königsherrschaft Christi: Auch im Staat setzt Christus richtige Erkenntnis durch. Auch wenn der Staat dabei aus einer "trüben Quelle"307, d.h. dem Naturrecht, schöpft - umso wichtiger ist es, daß die Christengemeinde im Staat für die klar aus dem Evangelium zu erkennenden Rechtsgrundsätze eintritt. Die Grenze der grundsätzlichen Bejahung des Staates und seines Rechts liegt da, wo der Staat seinen von der Königsherrschaft Christi ihm zugewiesenen Auftrag vernachlässigt, staatliches Recht nicht mehr seine Aufgabe erfüllt. Dann ist Widerstand gegen den Staat und bestimmte Formen der durch ihn ausgeübten Rechtssetzung und Rechtspraxis geboten.308 Geschichtlich ist für Barth dieser Widerstand gegen das Dritte Reich geboten.309 Beim Widerstand und der 304 305 306

307 308

309

Vgl. ebd. S. 73f. Vgl. Ders., Das christliche Leben, S. 462-470, insb. S. 468f. Vgl. Ders., Christengemeinde und Bürgergemeinde, a.a.O., S. 75. So spricht L.C. Midgley, a.a.O., S. 123f. davon, daß es bei Barth zu einem offenbarten Naturrecht, "revealed natural law", kommt. Vgl. K. Barth, Christengemeinde und Bürgergemeinde, a.a.O., S. 75. Vgl. Ders., Die christliche Gemeinde im Wechsel der Staatsordnungen, a.a.O., S. 44f. Vgl. Ders., Ein Brief aus der Schweiz nach Großbritannien, a.a.O., S. 179-200.

Königsherrschaft Christi

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Verteidigung gegen das Dritte Reich geht es nicht zuletzt um die Wahrung "der Sache" des Rechtes. 310 Deshalb ist für Barth der Zweite Weltkrieg eine "Polizeimaßnahme", und er kann sogar so weit gehen, den Zweiten Weltkrieg als von Gott im Sinne der Königsherrschaft Christi gewollt zu bezeichnen. 311

§ 5 Zur Einheit von Dogmatik und Ethik

Die Einheit und enge Zuordnung der Ethik zur Dogmatik bei Barth ist Folge der in den vorangegangenen Paragraphen dargestellten Grundeinsichten Barths, - daß immer von Gott - wie er sich in Jesus Christus offenbart hat her zu denken ist; - daß Jesus Christus der wahre Mensch ist und sich in ihm zeigt, was wahres Menschsein bedeutet: Gehorsam gegenüber dem Gebot Gottes; - daß die Gnade der Inhalt und das Gesetz die Form des Evangeliums ist; - daß Welt und Mensch der Königsherrschaft Christi unterstellt sind. Dabei ist von besonderer Relevanz für die Zuordnung der Ethik zur Dogmatik die Verhältnisbestimmung von Evangelium und Gesetz. Mit dem Zuspruch der Gnade ist unauflöslich der Anspruch Gottes auf den Menschen verbunden. 312 Deshalb hat der Darstellung Gottes 310

Vgl. ebd. S. 185. Vgl. ebd. S. 194, 181ff. und 186f. 312 vgl. F. Mildenberger, a.a.O., S. 235-238 und E. Jüngel, Evangelium und Gesetz, a.a.O., S. 196-209. Zur Verhältnisbestimmung von Dogmatik und Ethik bei Barth vgl. weiter: T. Rendtorff, Der ethische Sinn der Dogmatik. In: Die Realisierung der Freiheit, hg. von Ders., S. 119-134; J. Cullberg, Das Problem der Ethik in der Dialektischen Theologie; J. van Dijk op, Die Grundlegung der Ethik in der Theologie Karl Barths; H. Kirsch, Zum Problem der Ethik in der kritischen Theologie Karl Barths. Auffallend ist die Vielzahl der Veröffentlichungen zu diesem Thema im angelsächsischen Raum: T.C. Oden, The promise of Barth; R.W. Palmer, a.a.O.; R.E. Willis, The concept of responsibility in the ethics of Karl Barth and Richard

311

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Recht der Gnade

und seines Handelns immer die Darstellung der sich daraus für den Menschen und sein Handeln ergebenden Ethik zu folgen. Dogmatik mündet in und zielt auf Ethik.

1. Die Verhältnisbestimmung von Dogmatik und Ethik a) Dogmatik als Ethik Um der Dogmatik willen versteht Barth Dogmatik auch als Ethik: Die Dogmatik gewinnt ihre Identität dadurch, daß es in ihr um Gott und damit um Gottes Beziehung zum Menschen geht. Zu dieser Beziehung von Gott und Mensch gehört das menschliche Handeln als Folge des göttlichen Handelns am Menschen.313 So ist unverzichtbar in der Gotteslehre und in der Anthropologie der Grund dafür gegeben, daß Dogmatik auch als Ethik zu verstehen ist, weil Dogmatik sonst nicht Dogmatik wäre. Barth nennt drei Gründe dafür, Dogmatik als Ethik zu verstehen: Als ersten Grund führt er in der Gotteslehre an, daß der menschliche Gehorsam die Antwort auf die Gnade Gottes, auf das Hören des Wortes Gottes ist.314 Zugleich wird in der Gotteslehre Gott als Schöpfer, Versöhner und Erlöser dargestellt. Dem folgt und korrespondiert jeweils ein Gebot des Schöpfers, Versöhners und Erlösers:315 Das Gebot Gottes ist immer Gebot für den Menschen. "Wo Gott als des Menschen Herr verstanden ist, da ist eben damit auch das Problem des menschlichen Gehorsams gestellt."316 Die Frage nach dem Gehorsam ist eine Frage nach dem Handeln des Menschen. Dieses Handeln des Menschen wird in der Anthropologie entfaltet. Der zweite Grund, Dogmatik als Ethik zu begrei-

313 314 315 316

Niebuhr. In: Scottish journal of theology 23,1970, p. 279-290; Ders., The ethics of Karl Barth; S.H. Rae, Gospel, law and freedom in the theological ethics of Karl Barth. In: Scottisch journal of theology 25,1972, p. 412-422 und H.O. Tiefel, The ethics of gospel and law: aspects of the Barth-Luther-debate. Vgl. KD 1/2, S. 881. Vgl. KD II/2, S. 607f. Vgl. ebd. S. 610 und KD III/4, S. 25 und 37. KD II/2, S. 594.

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fen, liegt deshalb in der Anthropologie. Christus als wahrer Mensch ist Ausgangspunkt der Anthropologie. An ihm wird dann sichtbar, daß alle Versuche des Menschen, Gut und Böse zu unterscheiden, Ausdruck der Anmaßung des sündigen Menschen sind.317 Auch aus diesem Grund lehnt Barth eine Anknüpfung an und eine Aufnahme philosophischer Ethik strikt ab, ebenso eine Apologetik der christlichen gegenüber der allgemeinen Ethik.318 Das Gute kann bloß vom Gebot Gottes her319 und dem ihm entsprechenden Handeln Christi erkannt werden. Der dritte und gewichtige Grund, Dogmatik als Ethik zu verstehen, ist Barths These, mit der er letztlich auf den Existentialismus zurückgeht,320 daß der Mensch seine Existenz nur als Handelnder vewirklicht: "Die ethische Frage, d.h. die Frage nach dem richtigen Handeln, ist die menschliche Existenzfrage."3,21 Dem Gebot Gottes, des Schöpfers, des Versöhners und Erlösers korrespondiert der Mensch als Geschöpf, gerechtfertigter Sünder und "Erbe des Gottesreiches" bzw. "Kind Gottes".322 Über die genannten Gründe und die damit gegebenen Orte hinaus, an denen die Ethik im Rahmen der Dogmatik verhandelt wird, gibt es noch spezifische dogmatische Themen, in denen von Barth die Ethik in der Dogmatik ausdrücklich zur Sprache gebracht wird: Prädestinationslehre,323 Gesetz, Sünde, Heiligung324 und Taufe. Die Taufe ist bei Barth für die Einheit von Dogmatik und Ethik von zentraler Bedeutung. Sie ist hierbei "die Pointe" und nicht "eine eigentümliche Sonderlehre am Rande"325. Bei der Taufe geht es auch um ihre Inbeziehungsetzung zum Verständnis von (Erb)sünde, Prädesti-

317 318 319 320 321 322 323 324 325

Vgl. ebd. S. 580. Vgl. u.a. ebd. S. 569-586. Vgl. ebd. S. 595. So E. Jüngel, a.a.O., S. 202f. KD 1/2, S. 887. Vgl. KD II/2, S. 611 oder KD III/4, S. 26. Vgl. KD II/2, S. 566. Vgl. KD 1/2, S. 886. So T. Rendtorff, a.a.O., S. 128. Zum Verhältnis von Rechtfertigung - Heiligung Ethik und Taufe bei Barth vgl. weiter J. Track, Kinder- oder Erwachsenentaufe? In: EvErz 40,1988, insb. S. 137-144.

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nation und Heiligung, die bei Barth als dogmatische Themen, in denen ethische Fragen behandelt werden, gekennzeichnet sind. Gegenüber dem neuzeitlichen Bestreben nach vernünftiger Selbstbestimmung des Menschen und in Kritik neuzeitlicher Autonomievorstellungen stellt Barth die These auf, daß nur von Jesus Christus her die Ethik ihren Grund und ihre Gestalt gewinnen kann. Dem korrespondiert sein Konstitutionsmodell der Wirklichkeit und des Subjekts. Alles Wirkliche kann nach Barth nur dann "wirklich" sein, wenn es von Gott getragen und bestimmt wird, ansonsten verfällt es der Wirklichkeit des Nichtigen, das seine vorübergehende Macht nur darin hat, das es von Gott zugelassen und in den Dienst genommen wird. Die Konstitution des Subjekts ist dem entsprechend so zu denken, daß das Subjekt nur dort zu Grund und Gestalt kommt, wo es Gott in freiem Gehorsam antwortendes Subjekt wird. Das ist dem Subjekt ermöglicht in der befreienden Tat der Versöhnung. Für den Menschen gibt es keine Möglichkeit, neues Leben und Freiheit aus sich selbst zu begründen. Durch Gottes Handeln allein vollzieht sich diese Wendung im Leben des Menschen. Diese Wendung, in der es zum Ereignis der Begründung der christlichen Existenz kommt, geschieht nach Barth in der dem Menschen widerfahrenden Taufe mit dem Heiligen Geist. Die Taufe mit Wasser ist menschliche Antwort und die menschliche Tat, die der göttlichen Tat entspricht. "Die in der Taufe mit Wasser sich vollziehende Antwort ist nach Barth erste Tat im Leben des Christen, von der Erneuerung durch das Handeln Gottes her. Darum gehört für Barth die Taufe in den Bereich der Ethik, Ethik selbst aber ist begriffen unter dem Stichwort der Antwort."326 Taufe versteht Barth als Handeln Gottes aus Gnade am Menschen, und diesem Handeln entspricht das menschliche Handeln im Gehorsam gegenüber Gottes Gebot. 327 So ist die Taufe ein explizit ethisches Thema, an dem exemplarisch von Barth "Dogmatik als Ethik" aufgewiesen wird. Er hatte darüber hinaus für den weiteren Gang seiner Dogmatik die Ethik als Auslegung des Vaterunser, als

326 327

J. Track, a.a.O., S. 143/144. Vgl. KD IV/4, S. 45ff.

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Anrufung Gottes, geplant, sowie eine Auslegung des Abendmahls als Erneuerung des christlichen Lebens.328 Auch für die Ethik wäre eine Trennung von der Dogmatik problematisch, da es dann letztlich immer zu einer Umkehr der Blickrichtung und der Subjekte kommt: von Gott zum Menschen. Bei einer von der Dogmatik losgelösten Ethik wird der Mensch, und nicht mehr das Wort Gottes, zum Ausgangspunkt.329 Demgegenüber schafft gerade das Wort Gottes als Gegenstand der Dogmatik die angemessene Verbindung zur Anthropologie, indem es den Menschen und damit auch sein Handeln zum Gegenstand hat. Deshalb sind beim Übergang von der Dogmatik zur Ethik "... die Fragen, die dort in aller Ausführlichkeit erörtert werden, von der Art, daß sie die Schwierigkeiten zu erkennen geben, ob und wie neben Gott und nach Gott ein eigenes handlungsfähiges menschliches Subjekt theologisch gedacht werden kann und soll"330. So darf es auch um der Ethik willen höchstens zu einer technisch bedingten Trennung von der Dogmatik kommen, die aber nach Barth nicht unproblematisch ist.331 Nur die Einheit von Dogmatik und Ethik auch in der Darstellung wahrt das theologische Thema des Wortes Gottes in angemessener Weise. Denn: "Das Problem der 'Ethik' ist identisch mit dem der 'Dogmatik': Soli Deo gloriaΓ 332 Die Ethik wird zur Aufgabe der Dogmatik.333 "Die Dogmatik selbst ist Ethik. Auch die Ethik ist Dogmatik."334 Wenn die Dogmatik zur Ethik wird, macht sie "ihren ethischen Gehalt sichtbar"335. Von daher ist der Ort der Ethik in der Theologie in 328 Vgl die bereits von Barth dazu ausgearbeiteten Fragmente: Ders., Das christliche Leben. 329 Vgl. KD 1/2, S. 884. Ebenso ist die römisch-katholische Möglichkeit der Verhältnisbestimmung von Dogmatik und Ethik nicht zuletzt wegen der mit ihr verbundenen Lehre von der analogia entis abzulehnen, vgl. KD II/2, S. 587-593. 330 T. Rendtorff, a.a.O., S. 125. 331 Vgl. KD 1/2, S. 890 oder KD III/4, S. 2. Der frühe Barth bezeichnet die Ethik noch als "Hilfswissenschaft" der Dogmatik vgl. Ders., Ethik I, S. 1. Nur dann, wenn die Ethik als "Hilfswissenschaft" verstanden wird, kann sie aus technischen Gründen von der Dogmatik getrennt vorgetragen werden. So legitimiert Barth später sein früheres Vorgehen, vgl. KD 1/2, S. 889f. 332 Ders., Der Römerbrief, S. 417. Vgl. auch KD IV/2, S. 882. 333 Vgl. KD II/2, S. 568. 334 KD 1/2, S. 888. Vgl. auch KD II/2, S. 568. 335 S. KD II/2, S. 599.

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der Dogmatik. Damit trifft Barth eine Entscheidung streng konsistent zu seiner theologischen Grundlegung, und nicht im Sinne des generellen Streites zwischen Dogmatik und Ethik, wie er insbesondere in der Liberalen Theologie zugunsten der Ethik geführt wurde.336 Mit dieser letztlich in Barths Auffassung vom Handeln Gottes begründeten Zuordnung von Dogmatik und Ethik wird auf der einen Seite die Ethik in besonderer Weise zur Geltung gebracht. In ihr kommt im glaubenden Gehorsam und im Handeln die universale Antwort des Menschen auf Gottes Handeln zur Sprache. Auf der anderen Seite bleibt die auch in der nachfolgenden Diskussion immer an Barth gestellte Frage, ob sich sein Versuch der "kritischen Einholung" des neuzeitlichen Autonomiestrebens sowohl theologisch wie auch im Dialog mit der Philosophie als sachgemäß erweist. Denn solche Konstitutionstheorie der Wirklichkeit und des Subjekts hebt den schöpfungsgegebenen "Eigenstand", nicht Selbststand des Menschen auf, der im Versöhnungshandeln Gottes neu aufgerichtet wird. So wird zugleich einem konstruktiven Dialog mit dem neuzeitlichen Autonomiestreben, der mehr ist als nur bloße Entgegensetzung, und einem Gespräch mit der philosophischen Ethik und damit auch mit einem philosophischen Rechtsverständnis der Boden entzogen. b) Zur dogmatischen Grundlegung der Ethik Die Begründung der Ethik geschieht bei Barth von zwei Zugängen aus: zum einen von der Gotteslehre, zum anderen von der Verhältnisbestimmung von Evangelium und Gesetz her. Die Begründung und auch die Zielsetzung der Ethik durch die Gotteslehre liegt"... in der Erkenntnis der erwählenden Gnade Gottes in Jesus Christus"337. In dieser Begründung ist schon der zweite Argumentationsstrang impliziert: die Verhältnisbestimmung von Evangelium und Gesetz, in der deutlich wird, daß dem Indikativ des Evangeliums immer der Imperativ des Gebotes entspricht, weil das Gesetz die "Form" des

336 337

Vgl T

Rendtorff, a.a.O., S. 127 und 123.

KD II/2, S. 603.

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Evangeliums ist.338 Es gilt, dem Gebot Gottes als Mensch gehorsam zu sein - das göttliche Gebot und der menschliche Gehorsam diesem Gebot gegenüber werden zu einer zentralen Argumentationsfigur der Ethik Barths.339 Es kann m.E. festgestellt werden, daß der "Gehorsam" im Laufe der theologischen Entwicklung Barths zunehmend zu einem zentralen ethischen Begriff wird.340 Der menschliche Gehorsam eröffnet - recht verstanden - menschliche Freiheit; das Gebot Gottes fordert die menschliche Freiheit erst heraus: "Er (sc. der Mensch) soll ja im Vollzug seines Gehorsams frei werden für ihn (sc. Gott) und so zum ewigen Leben."341 Der Begriff des "Gehorsams" ist untrennbar an das Verständnis von Gottes Gebot geknüpft.342 Es geht darum, entsprechend dem in Jesus Christus offenbar gewordenen Handeln, das den Willen Gottes befolgt, zu handeln. Barth bemüht sich weiter in seiner Ethik immer wieder um ein angemessenes Verständnis des Subjektseins Gottes und seines Handelns in Beziehung zum Subjektsein des Menschen und dessen Handeln, auch im Blick auf die inhaltlichen ethischen Aussagen. Dabei ist von seiner dogmatischen Grundlegung her das Subjektsein Gottes von grundlegend anderer Qualität als das des Menschen. "Ist die Dogmatik, ist die Gotteslehre Ethik, so muß das entscheidend heißen: sie ist die Bezeugung jener göttlichen Ethik, die Bezeugung des Guten, das der Inhalt des an Jesus Christus ergangenen und von ihm erfüllten Gebotes ist."343 Konkret kann er formulieren, daß das Gebot zwei Elemente hat: Gott die Ehre zu erweisen und für die menschliche Gerechtigkeit zu kämpfen.344 Die Ethik hat die Aufgabe, Gottes Gebot darzustellen und zum Verstehen zu bringen.345 Weil das Gebot Gottes das Gebot des Schöpfers, Versöhners und Erlösers ist, ist jeweils innerhalb der verschiedenen Teile der Dogmatik eine "spezielle" Ethik notwendig, die die Aufgabe hat, das spezifische Ge338 339 340 341 342 343 344 345

Vgl. ebd. S. 567 und 607. Vgl. T.C. Oden, a.a.O., S. 44 u.ö. Vgl. z.B. KD IV/4, S. 39-47 oder Ders., Das christliche Leben. KD III/4, S. 13. Vgl. KD II/2, S. 609, vgl. auch S. 600. Ebd. S. 575. Vgl. Ders., Das christliche Leben, S. 348. Vgl. KD III/4, S. 2.

