Deontologie und Teleologie in der kantischen Ethik 9783495997666, 9783495485040

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Deontologie und Teleologie in der kantischen Ethik
 9783495997666, 9783495485040

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I. Einleitung
I.1 Historische oder systematische Rekonstruktion?
I.2 Wozu eine ethiktypologische Analyse der kantischen Ethik?
I.3 Systematischer Kontext und Exposition der These
I.4 Strukturübersicht
II. Grundbegriffe der Ethiktypologie
II.1 Deontologie/Teleologie
II.2 Konsequentialismus
II.3 Axiologie
II.4 Resümee
II.4.1 Ethiktypologie und Handlungstheorie: Das Problem von Handlung und Handlungsfolgen
II.4.2 Mikro- und makroanalytische Reflexionsebenen der ethiktypologischen Strukturbestimmung: Element und Struktur
II.4.3 Makroanalytische Klassifikationskategorien: Die Grundbegriffe der Ethiktypologie im kritischen Diskurs
III. Hauptpositionen der ethiktypologischen Diskussion
III.1 Der systematische Kontext der Ethiktypdebatte
III.2 Die Applikation der makroanalytischen Klassifikationskategorien und die Skizzierung der Hauptpositionen im aktuellen Diskurs
III.2.1 Kants Ethik als deontologische Theorie (I): Die starke Deontologie-These (D)
III.2.1.1 Das systematische Profil der D-These
III.2.1.2 Konkrete Formen der D-These: Trampota und Niquet
III.2.1.3 Zusammenfassung
III.2.2 Kants Ethik als deontologische Theorie (II): Die schwache Deontologie-These (SD)
III.2.2.1 Das Abgrenzungsproblem der starken und schwachen Deontologie-These
III.2.2.2 Das systematische Profil der SD-These
III.2.2.3 Konkrete Formen der SD-These: Korsgaard undWood
III.2.2.4 Zusammenfassung
III.2.2.5 Fazit: Kernaspekte der D- und SD-These
III.2.3 Kants Ethik als teleologische Theorie (I): Die starke Teleologie-These (T-These)
III.2.3.1 Das systematische Profil der T-These
III.2.3.2 Konkrete Formen der T-These: Leist, Herman und Guyer
III.2.3.3 Zusammenfassung
III.2.3.4 Das systematische Profil der ST-These
III.2.3.5 Konkrete Form der ST-These: Krämer
III.2.3.6 Zusammenfassung
III.2.3.7 Fazit: Kernaspekte der T- und ST-These
III.2.4 Kants Ethik als konsequentialistisches Modell: Die starke Konsequentialismus-These (K-These)
III.2.4.1 Das systematische Profil der K-These
III.2.4.2 Konkrete Formen der K-These: Hare und Cummiskey
III.2.4.3 Zusammenfassung
III.2.5 Kants Ethik als typologisch transkategoriales Modell: Die schwache Komplexitätsthese (SKOM-These)
III.2.5.1 Das systematische Profil der SKOM-These
III.2.5.2 Konkrete Formen der SKOM-These: Arrington und Baumanns
III.2.5.3 Zusammenfassung
III.3 Hauptaspekte des ethiktypologischen Diskurses
III.4 Ausblick
IV. Kants Kritik an der teleologischen Ethik
IV.1 Verbindlichkeit, Zweckvorstellung und Teleologiekritik beim frühen Kant
IV.2 Die antike Ethik in der »Vorlesung über Ethik«
IV.3 Kants Teleologiekritik in der kritischen Periode
IV.4 Fazit: Das Verbindlichkeitsproblem der teleologischen Ethik
V. Grundbegriffe der kantischen Ethik
V.1 Deontische Grundbegriffe
V.1.1 Die Pflicht
V.1.1.1 Tugendpflichten
V.1.1.2 Der Ursprung der Pflichten
V.1.2 Der Kategorische Imperativ
V.1.2.1 Die Formulierungen des Kategorischen Imperativs
V.1.2.2 Die systematische Relation der KI-Formulierungen
V.1.2.3 Der Grund des Kategorischen Imperativs
V.1.2.3.1 Die Funktion der Axiologie bei der Deduktion des Sittengesetzes in der GMS
V.1.2.3.2 Erkenntnisgrund, Seinsgrund und das Faktum der Vernunft in der KpV
V.1.2.3.3 Problemausblick
V.2 Teleologische Begriffe
V.2.1 Wille
V.2.1.1 Wille undWillkür in der MS
V.2.1.2 Willensbestimmung undWillensausrichtung in der RGV
V.2.1.3 GuterWille
V.2.2 Zweck
V.2.2.1 Objektive Zwecke I: Das höchste Gut
V.2.2.2 Objektive Zwecke II: Selbstzweck
V.2.2.3 Objektive Zwecke III: Endzweck
V.3 Axiologische Grundbegriffe
V.3.1 Wert
V.3.1.1 Der Gegenstandsbereich der moralischen Wertsetzungsakte
V.3.1.1.1 Person
V.3.1.1.2 Der moralische Wert der Handlung
V.3.1.1.3 Menschheit
V.3.1.1.4 Sittengesetz
V.3.1.1.5 Freiheit
V.3.1.2 Zusammenfassung
VI. Argumentationsstrategien
VI.1 Ethiktypologisch relevante Reflexionsebenen der kantischen Ethik
VI.2 Das Paradoxon der Methode
VI.3 Willensbestimmung, Funktion der praktischen Vernunft und höchstes Gut
VI.3.1 Die moralische Bestimmung des Willens
VI.3.2 Die Ableitung des höchsten Guts
VI.3.3 Die Funktion der praktischen Vernunft
VI.4 Die Ableitung von Pflichten
VI.4.1 Selbstmord aus Lebensmüdigkeit
VI.4.2 Nicht-Einhalten von Versprechen
VI.4.3 Entwicklung der Talente
VI.4.4 Gleichgültigkeit gegen das Schicksal anderer Menschen
VI.4.5 Das Verbot der Selbstschändung
VI.4.6 Die Selbstbetäubung durch Genuss- und Nahrungsmittel
VII. Kants Konzeption der Vernunft
VII.1 Theoretische und praktische Vernunft
VII.2 Das Interesse der Vernunft
VII.3 Entelechiale Vernunft, Deontologie und transzendentale Axiologie
VIII. Die Achtungslehre der KpV als praktische Axiologie
IX. Kritik der Klassifikationen der kantischen Ethik in der aktuellen Diskussion
IX.1 Kritische Analyse der D-These
IX.2 Kritische Analyse der T-These
IX.3 Kritische Analyse der K-These
IX.4 Kritische Analyse der SKOM-These
IX.5 Kritische Analyse der SD- und ST-These
IX.6 Zusammenfassung: Axiologie, Vernunftteleologie und Deontologie
IX.7 Schlusswort
Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Personenregister

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Christoph Bambauer

Deontologie und Teleologie in der kantischen Ethik

BAND 85 ALBER PRAKTISCHE PHILOSOPHIE https://doi.org/10.5771/9783495997666

.

B

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

A

https://doi.org/10.5771/9783495997666 .

Diese Studie beschäftigt sich mit der Diskussion der adäquaten typologischen Klassifikation der Ethik Immanuel Kants. Während die kantische Ethik im Gefolge der Differenzierung zwischen teleologischen und deontologischen Ethikansätzen durch C. D. Broad von vielen ihrer Interpreten eindeutig dem deontologischen Lager der Pflichtethiken zugeordnet wurde, sind vor allem in jüngerer Zeit einflussreiche Analysen vorgelegt worden, die einer einfachen Klassifikation widersprechen. Philosophen/innen wie z. B. Allen Wood, Paul Guyer, Anton Leist, Christine Korsgaard oder Barbara Herman weisen mit je unterschiedlichen Schwerpunkten und Zielsetzungen auf ebenfalls relevante Elemente teleologischer, tugendethischer und werttheoretischer Provenienz hin und hinterfragen damit das verbreitete, homogene Bild von Kants Moralphilosophie. In der Arbeit wird zum einen eine strukturell orientierte, kritischrekonstruktive Analyse dieser Diskussion geliefert, zum anderen jedoch auch eine differenzierte eigene Position zur typologischen Klassifikationsproblematik bei Kant entwickelt.

Der Autor: Christoph Bambauer, geb. 1974, Studium der Philosophie, Evangelische Theologie und Linguistik an der Universität Duisburg-Essen. Promotion 2007 am Philosophischen Institut der Universität Bonn. Lehrtätigkeit an den Universitäten Duisburg-Essen, Bonn, Siegen, Erfurt und Bamberg. Publikationen zur Ethik, Handlungstheorie, der Philosophie Kants, Philosophie der Biologie, Angewandten Ethik und Religionsphilosophie. Seit 2009 Wissenschaftlicher Angestellter der Universität Bamberg.

https://doi.org/10.5771/9783495997666 .

Christoph Bambauer Deontologie und Teleologie in der kantischen Ethik

https://doi.org/10.5771/9783495997666 .

Alber-Reihe Praktische Philosophie Unter Mitarbeit von Jan P. Beckmann, Dieter Birnbacher, Heiner Hastedt, Konrad Liessmann, Guido Lhrer, Ekkehard Martens, Julian Nida-Rmelin, Peter Schaber, Oswald Schwemmer, Ludwig Siep, Dieter Sturma, Jean-Claude Wolf und Ursula Wolf herausgegeben von Christoph Horn, Axel Hutter und Karl-Heinz Nusser Band 85

https://doi.org/10.5771/9783495997666 .

Christoph Bambauer

Deontologie und Teleologie in der kantischen Ethik

Verlag Karl Alber Freiburg / Mnchen https://doi.org/10.5771/9783495997666 .

Vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2007 von der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn als Dissertationsschrift angenommen.

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Fhren Herstellung: Difo-Druck, Bamberg Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier (surefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48504-0

https://doi.org/10.5771/9783495997666 .