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bot, das sich aus der jeweiligen Geschichte des Schöpfers mit dem Geschöpf usw. ergibt, den Menschen nahezubringen.346 Von daher kommt es zu folgender Definition von Ethik bei Barth: "Ethik als geformter Hinweis auf das ethische Ereignis, Ethik als Umschreibung und Bezeugung des Gebotes Gottes und des ihm entsprechenden guten menschlichen Handelns."347 Auch die christliche Ethik soll Ausdruck der göttlichen Wahrheit sein. Sie beschreibt die Wirklichkeit als von Gott und seinem Handeln bestimmte Wirklichkeit.348 Die Wirklichkeit als von Gott bestimmte Wirklichkeit und die Geschichte, als von Gottes Geschichte mit dem Menschen bestimmt, werden zum "Materialprinzip" von Ethik.349 Dabei ist die Ethik immer von der jeweiligen geschichtlichen Situation und Fragestellung, in der sie aufgestellt wird, abhängig.350 So findet sich bei Barth eine gewisse Tendenz zur Situationsethik.351 Es gilt, Gottes Gebot in der Situation zu erkennen. Dieses Gebot ist nach Barth immer klar und deutlich; es liegt am Menschen, wenn dieser es so nicht wahrnimmt.352 Von seinem ethischen Ansatz her lehnt Barth entschieden eine christliche Sonderethik ab353: Es gibt nur eine Wahrheit, und ihr gilt es immer und überall gehorsam zu sein. Von daher ist es auch notwendig, ein Gespräch mit anderen (philosophischen) Ethiken zu führen, um diese Wahrheit dort zu vertreten. Es kann in der christlichen Ethik nicht darum gehen, an in anderen Ethiken gewonnene Erkenntnisse "anzuknüpfen", sondern diesen anderen Ethiken die in Christus offenbarte Wahrheit aufzuzeigen.354 346

347

348 349 350 351

352 353 354

Vgl. ebd. S. 27. Der Übergang zur Ethik wird vollzogen in KD II/2; III/4 und IV/4. KD III/4, S. 32, vgl. auch seine Definition von allgemeiner bzw. philosophischer Ethik, KD U/2, S. 569. Vgl. ebd. S. 609. Vgl. KD III/4, S. 28ff. Vgl. ebd. S. 7-12. Zur Frage, inwieweit Barths Ethik eine Situationsethik ist, vgl. T.C. Oden, a.a.O., insb. S. 58-76. Vgl. KD III/4, S. 12. Vgl. KD II/2, S. 581-584. Sehr kritisch äußert sich Rae gegenüber Barths ethischem Ansatz gerade deshalb, weil dieser sich dem Dialog mit anderen Ethiken nicht stellt und so Chancen der

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2. Das Recht in der Einheit von Dogmatik und Ethik Barth hat dem Recht in seiner Verhältnisbestimmung von Dogmatik und Ethik explizit keinen Ort zugewiesen. Auch spielt das Recht in dieser und für diese Verhältnisbestimmung, soweit ich es beurteilen kann, keine Rolle. Genauer gesagt, es hat keine explizite Funktion in der Einheit von Dogmatik und Ethik. So vollzieht Barth keine Unterscheidung von Recht und Ethik. Der Grund dafür dürfte darin liegen, daß es für ihn nur eine angemessene Ethik, nämlich eine Ethik, die das Gebot Gottes zum Grund und Gegenstand hat, gibt. Diese Ethik gilt es zum einen so weit wie möglich der Sache nach "anonym" in einer Gesellschaft zu vertreten, und zum anderen im Dialog zu anderen Ethiken für den Wahrheitsanspruch der christlichen Ethik zu argumentieren. Das bedeutet, daß auch für das Recht in einer Gesellschaft versucht werden soll, es von den Christen "anonym" im Sinne des Willens Gottes zu gestalten und zudem im Dialog über das Recht das christliche Rechtsverständnis und den wiederum mit ihm verbundenen Wahrheitsanspruch einzubringen. Für die Art und Weise, wie dieser Wahrheitsanspruch zu vertreten ist, hat Barth einen originellen Lösungsvorschlag, nämlich, daß "... die theologische Ethik bei ihrer Annexion des Bereiches der allgemeinen ethischen Problematik sich so verhielte, wie die Israeliten bei ihrem Einzug in Kanaan es getan haben oder tun sollten. Nicht als in ein fremdes, ihnen nicht gehöriges Land, sondern als in das Land ihrer Väter sollten sie ja in Kanaan einziehen."355 Ob dieser Lösungsvorschlag auch hilfreich ist, wird noch zu fragen sein. Weiter fordert Barth eine konsens- und dialogfähige sowie sachkompetente Haltung in der christlichen Ethik.356 Wie dieses beides zu vereinbaren ist, wird ebenfalls noch zu klären sein. Die sich von den in dieser Arbeit durchgeführten Untersuchungen ergebende Unterscheidung von Recht und Ethik kann Barth nicht aufnehmen, weil es bedeuten würde, das Recht in einer Gesellschaft

355 356

Theologie verspielt, vgl. Ders., Gospel, law and freedom in the theological ethics of Karl Barth, a.a.O. KD II/2, S. 579. Vgl. Ders., Rechtfertigung und Recht, a.a.O., S. 78.

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als Ausdruck eines gesamtgesellschaftlichen Konsenses für einen Rahmen menschlicher Handlungs- und Daseinsorientierung zu begreifen, von dem verschiedene Ethiken als weiterreichende Handlungs- und Daseinsorientierung zu unterscheiden sind. Dies würde aber dazu führen, daß die christliche Ethik eine Ethik unter anderen wäre. Dies gilt es nach Barth aber auf jeden Fall zu vermeiden. Das dürfte ein Grund dafür sein, daß er innerhalb seiner Konzeption keine explizite Unterscheidung von Recht und Ethik vollzieht. Es findet sich aber eine charakteristische Unterscheidung auf implizite Weise so, daß das Recht durch die Rechtfertigung und die Ethik durch das Gebot Gottes begründet werden. Diese unterschiedlichen Begründungen lassen sich auf einen gemeinsamen Ursprung zurückführen: die Versöhnung. Die Rechtfertigung ist Ausdruck der Versöhnung Gottes, und das Gebot oder das Gesetz Gottes als Anspruch ist die "Form" des Evangeliums oder der Versöhnung als Zuspruch Gottes. "Das christliche Werk als die Frucht des christlichen Glaubens, das christliche Gesetz als die Gestalt des christlichen Evangeliums, die christliche Ethik als den Imperativ des Indikativs der christlichen Dogmatik."357 So sind sowohl Recht als auch Ethik gemeinsam umgriffen von dem zentralen Handeln Gottes, seiner Versöhnung mit dem Menschen. Auch das Recht, das von der Rechtfertigung her begründet ein Recht der Versöhnung sein soll, gehört in die von der Versöhnungslehre her begründete Einheit von Dogmatik und Ethik. Weil es keine Trennung von Dogmatik und Ethik gibt, finden sich Aussagen zum Recht sowohl in ethischen als auch in streng dogmatischen "Zusammenhängen". Es gibt aber keine Inbeziehungsetzung von Recht, Dogmatik und Ethik, nur von Ethik, Gesetz und Evangelium: "Die Ethik als Lehre von Gottes Gebot erklärt das Gesetz als die Gestalt des Evangeliums, d.h. als die Norm des dem Menschen (sie!) durch den ihn erwählenden Gott widerfahrende Heiligung."358 So vollzieht Barth seine Ethik von dem Gedanken der Heiligung her und von den dem Christen durch die Heiligung ermöglichten 357 358

Ders., Christliche Ethik, S. 15. KD II/2, S. 564. Zum grammatikalischen Fehler vgl. E. Jüngel, Evangelium und Gesetz, a.a.O., S. 199, insb. Anm. 71. Vgl. weiter K. Barth, Ethik I, S. 1.

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Handlungsweisen.359 Relevant ist in diesem Zusammenhang, daß die philosophischen Ethiken im deutlichen Gegensatz zur Ethik des Gebotes Gottes mit der Sünde in Beziehung gesetzt werden: "Gerade jener allgemeine Begriff von Ethik fällt merkwürdigerweise genau mit dem Begriff der Sünde zusammen."360 Auch wenn zur grundsätzlichen Erwählung des Menschen durch Gott die Heiligung gehört, muß sich auch Barth der Tatsache stellen, daß der Erwählung durch Gott die Antwort und der Gehorsam des Menschen folgen muß. Von daher scheint es mir gerechtfertigt, diese Ethik als eine auf den Christen konzipierte zu beschreiben, trotz des von Barth postulierten Allgemeinheitsanspruches.361 Seine Ethik ist somit eine von Gott her potentialorientierte Ethik. Es taucht aber dann auch hier wieder die Frage auf, ob Barth letztlich so etwas wie einen tertius usus legis vertritt. Auch wenn zu Recht von E. Jüngel in Abwehr dieser Fragestellung herausgestellt wird, daß Barth mit dem Begriff der Heiligung auf die schon mit der Erwählung gegebene und in ihr widerfahrende Möglichkeit Gott entsprechenden Lebens abhebt und es darum bei Barth nicht um die Frage eines tertius usus legis im Sinne Melanchtons gehen könne, bleibt doch die Sachfrage nach dem Verständnis des "Gebietens Gottes" und dem sich daraus ergebenden Anspruch auf den Gehorsam des Menschen. Daß Barth diesen Anspruch gerade in der "Epochenlosigkeit in seinem Verständnis von Gottes Handeln"362 so heraushebt, enthebt ihn nicht der Frage, wo dieser Anspruch in der unerlösten Welt ankommt und auch immer wieder mißverstanden und mißbraucht werden kann. Hier verweigert sich Barth einer Reflexion der menschlichen Situation, wie sie in der Spannung der Äonen gegeben ist. Die Beachtung aber dieser differenzierten Situation hätte zu einer Differenzierung des bleibenden universalen Anspruchs der christlichen Ethik im Blick auf die Situation der christlichen Existenz

359

360 361 362

Dieser Ausgangspunkt bei der Heiligung wird gleich im Leitsatz zu § 36 deutlich, vgl. KD II/2, S. 564. Ebd. S. 574. Vgl. ebd. S. 568. E. Jüngel, a.a.O., S. 201.

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als transitus (simul justus et peccator), als progressus, und hin auf die Unterscheidung von Christen und Nichtchristen geführt. Ein Grund für die fehlende Inbeziehungsetzung von Recht und Ethik liegt darum m.E. in der bisher durchgängigen Problematik, die mit der doppelgleisigen Argumentation für das Recht und seine Begründung gegeben ist: Das Recht ist notwendig aufgrund der Sünde, aber es ist zugleich streng christologisch zu begründen und zu gestalten. Dem trägt Barth dadurch Rechnung, daß er das Recht bezeichnenderweise von der Rechtfertigung her begründet. Die Rechtfertigung ist eine Reaktion Gottes auf die Sünde, nicht aber die Versöhnung. Die Rückbindung des Rechts an die Versöhnung geschieht über die Rechtfertigung, folglich nur von einem Aspekt der Versöhnung her. Im Unterschied dazu wird die Ethik direkt in dem aus dem Zuspruch des Evangeliums sich ergebenden Anspruch des Gebotes Gottes begründet. Es geht Barth in seiner Ethik darum, diesen Anspruch des Evangeliums, wie er sich im Gebot manifestiert, zur Geltung zu bringen. Die Frage der Vermittlung, auch gerade der Vermittlung außerhalb der Kirche, lehnt er aus prinzipiellen Erwägungen ab. Auch die Frage, inwieweit dem Menschen als Sünder und dem Christen als simul justus et peccator Rechnung zu tragen ist, wird in der Ethik von Barth nicht grundsätzlich bearbeitet. Wie für den Zusammenhang von Ethik und Heiligung festgestellt, liegt auch bei den Aussagen zum simul justus et peccator der Christen die Betonung Barths auf dem justus.363 Es geht darum, nicht von einer falsch verstandenen theologia crucis her als terminus a quo nach rückwärts zu blicken, sondern "... es gehört zu dem, was wir von der Ostkirche lernen dürfen, das unverdrossene Konvärfsblicken vom terminus a quo her - aber dem terminus ad quem unserer Rechtfertigung entgegen: ... die Osterfreude ...ll364 Es ist wichtig, daß der neue Mensch als der, auf den hin die Geschichte Gottes mit den Menschen zuläuft, im Blick ist:365 "... er ist immer auch noch ganz, total, vom Kopf bis zum Fuß Dieser (sc. Sünder), so gewiß er in derselben Gegenwart des göttli363 364 365

Vgl. KD IV/1, § 61 "Des Menschen Rechtfertigung". Ebd. S. 624. Vgl. ebd. S. 640ff, 661 u.ö.

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chen Freispruchs auch schon ganz, total, vom Kopf bis zum Fuß, Jener, der schon zum Ziel seiner Gerechtigkeit Schreitende, ja, dort schon Angekommene, dort schon der als Gerechter Lebende ist."366 So betont Barth gegenüber der Reformation deutlicher die Wirksamkeit des Heiligen Geistes zur Veränderung des Menschen Rechtfertigung bleibt nicht allein ein forensischer Akt, sondern ihr effektiver Charakter wird von Barth deutlich zur Geltung gebracht. Hier wird die Einheit von Dogmatik und Ethik gut sichtbar. Beim späten Barth findet sich im Zusammenhang mit der Frage, wie Christen in der Welt in der menschlichen die göttliche Gerechtigkeit zur Geltung bringen können, die Überlegung, daß der Kampf auch der Christen für Gerechtigkeit immer Elemente von Ungerechtigkeit in sich tragen wird, weil sie "peccatores" sind, als demütig für die Gerechtigkeit Betende, aber eben "peccatores iusti"361. Barths Ethik ist grundsätzlich eine Ethik, die ihren Ausgangspunkt bei der Heiligung des Menschen durch Gott nimmt, bei der Taufe als Antwort und Bekenntnis auf die Erneuerung durch Gottes versöhnendes Handeln, und so den Gehorsam fordert. Dieser Gehorsam wird bei Barth zur primären ethischen Haltung des Menschen, und er überspielt oder verdrängt damit die ethische Wirklichkeit insofern, als auch die geheiligten Menschen immer als simul justi et peccatores zu begreifen sind. So kommt es, da die explizite Auseinandersetzung in der Ethik mit der Sünde des Menschen bzw. des Christen als simul justus et peccator fehlt, zu keiner direkten Inbeziehungsetzung von Recht und Ethik. Insgesamt kann deshalb festgehalten werden, daß bei Barth sowohl eine klare Unterscheidung von Recht und Ethik als auch eine explizite Zuordnung fehlen. Das hat eine gewisse Ortslosigkeit des Rechtes in der Einheit von Dogmatik und Ethik zur Folge. Im Gegensatz zum allgemeinen Recht hat das Kirchenrecht einen Ort in der Einheit von Dogmatik und Ethik und wird an ihm exemplarisch diese Einheit sichtbar.

366 367

Ebd. S. 643, vgl. KD IV/2, S. 655. Vgl. Ders., Das christliche Leben, S. 463.

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3. Konkretion: Kirchenrecht Bei Barth finden sich folgende drei Gründe für die Grundlegung und Gestaltung des Kirchenrechts in der Einheit von Dogmatik und Ethik: Grundlegend wird sein Verständnis von Kirchenrecht durch seinen christologisch-ekklesiologischen Begriff von Gemeinde bestimmt.368 Aus diesem Gemeindebegriff leitet sich notwendig ein "Grundrecht" ab, das sich zum einen aus dem "Anordnen, Befehlen, Verfügen" Christi und zum anderen aus dem Gehorsam der communio sanctorum ergibt: "Dieses Verhältnis konstituiert die kirchliche Gemeinde ... ist ihr Ordnungsprinzip, ihr Grundrecht. Dieses Verhältnis hat sie,..., als "Kirchenrecht", d.h. als das in ihr als Kirche aufgerichtete und für sie als Kirche geltende Recht in sich."369 Indem der Gemeindebegriff als dogmatischer Begriff bereits Recht und Ordnung impliziert, folgen daraus ethische Konsequenzen für die Grundlegung des Kirchenrechts. Aber auch für eine angemessene Interpretation der reformatorischen Unterscheidung von ecclesia visibilis und invisibilis ist das Rechtsverständnis in der Kirche entscheidend™ Zweitens dient der sich aus der Einheit von Dogmatik und Ethik im Sinne der Zusammengehörigkeit von Zuspruch und Anspruch ergebende Begriff des Gehorsams auch zur Konstitution des Verständnisses von Kirchenrecht.371 Der Ort des Kirchenrechts in der Einheit von Dogmatik und Ethik wird deshalb in der Versöhnungslehre bestimmt: Das Kirchenrecht steht explizit und bewußt unter dem sich aus der Versöhnung ergebenden Anspruch, und die Christengemeinde weiß darum im Unterschied zur Bürgergemeinde und dem

368

369 370 371

Vgl. hierzu KD IV/2, S. 769; zum Kirchenrecht insgesamt vgl. ebd. S. 765-824. An Sekundärliteratur sei verwiesen auf W.-D. Marsch, a.a.O., S. 200-207; E. Wolf, Rechtstheologische Studien; H.-R. Reuter, Rechtsbegriffe in der neueren evangelischen Theologie, a.a.O. und T. Heckel, Die Ordnung der Gemeinde in der Dogmatik von K. Barth. In: Ders., Kirche - Wahrheit - Recht, S. 130-143. KD IV/2, S. 770. Vgl. KD IV/1, S. 728-738. Vgl. KD IV/2, S. 772, 777 u.ö.