Meinen Eltern

https://doi.org/10.5771/9783495997666 .

https://doi.org/10.5771/9783495997666 .

Inhaltsverzeichnis

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

I.1 I.2 I.3 I.4

Historische oder systematische Rekonstruktion? . . . . . Wozu eine ethiktypologische Analyse der kantischen Ethik? Systematischer Kontext und Exposition der These . . . . Strukturübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20 23 29 35

II.

Grundbegriffe der Ethiktypologie

. . . . . . . . . . . . .

37

II.1 II.2 II.3 II.4

Deontologie/Teleologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konsequentialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Axiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.4.1 Ethiktypologie und Handlungstheorie: Das Problem von Handlung und Handlungsfolgen . II.4.2 Mikro- und makroanalytische Reflexionsebenen der ethiktypologischen Strukturbestimmung: Element und Struktur . . . . . . . . . . . . . . . II.4.3 Makroanalytische Klassifikationskategorien: Die Grundbegriffe der Ethiktypologie im kritischen Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . .

39 47 50 52

Hauptpositionen der ethiktypologischen Diskussion . . . .

71

III.1 Der systematische Kontext der Ethiktypdebatte . . . . . III.2 Die Applikation der makroanalytischen Klassifikationskategorien und die Skizzierung der Hauptpositionen im aktuellen Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

Deontologie und Teleologie in der kantischen Ethik

A

Vorwort

III.

https://doi.org/10.5771/9783495997666 .

52

56

59

80

9

Inhaltsverzeichnis

III.2.1 Kants Ethik als deontologische Theorie (I): Die starke Deontologie-These (D) . . . . . . . . . III.2.1.1 Das systematische Profil der D-These . . III.2.1.2 Konkrete Formen der D-These: Trampota und Niquet . . . . . . . . . . . . . . . III.2.1.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . III.2.2 Kants Ethik als deontologische Theorie (II): Die schwache Deontologie-These (SD) . . . . . . III.2.2.1 Das Abgrenzungsproblem der starken und schwachen Deontologie-These . . . . . . III.2.2.2 Das systematische Profil der SD-These . . III.2.2.3 Konkrete Formen der SD-These: Korsgaard und Wood . . . . . . . . . . . . . . . . III.2.2.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . III.2.2.5 Fazit: Kernaspekte der D- und SD-These . III.2.3 Kants Ethik als teleologische Theorie (I): Die starke Teleologie-These (T-These) . . . . . . . III.2.3.1 Das systematische Profil der T-These . . . III.2.3.2 Konkrete Formen der T-These: Leist, Herman und Guyer . . . . . . . . . . . III.2.3.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . III.2.3.4 Das systematische Profil der ST-These . . III.2.3.5 Konkrete Form der ST-These: Krämer . . III.2.3.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . III.2.3.7 Fazit: Kernaspekte der T- und ST-These . . III.2.4 Kants Ethik als konsequentialistisches Modell: Die starke Konsequentialismus-These (K-These) . III.2.4.1 Das systematische Profil der K-These . . . III.2.4.2 Konkrete Formen der K-These: Hare und Cummiskey . . . . . . . . . . III.2.4.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . III.2.5 Kants Ethik als typologisch transkategoriales Modell: Die schwache Komplexitätsthese (SKOM-These) . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.2.5.1 Das systematische Profil der SKOM-These III.2.5.2 Konkrete Formen der SKOM-These: Arrington und Baumanns . . . . . . . . III.2.5.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . .

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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

83 84 88 90 91 92 95 106 113 116 117 119 122 135 137 140 143 144 145 146 151 157

158 159 161 164

Christoph Bambauer

https://doi.org/10.5771/9783495997666 .

Inhaltsverzeichnis

III.3 Hauptaspekte des ethiktypologischen Diskurses . . . . . III.4 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

165 172

Kants Kritik an der teleologischen Ethik . . . . . . . . . .

175

IV.

IV.1 Verbindlichkeit, Zweckvorstellung und Teleologiekritik beim frühen Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.2 Die antike Ethik in der »Vorlesung über Ethik« . . . . . . IV.3 Kants Teleologiekritik in der kritischen Periode . . . . . . IV.4 Fazit: Das Verbindlichkeitsproblem der teleologischen Ethik V.

Grundbegriffe der kantischen Ethik

176 181 184 190

. . . . . . . . . . . . 194

V.1 Deontische Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . V.1.1 Die Pflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.1.1.1 Tugendpflichten . . . . . . . . . . . . . V.1.1.2 Der Ursprung der Pflichten . . . . . . . . V.1.2 Der Kategorische Imperativ . . . . . . . . . . . . V.1.2.1 Die Formulierungen des Kategorischen Imperativs . . . . . . . . . . . . . . . . V.1.2.2 Die systematische Relation der KI-Formulierungen . . . . . . . . . . . V.1.2.3 Der Grund des Kategorischen Imperativs . V.1.2.3.1 Die Funktion der Axiologie bei der Deduktion des Sittengesetzes in der GMS V.1.2.3.2 Erkenntnisgrund, Seinsgrund und das Faktum der Vernunft in der KpV . . . . V.1.2.3.3 Problemausblick . . . . . . . . . . . . V.2 Teleologische Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.2.1 Wille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.2.1.1 Wille und Willkür in der MS . . . . . . . V.2.1.2 Willensbestimmung und Willensausrichtung in der RGV . . . . . . . . . V.2.1.3 Guter Wille . . . . . . . . . . . . . . . V.2.2 Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.2.2.1 Objektive Zwecke I: Das höchste Gut . . . V.2.2.2 Objektive Zwecke II: Selbstzweck . . . . . V.2.2.3 Objektive Zwecke III: Endzweck . . . . .

196 197 202 210 214 214 235 238 244 253 262 263 264 266 269 274 278 282 289 297

A

Deontologie und Teleologie in der kantischen Ethik https://doi.org/10.5771/9783495997666 .

11

Inhaltsverzeichnis

V.3 Axiologische Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . V.3.1 Wert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.3.1.1 Der Gegenstandsbereich der moralischen Wertsetzungsakte . . . . . . . . . . . V.3.1.1.1 Person . . . . . . . . . . . . . . . . V.3.1.1.2 Der moralische Wert der Handlung . . V.3.1.1.3 Menschheit . . . . . . . . . . . . . . V.3.1.1.4 Sittengesetz . . . . . . . . . . . . . . V.3.1.1.5 Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . V.3.1.2 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . VI.

. 301 . 303 . . . . . . .

304 307 314 317 321 323 331

Argumentationsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . .

335

VI.1 Ethiktypologisch relevante Reflexionsebenen der kantischen Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI.2 Das Paradoxon der Methode . . . . . . . . . . . . . . VI.3 Willensbestimmung, Funktion der praktischen Vernunft und höchstes Gut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI.3.1 Die moralische Bestimmung des Willens . . . . VI.3.2 Die Ableitung des höchsten Guts . . . . . . . . VI.3.3 Die Funktion der praktischen Vernunft . . . . . VI.4 Die Ableitung von Pflichten . . . . . . . . . . . . . . VI.4.1 Selbstmord aus Lebensmüdigkeit . . . . . . . . VI.4.2 Nicht-Einhalten von Versprechen . . . . . . . . VI.4.3 Entwicklung der Talente . . . . . . . . . . . . VI.4.4 Gleichgültigkeit gegen das Schicksal anderer Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI.4.5 Das Verbot der Selbstschändung . . . . . . . . VI.4.6 Die Selbstbetäubung durch Genuss- und Nahrungsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Kants Konzeption der Vernunft

. 342 . 346 . . . . . . . .

. 381 . 383 . 385

. . . . . . . . . . . . . . 397

VII.1 Theoretische und praktische Vernunft . . . . . . . . . . VII.2 Das Interesse der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . VII.3 Entelechiale Vernunft, Deontologie und transzendentale Axiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

12

352 352 359 363 366 369 373 378

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

399 403 407

Christoph Bambauer

https://doi.org/10.5771/9783495997666 .

Inhaltsverzeichnis

VIII. Die Achtungslehre der KpV als praktische Axiologie . . . . IX.

Kritik der Klassifikationen der kantischen Ethik in der aktuellen Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kritische Analyse der D-These . . . . . . . . . . . . Kritische Analyse der T-These . . . . . . . . . . . . Kritische Analyse der K-These . . . . . . . . . . . . Kritische Analyse der SKOM-These . . . . . . . . . Kritische Analyse der SD- und ST-These . . . . . . . Zusammenfassung: Axiologie, Vernunftteleologie und Deontologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX.7 Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX.1 IX.2 IX.3 IX.4 IX.5 IX.6

. . . . .

. . . . .

415

431 432 446 460 478 492

. . 507 . . 513

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

517

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

528

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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A

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https://doi.org/10.5771/9783495997666 .

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2007 von der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertationsschrift angenommen. Sie ist das Resultat einer intensiven Beschäftigung mit den Fundamentalstrukturen der kantischen Ethik und stellt den Versuch dar, einen konstruktiven Beitrag zur Erschließung einiger Kernaspekte dieser faszinierenden wie komplexen Theorie zu leisten. Ich habe vielen Menschen zu danken, die zur Ermöglichung dieser Arbeit beigetragen haben. Besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Professor Dr. Christoph Horn, der mich nicht nur in meinem Anliegen bei dieser Studie bestärkt und während ihres Verfassens bestens betreut, sondern auch weit darüber hinaus gefördert und unterstützt hat. Professor Dr. Wolfram Hogrebe danke ich für die Zweitgutachtertätigkeit sowie Professor Dr. Hans-Joachim Pieper für die Übernahme des Vorsitzes der Promotionskommission sowie die freundliche und umsichtige Begleitung während des Verfahrens. Den akademischen Lehrern meiner Studienzeit bin ich aufgrund der Vermittlung des philosophischen Handwerks, ihrer unermüdlichen Dialogbereitschaft sowie verschiedener Förderungsinitiativen verbunden. Zu nennen sind hier insbesondere Professor Dr. Vittorio Hösle, Professor Dr. Christian Illies, Professor Dr. Hans Werner Ingensiep, Prof. Dr. Anne Eusterschulte, Prof. Dr. Sabine Döring sowie Prof. Dr. Klaus Michael Meyer-Abich. Für kritische Anmerkungen und Diskussionen danke ich Prof. Dr. Dieter Schönecker, Prof. Dr. Corinna Mieth und Dr. Heike Baranzke. Dr. Sabine Voßkamp, Sabine Dittrich M.A. und Gertraude Bambauer danke ich herzlich für ihre Unterstützung bei der Korrektur. Sabine Dittrich M.A. danke ich darüber hinaus für die Unterstützung bei Formatierungsproblemen. Meinem Vater Klaus Bambauer, der weder meinen Studienabschluss noch meine Promotion A

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Vorwort

erleben durfte, danke ich u. a. für unzählige intellektuelle Anregungen, leidenschaftliche Diskussionen und für seine nie endende Geduld und Toleranz. Zudem danke ich dem Evangelischen Studienwerk Villigst für die Gewährung eines Promotionsstipendiums, das mir ermöglichte, konzentriert und kontinuierlich an dieser Studie zu arbeiten. Christoph Bambauer

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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Essen, den 15. 5. 2011

Christoph Bambauer

https://doi.org/10.5771/9783495997666 .

I. Einleitung

Kaum eine Philosophie wurde in den letzten Jahrzehnten so intensiv erforscht und zugleich so heterogen 1 interpretiert wie diejenige Kants. Dieser Eindruck verdankt sich u. a. der Tatsache, dass allein in den letzten fünfundzwanzig Jahren mehrere Werke erschienen sind, in denen vor allem die praktische Philosophie Kants auf innovative und unorthodoxe 2 Art und Weise ausgelegt wurde. Sowohl die Person Immanuel Kant als auch seine Philosophie wurden für lange Zeit auf eine Art und Weise skizziert, die gleichermaßen von einer einseitigen Perspektive auf den Menschen 3 und das Werk 4 zeugt. Während hinsichtlich der Darstellung biographischer Begebenheiten vor allem die etwas starr und eigentümlich anmutenden Gewohnheiten des alten bzw. alternden Kant herangezogen und zur Legendenbildung benutzt wurden, haben sich bezüglich seiner Ethik ganz bestimmte Ansichten z. B. über das von ihm angesetzte Verhältnis von Vernunftnotwendigkeit und Gefühl etabliert: Kant zufolge sei die vernünftige Erfüllung der Pflicht unabhängig von der subjektiven Gefühlslage bzw. Neigung des moralischen Subjekts aufgrund ihrer Fundiertheit in der vom Kategorischen Imperativ ausgehenden, unbedingten moralischen Sollensforderung praktisch, d. h. in moralischer Hinsicht unter allen Umständen notwendig. Dieser von Kant geforderte prinzipielle Ausgang von einer unAls diesbezüglich lehrreich erweist sich z. B. die Analyse der sieben in der Sekundärliteratur auffindbaren und sich gegenseitig teilweise widersprechenden Interpretationen des kantischen Lügenverbots durch Klemme 2004a. 2 Vgl. zum Phänomen der Kant-Orthodoxie: Gerhardt 2002, S. 16. Höffe sieht nicht zuletzt in der selektiven Rezeption des kantischen Werks ein zentrales Problem; vgl.: Höffe 1992, S. 171. 3 Vgl.: Kühn 2003. 4 Vgl.: Steigleder 2002, S. XIf.; Wood 1999, S. 13; vgl. zur gleichen Problematik in der theoretischen Philosophie (insbesondere hinsichtlich der analytischen Tradition der Kant-Rezeption): Baumanns 1997, S. 8. 1

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Einleitung

bedingten Sollensforderung ohne jede anderweitige gefühlsmäßige Motivation oder konstitutive Zielvorstellung bei der Willensbestimmung ist oft als Hauptgrund für die traditionell verbreitete Charakterisierung der kantischen Ethik als einer strengen, rigoristischen Pflichtenethik genannt worden. Da es sich beim Kategorischen Imperativ als dem letztgültigen Leitfaden moralischen Handelns zudem um ein primär formal gedeutetes Prinzip handelt, welches als Grundlage für die Bestimmung der moralisch gebotenen Pflichten und Maximen dient, wurde die praktische Philosophie Kants meist als formale Pflichtenethik oder ›deontologische‹ Ethik klassifiziert. Einem nicht geringen Teil der herkömmlichen Kant-Deutungen zufolge basiert sie allein auf der im Sittengesetz gegründeten und im Kategorischen Imperativ für endliche Wesen formulierten Sollensforderung, nach universalisierbaren Maximen zu handeln. Mit diesem moralphilosophischen Ansatz habe Kant sich klar von den antiken teleologischen Ethiken abgesetzt, die von einem vorausgesetzten nicht-moralischen Guten ausgingen und dieses als anzustrebendes Ziel aller moralisch richtigen Handlungen bestimmten. Dementsprechend kann die kantische Aussage über das Paradoxon der Methode aus der zweiten Kritik für diese Interpretationsrichtung als geradezu paradigmatisch gelten: Im Gegensatz zum Modell der antiken Ethik müssten nicht die moralischen Gebote nach Maßgabe eines vorausgesetzten Guten, sondern umgekehrt dieses Gute in Relation zum vorausgesetzten moralisch Richtigen bestimmt werden. Insbesondere in den letzten Jahrzehnten sind jedoch zahlreiche Studien erschienen, die mit dem einschlägig tradierten Kant-Bild eines moralphilosophischen Rigoristen 5 und strengen Deontologen brechen und im Rückgriff auf sowohl bekannte als auch bisher eher vernachlässigte Stellen des kantischen Werks eine Reihe alternativer Deutungen seiner praktischen Philosophie vorgelegt haben. 6 Vor allem die kri»Es gibt […] eine bekannte Karikatur der Kantischen Moral, nach der Moralität eine kalte Angewohnheit aus dem Norden ist, die stets darauf lauert, bei jeder Regung menschlicher Freude zuzuschlagen.« S.: Kim 1998, S. 248. Zuweilen wurde auch Kants Identität als Deutscher als in engem Zusammenhang mit seiner Philosophie stehend verstanden, wie man exemplarisch anhand der ablehnenden Rezeption durch Sartiaux sehen kann; vgl.: Sartiaux 1917, S. Vff. und S. 1–22; vgl. dazu: Milz 2002, S. 90 Anm. 264. 6 Paton hat schon früher in seiner einflussreichen Studie zum Kategorischen Imperativ den Versuch gemacht, unmissverständlich auf die teleologischen Lehrstücke und Implikationen der kantischen Ethik hinzuweisen, wobei seiner Untersuchung vor allem das Verdienst zukommt, nicht nur auf die recht offensichtlichen naturteleologischen Ele5

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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Christoph Bambauer

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Einleitung

tischen Analysen und Interpretationen jüngeren Datums 7 zeichnen sich dabei nicht zuletzt durch eine gewisse Originalität und Offenheit gegenüber der Konstatierung von Kontinuitäten der kantischen und antiken Ethik aus. Trotz der gemeinsamen Tendenz ihrer hinsichtlich des traditionellen Kant-Bildes kritischen Ausrichtung stellt sich die moderne Diskussion über eine adäquate Einordnung der kantischen Ethik im Rahmen einer Typologie ethischer Theorien als zugleich äußerst differenziert dar. Die aktuelleren Untersuchungen zur kantischen Ethik fokussieren vor allem die Fragen nach dem Verhältnis von Pflichten und Zweckbestimmungen sowie nach der systematischen Beziehung von normativen formalen Strukturen und materialen Wertsetzungen: Kant gilt vielen zeitgenössischen Autoren 8 nicht mehr nur als formalistischer Pflichtenethiker, sondern nach ihren Aussagen gründet seine Ethik begrifflich und strukturell einerseits weitaus stärker in Denkweisen antiker, z. B. platonischer/aristotelischer oder stoischer Ethikmodelle als bisher angenommen, 9 während weitere Untersuchungen andererseits eine große Nähe zu konsequentialistischen Argumentationsstrukturen behaupten. 10 Auch wenn die Studien bzw. Thesen zeitgenössischer Autoren 11 teilweise verschiedene Elemente der kantischen Ethik zum Gegenstand haben, kommt ein nicht unbedeutender Teil der heutigen Kantforscher und Philosophiehistoriker darin überein, dass die herkömmliche Charakterisierung von Kants praktischer Philosophie hinsichtlich der Evaluation der strukturellen

mente aufmerksam gemacht, sondern auch die systematische Relation von Kategorischem Imperativ und absoluter Zweckhaftigkeit betont zu haben; vgl.: Paton 1962, S. 204. In jüngerer Zeit hat Horn anhand komparativer Strukturanalysen gezeigt, dass trotz aller bestehenden Unterschiede sowohl das von Platon ausgehende und die antike Philosophie maßgeblich prägende Ethikmodell als auch die kantische Ethik als eine bestimmte Form handlungsteleologischer Ethik klassifiziert werden können; vgl.: Horn 2003, S. 75–95, bes. S. 90 ff. 7 Vgl. zu einer kritischen Betrachtung speziell derjenigen Arbeiten, welche die kantische Axiologie gegen eine rigoristische Interpretation ins Feld führen: Pippin 2005, S. 46; vgl. dazu: Sommerfeld-Lethen 2005, S. 21. 8 Der besseren Lesbarkeit halber wird das generische Maskulin in vorliegender Arbeit der Anerkennung der Bedeutung gendersensitiver Sprachverwendung zum Trotz anstelle der Nennung beider Genera verwendet. 9 Vgl.: Herman 1993; Horn 1998, 2002, 2003 und 2004; Leist 2000 und Engstrom 1997. 10 Vgl.: Cummiskey 1996; Baumanns 2004. 11 Zu nennen sind außer den zuletzt Erwähnten z. B. O’Neill 1989; Wetterström 1986; Korsgaard 1996; Wood 1999 und 2002; Atwell 1986 sowie Guyer 2000. A