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von ihr vertretenen Recht.372 Das Kirchenrecht ist "scharf" und "klar" und damit "toto coelo" von allem anderen Recht zu unterscheiden, 373 weil die christliche Gemeinde eine Gemeinschaft sui generis ist. Drittens wird für die Begründung des Kirchenrechts auch das Modell der Königsherrschaft Christi herangezogen. Weil Christus der Herr der Kirche ist, gehört zu dieser Gemeinschaft das Recht. Es besteht dadurch eine Beziehung, ein Verhältnis im Sinne einer Unterordnung der Gemeinde unter Christus als ihr Haupt. Diese Unterordnung ist schon eine Form der Ordnung, und damit ist Recht als Ordnung in der Kirche notwendig: ein Recht, das sich aus dieser spezifischen Beziehung von Christus zur Gemeinde ergibt. "Unter 'Kirchenrecht' sei ... verstanden: diejenige Ordnung, die die Gemeinde von ihrem Grundrecht her sich selbst ... im Gehorsam gegen ihren Herrn selber zu finden (sie!), aufzurichten und zu handhaben hat."374 Dieses "Grundrecht und seine Voraussetzungen" zu entfalten, weist Barth explizit als eine dogmatische Aufgabe aus.375 Das hier vertretene Kirchenrechtsverständnis geht von einem dualistischen, im Unterschied zum monistischen376, Rechtsbegriff aus. Das bedeutet, der Kirchenrechtsbegriff ist ein vom weltlichen Rechtsbegriff fundamental unterschiedener. Kirchenrecht wird hier zum "Recht eigener Art"377. Inhaltlich kommt es zu zwei verschiedenen Rechtsbegriffen. Das bringt Barth auch sprachlich dadurch zum Ausdruck, daß er anstelle von Kirchenrecht von "Ordnung" spricht.378 Er verwendet "Ordnung" und "Kirchenrecht" synonym,379 372

373 374 375

"Mit diesem Ansatz, in dem die Ordnung der Gemeinde als wesensnotwendige Form von dem Zentrum der Versöhnungslehre her begründet... wird, ist die konstitutive Basis gewonnen, von dem (sie!) aus das Weitere sich ergibt." T. Heckel, a.a.O., S. 131. Vgl. KD IV/2, S. 771f. u.ö. Ebd. S. 781. Vgl. ebd.

Τ7Λ ° Die monistische Rechtstheorie (z.B. R. Dreier, H. Liermann, D. Pirson) geht von einer phänomenologischen Gleichgeartetheit und nur inhaltlichen Unterschiedenheit von weltlichem und Kirchenrecht aus, trotz des Bezogenseins auf die Theologie. 377 Vgl. W. Steimüller, a.a.O., Bd. 1, S. 207f. Vgl. auch T. Heckel, a.a.O., S. 138. 378 Nicht teilen kann ich die Interpretation H.-R. Reuters hierfür: "Der fast synonyme Gebrauch, aber doch gerade noch festgehaltene Unterschied der Termini 'Ordnung' und 'Recht' zeigt an, daß Barth den Rechtsbegriff der Gemeinde aus J/

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Recht der Gnade

bevorzugt aber den Begriff der Ordnung.380 Barth arbeitet, wie bereits dargestellt, mit einem doppelten Rechtsbegriff. Er unterscheidet Kirchenrecht und weltliches Recht. Auf struktureller Ebene aber, zu der auch das Recht zählt, kommt er nicht umhin, die Gemeinsamkeiten zwischen Bürgergemeinde und Christengemeinde - beide verstanden als politeia - zu betonen.381 Von daher gibt es auch bei Barth strukturelle Gemeinsamkeiten in der Verwendung beider Rechtsbegriffe. Weil Kirchenrecht und weltliches Recht zudem der Königsherrschaft Christi unterstellt sind, kommt es zu Analogien des weltlichen Rechts zum kirchlichen.382 Das kirchliche Recht soll Zeugnis383 einer vom Willen Gottes bestimmten Rechtsgestalt gegenüber dem weltlichen Recht ablegen.384 Barth hat das Kirchenrecht auf vierfache Weise charakterisiert. Kirchenrecht kann erstens grundlegend als Dienstrecht bzw. Ordnung385 gekennzeichnet werden, weil die Kirchenglieder gemäß dem Vorbild Christi Christus dienen und von daher zugleich den anderen dienen sollen. Die Kreuzesnachfolge erlaubt nur die Form des Dienstes. Die Gemeinde und ihre Glieder sind in allen Bereichen zum Dienst gerufen. Darin besteht ihr ganzes Recht. Zweitens ist Kirchenrecht von seinem genuinen Ort im Gottesdienst ausgehend als liturgisches Recht charakterisiert.386 Im Vollzug des Gottesdienstes ereignet sich Rechtsfindung und -Setzung. Weiter ist der Gottesdienst auch primärer Gegenstand von Kirchenrecht, da

379 380

381 382 383 384

385 386

einer in sich differenzierten Einheit von Sein und Sollen herausdenken möchte." Ders., a.a.O., S. 210. Vgl. KD IV/2, S. 766. "Wir reden von Ordnung da, wo bestimmte Verhältnisse und Beziehungen als der Sache, um die es geht, entsprechend und insofern als notwendig sich erweisen und als gültig erkannt werden, sich als solche von Fall zu Fall bestätigen, als solche Anerkennung und Nachachtung (sie!) fordern und finden." KD IV/2, S. 766. Somit kommt es bei Barth zu einer Äquivokation zwischen diesem und dem Schöpfungs- bzw. Erhaltungsordnungsbegriff, den er ablehnt. Vgl. Ders., Christengemeinde und Bürgergemeinde, a.a.O., S. 52. Vgl. KD IV/2, S. 821-824. Vgl. 3. Barmer These, a.a.O., S. 94. Zur Kritik an der Analogie zwischen geistlichem und weltlichem Recht vgl. T. Heckel, a.a.O., S. 141ff. Vgl. z. B. KD IV/2, S. 781-787. Vgl. ebd. S. 787-805.

Das Recht in der Theologie K. Barths

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sich im Gottesdienst Gemeinde ereignet und konstituiert. "Eben darum wird sich ihr Kirchenrecht von seiner Wurzel her als liturgisches: (1) vom Gottesdienst her ordnendes, (2) in ihm immer wieder zu findendes und (3) ihn seinerseits ordnendes Recht verstehen müssen."387 Drittens versteht Barth Kirchenrecht als "lebendiges, dynamisch bewegtes" Recht388 aufgrund der lebendigen Macht des Heiligen Geistes. Die sich durch diese lebendige Macht immer neu ergebenden Weisungen sind in der jeweiligen Situation zu "erfragen".389 Weil Kirche ecclesia semper reformanda ist, ist auch das ihr entsprechende Kirchenrecht immer ein neu zu reformierendes, dabei durchaus auch zu revidierendes. Es geht im Kirchenrecht um eine immer stärkere Ausrichtung am Willen Gottes und seinem Gebot. Schließlich versteht Barth Kirchenrecht als "vorbildliches Recht: in seiner ganzen Eigenartigkeit exemplarisch für die Bildung und Handhabung des menschlichen Rechtes überhaupt ..."390 In diesem Zusammenhang kommt es dann zu Barths Aussagen über die Analogien zwischen weltlichem und kirchlichem Recht und die Zeugnisfunktion des Kirchenrechtes.391 Insgesamt wird an Barths Aussagen zum Kirchenrecht immer wieder die enge Verzahnung seiner Verhältnisbestimmung von Dogmatik und Ethik deutlich.

§ 6 Zur Bedeutung des Rechts in der Theologie Κ Barths

Nachdem in den vorangegangenen Paragraphen das Rechtsverständnis Barths bis hin zu materialen Einzelaussagen von ausgewählten konstitutiven Elementen seines theologischen Gesamtsystems aufge387 388 389 390 391

Ebd. S. 791. Vgl. ebd. S. 805-815. Vgl. ebd. S. 806. Ebd. S. 815. S.S. 264-267.

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Recht der Gnade

zeigt wurde, soll nun umgekehrt nach dem Recht und seiner Bedeutung für das theologische System gefragt werden. Bei der Darstellung der Sündenlehre (Anthropologie), von Gesetz und Evangelium, Königsherrschaft Christi und der Verhältnisbestimmung von Dogmatik und Ethik konnten erkenntnistheoretische, ontologische und handlungstheoretische Basisannahmen Barths in formaler und materialer Hinsicht und ihre Bedeutung für die Konstitution von Recht sichtbar gemacht werden. In diesem Paragraphen soll in Aufnahme der These von der grundsätzlichen Interdependenz zwischen Systemen nach der Interpretation konstitutiver Elemente des Rechts durch Barth gefragt werden. Die Auswahl dieser Elemente orientiert sich an den für die Unterscheidung von rechtlichen Paradigmen zentralen Elementen, da die Voraussetzung gemacht wird, daß diese für die rechtlichen Paradigmen zentralen Elemente auch in theologischen Paradigmen das dort vorgetragene Rechtsverständnis prägen. Dabei werden dann auch erste Defizite, nicht bearbeitete Frage- und Problemstellungen und Ansätze einer Kritik an Barths Rechtsverständnis sichtbar. Eine kritische Würdigung des Umgangs mit dem Recht bei Barth soll deshalb im Anschluß daran erarbeitet werden.

1. Zentrale konstitutive Elemente von Recht in der Interpretation Barths Da Barth ein theologisches Gesamtsystem entwirft, finden sich bei ihm direkt oder - und dies weit häufiger - indirekt Aussagen zu folgenden konstitutiven Elementen von Recht392: Gewinnung und Begründung von Normen, Wirklichkeits- und Erkenntniszugang, Wirklichkeitsverständnis, anthropologische Voraussetzungen und Bedingungen, Verständnis von Geschichte, Gesellschaft, Staat und Institutionen, Gerechtigkeitsbegriff, Menschen- und Grundrechtsgedanken sowie zur Legalität und Legitimität von Recht.393 Obwohl 392

393

Der systemtheoretische Status von Recht bei Barth muß im Folgenden noch geklärt werden. Diese eher indirekten Aussagen zum Problem von Legalität und Legitimität finden sich bei Barth gerade im Hinblick auf die Rechtssprechung und das Rechts-

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sich bei Barth eine Vielzahl von Aussagen zu konstitutiven Elementen von Recht findet, besteht ein gravierendes Problem: Barth bezieht einerseits diese Aussagen in den wenigsten Fällen auf das Recht, versteht sie selbst also nicht als konstitutiv für das Recht, weil er berechtigterweise keine Grundlegung von Recht als Teilsystem leisten will. Andererseits dienen ihm manche Aussagen durchaus immer wieder zur Begründung seines Rechtsverständnisses bzw. läßt sich zeigen, daß sein Rechtsverständnis davon beeinflußt ist. Kennzeichnend für Barth ist es, daß bei ihm das Interesse ganz deutlich auf materialen Einzelaussagen zum Recht liegt und er von der jeweiligen aktuellen Rechtssituation ausgeht. Bei seinen Einzelaussagen kommt es insbesondere nach 1945 zu einer Konzentration auf Rechtsvorstellungen, die sich mit denen der Charta der Menschenrechte der UN von 1948 decken. Diese Nähe und teilweise Übereinstimmung mit den Menschenrechten wird von Barth meines Wissens nicht weiter explizit gemacht oder erklärt. Untersucht werden soll jetzt noch explizit, welche Aussagen Barth zu den zentralen konstitutiven Elementen Ort und systemtheoretischer Status, Begriff und Wesen sowie Funktionen von Recht trifft. Damit wird je ein Element aus der Systemkonstitution, den erkenntnistheoretischen und den handlungstheoretischen Elementen behandelt. Die ontologischen Elemente, wie Anthropologie, Gesellschaft und Staat, wurden bereits in den vorangegangenen Kapiteln ausführlich behandelt. a) Der Ort des Rechts im theologischen Gesamtsystem Barths Aus der Beschäftigung mit den Paradigmen des Rechts habe ich die Einsicht gewonnen, daß die Frage nach dem Ort und damit verbunden nach dem systemtheoretischen Status von Recht in einem Gesamtsystem konstitutiv ist. In metaphysischen, natur- bzw. vernunftrechtlichen Gesamtsystemen kommt es meist zur Ausbildung von integrierten Strukturmodellen (so z.B. bei Hegel). Luhmann leistet im Rahmen seiner Supertheorie die formale Grundlegung von Recht als Verständnis im Dritten Reich und das für ihn gegen das Dritte Reich gegebene Widerstandsrecht.

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autopoietischem System. Bei Barth kann der Status von Recht ebenfalls als integriertes Strukturmodell interpretiert werden. Integriert deshalb, weil Barths Rechtsverständnis von der Perspektive seines theologischen Gesamtsystems geprägt ist: in der Offenbarung Jesu Christi als Grund von Wirklichkeit und als Erkenntniszugang in formaler und materialer Hinsicht.394 Diese Perspektive, die sein Verständnis aller konstitutiven Elemente in seinem System bestimmt, bildet auch die Grundlage von Recht bei Barth. Von daher ergibt sich der Ort von Recht in seinem System: Das, was Recht ist, welche Struktur von Wirklichkeit das Recht bildet, seine systemtheoretischen Grundlagen werden aufgrund dieser Perspektive von Gott selbst konstituiert: Recht als von Gott im Akt der göttlichen Rechtfertigung des Menschen selbst konstituiertes Recht. Der zentrale Ort des Rechts in der Theologie Barths ist die Versöhnungslehre im umfassenden Sinn. Zwar ist die Rechtfertigungslehre der Ort der Konstitution von Recht; für die formalen und materialen Basisannahmen ist aber die Versöhnungslehre insgesamt relevant, in die Barth auch, was für das Recht ganz wichtig ist, die Sündenlehre integriert hat. Barth weiß aber auch darum, daß das Recht, trotz der grundlegenden Konstitution des Rechts durch Gott, von Menschen, von einer Gesellschaft auf jeden Fall mitkonstituiert und gestaltet wird. Er gesteht dabei der Rolle der Vernunft und auch der Idee des Naturrechts eine Beeinflussung des Rechts und seines Struktur- und insbesondere Gestaltzusammenhanges zu.395 Somit räumt er dem Recht eine gewisse Eigenständigkeit ein. Das Wirken Gottes kann als ein Wirken "in, mit und unter" dem Recht begriffen werden. Eine explizite Inbeziehungsetzung der Konstitution und Ortsbestimmung von Recht durch den Menschen und durch Gott wird bei Barth nicht geleistet. Dies macht letztlich eine klare Aussage zum Rechtsverständnis insgesamt schwierig. Es erfolgt die Konstitution von Recht als integriertem Strukturmodell mit der Bestimmung des Ortes von 394

395

Die Entfaltung der theologischen Perspektive, die Teile dessen umfaßt, was in der Diskussion normalerweise als Ansatz bezeichnet wird und die in Barths Überlegungen bekanntlich einen breiten Raum einnimmt, kann hier nicht geleistet werden, da dann die Frage des Paradigmenstatus der Theologie Barths insgesamt behandelt werden müßte. Vgl. dazu die 5. Barmer These, a.a.O., S. 94.

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Recht in der Versöhnungslehre aufgrund der Perspektive des Gesamtsystems Barths. Zugleich räumt Barth eine zweite Konstitution und Ortsbestimmung von der philosophischen Perspektive her verbunden mit anderen Systemen ein und versucht diese, systemimmanent über die Begriffe des Handelns Gottes und der die gesamte Wirklichkeit umfassenden und durchdringenden Königsherrschaft Christi in sein System zu integrieren. Alle menschliche Konstitution ist umgriffen vom geschichtlich wirksamen Handeln Gottes in dieser Wirklichkeit. Diese Konzeption Barths ist, wie in der Kritik noch zu zeigen ist, schwierig sowohl für den interdisziplinären wie für den gesamtgesellschaftlichen Dialog. Im Zusammenhang der Systemkonstitution und Ortsbestimmung von Recht ist insbesondere für ein theologisches Gesamtsystem die Unterscheidung und Zuordnung zur Ethik, die hier einen Systemteil bildet, von hoher Relevanz. Es wurde bereits erarbeitet, daß Barth dem Recht in seiner Verhältnisbestimmung von Dogmatik und Ethik explizit keinen Ort und keine Funktion zugewiesen hat. An einer Stelle habe ich eine Unterscheidung von Recht und "Sitte" bei Barth gefunden: "Der Begriff der Sitte hat mit dem des Rechtes das gemeinsam, daß auch er die Ordnung des Zusammenlebens als solche bezeichnet. Es gibt keine notwendig besonderen Inhalte der Sitte gegenüber solchen des Rechtes. Jede Sitte kann Recht werden, und was Recht ist, kann immer zugleich auch Sitte sein. Der Begriff der Sitte unterscheidet sich aber von dem des Rechtes dadurch, daß die Ordnung des menschlichen Zusammenlebens, sofern sie durch ihn bezeichnet ist, nicht durch öffentliche Anerkennung begründet und nicht durch die öffentliche Gewalt geschützt ist, sondern beides allein durch die freie Übereinkunft und Gewohnheit der Mehrzahl der zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Raum vereinigten Menschen."396 Diese Zuordnung und Unterscheidung enthält zwei Kriterien: allgemeine Anerkennung (Konsens) und Sanktionscharakter, die auch in dieser Arbeit für die Unterscheidung von Recht und Ethik erarbeitet wurden. Über die These, daß es "keine notwendig besonderen Inhalte der Sitte gegenüber solchen des Rechts" gibt, 396

K. Barth, Ethik II, S. 237f.

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wäre mit Barth zu streiten. Die von Barth an dieser Stelle vorgetragene Unterscheidung bleibt allerdings singulär und spielt bei Barth, soweit ich es sehen kann, weiter keine Rolle. Es ist deutlich geworden, daß zwar sowohl das Recht wie die Ethik in der Versöhnungslehre verankert sind, aber die Ethik über das Gebot Gottes und das Recht über die Rechtfertigung begründet wird. Damit erhält das Recht primär seinen Ort in der Dogmatik. Es kommt zugleich zu Aussagen über das Recht in der Ethik, so z.B. über die Todesstrafe und das Strafrecht in der speziellen Ethik im Rahmen der Schöpfungslehre.397 Die Frage einer Rechts-, Freiheitsund Friedensordnung sowie der Gerechtigkeit sollte im Rahmen der speziellen Ethik der Versöhnungslehre behandelt werden.398 In der speziellen Ethik im Rahmen der Schöpfungslehre findet aber keine Begründung oder Grundlegung von Recht und Ethik statt, sondern es kommt innerhalb der Ethik zu materialen Aussagen über das Recht, ohne daß Barth zuvor geklärt hat, warum und in welcher Absicht er in seiner Ethik als umfassender Handlungs- und Daseinsorientierung bestimmte ethische Normen über das Recht gesamtgesellschaftlich vermitteln und letztlich auch durchsetzen will. Deshalb kann auch für Barths Gesamtsystem von einem doppelten Ort von Recht in diesem System gesprochen werden - trotz der These von der Einheit von Dogmatik und Ethik. In der Dogmatik erfolgt die Konstitution bis hin zur Aufstellung von materialen Einzelaussagen, in der Ethik trifft Barth sowohl Basisannahmen zum Recht als auch materiale Aussagen. Die Aussagen zum Recht im dogmatischen Bereich und im ethischen Bereich sind bei Barth, wie für das Strafrecht gezeigt werden konnte, nicht inkonsistent. Dies ist nicht nur auf seine dogmatische Grundlegung der Ethik zurückzuführen, sondern letztlich auf den Versuch, seine Perspektive streng durchzuhalten: die Offenbarung in Jesus Christus als Grund aller Wirklichkeit und Erkenntniszugang. Während die materialen Aussagen zum Recht konsistent sind, kommt es aber in der Grundlegung des Rechts, die sowohl von der Sündenlehre als auch von der Christologie her erfolgt, zu einer In397

Vgl. KD III/4, S. 499-515. 398 vgl. die noch von Barth ausgearbeiteten Fragmente in Ders., Das christliche Leben.