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Relevanz deontologischer, teleologischer und axiologischer Elemente revisionsbedürftig ist. 12 Die vorliegende Studie hat die Beantwortung der Fragen zum Gegenstand, a) wie diese Revision des tradierten Kant-Bildes nach den neueren Interpretationen genau aussehen soll, b) inwiefern sie sich auf eine kantische Textgrundlage berufen kann und c) ob sie tatsächlich der systematischen Originalität der kantischen Ethik gerecht wird, demnach sachlich legitim und notwendig ist. Vor dem Hintergrund dieser drei Leitfragen liefert sie einerseits einen strukturorientierten Überblick über die aktuelle ethiktypologische Diskussion der kantischen Ethik, bezieht andererseits aber auch selbst eine inhaltlich differenzierte Position innerhalb dieser Diskussion. Ersteres wird mittels einer Darstellung, Strukturanalyse und Klassifikation der wichtigsten neueren Beiträge zur ethiktypologischen Diskussion um die kantische Ethik, letzteres zum einen durch die Verteidigung der Adäquatheit einer schwach-deontologischen Interpretationsperspektive unter Berücksichtigung vernunftteleologischer Elemente, zum anderen durch eine Kritik simplifizierender und einseitiger Interpretationen geschehen.

I.1 Historische oder systematische Rekonstruktion? Wenn man eine kritische Analyse dieser aktuellen Kant-Rekonstruktionen durchführt, wie dies in der vorliegenden Untersuchung unternommen wird, bringt schon diese inhaltliche Zielsetzung eine gewisse Vorentscheidung 13 für einen systematischen Schwerpunkt, also die primäre Fokussierung auf die praktisch-logische Begriffs- und Argumentationsrekonstruktion Kants und deren typologische Klassifikation

Vgl. zur Forschungstendenz der Annäherung von kantischer Pflichtenethik und aristotelischer Strebensethik: Schulz 2004, S. 635. 13 Diese etwas vorsichtige Formulierung ist insofern mit Bedacht gewählt, als z. B. die Unrechtmäßigkeit einer bestimmten systematischen Rekonstruktion theoretisch schon durch den bloßen Verweis auf terminologische Missverständnisse erwiesen werden könnte, wenn letztere aus der Unkenntnis historischer Sachverhalte resultierten. 12

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Historische oder systematische Rekonstruktion?

mit sich. 14 Vorausgesetzt wird dabei die Möglichkeit, die jeweiligen Interpretationen auf eine bestimmte systematische Verbindung von Ideen und Argumenten beziehen zu können, die man unter dem Begriff ›kantische Ethik‹ zusammenfassen kann. Unter diesem Begriff verstehe ich in vorliegender Studie diejenigen moralphilosophischen Hauptthesen, 15 welche Kant insbesondere in der GMS, KpV, MS und KU sowie RGV vertreten hat. Eine an inhaltlichen und strukturellen Kontinuitäten orientierte Interpretation muss dabei dem Umstand Rechnung tragen, dass es nicht nur zwischen vorkritischen und kritischen Schriften, sondern auch innerhalb der kritischen Werke eine Reihe von inhaltlichen Unterschieden und begrifflichen Bedeutungsverschiebungen etc. gibt, deren Ignorierung einen Anlass zu schwerwiegenden und nicht zuletzt in systematischer Hinsicht möglicherweise folgenreichen Missverständnissen und Fehldeutungen darstellt. Wo ich es für notwendig erachte, habe ich entwicklungsgeschichtliche Aspekte der kantischen Begriffsbestimmungen und Argumentationsstrategien mit einbezogen, um wenigstens ansatzweise der Dynamik der kantischen Gedankenentwicklung im Kontext sowohl der vorkritischen als auch reifen Ethik gerecht zu werden. Für die kritische Ethik seit der GMS ist allerdings fest zu halten, dass es in ethiktypologischer Hinsicht keine gravierenden Umbrüche 16 in der kantischen Ethikkonzeption gibt. Man muss darüber hinaus zur Kenntnis nehmen, dass es sich bei dem im Rahmen einer ethiktypologischen Statusbestimmung der kantischen Ethik so beliebten Begriff der ›Deontologie‹ (ganz zu schweigen vom Konzept des ›Konsequentialismus‹) um eine Begrifflichkeit aus dem späten 19. bzw. frühen 20. Jahrhundert und somit um eine Kant

Die vorliegende Untersuchung vollzieht sich zwar grundsätzlich im Spannungsfeld zwischen historischer und systematischer Rekonstruktion, doch da mit dem ethiktypologischen Profil die systematische Struktur der kantischen Ethik untersucht wird, liegt der Primat der Ausrichtung dieser Studie entsprechend im Bereich der strukturell-systematischen Rekonstruktion. 15 In der Tat gehe ich trotz aller ebenfalls anzuerkennenden Entwicklungen kantischer Grundgedanken wie z. B. des Willenskonzepts oder des höchsten Guts davon aus, dass es solche inhaltlichen Kontinuitäten gibt und es Sinn macht, sie als Kernelemente der kantischen Bemühungen im Bereich der praktischen Philosophie zu behandeln. 16 Unter einem gravierenden ethiktypologischen Umbruch verstehe ich einen strukturellen Wechsel von einem Ethiktyp zu einem anderen und keine bloße Stärkung oder Abschwächung eines bereits adaptierten Modells. 14

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in dieser Form nicht vertraute Klassifikationsweise handelt. Die aktuelle Diskussion um den kantischen Ethiktyp ist mit anderen Worten in der hier thematisierten Art und Weise eine moderne Debatte, auch wenn natürlich schon zu Kants Lebzeiten die Möglichkeit wahrgenommen wurde, die praktisch-rationale Relation von Werten, Pflichten und Zwecken durchaus kritisch zu diskutieren. 17 Zu beachten ist hierbei der Umstand, dass der vergleichsweise moderne Begriff der ›Deontologie‹ nicht selten durch den Verweis auf die Struktur der kantische Ethik als legitim gerechtfertigt wird, was wiederum bedeutet, dass meine Diskussion des kantischen Ethiktyps zum einen auf diesen Begriff zurückgreift, zum anderen die Legitimität bzw. die derzeit vorherrschende Verständnisweise dieses Konzepts zugleich implizit hinterfragt. Die in vorliegender Untersuchung durchgeführte Diskussion des ethiktypologischen Profils der kantischen Ethik stellt somit indirekt auch eine Untersuchung dessen dar, was eine deontologische Ethik eigentlich sein soll und ihrerseits an ethiktypologisch signifikanten Strukturmomenten beinhaltet, insofern man mit Skorupski, 18 Wetterström, 19 Anzenbacher 20 und Guyer 21 konstatiert, dass Kants Moralphilosophie als Muster für deontologische Ethiken aufgefasst wird. Dass letztere These im Rahmen der aktuellen diesbezüglichen Literatur kaum als gewagt bezeichnet werden dürfte, zeigt ein Blick in entsprechende Ethik-Einführungen. 22

F. H. Jacobis Analyse der kantischen Ethik kann dabei in mancher Hinsicht mit derjenigen Hares parallelisiert werden. Nach der Erschließung der noch erhaltenen Kladden Jacobis durch Hammacher versteht Jacobi z. B. die Konzeption des höchsten Guts als verkappten Egoismus bzw. Eudaimonismus und den Wert der Freiheit als Nützlichkeit (Kladde 5, S. 77); vgl.: Hammacher 1969, S. 152 f. Anm. 291. Die Naturgesetzformel des KI wird ebenfalls als Kants Antwort auf den von ihm anerkannten Anspruch jedes Menschen auf Glückseligkeit rekonstruiert (Kladde 5, S. 77 und Kladde 6, S. 35 f.); vgl.: Hammacher 1969, S. 152 Anm. 294; vgl. allerdings zu Jacobis Zurücknahme des Eudaimonismus-Vorwurfs: Hammacher 1969, S. 154. 18 Vgl.: Skorupski 1999, S. 55. 19 Vgl.: Wetterström 1986, S. 226. 20 Vgl.: Anzenbacher 1992, S. 265. 21 Vgl.: Guyer 2000, S. 131 f. 22 Vgl. exemplarisch dazu: Quante 2003, S. 81; vgl. zudem: Engelhard/Heidemann 2004, S. 10. 17

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Wozu eine ethiktypologische Analyse der kantischen Ethik?

I.2 Wozu eine ethiktypologische Analyse der kantischen Ethik? In diesem Zusammenhang könnte sich die kritische Frage aufdrängen, ob eine adäquate ethiktypologische Klassifikation der kantischen Ethik überhaupt von Belang sei. Diesen Vorbehalt kann man des Weiteren in eine Reihe von Unterfragen aufteilen: Handelt es sich dabei nicht einfach um Begriffe von nur relativer Bedeutung, die man auf verschiedene Art und Weise definieren und benutzen kann? Ist die seit vielen Jahrzehnten geführte Debatte um die Frage nach Deontologie oder Teleologie bei Kant nicht ein unendliches Spiel mit immer neuen Varianten und offenem Ende? Was kann man eigentlich mit der Zuschreibung der Begriffe ›deontologisch‹ und ›teleologisch‹ über eine moralphilosophische Konzeption wirklich aussagen? Sind diese Termini nicht vielleicht viel stärker philosophiehistorisch bedingt und dadurch in ihrer systematischen Relevanz eingeschränkter, als man bisher dachte? Und abgesehen davon: Setzt man bei diesem Untersuchungsansatz nicht schon insgeheim und ohne rationale Rechtfertigung voraus, dass die kantische Ethik überhaupt eindeutig anhand dieser beiden Termini klassifizierbar sei? Diese Fragen müssen in einem gewissen Rahmen diskutiert werden, bevor man sich an die Aufgabe macht, die maßgeblichen deontologischen, teleologischen, konsequentialistischen und axiologischen Rekonstruktionen der kantischen Ethik zu analysieren und auf ihre Tragweite hin zu überprüfen. In diesem Kontext ist zuzugestehen, dass die Begriffe ›Deontologie‹ und ›Teleologie‹ (wie andere Begriffe auch) grundsätzlich auf unterschiedliche Weisen bestimmt und benutzt werden können. Dies ist zwar auf den ersten Blick ein recht triviales Faktum, im Zusammenhang mit der Diskussion über die Struktur der kantischen Ethik zugleich jedoch von einiger Wichtigkeit, insofern man nicht nur die Regeln des eigenen Gebrauchs dieser ethiktypologischen Begriffe explizieren, sondern darüber hinaus berücksichtigen muss, welche Bedeutung ihnen von den jeweiligen Autoren zugeschrieben wird. Aus diesem geschärften Problembewusstsein erwachsen die beiden konkreten Aufgaben, vor allen weiterführenden Untersuchungsschritten hinsichtlich Kants Werk ein bestimmtes Mindestmaß an begriffsgeschichtlich-systematischer Rekonstruktionsarbeit zu leisten und zudem bei allen Ausführungen zu den verschiedenen Kant-Interpreta-

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tionen stets auf die jeweils bestehende Verwendungspraxis der Klassifikationstermini zu reflektieren. Die zweite Frage nach dem Sinn der Diskussion um den ethiktypologischen Status hängt mit der dritten Frage nach der Aussagekraft der Klassifikationsbegriffe zusammen. Beide Gesichtspunkte kann man pointierter auch in Form einer einzigen Frage formulieren: Welche philosophische Relevanz kann die Analyse einer Ethik anhand der Begriffe ›deontologisch‹ und ›teleologisch‹ überhaupt für sich in Anspruch nehmen? Zur Beantwortung dieser Frage ist es hilfreich, in der gebotenen Kürze den Prägungskontext 23 dieser Termini im Werk »Five Types of Ethical Theory« 24 von Broad zu betrachten, da er einen hinreichenden Aufschluss über die Frage nach dem mit diesem Begriffspaar verbundenen Geltungsanspruch und somit über die entsprechende philosophische Aussagekraft gibt. Broad entwickelt die Begriffe ›deontologisch‹ und ›teleologisch‹ in expliziter Absetzung von den ethiktypologischen Grundbegriffen Sidgwicks, der alle Ethiken unter die Begriffe des ›Intuitionismus‹, ›egoistischen Hedonismus‹ und ›Utilitarismus‹ subsumiert. 25 In diesem Zusammenhang führt Broad zwei Hauptargumente zur Rechtfertigung seiner gegen Sidgwick gerichteten Ethiktypologie an: Erstens seien seine beiden Grundbegriffe inhaltlich präziser, und zweitens – dieser Punkt scheint mir hier der entscheidende zu sein – zeichne sich die Einteilung der Ethiken in deontologische und teleologische Konzepte vor allem durch ihre Unabhängigkeit von epistemologischen Implikationen aus. Dies ist zumindest insofern zutreffend, als der durch Sidgwick postulierte Begriff einer ›intuitionistischen‹ Ethik in erster Linie die epistemologische These der geltungstheoretischen Relevanz von Intuitionen als Fundament praktischer Es handelt sich hierbei wohlgemerkt nur um den Prägungs- und nicht um den Entstehungskontext dieser Begriffe. Prägungs- und Entstehungskontext sind faktisch zwar häufig identisch, jedoch keineswegs logisch voneinander abhängig. Während es meist jeweils nur einen einzigen Entstehungskontext eines Begriffs gibt – z. B. bei einem einzelnen Autor oder zumindest einer philosophischen Schule –, sind mehrere unterschiedliche Prägungskontexte möglich, wobei das von mir mit dem Terminus ›Entstehungskontext‹ Bezeichnete semantisch äquivalent mit Russells ›context of discovery‹, der ›Prägungskontext‹ dagegen nur partiell identisch mit dem ›context of justification‹ ist. Letzteres ist deshalb der Fall, da sich der Begriff der ›Prägung‹ primär auf die Verwendungsdimension bezieht, welche in Ausnahmefällen jedoch auch eine gewisse Form praktischer bzw. pragmatischer Rechtfertigungsleistung implizieren kann. 24 Vgl.: Broad 1934. 25 Vgl.: Sidgwick 1907. 23

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Philosophie impliziert. Mit dem Begriff des ›Intuitionismus‹ benutzt Sidgwick eine Konzeption, die prinzipiell nicht nur auf die Klassifikation ethischer Theorien ausgerichtet ist, sondern zudem immer schon die Frage nach der Begründung ethiktheoretischer Fundamentalstrukturen berührt. Dagegen zeichnen sich die broadschen Termini der ›Deontologie‹ und ›Teleologie‹ durch ihre Eigenschaft aus, wirklich nur die Frage des jeweils vorliegenden Ethiktyps und nicht diejenige der Ethikbegründung oder weiterführende Erkenntnisfragen zu beantworten. Eine deontologische Ethik kann dementsprechend ebenso intuitionistisch oder rationalistisch begründet sein wie ein teleologischer Ansatz, ohne dass der Sinn oder die Funktion dieser Klassifikationstermini grundsätzlich beeinflusst würde. Insgesamt betrachtet, erweisen sich die ethiktypologischen Begriffe Broads als formaler als diejenigen Sidgwicks und verfügen über einen weiter gefassten und zudem schärfer definierten, da nicht mit erkenntnistheoretischen Aspekten vermischten Anwendungsbereich. Nach diesen knappen Ausführungen zum systematischen Hintergrund der Begriffe ›Deontologie‹ und ›Teleologie‹ bei Broad kann nun genauer auf die Frage nach deren philosophischer Aussagekraft und Leistungsgrenze geantwortet werden: So verzweigt die spätere Deutungsgeschichte dieser beiden Begriffe einerseits auch sein mag, so klar kann man andererseits festhalten, dass die Deontologie/Teleologie-Debatte in Bezug auf Kant in erster Linie keine begründungstheoretische oder epistemologische, d. h. also keine genuin metaethische Diskussion ist. Deswegen ist die Rede von einer ›deontologischen/teleologischen Begründung‹ der kantischen oder auch jeder anderen Ethik schon grundsätzlich zweifelhaft, da diese Begriffe gar keine unmittelbare begründungstheoretische Signifikanz besitzen. 26 Eine ethiktypologische Ganz anders dazu Ricken: »Was die Begriffe Deontologie, Teleologie und Konsequentialismus miteinander verbindet, ist die Frage nach der Begründung moralischer Urteile. Es handelt sich um drei unterschiedliche Begründungsmethoden.« S.: Ricken 2003, S. 271. Da Ricken den hier gemeinten Sinn von ›Begründung‹ nicht näher erläutert, bleibt natürlich streng genommen offen, ob damit nicht vielleicht nur eine schwächere Form der Fundierung oder des Zugrundeliegens intendiert ist. In diesem schwachen Sinne kann die Redewendung von einer deontologischen Begründung bedeuten, dass eine Ethik auf dem Begriff der Pflicht fußt, obwohl sie nicht im strengeren Sinn durch die Pflichtidee rational hinreichend gerechtfertigt und in diesem engeren Sinne ›begründet‹ ist. Gerade weil sich Ricken dazu nicht mehr äußert und im Übrigen eine präzise Begrifflichkeit benutzt, scheint mir jedoch eine stärkere Lesart plausibler zu sein. Seine allgemeinen Ausführungen zu den Begründungsebenen in der Ethik bein-

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Aussage des Typs ›Kants Ethik ist eine deontologische Ethik‹ behauptet den Primat deontischer Strukturen, d. h. der propositionale Gehalt der Aussage bezieht sich auf die Art und Weise, wie Pflichten und Zwecke/ Werte zueinander in Beziehung gesetzt werden, nicht jedoch auf den begründungstheoretischen Status der in dieser Aussage Kant zugeschriebenen Annahme, dass Pflichten von primärer moralphilosophischer Relevanz seien. Doch auch wenn durch eine mit den Begriffen ›Deontologie‹ und ›Teleologie‹ durchgeführte ethiktypologische Analyse zumindest die fundamentale Begründungsfrage nicht geklärt werden kann, wäre es falsch, von einer vollständigen begründungstheoretischen Irrelevanz einer solchen Analyse auszugehen, denn die Beantwortung der Frage nach der Struktur einer Ethik liefert zum einen eine Einsicht in die erststufige Fundierung moralischer Urteile (nicht ethischer Prinzipien) und zugleich eine Antwort auf die Frage nach denjenigen Strukturelementen, die besonders dringend einer tiefergehenden bzw. zweitstufigen Begründung bedürfen. 27 Der ethiktypologische Diskurs weist somit theoretisch immer schon über sich hinaus und kann auf diese Weise sehr wohl auch als Reflexionsschritt innerhalb eines begrünhalten keine genaueren Angaben zum Verhältnis von Begründung und Fundierung; vgl.: Ricken 2003, S. 14 ff. An späterer Stelle interpretiert Ricken das kantische Faktum der Vernunft als Absage an eine Begründung der Moral; vgl.: Ricken 2003, S. 182. Ricken ist zwar durchaus zuzugeben, dass Kant mit aller Vehemenz in der zweiten Kritik eine theoretische Moralbegründung ausschließt – inwiefern die Deduktion in der GMS theoretisch zu verstehen und von Kant überhaupt als ernsthaftes Begründungsargument entwickelt wurde, wird bekanntlich nach wie vor kontrovers diskutiert –, doch müsste Rickens These der Unableitbarkeit bzw. Unbegründbarkeit des Standpunkts des Kategorischen Imperativs aus anderen Aussagen insofern korrigiert werden, als vielmehr nur die anders lautende und durch die vorliegende Untersuchung affirmierte These, welche die Begründung des KI bzw. deontisch vermittelter Normativität durch ein spezifisches Konzept absoluten Werts und moralischer Selbstzweckhaftigkeit behauptet, sowohl die begründungstheoretisch-metaethische (axiologische) als auch die praktischnormative (deontologische/vernunftteleologische) Komponente der kantischen Ethik in ihrer speziellen Relation zueinander zur Geltung kommen lässt. Zudem ist mit Düsing zu fragen, inwiefern die Einordnung der Deontologie (und überhaupt der ethiktypologischen Klassifikation) als Methode nicht eine Verkennung bzw. Reduktion ihrer eigentlichen Bedeutung darstellt; vgl.: Düsing 2004, S. 242. 27 So weiß man zwar im Falle einer deontologischen Ethik nicht allein schon durch die entsprechende Einordnung, wie genau sie argumentativ untermauert ist, wohl jedoch, dass es primär grundlegende Pflichten und nicht z. B. Zwecke sind, die entsprechenden moralischen Forderungen zugrunde liegen und daher weitergehend begründet werden müssen.