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konsistenz. Dies hat auch den doppelten Ort im theologischen Gesamtsystem zur Folge. Barth klärt nicht, welche Elemente s.E. zum allgemeinverbindlichen Rahmen einer Handlungs- und Daseinsorientierung gehören, d.h. welcher Strukturbereich und -Zusammenhang von Wirklichkeit Recht sein soll, und wie darüber hinaus eine Ethik als umfassendere Handlungs- und Daseinsorientierung und damit auch umfassenderer Strukturbereich und -Zusammenhang auszuarbeiten ist. Barth zeigt in vielen seiner Äußerungen zum Recht, daß er um den allgemeinverbindlichen Charakter von Recht weiß, wenn er davon spricht, daß die Rechtsordnung zur Bürgergemeinde gehört und die Christen dort "anonym" für eine dem Willen Gottes entsprechende Rechtsgestalt eintreten. Seine Ethik ist, trotz des von ihm aus prinzipiellen Erwägungen erhobenen Allgemeinheitsanspruchs, eine weit darüber hinausgehende christliche Ethik, charakterisiert durch die Termini "Gebot Gottes" und "Heiligung des Menschen". Solcher Anspruch kann natürlich erhoben werden, aber dennoch bleibt es dann der weiteren Reflexion bedürftig, wie erstens dieser Anspruch gegenüber Nicht-Christen zur Geltung zu bringen ist, und wie zweitens Nicht-Christen diesen erst durch den Zuspruch gegebenen Anspruch erfüllen können. Die von Barth vorgenommene Charakterisierung des weltlichen Rechts als Auswirkung des "anonymen" Handelns Gottes und der Christen ist zu undifferenziert. So läßt sich an der für das Recht konstitutiven Frage des Ortes zeigen, zum einen welche Bedeutung die Frage der Korrelation von Dogmatik und Ethik für das theologische Rechtsverständnis besitzt. Es ist theologisch noch grundlegend zu klären, wo das integrierte Strukturmodell Recht seinen Ort in dieser Korrelation besitzt. Barth spricht von einem "ethischen Gehalt" der Dogmatik.399 Dies führt dazu, daß er ganz konsistent bei vielen dogmatischen Themen oder Einzelaussagen gleich die ethischen Folgen, den damit gegebenen ethischen Anspruch aufzeigt. So findet sich bei Barth ein "gleitender Übergang" in der Dogmatik zur Ethik, von der Daseinsorientierung zur Handlungsorientierung. 399

S. KD II/2, S. 599.

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Es findet sich in diesem Zusammenhang die Ausbildung der allgemeinen und der speziellen Ethik innerhalb der Dogmatik. Hier muß präzise unterschieden und zugeordnet werden zwischen Dogmatik, Recht und Ethik: Welche Handlungs- und Daseinsorientierung soll von erkenntnistheoretischen, ontologischen und handlungstheoretischen Basisannahmen her allgemein verbindliche Rahmenbedingung menschlichen Handelns, also Recht werden? Welche umfassendere Handlungs- und Daseinsorientierung soll von diesen Basisannahmen ausgehend eine theologische Ethik leisten? Die Klärung dieser beiden Fragen ermöglicht eine Ortsbestimmung und systemtheoretische Grundlegung von Recht als integriertem Strukturmodell und von Ethik entweder als Systemteil (so Barth) oder Teilsystem (so T. Rendtorff) innerhalb eines Gesamtsystems. Denn nur so kann eine sinnvolle Differenzierung in Recht und Ethik bei gleicher Grundfunktion, Handlungs- und Daseinsorientierung zu vermitteln, stattfinden400 und ist die notwendige Bereichsklärung zwischen Recht und Ethik zu erzielen. Zum anderen deckt die für das Recht konstitutive Frage nach dem Ort Probleme in der Korrelation von Dogmatik und Ethik in einem Gesamtsystem auf. Am Recht und an der Frage nach seinem Ort wird deutlich, daß das ontologisch und handlungstheoretisch konstitutive Element der Anthropologie nicht konsistent in Barths theologischem Gesamtsystem, in Dogmatik und Ethik, zur Geltung gebracht wird: Die Einsicht, daß Barth einerseits mit der Wirklichkeit der Sünde - als vorübergehender Macht - rechnet und andererseits seine Ethik an der Heiligung des Menschen und damit allein an der neuen Lebensmöglichkeit orientiert ist.401 Diese Problematik, auf die bereits im Zusammenhang der Überlegungen zur Einheit von Dogmatik und Ethik eingegangen wurde, wird in der kritischen Würdigung abschließend zu bedenken sein.

400 401

S.S. 139. S. S. 276ff.

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b) Der Begriff und das Wesen des Rechts Das Verständnis von Begriff 402 und Wesen des Rechts bei Barth hat Teil am allgemeinen Rechtsbegriff und -wesen. Dabei nimmt Barth grundsätzlich die Überlegungen des metaphysischen, natur- und vernunftrechtlichen Paradigmas so auf, daß es zur Begründung des Rechts und seiner Konstitution einer außerrechtlichen "Quelle" oder eines außerrechtlichen "Grundes" bedarf, der allem menschlichen Recht vorausgeht. Bei Barth ist dies die Rechtfertigung des Menschen durch Gott, die weltliches Recht begründet, seine "Quelle" und "Norm" ist.403 Damit ist Gott letztlich der, der menschliches Recht begründet, weil er es aufgrund der Sünde für notwendig erachtet. Das Verfahren der Entsprechung, der Analogie zur Gewinnung von Rechtsnormen soll hier nur noch als solches erwähnt werden. Barth scheint auch deshalb eine außer- bzw. vorrechtliche Begründung von Recht für erforderlich zu halten, weil er davon ausgeht, daß Menschen, die nicht um die Verankerung allen Rechts in der Königsherrschaft Christi wissen, das Naturrecht als ihnen einzig zugängliche "trübe Quelle" nutzen.404 Weiter nimmt Barth aus der allgemeinen Begriffsbestimmung auf, daß Recht den "richtigen Umgang" mit einer Sache bedeutet. 405 Für diesen Sachverhalt verwendet er, gerade im Zusammenhang seiner kirchenrechtlichen Untersuchungen, den Begriff der "Ordnung". Dieser Begriff der Ordnung ist dann auch zentral für seine Rechtsdefinition: "Wir verstehen unter Recht die öffentlich bekannte und anerkannte und durch die öffentliche Gewalt geschützte Ordnung des menschlichen Zusammenlebens, bekannt gemacht und anerkannt durch den Spruch der Gesellschaft und geschützt durch die Macht dieser Gesellschaft."406 Hier wird bei Barth trotz der Rechtsbegründung durch Gott das Konsenskriterium in das Recht eingeführt. Eine wesentliche Anforderung an das Recht ist seine öffentliche Anerkennung.

402 403 404 405 406

Zum Rechtsbegriff vgl. H.-R. Reuter, a.a.O., S. 202-215. Vgl. KD IV/1, S. 589ff. Vgl. Ders., Rechtfertigung und Recht, a.a.O., S. 75. Vgl. KD IV/2, S. 766. Ders., Ethik II, S. 212.

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Barths Rechtsbegriff hat das Element von Recht als Handlung in doppelter Weise: Zum einen handelt Gott am Menschen durch das Recht, und zum anderen ist Recht Handeln von Menschen, insbesondere von Staatsorganen. Im Unterschied zum allgemeinen Rechtsbegriff wird damit das Recht in seinem Wesen nicht als durch menschliche Handlungen gesetzt und aktualisiert begriffen, sondern vom Handeln Gottes in der Rechtfertigung her. Auch für Barth stellt das Recht letztlich einen von Gott gegebenen handlungs- und daseinsorientierenden Begriff dar. Dies wird durch die starke ethische Orientierung des Rechts noch verstärkt. Die Verbindung von Handlungsund Daseinsorientierung im Rechtsbegriff und -wesen ergibt sich in diesem System auch aus der hier vertretenen Einheit von Dogmatik und Ethik. Der Rechtsbegriff ist wie der allgemeine Rechtsbegriff an den Metaprädikatoren richtig, gerecht und gut orientiert. Einen besonderen Schwerpunkt bildet hierbei die Gerechtigkeit, die zudem als inhaltliches Kriterium des Rechts bei Barth benannt werden kann. Für die Wesensbestimmung von Recht nimmt Barth die Charakteristika der in dieser Arbeit aufgewiesenen allgemeinen Wesensbestimmung auf mit Ausnahme des sprachlichen Charakters. Wichtig ist Barth dabei der Prozeßcharakter von Recht und die sich daraus ergebende Offenheit für Veränderungen, 407 was bei ihm immer die Zielrichtung der Entsprechung zum Reich Gottes bedeutet. Recht wird hier nicht zeit- und situationsinvariant gedacht. Ebenfalls relevant ist der institutionelle Charakter von Recht, verbunden mit dem Sanktionselement im Recht. So kommt es zu einer uneingeschränkten Bejahung des Rechtsstaats, der angemessen mit der zur Durchsetzung des Rechts erforderlichen Gewalt umgeht: "Staatlichkeit heißt ja nicht nur Aufrichtung und Übung von Recht unter den Menschen, sondern um seiner Aufrichtung willen auch Aufrichtung von Souveränität und Herrschaft, um seiner Übung willen auch Übung von Macht und Gewalt von Menschen über Menschen."408 In der hier vorgeschlagenen Wesensbestimmung finden sich zudem noch der ethische und der Realitätscharakter von Recht. 407

408

Vgl. z.B. Ders., Die christliche Gemeinde im Wechsel der Staatsordnungen, a.a.O., S. 35. Ders., Das christliche Leben, S. 374.

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Barths Aussagen zum Recht lassen schließlich auf eine Orientierung an einer Sach-, Struktur- und Situationsgemäßheit von Recht schließen. c) Die Funktionen des Rechts Die Grundfunktion des Rechts im System Barths ist die Bewahrung der Ordnung im menschlichen Zusammenleben; eine Schutzfunktion gegenüber zerstörerischen, bösen und chaotischen Kräften. Den Menschen soll durch das Recht ein gemeinsames Leben in Frieden und Freiheit eröffnet werden. "Und die Ordnung, von der sie (sc. die Menschheit) abweicht, ist die Gestalt eines gehorsamen Zusammenlebens der Menschen mit Gott, die als solche eine ihr entsprechende, menschliches Recht, menschliche Freiheit, menschlichen Frieden sichernde Gestalt ihres Zusammenlebens untereinander in sich schließt."409 Barth kann auch dem Recht die Aufgabe der "relative(n), vorläufige(n) Humanisierung der menschlichen Existenz"410 zuweisen. Die Grundfunktion des Rechts ist somit primär eine soziale. Es dient der Konfliktregelung und -Vermeidung. Dies ist eine gesellschaftlich notwendige Funktion.411 Ein wichtiges Element dieser sozialen Grundfunktion ist der Schutz der Schwachen412 Die soziale Funktion ist bei Barth auch in eine gemeinschaftskonstituierende, dabei regulativ-ordnende, protektive und sanktionierende Funktion ausdifferenziert. Neben der sozialen hat hier das Recht wieder eine handlungs- und daseinsorientierende Funktion. Dazu kommt bei Barth in starkem Maße die Funktion von Recht, die Gerechtigkeit Gottes zu verwirklichen, der eine von Gott gewollte Rechts-, Friedens- und Freiheitsordnung entspricht.413 "Unterdessen handeln sie (sc. die Christen) ihrer Bitte gemäß als solche, die für das Walten menschlicher Gerechtigkeit, d.h. für die Erhaltung und Erneuerung, für die Vertiefung und Erweiterung der von Gott angeordneten 409 410 411 412 413

Ebd. S. 359. S. Ders., Christengemeinde und Bürgergemeinde, a.a.O., S. 58. Vgl. Ders., Ethik II, S. 212-237. Vgl. KD II/l, S. 434f. Vgl. Ders., Das christliche Leben, S. 360.

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menschlichen Sicherungen menschlichen Rechtes, menschlicher Freiheit, menschlichen Friedens auf Erden verantwortlich sind."414 Überlegungen zu einer rechtsgestaltenden, -begrenzenden oder -begründenden Funktion finden sich so bei Barth nicht. Nach diesem Versuch, das Recht bei Barth in seiner Abhängigkeit von konstitutiven Elementen des theologischen Gesamtsystems aufzuzeigen und zu überprüfen, welche Aussagen bei Barth sich hier zu Elementen, die für das Recht konstitutiv sind, finden, soll nun das Rechtsverständnis Barths kritisch gewürdigt werden.

2. Kritische Würdigung Bei dieser kritischen Würdigung will ich mich bewußt auf die für das Rechtsverständnis von Barth konstitutiven Aussagen konzentrieren, da eine umfassende Auseinandersetzung mit dem theologischen Gesamtsystem Barths im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden kann. Da die Darstellung von ausgewählten konstitutiven Elementen der Theologie Barths bereits auf die für das Recht relevanten Aussagen konzentriert war, möchte ich auch die Kritik an diesen konstitutiven Elementen auf diese für das Recht relevanten Aussagen beschränken.415 a) Sünde - eine "unmögliche Möglichkeit", die dennoch zur Geltung zu bringen ist Barths materiale Ausführungen zur Sündenlehre innerhalb der Versöhnungslehre sind zutreffend, gerade weil es ihm gelingt, die ambivalente Wirksamkeit menschlicher Sünde präzise zu erfassen. Zu bejahen ist weiter die Einsicht Barths, daß die Sünde auch aufgrund ihrer Ambivalenz erkenntnistheoretisch nur von Jesus Christus her bestimmt werden kann. Wichtig ist die von Barth immer wieder vor414 415

Ebd. S. 347. Ich möchte die Kritik an Barth von meiner Fragestellung her üben und verzichte daher weitgehend auf eine Auseinandersetzung mit der unter anderer Fragestellung geübten Kritik an Barth.

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getragene Einsicht, daß das wahre und von Gott schon mit der Schöpfung eröffnete Menschsein in Jesus Christus sichtbar wird: Jesus Christus - wahrer Mensch. Dies zeigt Barth in seiner Anthropologie klar und zurecht auf. Nur daß er um der grundlegenden Konzentration auf Jesus Christus in seiner Theologie willen auf die Darstellung des Menschen als Sünder in der Anthropologie verzichtet, hat für seine gesamte Theologie Konsequenzen. Er will die konstitutiven Elemente seiner Theologie, wie z.B. die Anthropologie, strikt von der Christologie her denken,416 was ein Abblenden des Sünderseins des Menschen, auch des Christen, zur Folge hat. Daß Menschen de facto immer die ihnen von Gott gegebene Freiheit als eine Freiheit gegen Gott verwenden und so zu Menschen der Sünde werden, bestreitet Barth nicht, aber er bringt es, und dafür kann exemplarisch seine Anthropologie stehen, nicht (wirklich) zur Geltung. Barths Sündenverständnis, das so treffend und scharf ist, bleibt für die Darstellung seiner Theologie merkwürdig folgenlos. Dies scheint mir die Konsequenz seines theologischen Ansatzes zu sein, zwar prinzipiell Mensch und Wirklichkeit von der Christologie her zu verstehen, aber dann die in Kreuz und Auferstehung eröffnete Situation christlicher Existenz in der Spannung zwischen altem und neuem Äon nicht hinreichend zu reflektieren. Als Grund kommt hinzu, daß Barth seine Theologie als ein die menschliche Hybris der Liberalen Theologie bannendes Korrektiv versteht und deren Kardinalfehler einer zu anthropologisch zentrierten Theologie und darin nach Barths Verständnis zu natürlichen Theologie unter allen Umständen vermeiden will. Es ist Barth zuzustimmen, daß Gott die Sünde bzw. den Sünder nicht will, sondern einen Menschen, der seine ihm von Gott geschenkte Freiheit in einem Leben im Gegenüber zu Gott verwirklicht. Aber Gott handelte und handelt gerade auch in Jesus Christus an dem gefallenen Menschen. Gott nimmt diesen gefallenen Men-

416

Dieses Denken von der Christologie her hat bei Barth lange Zeit die Betonung der Göttlichkeit Gottes in der fundamentalen Unterschiedenheit von Mensch und Welt zur Folge. Später sieht Barth kritisch die Radikalität seiner aus der Zeit für ihn als notwendig erscheinenden Betonung Gottes und versucht, der Menschlichkeit in seiner Theologie Raum zu geben. Vgl. Ders., Die Menschlichkeit Gottes.