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dungstheoretisch bzw. -rekonstruktiv orientieren Projekts fungieren. Bei der typologischen Analyse ethischer Theorien handelt es sich demnach keineswegs nur um ein an sich oberflächliches Wortspiel, sondern vielmehr um ein auch in begründungstheoretischer Hinsicht heuristisch wertvolles Unternehmen. Der in vorliegender Untersuchung praktizierte Einbezug axiologischer Strukturelemente, denen innerhalb der kantischen Ethik zumindest im Rahmen der GMS und der KpV eine gewisse begründungstheoretische Relevanz nur schwerlich abzusprechen sein dürfte, verdankt sich zum einen der ebenfalls bestehenden ethischen Relevanz werttheoretischer Annahmen bei Kant, zum anderen dem Sachverhalt, dass die Wertfrage einen Kernpunkt vieler der hier behandelten Interpretationen ausmacht. 28 Hinsichtlich der Skepsis gegenüber der Tragfähigkeit der ethiktypologischen Grundbegriffe ›deontologisch‹ und ›teleologisch‹ im Rahmen einer Strukturanalyse der kantischen Ethik ist zu bemerken, dass sie insofern berechtigt zu sein scheint, als sich die praktische Philosophie Kants schon bei oberflächlicher Betrachtung als eine Theorie von immenser Komplexität und Vielschichtigkeit darstellt. So sieht z. B. Arrington die Größe der kantischen Ethik gerade darin begründet, dass sie (zumindest möglicherweise) nicht eindeutig als deontologisch, teleologisch oder konsequentialistisch zu klassifizieren sei 29 und somit die Gräben zwischen diesen Theoriemodellen transzendiere. 30 Die hier entscheidende Frage ist nun, ob diese Skepsis zu dem Schluss führen muss, dass eine klassische Typanalyse zum einen der kantischen Ethik nicht gerecht wird, zum anderen aber auch generell ihr Ziel verfehlen muss. Der Erläuterung der ersteren Problematik in Form der soeben erwähnten Komplexitätsthese Arringtons ist der Abschnitt III.2.5.2 dieser Untersuchung gewidmet, weshalb ihr hier nicht unnötig vorUnter Abweichung von Sommerfeld-Lethen, die offenbar die diesbezüglichen Ansätze von Herman und Wood aufgrund des werttheoretischen Schwerpunkts ihrer Arbeiten primär als antirigoristische (nicht-vernunftrigoristische) und daher nicht begründungstheoretisch orientierte Interpretationsversuche liest, scheint mir ein solcher direkter Zusammenhang nicht zu bestehen, sondern beide Autoren sind m. E. am Aufweis konstitutiver axiologischer Fundierungsstrukturen interessiert, welche nicht im Gegensatz zum kantischen Vernunftkonzept stehen und zudem in ihrer Funktion als begründungstheoretische Strukturen den Kern der kantischen Motivationstheorie ausmachen sollen; vgl.: Sommerfeld-Lethen 2005, S. 21 und S. 95. 29 Arrington macht allerdings das Zugeständnis, dass eine deontologische Klassifikation nicht rundweg falsch sei; vgl.: Arrington 1998, S. 294. 30 Vgl.: Arrington 1998, S. 292 ff. 28

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gegriffen werden soll. Der zweite Kritikpunkt ist schlichtweg nicht stichhaltig, und zwar aus einem einfachen Grund: Die Begriffe ›Deontologie‹ und ›Teleologie‹ rekurrieren mit dem Pflicht- sowie dem Zweckbegriff auf die für moralphilosophische Bemühungen philosophiegeschichtlich fundamentalen Termini. Zwar sind sie noch durch den Begriff des ›Werts‹ zu ergänzen – insofern greift auch manch aktuelle Kant-Analyse zu kurz –, doch kann kaum überzeugend bestritten werden, dass Zweck-, Pflicht- und Wertbegriffe implizit oder explizit die Grundlagen der maßgeblichen moralphilosophischen Entwürfe seit dem Beginn der abendländischen Geistesgeschichte darstellen. 31 Zudem fungiert der Wertbegriff recht häufig als explizites Bedeutungssegment innerhalb teleologischer Konzeptionen, was nichts anderes heißt, als dass Werte bzw. für wertvoll gehaltene Entitäten oder Sachverhalte als anzustrebende Zwecke betrachtet werden. Deontologie und Teleologie scheinen mir daher keine künstlichen Problembegriffe, sondern in der philosophischen Tradition gegründete Termini zu sein, welche daher durchaus über hinreichende Aussagekraft verfügen. 32

Unabhängig von geltungstheoretischen Gesichtspunkten muss man den Zweckbegriff schon in der antiken Ethiktradition verorten, während der Pflichtbegriff mit seinem heutigen semantischen Profil vor allem für die neuzeitliche bzw. moderne Denkweise einschlägig ist. 32 Die These, dass Kants Ethik die Kluft zwischen deontologischen und teleologischen Theorien transzendiere, muss darüber hinaus nicht als Argument gegen eine an Broad, Frankena etc. orientierte Strukturanalyse der kantischen Ethik, sondern kann umgekehrt als konkrete strukturanalytische Position verstanden werden. Im Falle ihrer Wahrheit wäre zudem noch nicht die Praxisuntauglichkeit der Termini ›deontologisch‹ und ›teleologisch‹ erwiesen, sondern primär nur deren natürliche Leistungsgrenze aufgezeigt worden, was zwar einerseits in begriffssystematischer Hinsicht durchaus aufschlussreich wäre, darüber hinaus jedoch noch nicht zwingend deren Verabschiedung rechtfertigen könnte. Auch in einem solchen Fall hätten sich diese beiden Begriffe als effektives Werkzeug zur theoretischen Strukturbestimmung erwiesen, wobei immer noch die Möglichkeit bestünde, dass die ethiktypologische Transkategorialität einer ethischen Theorie aus der Komplexität der Relationen zwischen deontischen und teleologischen Theorieelementen resultiert und es somit nicht zwingend notwendig wäre, dem ohnehin schon dichten Dschungel der ethiktypologischen Klassifikationstermini noch einen weiteren neuen Begriff hinzuzufügen. 31

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Systematischer Kontext und Exposition der These

I.3 Systematischer Kontext und Exposition der These In der aktuellen Debatte wird oft entweder vom Begriff der ›Pflicht‹ bzw. vom Kategorischen Imperativ als dessen Prinzip, vom guten Willen oder von einer bestimmten Deutung praktischer Freiheit ausgegangen, um die kantische Ethik als eine Form deontologischer, teleologischer oder konsequentialistischer Theorie auszuweisen. Diese Verfahrensweise läuft häufig zumindest tendenziell darauf hinaus, die bei Kant vorhandenen deontologischen Elemente gegen die ebenfalls aufweisbaren zweck- bzw. werthaften Strukturen auszuspielen. Als prominentes Beispiel ist hier Barbara Herman zu nennen, die am Ende ihrer oft zitierten Studie »The Practice of Moral Judgment« (1993) die Forderung aufstellt, dass man im Kontext einer Klassifikation der kantischen Ethik ganz auf den Begriff der ›Deontologie‹ verzichten solle, 33 um den Blick auf deren wirkliche, nämlich eigentlich werttheoretische Gestalt frei zu bekommen. Angesichts der komplexen und subtilen Struktur der kantischen Ethik ist es allerdings fragwürdig, ob man ihrer Binnendifferenziertheit mittels einer solchen Strategie tatsächlich gerecht werden kann. Zwar ist einerseits zu begrüßen, dass sich viele Interpreten z. B. von einer einseitigen Fokussierung bestimmter Formulierungen des Kategorischen Imperativs als angeblich deontologischem Kern der kantischen Ethik zunehmend lossagen und nicht nur traditionell eher vernachlässigte Varianten des KI (vor allem die Selbstzweckformel) stärker in den Vordergrund rücken, sondern darüber hinaus auch versuchen, andere, einer teleologischen Interpretation affin erscheinende Strukturelemente wie den guten Willen oder die Tugendlehre der MS als für die kantische Ethik zentral zu erweisen. 34 Doch scheint mir die derzeitige Debatte um den typologischen Charakter der kantischen Ethik in entscheidenden Punkten zu kurz zu greifen: So wie wir bereits die ethiktypologischen Termini hinsichtlich ihrer Tragweite als in begründungstheoretischer Hinsicht begrenzt Vgl.: Herman 1993, S. 212. Auf diese Weise begegnet man der durch die bestehende Tradition der Kant-Exegese gegebenen Gefahr, die kantische Ethik auf einen formalistisch und zudem deontologisch verstandenen Minimalkern zu reduzieren. Darüber hinaus öffnet man dadurch den Blick für bisher vernachlässigte, für ein Verständnis der kantischen Ethik jedoch aufschlussreiche philosophiegeschichtliche und systematische Kontinuitäten hinsichtlich der Ethik der Antike.

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bzw. auf fundamentaler Reflexionsebene funktionslos charakterisierten, so muss auch im Rahmen einer Analyse der kantischen Ethik festgehalten werden, dass diese beiden Begriffe zwar durchaus der Beschreibung zumindest einiger wichtiger Aspekte ihrer Oberflächenstruktur dienlich sein, nicht aber das jeweilige metaethische 35 Begründungsfundament bestimmen können. Zwar ist es zutreffend, dass man ethische und metaethische Gesichtspunkte als solche kennzeichnen und entsprechend differenzieren muss, doch erfordert eine umfassende Gesamtperspektive auf eine ethische Theorie die Analyse und Relationsbestimmung von ethischen und metaethischen Aspekten einer moralphilosophischen Konzeption. 36 Ein grundsätzliches Problem einiger Interpretationen ist bereits auf dieser Ebene zu finden, da die Ricken differenziert zu Recht zwischen einem weiten und einem engen Sinn von ›Metaethik‹ : Der enge Begriff bezeichnet alle Ansätze einer Analyse der Moralsprache, während der weite Begriff auch alle Reflexionen auf die methodische Begründung moralischer Forderungen umfasst; vgl.: Ricken 2003, S. 18. Entgegen der sprachphilosophischen Fokussierung des engen Begriffs verstehe ich unter ›Metaethik‹ grundsätzlich alle Ansätze der systematischen Reflexion auf die Begründung des in einer normativen Ethiktheorie Geforderten; vgl. zu Problemen einer rein sprachlich orientierten Auffassung von Metaethik: Kaulbach 1974, S. IX. Vgl. darüber hinaus zum erweiterten Profil dieses Begriffs: Miller 2003, S. 3; Leist 2000, S. 57. Steigleder/Düwell differenzieren dagegen zwischen Meta- und Fundamentalethik, wobei sich fundamentalethische Fragen mit der Begründung normativer Ethik befassen sollen, während sich Metaethik in reiner Sprachanalyse erschöpfe; vgl. Düwell/Steigleder 2003, S. 14. Dieser Ansatz ist zwar rein begrifflich sinnvoll, doch handelt es sich bei der Differenzierung von Fundamental- und Metaethik nicht um eine strikte Distinktion, da auch metaethisch begründete Fundamentalethiken denkbar sind – so interpretiert z. B. Tugendhat Kants Ethik dergestalt, dass sie auf der Begriffsbedeutung von ›gut‹ basiert; vgl.: Tugendhat 1983, S. 10 f.; vgl. ebenfalls: Hare 1997, S. 159. Grundsätzlich müssen Metaethik und Ethik zwar begrifflich differenziert werden, doch besitzen metaethische Prämissen bzw. Grundsätze nicht selten einen bestimmten Einfluss auf die materialen Aspekte ethischer Theorien (und umgekehrt); vgl.: Quante 2003, S. 18. Dennoch muss man den Wert metaethischer Reflexionen gegen Tännsjö nicht allein nach Maßgabe ihrer Fruchtbarkeit für die normative Ethik bestimmen; vgl.: Tännsjö 1976, S. 212. Vgl. darüber hinaus zum Vorschlag der Auflösung der Differenz von Metaethik und Ethik: Illies 2003, S. 155 f. 36 Auch im Rahmen einer nur ethiktypologischen und nicht genuin metaethischen Analyse sind die metaethischen Aspekte der jeweiligen Ethik zu berücksichtigen, da letztere erstens als solche zu kennzeichnen und zweitens sowohl im Unterschied zu als auch in ihrer Verbindung mit den ethischen Theoriestrukturen erfasst werden müssen, damit eine differenzierte Ethiktypbestimmung gelingen kann. Im Falle der kantischen Ethik erweist sich eine Differenzierung von ethischen und metaethischen Aspekten nicht zuletzt deswegen als keineswegs offensichtlich gegeben, weil es bestimmte Ele35

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Systematischer Kontext und Exposition der These

Differenz von ethischen und metaethischen Aspekten der kantischen Ethik oftmals nur unzureichend oder gar nicht reflektiert wird. Mit der Behauptung einer entweder deontologischen, teleologischen oder konsequentialistischen Beschaffenheit von Kants Ethik wird vor dem eben genannten Hintergrund der problematischen Interpretationstendenz Vorschub geleistet, die Bedeutsamkeit ihres unhintergehbaren und die deontologischen und teleologischen Strukturen fundierenden Geltungsgrunds für die Struktur seiner praktischen Philosophie zu verkennen. Dieser Geltungsgrund besteht in der kantischen Vernunftidee von Moralität, welche wiederum als eine spezifische, nicht selten eher implizit bleibende Wertkonzeption in Erscheinung tritt, die sich als Geltungsfundament jeglicher einseitigen typologischen Charakterisierung entzieht und umgekehrt vielmehr als notwendige Bedingung der typologisch qualifizierbaren Elemente in der praktischen Philosophie Kants fungiert. Zwar kann von einer Ignorierung der praktischen Wertkonzeption z. B. in den Interpretationen Korsgaards, Hermans, Guyers oder Woods keine Rede sein, doch bleibt nicht selten entweder offen, was diese Wertthesen für eine strukturelle Bestimmung des Typs der kantischen Ethik definitiv bedeuten sollen, oder Kants Axiologie wird im Rahmen der Rekonstruktion seiner praktischen Philosophie auf einer Reflexionsebene angesiedelt, welche von derjenigen der Pflichten und zu bewirkenden Zwecke nicht hinreichend differenziert wird, was zur Folge hat, dass eine exakte Verhältnisbestimmung der Funktionen axiologischer, deontischer und teleologischer Begriffe und Argumente erschwert wird. 37 Von besonderer Wichtigkeit ist diesbezüglich der Sachverhalt, dass auch der in der entsprechenden Literatur primär untersuchte Kategorische Imperativ von dieser Wertkonzeption abhängt und dementsprechend nicht selbst als begründungstheoretisches Fundament der kantischen Ethik dient. 38 mente und Strukturen gibt, bei welchen vielmehr genuin metaethische Aspekte eine wichtige Funktion auch innerhalb der ethischen Theorie besitzen. 37 Eine genauere Analyse der Vorzüge und Probleme der Typologie-Thesen der genannten Autoren wird in Kapitel IX dieser Untersuchung unternommen. 38 Brinkmann erwähnt im Rückbezug auf Wimmer zwei Funktionen des Kategorischen Imperativs: »Er soll moralische Verbindlichkeit begründen, indem er sie als vernünftig erweist, und er soll angeben können, welche moralischen Verbindlichkeiten bestehen.« S.: Brinkmann 2003, S. 12; vgl. zu der dort aufgenommenen Grundthese: Wimmer 1982. Natürlich drängt sich angesichts dieser Aussage die Frage auf, ob denn der Kategorische Imperativ nicht selbst schon als moralisch verbindlich akzeptiert werden bzw. sich auch als praktisch-normative Autorität ausgewiesen haben muss, damit er den ihr A

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Einleitung

Dementsprechend weist Kant wiederholt auf den Umstand hin, dass der moralische Imperativ nur eine Defizienzform einer ihn ermöglichenden und daher vorgängigen Struktur darstellt, sodass man streng darauf achten muss, den KI nicht isoliert (z. B. allein als formales Testverfahren für Maximen) zu betrachten, sondern ihn primär in seiner genuin expressiven Funktion als wertbasierte Artikulation von auf Endlichkeit bezogener Normativität 39 zu erfassen. Alle einseitig deontologischen oder teleologischen Interpretationsweisen resultieren meist aus der Fokussierung bestimmter Aspekte der kantischen Ethik, ohne die ihr zugrundeliegende Fundamentalstruktur offen zu legen und somit die komplexen Begründungsrelationen sowie die jeweils konstitutiven bzw. regulativen Funktionen von deontologischen, teleologischen und axiologischen Elementen hinreichend transparent zu machen. Weder das traditionelle Kant-Bild eines rein formalistischen Pflichtenethikers, noch rein teleologische bzw. konsequentialistische Deutungen können der subtilen und originellen Struktur der kantischen Ethik gerecht werden und verkennen daher deren spezifischen Charakter. Es besteht m. E. kein Zweifel daran, dass sich sowohl deontische als auch teleologische Elemente (Begriffe) und Strukturen (Argumente) nicht nur an Nebenschauplätzen, sondern an systemarchitektonisch zentralen Punkten der kantischen Ethik finden lassen. Allerdings besteht an dieser Stelle das interpretatorische Problem, dass sich z. B. der Kategorische Imperativ (zumindest in bestimmten Formeln) und das Konzept des guten Willens mit einem gevon Wimmer und Brinkmann zugeschriebenen Aufgaben überhaupt gewachsen sein kann. Wenn der Kategorische Imperativ moralische Verbindlichkeit wirklich, d. h. im strengen und unhintergehbaren Sinne, begründen können soll, müsste sich seine Geltung für endliche Wesen selbst begründen. Dass dies nach Kant ausdrücklich nicht der Fall ist, soll in vorliegender Untersuchung aufgewiesen werden. Festzuhalten bleibt bezüglich der Aussage Brinkmanns allerdings, dass er selbst auf einen wichtigen Aspekt der kantischen Ethikstruktur verweist, wenn er Vernünftigkeit als vorausgesetzten Maßstab moralischer Verbindlichkeit begreift – genau diese (in der Tat kantische) Relationsbestimmung wird im Laufe unserer Studie zum Ansatzpunkt der Analyse von transzendental-apriorischer Axiologie und deontischen Elementen werden und als Fundament der These fungieren, dass der KI als isoliertes Strukturmoment den Bereich praktisch-begründungstheoretisch relevanter Elemente der kantischen Ethik keinesfalls abdeckt. 39 Streng genommen impliziert praktische Normativität bei Kant natürlich immer schon einen Bezug auf Endlichkeit als Unvollkommenheit, da die Gehalte moralischer Forderungen für einen vollkommenen Willen zu seinen nur deskriptiv erfassbaren, weil ihm qua definitionem zukommenden Inhalten bzw. Objekten zählen.