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sehen ernst, und auch alle Theologie hat ihn immer wieder ernstzunehmen. Hier ist wieder von Bedeutung, daß Gott mit seiner Versöhnung nicht auf die Sünde reagiert, sondern mit der Rechtfertigung. Um der Einheit Gottes und seiner ewigen Bestimmung als Liebe willen kann Barth Gottes Handeln nicht so denken, daß Gott gerade um seiner Liebe und Zuwendung zum Menschen willen eine Geschichte hat. Er gibt in seiner Theologie den Entwicklungen in der Zuwendung Gottes zum Menschen keinen Raum, weil er dabei der Sünde keinen expliziten Ort gibt. Es ist Barth zuzustimmen, daß die Sünde nicht notwendiger Grund für das Handeln Gottes ist, daß er aber in Jesus Christus sich dem Menschen, der Sünder ist, zuwendet. So kommt es zu einer starken Betonung der Überwindung der Sünde in Jesus Christus. Das führt dazu, daß er seine Ethik von der Heiligung her konzipiert. Zur Unterscheidung von Versöhnung und Erlösung gehört auch die dadurch eröffnete Spannung der Äonen oder von "schon jetzt" oder "noch nicht". Barth betont hier von seiner Konzentration auf Versöhnung ausgehend ganz stark das "schon jetzt". Dies kommt wieder in seiner Ethik zum Tragen, die von den in Christus eröffneten neuen Möglichkeiten herkommt und nicht nach ihrer Vermittlung in der Spannung der Äonen, zu der auch das "noch nicht" gehört, fragt. Mensch und Wirklichkeit sind von dieser Spannung des "schon jetzt" und "noch nicht" gekennzeichnet. Die Spannung der Äonen muß bei allen konstitutiven theologischen Elementen zur Anwendung kommen - Barth unterschlägt diese Spannung oft. Weiter differenziert Barth in seiner Ethik zu wenig zwischen Christen und Nichtchristen, zwischen dem für alle Menschen als angemessen zu verstehenden Handeln und dem nur für Christen angemessenen.417 Auch hier wirkt sich m.E. wieder das Abblenden der menschlichen Sünde und des Eigenstandes der Schöpfung aus: Der Nicht-Christ ist zum einen Geschöpf, zum anderen ist sein faktisches Sündersein mit zu berücksichtigen. Für den Christen gilt es danach 417 vgl. dazu die Überlegungen von J. Track zu Leben und Liebe, die zusammen mit seiner Grundlegung der Ethik diese Überlegungen entscheidend beeinflußt haben. Vgl. z.B. Ders., Menschliche Freiheit - Zur ökologischen Problematik der neuzeitlichen Entwicklung, a.a.O., S. 88-93.

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zu fragen, was ihm als simul justus et peccator, der er in der Spannung der Äonen immer ist, möglich ist, inwieweit er die in Christus eröffneten neuen Lebens- und Handlungsmöglichkeiten verwirklichen kann. Barth legt die Betonung, gerade im Hinblick auf die Ethik, auf die Christen als "iusti". Die schon in der Darstellung aufgezeigte fehlende differenzierte Inbeziehungsetzung zwischen dem wahren Menschsein in Christus und dem faktischen Sündersein der Christen und die sich daraus ergebende Doppelgleisigkeit in der Begründung des Rechts ist hier noch einmal kritisch zu werten. Die Begründung des Rechts als notwendig aufgrund der menschlichen Sünde bleibt für die Gestaltung des Rechts und des Staates in den materialen Aussagen weitgehend folgenlos. Demgegenüber liegt gerade in der von Barth so betonten Begründung des Rechts aus Rechtfertigung ein Ansatzpunkt, da die Rechtfertigung im Gegensatz zur Versöhnung als Reaktion Gottes auf die Sünde des Menschen verstanden wird. Typisch für Barth ist aber, daß er für seine Begründung von Recht nur auf das rechtfertigende Handeln Gottes, mit dem dieser prinzipiell Recht setzt, zurückgreift. Der Aspekt der Reaktion auf die Sünde bleibt weitgehend unbeachtet. Damit nimmt sich Barth im Ansatz die Möglichkeit einer Unterscheidung und Zuordnung von Recht und Ethik in der diese in seinem System umgreifenden Einheit von Dogmatik und Ethik. Es wurde bereits festgestellt, daß das Recht in der Einheit von Dogmatik und Ethik keine Funktion und keinen expliziten Ort hat. Es wird an verschiedenen Orten zur Sprache gebracht: Konstitutiv ist sein Ort in der Versöhnungslehre. Das Recht als Konsens über Rahmenbestimmungen einer Handlungs- und Daseinsorientierung, die für alle in einer Gesellschaftt lebenden Menschen gilt, muß theologisch gesehen vom Menschen als Geschöpf und Sünder und vom Christen als Sünder und Gerechtem ausgehen und von daher das ontologisch konstitutive Element Anthropologie material interpretieren. Die christliche Ethik kann darüber hinaus von der im Glauben durch Jesus Christus eröffneten neuen Daseins- und Handlungsorientierung ausgehen. So ist die fehlende Inbeziehungsetzung und die daraus folgende explizite Ortsbestimmung von Recht und Ethik bei Barth ebenfalls eine Folge

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der mangelnden Berücksichtigung der Sünde als Faktum dieses Äons und der sich daraus ergebenden Konsequenzen für das Handeln Gottes als Schöpfer, Versöhner und Erlöser in der die Wirklichkeit noch bestimmenden Spannung der Äonen. b) Zur notwendigen Differenzierung zwischen Zuspruch und Anspruch, Liebe und Recht Weil Barth von Jesus Christus als dem einen Wort Gottes her denkt,418 werden Evangelium und Gesetz einander stark zugeordnet, wodurch das Gesetz als Gesetz inhaltsleer wird.419 So besteht bei Barth zum einen die Gefahr, daß er implizit einen tertius usus legis vertritt insofern, als das Evangelium zum Anspruch, zum Gesetz für die Christen wird und damit über das hinausgeht, was das Gesetz, verstanden als gute Lebensordnung, fordert. Die Erfüllung des Gesetzes im Sinne des ersten Gebotes ist zwar Gottes Anspruch auf unser Leben, aber im Evangelium wird sichtbar und erfahrbar, daß Gott diesen Anspruch nicht "einfordert", sondern seine Erfüllung schenkt. Barth betont das zwar immer wieder, doch sind seine Argumentationen nicht frei von solchen unmittelbar einfordernden, "gesetzlichen" Formulierungen. Zum anderen unterscheidet er inhaltlich nicht mehr zwischen Evangelium und Gesetz, so daß das Evangelium dann zur Grundlage des Handelns von allen Menschen, an der sie sich bewußt oder unbewußt orientieren sollen, wird. Dies verbindet sich mit dem für Recht und Staat aufgezeigten Argumentationsmodell der doppelten Begründung von der Sünde und vom Evangelium her. Das Evangelium wird zum einen zum Kriterium allen Handelns in Staat und Gesellschaft, auch für das Rechts418

419

HJ. Iwand hält die Unterscheidung von Gottes Wort und Menschenwort, die mit der Konzentration auf das eine Wort Gottes verbunden ist, für so nicht haltbar. "Wir wollen mit alledem nichts anderes sagen, als noch einmal unterstreichen, was wir oben bereits als These herausgestellt haben, daß wir keine Möglichkeit sehen, jenseits des Gegensatzes von Gesetz und Evangelium nach dem Worte Gotte (sie!) zu fragen und daß es uns nur innerhalb aber nicht oberhalb dieser Unterscheidung zugänglich ist." Ders., a.a.O., S. 109. Auch den Inhalt des Evangeliums als Gnade zu bezeichnen, bringt logische Schwierigkeiten vgl. E. Jüngel, Evangelium und Gesetz, a.a.O., S. 195, Anm. 61.

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handeln. Dem steht zum anderen gerade beim Staat die Betonung staatlicher Macht und Gewalt, die die Sünde eindämmen sollen, gegenüber. Diese beiden Überlegungen werden nicht miteinander vermittelt. Barth "leitet" seine Analogien für Recht und Staat direkt aus dem Evangelium "ab", ohne für diese Ableitung bzw. Herleitung Kriterien zu entwickeln.420 Diese Kriterien sind aber eine Minimalforderung, da das Evangelium kein festgelegter Grundtext für menschliches Handeln ist. Dadurch geht das überschießende und unverfügbare Moment des Evangeliums bei Barth an dieser Stelle verloren. Hier ist eine auch inhaltliche Differenzierung zwischen Evangelium und Gesetz erforderlich: Zwischen Gottes Zuspruch und Anspruch auf unser Leben und Gottes Anspruch zur Erhaltung und Bewahrung des Lebens im "usus politicus legis". Gerade an den Themen Staat und Recht hätte deutlich werden können, wie eine gute Lebensordnung im Sinne rechtlicher Rahmenbedingungen für alle Menschen aussieht, für die die Christen dann im Staat auch "anonym" eintreten können, und welche spezifisch christliche Zielsetzung darüber hinaus zu vertreten ist.421 Diese Differenzierung fehlt - systemimmanent durchaus konsequent - ebenso wie bei der Begründung von Recht und Staat von der Sünde und vom Evangelium/Königsherrschaft Christi her, wo eine Vermittlung beider, sich in einem bleibenden Spannungsverhältnis gegenüberstehender Ausgangspunkte nicht vorgenommen wird. Eine Differenzierung, die die bleibende Spannung von Gesetz und Evangelium aufnimmt und ihr gerecht wird, wäre hier angebracht. Barth müßte von seinem Ansatz her eigentlich vom Evangelium her begründete Maximalforderungen an das Recht stellen. Er tut dies de facto nicht, sondern seine materialen Aussagen zum Recht sind an der Menschenrechtsidee orientiert. Dies zeigt,

420

421

Wichtig ist hierbei die Kritik von W. Pannenberg am Analogieverfahren Barths: Das Analogieverfahren selbst ist letztlich statisch und bringt das konstitutive ontologische Element der Geschichte nicht zur Geltung. Vgl. W. Pannenberg, Zur Theologie des Rechts. In: Ders., Ethik und Ekklesiologie, S. 18ff. Dahinter stehen die von J. Track in Aufnahme der reformatorischen Tradition und von Einsichten Barths entwickelten vier Kriterien zur Bestimmung des Angemessenen und des Möglichen im Bereich des Politischen, vgl. z.B. Ders., 50 Jahre Theologische Erklärung von Barmen, S. 27f.

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daß er implizit immer die Frage nach dem, was allen Menschen möglich ist, bedenkt. Bei seinem Versuch, Recht aus Rechtfertigung zu begründen, unterscheidet Barth nicht zwischen Recht und Liebe,422 auch nicht bei seiner Begründung des Kirchenrechts. Die Rechtfertigung des Sünders durch Gott ist ein Akt der Liebe Gottes, mit dem Gott auf sein bisheriges Recht verzichtet - ein Rechtsverzicht, ein Handeln aus Liebe und gerade nicht aus Recht wird bei Barth zur Grundlage aller Wirklichkeit und auch des Rechts. Ich kann Barth insoweit zustimmen, daß diese Rechtfertigung des Sünders aus Liebe auch als Rechtsverzicht eine Veränderung des Verständnisses von Recht mit sich bringt. Aber ein Handeln im Sinne des menschlichen Rechts ist immer von einem Handeln, das die Liebe zum Ziel hat, unterschieden - dieser Unterscheidung gilt es auch in einem christlichen Rechtsverständnis Rechnung zu tragen. Bei seinem Versuch, alles von Gott her zu begründen, wird Barth dem Wesen und der Eigenart von Recht nicht mehr gerecht bzw. vollzieht er eine Bestimmung des Rechts, die der eschatologischen Situation nach Kreuz und Auferstehung so nicht gerecht wird. Er weist berechtigterweise auf den Herrschaftsanspruch Christi hin. Diesen auch für das Recht zur Geltung zu bringen und das Recht als dem erhaltenden Handeln Gottes dienendes zu verstehen, wäre eine systemimmanent gegebene Möglichkeit gewesen, mit der Barth dem Recht und der Liebe hätte gerecht werden können. c) Zur Einheit von Dogmatik und Ethik und der offenen Frage nach dem Verhältnis von Handeln Gottes und Handeln des Menschen Es läßt sich von Barth lernen, daß Dogmatik als Daseinsorientierung immer auch eine Handlungsorientierung impliziert und umgekehrt Ethik als Handlungsorientierung immer eine Daseinsorientierung. Eine von der Dogmatik losgelöste Ethik kann es nicht geben. 422

Genau auf diese offene Stelle der fehlenden Unterscheidung und Zuordnung von Recht und Liebe geht auch W. Huber, Recht im Horizont der Liebe, a.a.O., S. 236-250 in seiner Interpretation der Aussagen Barths zu "Rechtfertigung und Recht" ein.

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Es gibt konstitutive dogmatische Systemelemente, wie Anthropologie, Evangelium und Gesetz, Königsherrschaft Christi, Offenbarung und Vernunft, die auch für die Ethik konstitutiv sind. Hier gilt es aber im Unterschied zu Barth danach zu fragen, welche Bedeutung und Funktion sie für die Ethik haben. Diese auch methodische Klärung, wie die Unterscheidung und Zuordnung von Dogmatik und Ethik auszusehen hat, ist bei Barth in der Analogie zum Verhältnis von Gottes Handeln und menschlichem Handeln durchgeführt. Damit sind aber weitergehende Fragen, wie diese Konstitution des Subjekts zum Menschsein unter den Bedingungen von Schöpfung und Sünde in Beziehung zu setzen ist, nicht geklärt. Ebenso ist die Frage nach dem konkret Gebotenen nicht beantwortet. Mit dem wiederholten Hinweis auf den menschlichen Gehorsam gegenüber dem göttlichen Gebot ist die Frage nicht hinreichend beantwortet. Die Evidenz, die Barth für seine Sicht von Ethik aus einer dogmatischen Grundlegung heraus behauptet, ist so nicht gegeben. Hier ist ebenfalls wieder eine Anfrage an seine Rede von den Analogien aus dem Evangelium oder dem Staat als Gleichnis des Reiches Gottes zu stellen. So macht das Rechtsverständnis auf ein grundsätzliches Problem der Verhältnisbestimmung von Dogmatik und Ethik bei Barth aufmerksam. Obwohl Barth seine Ethik sowohl als eine dogmatische Ethik begreift als auch von einer Einheit von Dogmatik und Ethik ausgeht, kommen dogmatische Einsichten und Differenzierungen nicht genügend zur Geltung. Auch hier ist wieder an erster Stelle das Überspringen der Sündenthematik zugunsten der Heiligung zu nennen. Der dogmatischen Einsicht in die Wirklichkeit der Sünde wird letztlich nicht Rechnung getragen, ebenso der Kennzeichnung der Wirklichkeit durch die Spannung der Äonen. Es muß zugleich aber festgehalten werden, daß eine Kohärenz der materialen Aussagen zum Recht bei Barth in Dogmatik und Ethik gegeben ist. Insofern bewährt sich seine These von der Einheit von Dogmatik und Ethik. Weiter wird in der Verhältnisbestimmung von Dogmatik und Ethik bei Barth, und dies führe ich letztlich ebenfalls auf den ungeklärten Umgang mit der Sünde zurück, implizit eine doppelte Ortsbestimmung von Recht vorgenommen. Dabei kommt es zu keiner

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Recht der Gnade

Klärung der Verhältnisbestimmung von Ethik als Handlungs- und Daseinsorientierung und Recht als Festlegung von Rahmenbedingungen einer Handlungs- und damit verbundenen Daseinsorientierung. Insbesondere fehlt eine Unterscheidung und Zuordnung der unterschiedlichen Bereiche und Funktionen von Ethik und Recht. Wichtig wäre auf jeden Fall die genaue Klärung der Funktionen des Rechts für die Ethik - diese bleiben bei Barth unklar. Damit bleibt die Bedeutung des Rechts in der Theologie Barths an dieser zentralen Stelle ungeklärt. In den Zusammenhang der Frage der Verhältnisbestimmung von Dogmatik und Ethik gehört auch die Frage nach dem Verhältnis von göttlichem Handeln und menschlichem Handeln. Bei Barth ist dabei insbesondere sein Verständnis des Handelns Gottes im Staat und durch das Recht kritisch zu hinterfragen. Sowohl seine Äußerungen zum Handeln Gottes im Staat als auch im Naturrecht lassen sich m.E. unter dem Stichwort "anonymes Handeln" Gottes in Staat und Recht zur Erhaltung der Schöpfung fassen. Eine gewisse Nähe zu K. Rahners Überlegungen zur "Erhaltungsgnade" Gottes in der Schöpfung ist unverkennbar. 423 Barth betont hierbei, daß aufgrund der Königsherrschaft Christi auch der Staat und das Recht der Herrschaft Christi unterstehen - wie dieses Handeln Christi oder Gottes vorzustellen ist, wie es sich zum menschlichen Handeln verhält, bleibt weitgehend offen. Die wenigen Äußerungen, die Barth dazu macht, lassen parallel zu seiner Rede vom "anonymen Handeln" der Christen im Staat von einem anonymen Handeln Gottes sprechen. Nach welchen Kriterien dieses anonyme Handeln aber zu identifizieren und vom menschlichen Handeln zu unterscheiden ist, bleibt offen. Die von Barths Aussagen her mögliche Antwort, daß dieses anonyme Handeln Gottes immer nur eines in der "Richtung und Linie" des Evangeliums sein könne, bleibt letztlich zu vage. Denn wie ist dieses dann genauer vom menschlichen Handeln in der "Richtung und Linie" des Evangeliums zu unterscheiden, und wie wirkt Gott durch 423

Die Nähe der Aussagen Barths zum lutherischen Schöpfungsordnungsgedanken wird hier deutlich. R.W. Palmer untersucht anhand von KD, ob Barth selbst eine Grundlegung der speziellen Ethik jenseits des von ihm kritisierten Schöpfungsordnungsgedankens gelingt und verneint dies kritisch. Vgl. Ders., a.a.O.

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dieses menschliche Handeln hindurch? So fehlt bei Barth auch, worauf schon hingewiesen wurde, eine klare Aussage, wie sich die Konstitution von Recht durch Gott zu der der Menschen in Beziehung setzen läßt. Die These Barths, daß alle menschliche Konstitution von Recht geschichtlich wirksam vom Handeln Gottes umgriffen wird, ist zum einen theologisch zu undifferenziert und läßt sich zum anderen im interdisziplinären wie gesellschaftlichen Dialog nur schwer vermitteln. d) Zur Frage der Vermittlung des Rechtsverständnisses bei Barth Für die Vermittlung seiner Aussagen zum Rechtsverständnis geht Barth einen zweifachen Weg: einmal den über das anonyme Handeln der Christen in einem Staat und zum anderen den der expliziten Darstellung christlichen Rechtsverständnisses. Angesichts der These vom anonymen Handeln von Christen ist danach zu fragen, wie dies der einzelne Christ genauer tun soll und ob es nicht auch angebracht sein kann, von kirchlicher Seite deutlich Stellung zu rechtlichen Fragen zu nehmen, um so einem christlich begründeten Rechtsverständnis in einer Gesellschaft mehr Raum zu verschaffen. Hier wie bei der expliziten Darstellung christlichen Rechtsverständnisses stellt sich die Frage, inwieweit dieses in einer säkularen Gesellschaft zu verwirklichen ist. Wenn das Recht ein Konsens über die Rahmenbedingungen einer allgemeinen menschlichen Handlungs- und Daseinsorientierung ist, dann kann auch christliches Rechtsverständnis immer nur in den gesamtgesellschaftlichen Dialog über das Recht eingebracht werden. Hier wie bei der Frage nach dem anonymen Handeln von Christen in einer Gesellschaft wäre danach zu fragen, welche Kriterien und Elemente vom christlichen Verständnis her unbedingt in das Recht aufgenommen werden sollten, und welche Kriterien einer christlichen Daseins- und Handlungsorientierung zu einer christlichen Ethik gehören und dort ihren Platz haben. Dies würde aber wieder zu einer Differenzierung des Anspruches Gottes für alle Menschen und für Christen führen. Die Fragen der menschlichen Sünde und der Spannung der Äonen spielen dabei auch wieder eine Rolle. Dieser Problematik stellt sich Barth nicht. Obwohl Barths

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Recht der Gnade

Aussagen zum Recht sowohl umfangreich und differenziert sind als auch an dem in dieser Arbeit entfalteten allgemeinen Rechtsverständnis teilhaben, hat er viele seiner Einsichten im gesellschaftlichen Dialog über das Recht nur schwer vermitteln können.424 Die Aufnahme seiner Überlegungen durch die Juristen E. Wolf, J. Ellul und H. Simon bilden insgesamt gesehen die Ausnahme. Zurecht kann davon gesprochen werden, daß Barth die Grundlegung von Recht als einem Strukturmodell geleistet hat, auch wenn er nicht alle für das Recht konstitutiven Elemente zumindest implizit bearbeitet. Dies spricht de facto dafür, daß eine Grundlegung von Recht als Strukturmodell für ein theologisches Gesamtsystem sowohl zu leisten als auch theologisch notwendig ist. Dies läßt sich mit der in allen theologischen Paradigmen gegebenen Funktion von Recht als Eindämmen und Begrenzen von Sünde im Rahmen des erhaltenden Schöpfungshandelns Gottes begründen. Ob dies eine hinreichende Begründung ist, muß gefragt werden. Diese zentrale theologische Funktion macht die theologische Ausarbeitung eines Strukturmodells von Recht erforderlich. Bei Barth wird neben der Grundlegung von Recht innerhalb seines theologischen Gesamtsystems eine Konzentration seiner Aussagen zum Recht auf die konstitutiven handlungstheoretischen Elemente von Rechtssystemen deutlich: Gerechtigkeit, Legalität und Legitimität, Menschen- bzw. Grundrechte und ethische Orientierung von Recht. Diese Fragen sind allgemein für die Theologie von besonderer Relevanz. In diesen Fragen hat die Theologie, wie bei Barth sichtbar wird, auch eine spezifische Kompetenz. Hier liegt außerdem ein starkes theologisches Interesse vor, das es in den gesamtgesellschaftlichen Dialog über das Recht einzubringen gilt. Im letzten Kapitel möchte ich nun versuchen, auf der Basis der von Barth gewonnenen Einsichten und unter Berücksichtigung der dort offengebliebenen Fragen eigene theologische Überlegungen zum Recht - das immer als Recht in der Korrelation von Dogmatik und Ethik zu begreifen ist, anzuschließen. Es soll dabei, ausgehend von dem erarbeiteten Verständnis von Recht als Teilsystem, erstens 424

Zur Frage der Vermittlung der Theologie K. Barths vgl. die Kritik an der 1. Barmer These bei J. Track, a.a.O., S. 16-22.

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nach der theologischen Kompetenz für das Recht gefragt werden und zweitens nach der Bedeutung des Rechts für die Theologie.

Kapitel 5 Der theologische Rechtsbegriff in der Korrelation von Dogmatik und Ethik

Von grundsätzlichen systemtheoretischen Erwägungen her kann hier noch einmal festgehalten werden, daß innerhalb eines philosophischen wie eines theologischen Gesamtsystems Recht immer nur als Strukturmodell und nicht als eigenständiges Teilsystem ausgearbeitet werden kann. Bei der Darstellung des theologischen Gesamtsystems von Barth wurde deutlich, daß das Strukturmodell Recht von besonderer Relevanz für ein theologisches System ist, gerade weil ein solches Modell Dogmatik und Ethik umfaßt. Da es aber hier nicht darum gehen kann, von einem theologischen Gesamtsystem her Recht als Teilsystem zu entfalten, kann nur auf struktureller Ebene, ähnlich wie bei der Darstellung von Recht als Teilsystem, nach der theologischen Kompetenz für die konstitutiven Elemente von Recht gefragt werden. Außerdem möchte ich für die Theologie, unabhängig von einem bestimmten Paradigma, die Bedeutung des Rechts für die Unterscheidung und Zuordnung von Dogmatik und Ethik aufzeigen.

§ 1 Möglichkeiten und Grenzen theologischer Aussagen zum Recht

1. Theologische Kompetenz für das Recht Theologie ist entsprechend den zu Beginn der Arbeit eingeführten Unterscheidungen ein Gesamtsystem zur Erfassung von Wirklichkeit und deren Sinn von der theologischen Perspektive her. Zur theologi-

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sehen Perspektive gehört es, daß von der Existenz Gottes ausgegangen und alle Wirklichkeit als von Gott geschaffene Wirklichkeit begriffen wird. Gott ist der, der in der Wirklichkeit Grund, Sinn und Ziel setzt. So unterscheiden sich bzw. können sich die theologische und philosophische Perspektive unterscheiden, da die philosophische Perspektive nicht unbedingt von Gott als Grund, Sinn und Ziel von Wirklichkeit ausgeht. Darin kommt es zu einem unterschiedlichen Erkenntnis- und Erfahrungszugang und zu einer unterschiedlichen Sicht des Konstituiert- und Bestimmtseins von Wirklichkeit. Von dem spezifischen Erkenntnis- und Erfahrungszugang ausgehend kann in einem theologischen System Recht als Teilsystem von Wirklichkeit begriffen werden. Ich möchte bei meiner Inbeziehungsetzung von Recht und Theologie die These aufstellen, daß die Theologie als Gesamtsystem die Eigenständigkeit des Teilsystems Recht anerkennt und nicht bestreitet. Und umgekehrt, daß im Teilsystem Recht anderen Systemen die Möglichkeit zugestanden wird, innerhalb ihres Systems dem Recht einen Ort zu geben, zu (einigen) konstitutiven Elementen Aussagen zu treffen oder sogar, wie innerhalb eines theologischen Systems, Recht als Strukturmodell auszubilden. Die gegenseitige Akzeptanz der Eigenständigkeit von Systemen ist m.E. der einzig mögliche Weg eines sinnvollen interdisziplinären Dialogs. Die Eigenständigkeit von Systemen schließt eine reflektierte und bewußte Interdependenz zwischen Systemen nicht aus. Die Interpretation von Recht, die in einem theologischen System geleistet werden kann, ist immer von der jeweiligen Perspektive geleitet. Das aus dieser Interpretation erwachsende Rechtsverständnis ist zwar ein spezifisch theologisches, kann aber in den Dialog um das Recht eingebracht werden. Dabei hat, wie beim Durchgang durch die einzelnen konstitutiven Elemente zu zeigen sein wird, die Theologie in bezug auf diese Elemente eine jeweils unterschiedliche Kompetenz. Diese Interpretation von Recht durch die Theologie ist nicht nur im Zusammenhang des Gesamtsystems Theologie notwendig und sinnvoll, sondern auch dem Recht als Teilsystem selbst insbesondere aus zwei Gründen angemessen. Erstens: Auch wenn ich in dieser Arbeit eine eigenständige, selbstreflexive Teilsystembildung für das

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Recht als angemessen erarbeitet habe, habe ich zugleich die Interdependenz von Recht zu anderen Systemen betont. Das Recht als Teilsystem wird in Aufnahme und kritischer Auseinandersetzung mit anderen Perspektiven, Systembegriffen etc. ausgebildet - dazu kann und sollte auch die Theologie gehören. Diese Interdependenz zu anderen Systemen, gerade auch zu theologischen Systemen, ist darüber hinaus für die Konsensbildung und Durchsetzung von Recht in einer Gesellschaft notwendig. Zweitens gehört zu den konstitutiven erkenntnistheoretischen Elementen von Recht das Konsenskriterium, dem bei den konstitutiven ontologischen Elementen der dialogische und Prozeßcharakter von Recht korrespondieren. Das, was in einer Gesellschaft Recht sein und welche Inhalte das Recht vertreten soll, ist in einem am allgemeinen Konsens orientierten Dialog zu entwickeln. Da Kriterien dieses Dialogs Herrschaftsfreiheit und Partizipation (möglichst aller) sind, kann die Theologie bzw. können theologische Systeme ihre Argumente zur Konstitution und Gestaltung von Recht in diesem Dialog vertreten und so im gesellschaftlichen Prozeß Recht mitkonstituieren. Die aufgezeigten Kriterien dieses Dialogs gelten auch für die Theologie. Dies bedeutet, daß die Theologie bzw. theologische Systeme dem Prozeß- und Dialogcharakter von Recht Rechnung tragen müssen und nicht (länger) von der Vorstellung eines zeit- und situationsinvarianten oder ewig unveränderlichen Rechts ausgehen können. Die theologische Kompetenz1 für das Recht hat sich in diesem dialogischen Prozeß immer neu zu erweisen und zu bewähren.

Eine Unterbestimmung der theologischen Kompetenz findet sich bei H.-R. Reuter: "Aufgabe der Rechtstheologie kann es nur sein, die durch die Sphäre des Rechts bestimmte Wirklichkeit im Verständnis des Glaubens denkend zu verarbeiten und damit zur Praxis des Umgangs mit dem Recht anzuleiten." Ders., Rechtsbegriffe in der neueren evangelischen Theologie, a.a.O., S. 191.

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2. Theologische Kompetenz für die konstitutiven erkenntnistheoretischen Elemente Auf der Ebene der konstitutiven systemtheoretischen Elemente von Recht kann erstens festgehalten werden, daß die Theologie die Eigenständigkeit von Recht als Teilsystem und die Systemkonstitution durch das Teilsystem Recht selbst bejaht. Auf der Ebene der Systemkonstitution kann die Theologie ihr eigenes Systemverständnis und ihre eigene Perspektive offenlegen, um die Grundlage für einen interdisziplinären Dialog zu schaffen. Zweitens hat die Theologie an dem allgemeinen Verständnis von Recht als Teilsystem teil. Dabei kann sie sich aber am Dialog auf formaler und insbesondere auf materialer Ebene um die Definition und Grundlegung von Recht beteiligen. Sie kann am allgemeinen Verständnis von Recht als handlungsund daseinsorientierendem Teilsystem teilnehmen. Dafür, wie dies inhaltlich näher zu bestimmen ist, welche Freiheiten und Handlungsspielräume dem Einzelnen eröffnet werden sollen, hat die Theologie eine spezifische Kompetenz. Diese Kompetenz ist mit der theologischen Anthropologie, insbesondere mit dem Freiheitsverständnis, und der theologischen Ethik gegeben. Die Theologie kann sich von ihren erkenntnistheoretischen Voraussetzungen her an der Bereichsund Strukturbestimmung von Recht beteiligen, gerade zur Stärkung des selbstbegrenzenden Momentes im Recht, um der gegenwärtig vielfach zu beobachtenden Tendenz der Verrechtlichung entgegenzuwirken. Für den Rechtsbegriff gilt, daß die Theologie mit ihrem Reden vom Recht seit Jahrhunderten den Begriff von Recht, gerade in abendländischen Gesellschaften mitkonstituiert hat und somit bereits geschichtlich verankert eine wichtige Funktion in der Entwicklung und Gestaltung des Rechtsbegriffs hat. Dasselbe gilt auch für die konstitutiven erkenntnistheoretischen Kriterien zur Gewinnung und Begründung von Recht: Die Theologie hat, wie das Recht, von Anfang an teil an der allgemeinen wissenschaftstheoretischen Debatte um Kriterien zur Begründung von Aussagen2 und Rechtfertigung von Vgl. J. Track, Die Begründung theologischer Aussagen. In: Zugang zur Theologie, hg. von F. Mildenberger/J. Track, S. 102-129.

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Normen. Dazu kommt für die Theologie das sie erkenntnistheoretisch prägende konstitutive Element der Offenbarung, von dem her alle theologischen Aussagen, auch die zum Recht, bestimmt sein müssen.3 Gerade durch die Offenbarung als Erkenntniszugang und -quelle neben bzw. über der Vernunft und einer ebenfalls von der Offenbarung bestimmten Erfahrung kann die Theologie von ihrer Perspektive her neue erkenntnistheoretische Zugänge zum Recht sowie Einsichten über das Recht eröffnen. Diese können in den allgemeinen Dialog eingebracht werden, da sich die Offenbarung nie jenseits allgemeiner menschlicher Vernunft und Erfahrung vermittelt. Dabei kann die Theologie von ihrer Perspektive auf die Wirklichkeit und dem dadurch eröffneten Wirklichkeitszugang her einen Beitrag zur Sach-, Struktur- und Situationsgemäßheit von Recht auch insofern leisten, als sie sich um eine angemessene Erkenntnis der Gegenstände, Strukturen und Situationen bemüht. Insgesamt kann für die Interpretation der konstitutiven erkenntnistheoretischen Elemente der von der Offenbarung her eröffnete Erkenntnis- und Wirklichkeitszugang in seiner Bedeutung für das Recht in den Dialog eingebracht werden. Dies ist für ein vertieftes und für Verbesserungen bzw. Erneuerungen offenes Rechtsverständnis wichtig, auch dann, wenn dieser Zugang aufgrund seines Bestimmtseins von Offenbarung und Glaube im gesamtgesellschaftlichen Dialog nur bedingt konsensfähig ist. Ein besonderes Anliegen ist es für die Theologie, aufgrund ihrer Anthropologie und der Rechtfertigungszusage für die Dialogkriterien Herrschaftsfreiheit und Partizipation einzutreten sowie nach Wegen eines angemessenen Umgangs mit Macht und Interessen im Dialog über das Recht zu suchen. In der theologischen Anthropologie gehört zu den Grundaussagen, daß vor Gott kein Ansehen der Person ist und alle Menschen unter dem Zuspruch und Anspruch des Evangeliums in die Verantwortung gerufen sind. Aufgabe der Theologie ist dabei in besonderem Maß, für das Recht der "Schwachen", d.h. der Menschen, die über wenig gesellschaftliche Macht verfügen und weZur Auseinandersetzung mit der von dem Kriterium der Offenbarung her begründeten ablehnenden Haltung gegenüber dem wissenschaftstheoretischen Diskurs bei Barth vgl. J. Track, a.a.O., insb. S. 108f.

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nige Möglichkeiten besitzen, einzutreten und ihre Interessen in einem gesamtgesellschaftlichen Dialog effektiv zu vertreten.

3. Theologische Kompetenz für die konstitutiven ontologischen Elemente Für die inhaltliche Näherbestimmung der ontologischen Voraussetzungen hat die Theologie eine hohe spezifische Kompetenz. Die Interpretation dieser ontologischen Voraussetzungen und dabei in besonderem Maße der Anthropologie ist ganz wesentlich für die materiale Gestaltung von Recht, für den Inhalt von Rechtssätzen. Die theologische Anthropologie4 kann einen Beitrag zu den in fünf Punkten aufgezeigten anthropologischen Voraussetzungen und Bedingungen für das Recht leisten:5 (1 und 2) Der Mensch als soziales und offenes Wesen: Zur theologischen Sicht des Menschen gehört schon im AT das Wissen um die Notwendigkeit von Recht zur Gestaltung sozialer Beziehungen zwischen Menschen. Theologische Anthropologie weiß darum, daß es im Zusammenleben von Menschen von Anfang an zu Konflikten kommt, weil der Mensch seine ihm von Gott mit der Schöpfung gegebenen Lebensmöglichkeiten immer wieder verfehlt oder auch nicht wahrnimmt. Zum Wahrnehmen dieser Lebensmöglichkeiten gehört zugleich das Annehmen der dem Menschen ebenfalls mit der Schöpfung zugewiesenen Grenzen und Begrenzungen. Das in der Abkehr von Gott geschehende Verfehlen der Lebensmöglichkeiten und Nicht-Annehmen der Grenzen und Begrenzungen menschlichen Lebens wird theologisch als Sünde bezeichnet. Wie gerade aus der Kritik an Barth sichtbar wird, kann eine angemessene Interpretation der Wirklichkeit von Sünde einen entscheidenden Beitrag zu einer Anthropologie leisten, die die gegenwärtige Krise neuzeitlicher Anthro-

Zu den Grundfragen der theologischen Anthropologie s. W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive. S. S. 167ff.

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pologie überwinden kann.6 Theologische Anthropologie, die von der Spannung zwischen dem Menschen als Geschöpf Gottes und dem Menschen als Sünder, der dieses Geschöpfsein verfehlt, herkommt, kann in die allgemeine Ethik eine neue Realistik im Hinblick auf menschliche Möglichkeiten und Grenzen einbringen. Eine potentialorientierte Anthropologie, die die menschlichen Defizite, Begrenzungen etc. nicht ausgrenzt, sondern bewußt einbezieht, kann so für das Recht an Bedeutung gewinnen. Der theologische Umgang mit den Themen Sünde und Schuld kann insbesondere für das Strafrecht wichtig werden, wo immer wieder um die Verhältnisbestimmung zwischen dem notwendigen Maß an Strafe, der Möglichkeit der Resozialisierung und der Straffreiheit gerungen wird.7 (3) Der Mensch als geschichtliches Wesen: Theologisch nimmt das Wissen um die Geschichtlichkeit des Menschen einen breiten Raum ein. Dem korrespondiert die Einsicht, daß zur Geschichtlichkeit des Menschen die Geschichte Gottes mit den Menschen gehört. Die menschliche Geschichte wird als eine in die Geschichte Gottes hineingenommene verstanden. Die in dieser spezifischen Perspektive entdeckten Erkenntnisse und Erfahrungen über den Menschen können ebenfalls für das Verständnis von Recht herangezogen werden - so etwa die in der Rechtfertigungslehre und Eschatologie eröffnete Unterscheidung von Person und Werk und die Einsicht in die Offenheit, letzte Unverfügbarkeit und Würde einer Lebensgeschichte. (4 und 5) Der Mensch als Sprachwesen - die menschlichen Erkenntnis- und Verstehensbedingungen: Auch theologisch wird die Einsicht geteilt, daß der Mensch ein Sprachwesen ist. Kompetenz besitzt die Theologie, wie bereits aufgezeigt, für die Interpretation menschlicher Erkenntnis- und Verstehensbedingungen. Diese Interpretation menschlicher Erkenntnis- und Verstehensbedingungen ist für die Theologie aus zwei Gründen zentral: Erstens wird danach gefragt, wie die Offenbarung Gottes von Menschen erkannt und verVgl. dazu J. Track, Menschliche Freiheit - Zur ökologischen Problematik der neuzeitlichen Entwicklung, a.a.O. Vgl. dazu die neue Denkschrift der EKD, Strafe: Tor zur Versöhnung?

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standen werden kann und zweitens, wie von daher Offenbarung, Vernunft und Erfahrung einander zugeordnet werden können. Das gibt der Berufung auf Vernunft und Erfahrung ihren Stellenwert und zeigt zugleich ihre Grenze auf. So zeigt sich, daß die Theologie für die Anthropologie als konstitutivem Element von Recht eine besondere Kompetenz für die Interpretation dieses Elementes besitzt. Auch wenn das theologische Geschichtsverständnis in der Neuzeit mit der Ablösung des allgemeinen Geschichtsbewußtseins vom theologischen durch das Verständnis von Geschichte als Profangeschichte konfrontiert ist, kann die Theologie dennoch ihr Geschichtsverständnis und ihre Interpretation von Geschichte in den gesellschaftlichen und interdisziplinären wissenschaftlichen Dialog um das Recht einbringen.8 Es ist dabei immer aktuell zu prüfen, inwieweit das theologische Geschichtsverständnis in diesem allgemeinen und interdisziplinären Dialog vermittelbar ist. Zwei Punkte des theologischen Geschichtsverständnisses scheinen für die Interpretation von Geschichte als konstitutivem ontologischen Element von Recht von besonderer Relevanz: Erstens die theologischen Aussagen zum Sinn und Ziel von Geschichte und zweitens die theologische Rede von der Spannung der Äonen. Die Rede von der Spannung der Äonen steht für die Offenheit und Unabgeschlossenheit von Geschichte. Sie verweist auf neue, in der Geschichte von Gott eröffnete Möglichkeiten des Handelns, auch des Rechtshandelns. Sie geht immer über die in der Geschichte bekannten Erfahrungen und Erkenntnisse, Strukturen und Modelle hinaus und stellt sie zudem von der Zukunft Gottes her kritisch in Frage. Dieser Verweis auf die Offenheit und Unabgeschlossenheit von Geschichte kann gerade im 20. Jahrhundert, wo das neuzeitliche Geschichtsmodell, das vom Gedanken des Fortschritts und der Entwicklung geprägt ist, in die Krise geraten ist, eine andere, neue Sicht der Entwicklung von Geschichte eröffnen. Die besondere theologische Kompetenz und zugleich das besondere theologische Engagement ist auch für das konstitutive ontologische Element von Gesellschaft, Staat und Institutionen gegeben. GesellVgl. die entsprechenden Überlegungen von W. Pannenberg, Zur Theologie des Rechts, a.a.O.

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schaft, Staat und Institutionen sind Bestandteile eines für die Theologie konstitutiven ontologischen und handlungstheoretischen Elements: der Rede von den Zwei Reichen und Regimenten oder der Königsherrschaft Christi. Hier wird sowohl in der Dogmatik wie in der Ethik das theologische Handlungsmodell bestimmt: Es geht um die Frage nach dem Handeln der Christen in der Spannung der Äonen, dem Handeln Gottes in der Einheit von Schöpfung, Versöhnung und Erlösung und dem Verhältnis von Handeln Gottes und Handeln des Menschen. Die Rede von den beiden Reichen und Regimenten oder der Königsherrschaft Christi ist sowohl ein ontologisches wie handlungstheoretisches Element, in dem Dogmatik und Ethik grundlegend zueinander in Beziehung gesetzt werden, explizit der Überschritt von der Daseins- zur Handlungsorientierung vollzogen wird. Deshalb hat die Theologie für das rechtliche Element von Gesellschaft, Staat und Institutionen besondere Kompetenz und kann wieder die sich aus ihrer Perspektive ergebende andere Zugangsweise zu diesem Element in den Dialog einbringen. Die Theologie wird von ihrem Verständnis her immer für eine Begrenzung staatlicher Macht eintreten, wird immer um die Verbesserungsbedürftigkeit gesellschaftlicher Institutionen und damit auch des Rechts wissen und dementsprechend argumentieren und handeln. Von Barth ist zurecht in der theologischen Debatte die These zur Geltung gebracht worden, daß nach theologischem Verständnis der Staat immer Rechtsstaat sein soll, da nur so eine Begrenzung staatlicher Macht, gesellschaftlicher Interessen und Machtansprüche und eine notwendigerweise rechtliche Grundlegung von Institutionen erfolgen kann.

4. Theologische Kompetenz für die konstitutiven handlungstheoretischen Elemente Auf der Ebene der konstitutiven handlungstheoretischen Elemente kann von einer spezifischen theologischen Kompetenz für folgende zwei Elemente gesprochen werden: die ethische Orientierung von Recht, wozu Gerechtigkeit, Menschen- und Grundrechte gehören, und die Grenze von Rechtssystemen.

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Zum Element der ethischen Orientierung von Recht: Hier ist die größte theologische Kompetenz vorhanden, und in diesem Punkt wird auch gesellschaftlich bis heute (noch) nach der Kompetenz von Theologie gefragt. Die Interdependenz von Recht und Ethik, die Überschneidung beider Bereiche und die gleiche Grundfunktion, handlungs- und daseinsorientierend, lassen einerseits Raum für die theologische Ethik und sind andererseits der Ort, an dem Theologie selbst ein starkes Interesse besitzt. Eine ethische Orientierung von Recht ist für den gesellschaftlichen Konsens und die Durchsetzung von Recht in einer Gesellschaft unverzichtbar. Gesamtgesellschaftlich ist die Ethik doch gegenwärtig in einer Krise, fehlt eine überzeugende ethische Antwort auf die globalen Herausforderungen der Zeit. Genau wie die Ethik ist auch das Recht in diesen globalen Herausforderungen gefragt. Das ethische Bewußtsein befindet sich gegenwärtig in einem tiefgreifenden Wandel, der die Theologie beeinflußt und umgekehrt von der Theologie beeinflußt wird. Es ist notwendig, diesem sich wandelnden ethischen Bewußtsein Rechnung zu tragen. Nur in einer neuen Grundlegung von Recht und Ethik kann so ein (Über)lebenskonzept entwickelt werden. Hier ist die ethische Kompetenz von Theologie herausgefordert. Dies gilt auch für ihre Kompetenz zu den Fragen der Gerechtigkeit, der Menschen- bzw. Grundrechte und der Legalität und Legitimität. Zum Element der Grenze von Rechtssystemen: Hier ist die Theologie, insbesondere bei der Abgrenzung des Bereichs von Recht und dem damit verbundenen Offenhalten von rechtsfreien Räumen, kompetent. Die Theologie sollte darüber hinaus ein besonderes Interesse für das Gnadenrecht zeigen, da der Begriff der Gnade ganz eindeutig theologischen Ursprungs ist und hier die Spannung von Recht und Liebe zur Sprache gebracht wird. Die theologische Ethik kann für das Recht durch die Unterscheidung vom "Notwendigen", "Angemessenen" und "Möglichen"9 einerseits eine Legitimationsfunktion und andererseits eine kritische Orientierungsfunktion anbieten. Neben der theologischen Kompetenz für die konstitutiven Elemente von Rechtssystemen kann auch eine theologische Kompetenz für einzelne Rechtsfragen gegeben sein. Grundsätzlich sollte sich die Vgl. dazu J. Track, 50 Jahre Theologische Erklärung von Barmen.

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Theologie aber auf die strukturellen Aspekte von Recht als Teilsystem konzentrieren, da sich von daher auch die inhaltliche Gestaltung von Recht im Einzelnen ergibt. Es wurde bei der Darstellung von Recht als Teilsystem immer wieder darauf verwiesen, daß es bleibend schwierig ist, präzise inhaltliche Kriterien und Elemente zu finden. Gerade dafür sollte die Theologie ihre Kompetenz im Dialog über das Recht geltend machen bzw. versuchen, kompetent zu werden. Die Theologie sollte sich aber vor einem abschließenden deflatorischen Zugriff auf das Recht hüten.

§ 2 Die Relevanz des Rechts für die Theologie

Es soll in dieser Arbeit abschließend der Versuch unternommen werden, die Relevanz von Recht für die Theologie zu klären. Dazu war es notwendig, eine allgemeine, inhaltliche Grundlegung von Recht als Teilsystem auf phänomenologischer Basis normativ-kritisch zu entwickeln, um so die Relevanz dieses Themas für die Theologie methodisch prüfen zu können. Nachdem auf diese Weise die gesellschaftliche Bedeutung von Recht als Teilsystem sichtbar gemacht werden konnte, ist danach zu fragen, ob die Theologie dieser Bedeutung angemessen Rechnung trägt. Wenn Theologie und Kirche von ihrem Selbstverständnis her Daseins- und Handlungsorientierung eröffnen wollen, dann haben sie auch die Aufgabe, sich der Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Handlungs- und Daseinsorientierung durch das Recht zu stellen. Die Theologie wird gegenwärtig dieser Aufgabe in zweierlei Hinsicht nicht gerecht: Zum einen ist theologisch nicht hinreichend deutlich, welche Bedeutung und Funktion das Recht gesamtgesellschaftlich besitzt. Dies hat zur Folge, daß sich die Theologie nicht ausreichend damit auseinandersetzt. Zum anderen nimmt die Theologie und auch die Kirche nicht kompetent und engagiert genug am dialogischen Prozeß um das Verständnis und gerade auch die inhaltliche Gestaltung von Recht teil.

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Die Frage nach der Relevanz von Recht als Teilsystem für die Theologie als Gesamtsystem weist darauf hin, daß jedes theologische System grundsätzlich klären muß, wie es mit anderen (Teil)systemen umgeht, wie die Verhältnisbestimmung des theologischen Systems zu anderen (Teil)systemen vollzogen werden soll. Es kann festgestellt werden, daß theologiegeschichtlich in den meisten Fällen nur die Inbeziehungsetzung zu Philosophie/Wissenschaft oder Gesellschaft/ Staat genau erörtert wurde. Das Verhältnis zu anderen Systemen, wie Recht oder Wirtschaft, kann nur implizit erschlossen werden. Dies ist eine theologisch weitgehend offene Frage.

1. Der Ort des Rechts in der Korrelation von Dogmatik und Ethik Bei allen Systemen, auch dem theologischen Gesamtsystem Barths, konnte deutlich gemacht werden, daß der Ort konstitutiv für das Verständnis von Recht in einem System ist. Deshalb ist hier auch zuerst die Frage des Ortes von Recht in der Theologie zu bedenken. Selbst für Barth, der von einer Einheit von Dogmatik und Ethik ausgeht, konnte gezeigt werden, daß der Ort oder die Orte von Recht in seinem System nicht hinreichend geklärt sind. Zugleich aber zeigt sich, daß Recht innerhalb seines theologischen Systems an vielen Punkten zur Sprache kommt, von Bedeutung ist. Weil das Recht ein handlungs- und daseinsorientierter und -orientierender Begriff ist, ist sein doppelter Ort in der Theologie, d.h. in ihren Systemteilen Dogmatik und Ethik, ihm angemessen.10 Das entbindet aber ein theologisches System nicht von einer konsistenten Konstitution von Recht und einem expliziten Umgang mit diesem doppelten Ort. Von der theologischen Perspektive her wird die grundlegende Bestimmung von Recht immer in der Dogmatik erfolgen, weil das Recht hier seinen Ort entweder in der grundlegenden Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche, der Rede von den Zwei Reichen und Regimenten bzw. der Königsherrschaft Christi oder in 10

Ich teile nicht die Ansicht Reuters, daß der Ort von Recht in der Theologie - "die theologische Anschlußfähigkeit" - von dem jeweiligen philosophischen bzw. juristischen Rechtsverständnis abhängig sei, vgl. Ders., a.a.O., S. 190.

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der Schöpfungslehre im Rahmen der Frage der Schöpfungsordnungen, Institutionen oder dem erhaltenden und geschichtlichen Handeln Gottes besitzt. Diese beiden Orte von Recht in der Dogmatik stehen immer in Relation zu dem Verständnis von Gesetz und Evangelium bzw. Evangelium und Gesetz. Dieses Verständnis ist für die Ortsbestimmung von Recht in der Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche bzw. in der Schöpfungslehre ebenfalls konstitutiv. Die beiden dogmatischen Orte können bei einem hier nicht durchzuführenden Systemvergleich phänomenologisch erhoben werden. Allen theologischen Systemen ist dabei gemeinsam, daß sie eine theologische Grundfunktion von Recht in der Eindämmung und Begrenzung von Sünde sehen. Ebenso ist allen theologischen Systemen das Verständnis von Gott als Rechtssubjekt gemeinsam: Gott als der, der durch das Recht in der Wirklichkeit, im Staat handelt. An einem der theologisch bis heute aufweisbaren Orte Staat und Kirche bzw. Schöpfungslehre müßte eine grundsätzliche Konstitution und damit verbunden eine Ortsbestimmung eines Strukturmodells von Recht von der theologischen Perspektive her erfolgen. Da Recht aber primär ein handlungsorientierender Begriff ist, halte ich es für gerechtfertigt, es an dieser Stelle bei der grundsätzlichen Konstitution und Ortsbestimmung zu belassen. Es an dieser Stelle dabei zu belassen, ist nicht sachlich geboten, sondern aus technischen Gründen notwendig. Zugleich wird auch an dieser Stelle die implizite Handlungsorientierung jeder Daseinsorientierung deutlich. Hier wird Daseinsorientierung zur Handlungsorientierung. Das Verhältnis von Dogmatik und Ethik oder Daseins- und Handlungsorientierung sollte in der Metaethik geklärt werden, möglich ist aber auch eine Klärung in den Prolegomena bzw. der Fundamentaltheologie. Für beide Orte läßt sich methodisch und sachlich argumentieren. Ich gehe im Folgenden von der Metaethik als Ort der Verhältnisbestimmung von Dogmatik und Ethik aus. Die Konstitution des Strukturmodells ist nach der dogmatischen Grundlegung in der Konstitution der Metaethik wieder aufzunehmen und so fortzuführen, daß dieses Strukturmodell dort zuerst bei der Verhältnisbestimmung von Dogmatik und Ethik behandelt wird. Dies ist konsistent, da das Recht ein handlungs- und daseinsorientierendes

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Strukturmodell darstellt, das einen Ort und eine Funktion in der grundsätzlichen theologischen Verhältnisbestimmung von Dogmatik und Ethik besitzt: Recht als ein Strukturmodell in der Korrelation von Dogmatik und Ethik. Für eine theologische Ethik ist als ein konstitutives Element von Ethik die Unterscheidung und Zuordnung von Ethik und Recht einzuführen. Nur so kann eine Bereichs- und Strukturdifferenzierung und -Zuordnung von Ethik und Recht vorgenommen werden und die notwendige Differenzierung bei gleicher Grundfunktion, handlungsund daseinsorientierend zu sein, vollzogen werden. Es hat sich allgemein aufweisen lassen, daß das Recht eine Durchsetzungsfunktion für die Ethik und die Ethik eine Legitimationsfunktion für das Recht wahrnimmt. Die Funktion des Rechts innerhalb der theologischen Ethik ist nicht präzise geklärt, und die Unterscheidung der verschiedenen Funktionen von Recht und Ethik wird theologisch innerhalb der Ethik oft nicht durchgehalten. Deshalb hat insbesondere die theologische Ethik zu klären, welche theologisch ethischen Einsichten durch das Recht in gesamtgesellschaftliche Rahmenbedingungen eingebracht werden sollen, die für das menschliche Zusammenleben so unverzichtbar sind, daß sie gegebenenfalls auch mit Gewalt durchzusetzen sind. Dazu gehört auch die Beantwortung der Frage, welche Rechtsgestalt sie grundsätzlich bzw. im einzelnen theologisch ethisch legitimieren möchte. Auf der Basis dieser Unterscheidung und Zuordnung von Ethik und Recht ist weiter zu begründen, für welche ethischen Normen, Werte und Ziele eine theologische Ethik einen allgemeinen Konsens sucht, und welche ethischen Normen, Werte und Ziele nur für die Christen gelten sollen oder können. Die Differenzierung in Recht, allgemeine Ethik und theologische Ethik sollte grundlegend für jede theologische Ethik werden und zugleich grundlegend für kirchliche Stellungnahmen zu gesellschaftlichen Problemen. In der Verhältnisbestimmung von Ethik und Recht innerhalb einer theologischen Ethik muß sehr genau bestimmt werden, welche Räume und Bereiche als rechtsfrei offenzuhalten sind. Die kritisch-regulative Funktion der theologischen Ethik gegenüber gesamtgesellschaftlichen Tendenzen zu einer zunehmenden Verrechtlichung kann hier festgelegt wer-

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den. An dieser Stelle ist nach den Konsequenzen des theologischen Freiheitsverständnisses und dem Verständnis individueller ethischer Handlungskompetenz zu fragen. Aus dem theologischen Freiheitsverständnis kann die dem Einzelnen zukommende individuelle Handlungsfreiheit und Verantwortlichkeit erkannt werden, und zugleich können die Mindestbedingungen und Mindestforderungen an das Handeln, die für jedermann gelten sollen, benannt werden. So ist der doppelte Ort von Recht in der Theologie sowohl von der Theologie wie vom Recht her sachlich begründet. Damit es theologisch nicht zu Spannungen und Inkonsistenzen sowohl im Rechtsbegriff wie in der Verhältnisbestimmung von Dogmatik und Ethik kommt, muß dieser doppelte Ort explizit reflektiert und bei allen theologischen Aussagen zum Recht mitberücksichtigt werden.

2. Recht als integriertes theologisches Strukturmodell Prinzipiell hat die Theologie teil am allgemeinen Rechtsverständnis. So gelten die konstitutiven Elemente von Recht auch für die Theologie. Dennoch erhält das theologische Verständnis von Recht von der Perspektive eines theologischen Gesamtsystems her eine eigenständige Interpretation. Zur Ausbildung eines integrierten theologischen Strukturmodells von Recht ist es nicht erforderlich, alle konstitutiven Elemente von Recht theologisch explizit zu interpretieren. Es wurde bei der Darstellung von Barths Rechtsverständnis sichtbar, daß viele, für das Recht konstitutive Elemente, wie Gerechtigkeit oder Anthropologie, nicht im Hinblick auf das Recht bearbeitet wurden, aber dennoch Auswirkungen auf das Rechtsverständnis ausüben. Es muß in der Theologie bewußt werden, daß die dort getroffenen Aussagen bei einer in sich konsistenten Interpretation eines Systems auch das Rechtsverständnis implizit mitkonstituieren. Das gilt auch für die konstitutiven erkenntnistheoretischen Aussagen von Recht als einem integrierten Strukturmodell, die von den theologisch konstitutiven erkenntnistheoretischen Elementen, d.h. auch von der Offenbarung, bestimmt werden. So kann das theologische Rechtsverständnis, das Aussagen aus Dogmatik und Ethik in sich vereinigt, zum Kriterium

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für die Konsistenz einer Theologie gerade im Hinblick auf die Korrelation von Dogmatik und Ethik werden. Wenn die Theologie am gesamtgesellschaftlichen und interdisziplinären Dialog über das Recht teilnimmt, sollte sie um die verschiedenen konstitutiven Elemente von Recht wissen und ihre auch in anderen Zusammenhängen dazu getroffenen Aussagen offenlegen, um so dialogfähig zu sein. Oder wenn in einem theologischen System, gerade in der Ethik, materiale Einzelaussagen zum Recht entwickelt werden, kann es hilfreich sein, die verschiedenen konstitutiven Elemente von Recht in Betracht zu ziehen, um so zu dem Recht angemessenen Aussagen zu gelangen. Dies kann darüber hinaus zum Gelingen eines offenen innertheologischen Dialogs über das Recht beitragen. Innertheologisch ist gegenwärtig grundsätzlich die Frage zu lösen, wie sich das Handeln Gottes und das Handeln der Menschen in der Wirklichkeit zueinander verhalten. Wie handelt Gott in der Wirklichkeit? Das Recht macht die Relevanz dieser Fragestellung sehr deutlich: Recht wird theologisch allgemein als Ausdruck des Handelns Gottes verstanden. Recht und Staat haben eine wesentliche Funktion für Gottes erhaltendes Handeln in der Schöpfung bzw. für sein Handeln im Rahmen der Königsherrschaft Christi. Dazu kommt vielfach, wie bei Barth, theologisch die These von der Konstitution des Rechts durch Gott und seiner inhaltlichen Gestaltung auf der Basis des Gesetzes Gottes oder des Evangeliums bzw. der Versöhnung. Wie läßt sich dies zur allgemeinen Vorstellung von einer Konstitution des Rechts durch Menschen in Beziehung setzen? Um diese Fragen theologisch weiterführend zu beantworten, müssen beide Vorstellungen zueinander in Beziehung gesetzt und können nicht länger unreflektiert nebeneinander gestellt werden. Dazu müßte als erster Schritt das Verhältnis von Handeln Gottes und Handeln der Menschen neu durchdacht werden. Gerade im Freiheitsverständnis von Barth finden sich hilfreiche Hinweise, wie die Freiheit Gottes die Freiheit des Menschen einschließt und der Mensch gerade im Glauben zur Freiheit gelangt. Wie gezeigt, bleiben jedoch gegenüber dieser Konstitutionstheorie viele Fragen offen.

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Weiter sind gegenwärtig innertheologisch auch für das Verständnis von Recht neu das Verhältnis von Gesetz und Evangelium und die Relevanz und Funktion der Versöhnung im Bereich des Politischen und von daher dann die Zielsetzung christlicher Ethik zu bestimmen.11 Das Rechtsverständnis steht immer in der Spannung von Gesetz und Evangelium und wirft die Frage nach der Gestalt der Versöhnung im Bereich des Politischen auf. In der Theologie bricht so die Spannung von Recht und Liebe auf und die Frage danach, wie viel Versöhnung und Liebe in das Recht, seine Interpretation und Gestaltung einfließen können. Es soll dabei aber nicht der Versuch der Verrechtlichung von Liebe gemacht werden. Es kann demgegenüber eher zu einer neuen ethischen Orientierung von Recht kommen. Dadurch kann das Recht auf mehr Versöhnungsbereitschaft, insbesondere im Strafrecht, geöffnet werden, aber auch auf mehr Sozialstaatlichkeit und Solidarität. Dennoch wird es weiterhin Konflikte zwischen Recht und Liebe, Recht und Versöhnungsbereitschaft geben. Theologisch muß deshalb die Frage beantwortet werden, wie ein verantwortetes Handeln in einem solchen Konflikt aussehen kann. Ein neues theologisches Rechtsverständnis und die Lösung damit verbundener prinzipieller theologischer Fragen scheint mir angesichts der gegenwärtigen gesamtgesellschaftlichen und globalen Herausforderungen unverzichtbar zu sein. Recht ist eine grundlegende Kategorie für eine menschliche Handlungs- und Daseinsorientierung, die mit der Komplexität und zunehmenden Differenzierung gegenwärtiger gesellschaftlicher und globaler Strukturen, Prozesse, Systeme zunehmend an Bedeutung gewinnt. Dies gilt es theologisch wahrzunehmen und engagiert in den Dialog um das Recht einzubringen, in dem ein grundlegender ethischer Bewußtseinswandel in der Gestaltung des Rechts gesellschaftlich und weltweit verbindlich gemacht und wirksam durchgesetzt werden kann. Hier liegt eine Chance für die Theologie, die sie wahrnehmen sollte. Grundlage aller theologischen Aussagen zum Recht kann die Unterscheidung und Zuordnung von Recht, allgemeiner Ethik und christlicher Ethik bilden. Diese Unterscheidung und Zuordnung ist Vgl. J. Track, 50 Jahre Theologische Erklärung von Barmen, S. 22-28 und Ders., Dominium Terrae, a.a.O., S. 207-238.

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für den Umgang mit den gegenwärtigen gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen in vielen Bereichen wesentlich. Denn diese gegenwärtigen gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen, wie die Bewahrung einer (über)lebensfähigen Umwelt, Möglichkeiten und Grenzen technischer Entwicklungen etc. erfordern zum einen die Entwicklung eines neuen ethischen Bewußtseins, zum anderen eine neue Rechtsgestaltung in vielen Bereichen. Dabei ist es ganz zentral, daß an dieser neuen Rechtsgestaltung, z.B. in Fragen des Umweltrechts, gearbeitet wird, um für eine veränderte Handlungs- und damit verbundene Daseinsorientierung in diesen Bereichen die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen. Eine neue Rechtsgestaltung ist ohne ein verändertes ethisches Bewußtsein nicht möglich. Es ist heute allerdings von besonderer Relevanz, daß in der Rechtsordnung zügig auf die Herausforderungen und Veränderungen des ethischen Bewußtseins in einer Gesellschaft reagiert wird. Die gegenwärtigen Herausforderungen erfordern es, die rechtlichen Rahmenbedingungen zu ändern, um einer neuen Handlungsorientierung die hier auch in hohem Maße notwendige Durchsetzung auf allen Ebenen gesellschaftlichen und politischen Handelns zu eröffnen. Ein Spezifikum der gegenwärtigen ethischen Herausforderungen bildet ihre globale Komplexität und die Tatsache, daß darauf nur global angemessen reagiert werden kann. Dies stellt geschichtlich erstmals unausweichlich vor die Aufgabe, eine weltweit gültige Rechtsordnung einzusetzen und durchzusetzen. Diese weltweit gültige Rechtsordnung muß nicht alle Bereiche menschlicher Beziehungen und Interaktionen umfassen und auch nicht so ausdifferenziert sein wie gegenwärtige nationale Rechtsordnungen. Sie muß eine "Meta'Yechtsordnung darstellen, die in besonderen Bereichen die grundlegenden "Meta"rahmenrichtlinien festlegt, an die auch nationale Rechtsordnungen gebunden sind. Dazu gehört neben den Menschenrechten eine Friedens-, Weltwirtschafts- und Umweltordnung.

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Personenregister Albert, Η. 149Α.150Α.151 Althaus, P. 1A.196.197.198.219.223A. 243A.248 Alwart, Η. 39A. 144A. 146A.166A. 174A Anselm von Canterbury 219 Aristoteles 33.46.47.119.173 Augustin 236A Austin, J.L. 72A.143A.163A Balthasar, H.U. von 205A.257A Barbour, I.G. 29A Barth, Κ. 1A.2.6A.7.54A.118.141. 195-304305311314317320321 Bayertz, Κ. 27A Behrendt, E.L. 2A Bentham, J. 72A Bleibtreu, O. 204 Bloch, Ε. 235A Boecker, H J . 152A Böckle, F. 2A Bonhoeffer, D. 244A.256 Brandenstein, B. von 173 Brandt, P. 3A Breitbach, Μ. 191A Brieskom, Ν. 143A.168A Brunner, Ε. 196.197.225A.239.247. 255A Busch, Ε. 205A Callies, R.-P. 2A.171A Cicero 57.236A Coing, Η. 52.63A.64A.65.181A. 186A Comtes, A. 73 Cornu, D. 250A Cullberg, J. 267A

Dantine, W. 1A.2A3A.198.223A.228A. 23 LA Descartes 15 Dijk op, J. van 267A Dombois, Η. 1A3A.4A.201A Dreier, R. 2A.49.64A.72A.114A.146A. 281A Dürkheim, E. 157 Dworkin, R. 66A Eckmann, Η. 80A Eiert, W. 1A.196.108.219.248A Ellul, J. 1A.198.241A304 Fichte, J.G. 15 Fraling, Β. 181A Frensdorf, F. 144A.145A Fürst, W. 225 Gadamer, H.-G. 168A Gehlen, Α. 168A Geiger, Τ. 106A.108A.165A.178A Gollwitzer, H. 198.201.220A.223A Gröschner, R. 154A Grotius, Η. 33A.60 Grundmann, S. 1A.201A Habermas, J. 4A.98A.123.129A.132. 148A.155.157A.188A.189A.190A Härle, W. 2A.205A.209A Hare, RAI. 17A Harleß, A. von 247.248A Hart, Η .LA. 71.78.80f.84.91-92.93A. 125.127.143A.158A.163A Hartmann, N. 52 Heckel, J. 1A.201.224A

338

Personenverzeichnis

Heckel, Τ. 280A.282A Hegel, G.F.W. 15.16A.22A.2334.35.45. 48.49.52.57-59.63A.70.119.122.285A Heidegger, Μ. 15A35A Herms, Ε. 3A Hobbes, Τ. 33A.60.188 Honecker, Μ. 2A3A Huber, W. 3A.250A300A

Leimbacher, J. 182A Liermann, Η. 1A.281A Lindenlauf, Η. 249A Luhmann, Ν. 8A.15A.18A.19A.24A. 25A3339-43.55A.69A.87A.96-117. 122A.128-133.139.146A.149.152A. 155A. 159A. 168A.181A. 188A.236A Luther, M. 196.242-248.223.224.225. 229.231.232.243-247.262A

Iwand, H J . 223A.229A.298A Isaac Israeli 151A Jelünek, G. 67A Jhering, R. von 74 Joest, W. 223A.244A Jones, H.O. 17A Jüngel, E. 201.223A.225A.227A.229A. 257A.267A.269A.276A.277.298A Kaiser, G. 138A Kambartel, F. 18A Kamiah, W. 146A Kant, J. 11.15.17.19.2234.35.36A.37.45. 49-53.57.59-63.65.70.71.73A.75.78. 82.88.94.98A.H9.121.122.125A.143. 145A.152.184A Kantorowicz, Η. 76A.77A.143A Kasch, Κ. 129A.131A Katz, Α. 69A Kaufmann, Α. 52.56A.64A.65 Kelsen, H. 79f.50A.71.74.76A.77A 78.79.80A.84-88.91.93-95.122A. 123A.125.127.158A. 159A.184A Kerber, W. 2A Kirsch, Η. 267A Krawietz, W. 33A.34A.176A Kreck, W. 257A Kriele, Μ. 71A.183A.185A Krötke, W. 205A.209A Kühnhardt, L. 66A.187A Küng, Η. 205A.231A.232A Küsters, G.-W. 49 Kuhn, T.S. 27-30 Kutschera, F. von 16A.146A Lanczkowski, G. 170A Larenz, Κ. 64A

Mahrenholz, G. 182A Maihofer, W. 8A.64A.143A.152A. 175A.178A Marcic, R. 180A.184A Marsch, W.-D. 202A.204A.250A.257A. 264A.280A Marxen, K. 191A Merkel, A. 73 Midgley, L.C. 241A.266A Müdenberger, F. 206A.208A.216A. 223A.253A.267A.309A Moldenhauer, Β. 129A Moltmann, J. 3A.6A.201.243A Moore, C.E. 72A Mumm, R. 204A

Oden, T.C. 267A.273A.274A Okayama, Κ. 257A Otte, G. 2A

Palmer, R.W. 255A.267A302A Pannenberg, W. 2A.16A.197.299A. 311A313A Parsons, Τ. 8A.18A Peschke, Κ. 24 ΙΑ Peters, Α. 192A.223A.224A.231A Pfeiffer, D.K. 157A Pirson, D. 281A Piaton 33.46.47.119 Popper, Κ. 149A Prigogine, I. 8A Puchta, G.F. 73.74A Pufendorf, S. 60 Puntel, L.B. 16A.151A

Personenverzeichnis Radbruch, G. 52.64A.65A.71.74.75A. 76A.81-84.85A.88-92.94A.125.127. 183.184A.191A Rae, S.H. 268A.274A Rapaport, M.W. 1A Rawls, J. 4A.66A.183A.184.185A Rendtorff, Τ. 3A.4A.66A.129A.184A. 267A.269A.271A.272A.290 Rescher, W. 16A Reuter, H.-R. 2A.219A.220A.280A. 281A.291A.308A317A Ritsehl, Ο. 8A Rombach, Η. 18A Russell, Β. 72A Sauter, G. 17A Savigny, F.C. von 73.171A Schätzler, J.-G. 191A Scheerer, S. 157A Scheler, Μ. 52.180A.181A Schleiermacher, F. 122A.196.220 Schlink, Ε. 228A Schmidt, K.D. 225A.226A Schmitt, C. 73A.171A Schneider, P. 251A Schrey, H.-H. 1A Schüller, Β. 241A Schwarz, Κ. 2A Simon, Η. 1A.68304 Sneed, J.D. 29A Söhngen, G. 257A Stammler, R. 24.143A Stein, Α. 2A Steinmüller, W. 1A.201A.259A.281A

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Stegmüller, W. 27A.29A Stengers, J. 8A Stock, Κ. 205A Stone, C.D. 182A Stubbe, Ε. 3A Tiefei, H.O. 268A Thielicke, H. 1A.197.219.248 Thomas von Aquin 34A.151A.196.235. 236.237.238.239.241 Thomasius 63A Tödt, H.E. 3A.244A.245A Track, J. 3A.4A.6A.14A.72A.144A. 169A.181A.245A.250A.257A.269A. 270A.296A.299A304A309A310A. 312A315A322A Trillhaas, W. 1A.196.197.198 Vogler, P. 168A Weber, Μ. 165A Weizsäcker, C.F. von 4A.8A Welzel, Η. 33A.48A.52A.60A.63A. 235A.236A.237A Willis, R.E. 267A Wittgenstein, L. 17A.27.72A.91.145 Wolf, Erik 1A.46A.62A.64A.73A.123A. 184.198.201.223A.258-264.280A304 Wolf, Ernst 1A.2A.197.235A

Zahn, Μ. 8A Zippelius, R. 57.147A.161.178A.179A. 191A

Christentumsgeschichte und Wahrheitsbewußtsein Studien zur Theologie Emanuel Hirschs Herausgegeben von Joachim Ringleben Oktav. VII, 254 Seiten. 1991. Ganzleinen D M 112,ISBN 3-11-012700-8 (Theologische Bibliothek Töpelmann, Band 50)

Untersuchungen zu Emanuel Hirschs kritischer Rekonstruktion der Geschichte des frühen Christentums und der neueren evangelischen Theologie und zu seiner Rezeption neuzeitlichen Denkens in der Theologie und Philosophie (Schleiermacher, Hegel) sowie zum Gegenwartsbezug seines Denkens (das Heilige, christliche Predigt). In Vorbereitung

ARNULF VON SCHELIHA

Emanuel Hirsch als Dogmatiker Zum Programm der „christlichen Rechenschaft" im „Leitfaden zur christlichen Lehre" Oktav. Etwa 500 Seiten. 1991. Ganzleinen etwa DM 168,ISBN 3-11-012789-X (Theologische Bibliothek Töpelmann, Band 52)

U L R I C H BARTH

Die Christologie Emanuel Hirschs Eine systematische und problemgeschichtliche Darstellung ihrer geschichtsmethodologischen, erkenntniskritischen und subjektivitätstheoretischen Grundlagen Groß-Oktav. Etwa 640 Seiten. 1991. Ganzleinen etwa DM 198,ISBN 3-11-012894-2 Preisändeningen vorbehalten

Walter de Gruyter

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H A N S - J O A C H I M BIRKNER

Schleiermachers Christliche Sittenlehre Im Zusammenhang seines philosophischtheologischen Systems Oktav. 159 Seiten. 1964. Kartoniert. D M 46,ISBN 3-11-005217-2 (Theologische Bibliothek Töpelmann, Band 8)

Friedrich Schleiennacher Kritische Gesamtausgabe Herausgegeben von Hans-Joachim Birkner und Gerhard Ebeling, Hermann Fischer, Heinz Kimmerle, Kurt-Victor Selge Etwa 40 Bände in 5 Abteilungen. Groß-Oktav. Ganzleinen. Die Kritische Gesamtausgabe gliedert sich in folgende Abteilungen, wobei den einzelnen Abteilungen jeweils auch der handschriftliche Nachlaß zugewiesen wird: I. Schriften und Entwürfe - II. Vorlesungen - III. Predigten IV Ubersetzungen - V Briefwechsel und biographische Dokumente (Bitte fordern Sie einen Sonderprospekt an).

Beiträge zur Theorie des neuzeitlichen Christentums Wolfgang Trillhaas zum 65. Geburtstag Herausgegeben von Hans-Joachim Birkner und Dietrich Rössler Groß-Oktav. VIII, 142 Seiten. 1968. Ganzleinen. D M 40,50

ISBN 3-11-006314-X

Preisänderung vorbehalten

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