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Systematischer Kontext und Exposition der These

wissen Recht sowohl deontologisch als auch teleologisch rekonstruieren lassen und in diesem Sinne keinen hinreichenden Grund für eine einseitige Klassifizierung liefern können. Dieser Befund legt nahe, dass sich eine typologische Klassifikation der kantischen Ethik im Ausgang von nur einem einzigen und zudem vielleicht auf verschiedene Weisen rekonstruierbaren Element als grundsätzlich problematisch erweist und allein ein in klassifikationsmethodischer Hinsicht komplexeres Vorgehen dem hier virulenten Sachproblem angemessen sein kann. Der diese Untersuchung prägende Rekonstruktionsansatz impliziert, dass eine Anerkennung der Kants Ethik zugrundeliegenden Axiologie – sowohl mit (Betonung der systematischen Relevanz der Axiologie) als auch gegen (ethiktypologische Klassifikation) Autoren wie Herman und Guyer – nicht nur mit einer deontologischen Klassifikation kompatibel ist, sondern die Kategorizität des Kategorischen Imperativs und der Pflichtidee gerade aufgrund ihrer metaethischen (nicht notwendigerweise metaphysischen) Begründung durch die kantische Konzeption des absoluten apriorischen Werts praktisch-vernünftiger Wesen/der vernünftigen Natur strukturell enger mit der spezifisch kantischen Werttheorie zusammenhängt, als häufig angenommen wird. Die Stellung meiner typologisch ausgerichteten KantRekonstruktion zu den neueren, eine deontologische Klassifikation kritisierenden Ansätzen muss daher insofern als komplex bezeichnet werden, als sie sowohl affirmative als auch negierende Elemente beinhaltet. Insbesondere den innovativen Arbeiten von Herman, Guyer, Schönecker/Wood und Korsgaard muss zu Gute gehalten werden, das traditionell eher vernachlässigte axiologische Fundament der kantischen Ethik auf verschiedene Art und Weise in den Mittelpunkt gerückt zu haben. 40 So sehr die stärkere Fokussierung der Wertfrage auch zu begrüßen ist – eine Ablehnung einer deontologischen Kant-Deutung kann damit nicht überzeugend gerechtfertigt werden. Dies ist schon ganz allgemein deshalb der Fall, weil eine axiologische Ethikbegründung nicht logisch zwingend mit einer deontologischen Methode der Bestimmung normativ primärer Strukturen 41 konfligiert – im Auch die vor allem bei Herman, Baumanns, Arrington und Guyer vorfindliche Skepsis bezüglich der Tauglichkeit der broadschen Klassifikationsterminologie zu einer erschöpfenden Analyse und Beschreibung der Struktur der kantischen Ethik ist insofern durchaus bedenkenswert, als sie aus der Anerkennung der Komplexität des kantischen Modells resultiert. 41 Wie bereits in Fn. 26 dieser Arbeit angedeutet wurde, muss bzw. sollte ›Deontologie‹ 40

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Einleitung

Gegenteil: Eine umfassend ausgearbeitete Ethik deontologischer Prägung samt hinreichend reflektierter metaethischer Grundlagen muss begründen können, woher die deontischen Strukturen ihre Normativität beziehen. 42 Ich denke, dass Kant sehr wohl um diese Anforderung gewusst und daher nicht nur eine bestimmte Form der Deontologie, sondern zudem eine die ethische Theorie begründende, praktische Axiologie entwickelt hat. 43 Nicht nur deontische, sondern auch vernunftteleologische Konzeptionen gründen bei Kant beide in der absolut werthaften rationalen Natur der Person und weisen zudem einen engen strukturellen Konnex untereinander auf: Während natürlich bedingte Zwecksetzungen in ihrer Auffassung als unter dem Begriff der ›Neigung‹ subsumierte Antriebe als den Pflichten unter dem Gesichtspunkt der Handlungsmotivation entgegengesetzt begriffen werden, ist dies bei praktischen Vernunftzwecken nicht der Fall – im Gegenteil: Nicht nur Kants Konzeption der Tugendlehre der MS, sondern bereits seine grundsätzliche Verhältnisbestimmung von rationalem Wollen des intelligiblen Selbst und kategorischem Sollen des endlichen Vernunftwesens verweist auf eine Zusammengehörigkeit von Pflichten und Vernunftzwecken, der es in der typologischen Klassifikation Rechnung zu tragen gilt. Dies geschieht in vorliegender Untersuchung allerdings nicht im Sinne einer Verabschiedung des Begriffs der ›Deontologie‹, sondern durch dessen nicht nur rein methodische Aspekte umfassen, doch scheint mir ein signifikanter Teil der mit diesem Terminus verbundenen Implikationen mit der von Kant im ›Paradoxon der Methode‹ skizzierten These assoziiert zu werden, dass das praktisch-normativ Maßgebliche das vernunftbestimmte Richtige und nicht etwa das naturbestimmte Angestrebte ist. Im Paradoxon kommt somit zwar auch eine über das bloß Methodische hinausgehende Idee des Vernunftmoralischen zum Ausdruck, doch gibt Kant damit zugleich eine Anleitung zur adäquaten Vorgehensweise bei der Bestimmung des Bereichs des Moralischen, sodass hier (ähnlich wie beim KI) die Definition des moralisch Richtigen und die Methode seiner Bestimmung auf enge Art und Weise verwoben sind. 42 In meiner kurzen Einführung in die ethiktypologischen Grundbegriffe wird sich zeigen, dass eine solche Auffassung der begriffsimmanenten Leistungsgrenze der Idee der Deontologie mit ziemlicher Genauigkeit den ursprünglichen Sinn des griechischen Grundbegriffs ›dein‹ erfasst. 43 Beide benannten Reflexionsebenen weisen dabei insofern einen systematischen Konnex auf, als sie – strukturell betrachtet – denselben geltungstheoretischen Modus aufweisen: Was auf der Ebene der Axiologie als absoluter Wert oder Würde postuliert wird, erscheint auf der Ebene der normativen Ethiktheorie zum einen in Form der Idee der Kategorizität von Gesetz- bzw. Imperativgeltung und Pflichtverbindlichkeit, zum anderen als die Idee streng vernunftnotwendiger Zwecke.

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Strukturübersicht

nicht-klassische Rekonstruktion qua Rückbindung an axiologische sowie vernunftteleologische Fundamentalbestimmungen, ohne welche auch die Pflichtkonzeption und der Kategorische Imperativ ihrer ihnen von Kant zugedachten moralphilosophischen Funktion verlustig gingen. Nur ein dergestalt inklusivistisches Deontologie-Konzept kann auf Kant zurückgeführt und in Einklang mit den systemarchitektonisch zentralen Momenten des Selbstzwecks der Person, der Autonomieidee und der durchgängig präsupponierten Handlungsteleologie gebracht werden.

I.4 Strukturübersicht Die vorliegende Untersuchung gliedert sich in acht inhaltlich und funktional unterschiedliche Abschnitte: Im ersten Abschnitt (Kap. II) werden die in der aktuellen Diskussion für maßgeblich befundenen ethiktypologischen Klassifikationsbegriffe diskutiert, um eine für die Untersuchung verbindliche Bestimmung ihrer Bedeutung und der jeweils zu berücksichtigenden klassifikationsrelevanten Implikationen zu etablieren. Der zweite Bereich (Kap. III) umfasst eine strukturanalytische Rekonstruktion der wichtigsten in der aktuellen Diskussion vertretenen ethiktypologischen Klassifikationsansätze, welche in Form von Haupt- und entsprechenden Subthesen zur Darstellung kommen. Um den für die kritische Evaluation dieser Klassifikationsthesen notwendigen Hintergrund zu erarbeiten, befassen sich die drauf folgenden Abschnitte mit den kantischen Texten. Der dritte Abschnitt (Kap. IV) ist der Erörterung der Frage nach den grundsätzlichen kantischen Argumenten gegen eine teleologische Struktur der Moralphilosophie gewidmet. Viertens (Kap. V) findet eine typologisch ausgerichtete Rekonstruktion der diesbezüglich relevanten Grundbegriffe der kantischen Ethik statt; fünftens (Kap. VI) erfolgt eine Analyse der wichtigsten Argumentationsstrategien Kants für zentrale Elemente und Lehrstücke seiner Ethik, wobei wie im Vorgängerkapitel die klassifikationsrelevanten Aspekte im Mittelpunkt stehen; im sechsten und siebten Abschnitt (Kap. VII und VIII) werden mit der kantischen Vernunftkonzeption und der Achtungslehre zudem zwei Komponenten der kantischen Ethik einer genaueren Betrachtung unterzogen, welchen bisher zu Unrecht verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit in der Typologiedebatte geschenkt wurde; im achten und letzten AbA

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Einleitung

schnitt (Kap. IX) werden die in Kapitel III dargestellten Klassifikationsansätze vor dem Hintergrund des in den Abschnitten IV bis VIII Erarbeiteten kritisch bewertet und zudem sowohl die Frage nach dem kantischen Ethiktyp als auch nach der Bedeutung eines kritisch reflektierten Deontologiebegriffs behandelt.

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II. Grundbegriffe der Ethiktypologie

Ein virulentes Problem in der ethiktypologischen Debatte um die kantische Ethik stellt der partiell unregulierte bzw. uneinheitliche Gebrauch der Klassifikationstermini dar. 1 Unabhängig von der Klärung der Frage, welche Art von Theorie im Falle der kantischen Ethik vorliegt, lassen sich in den diesbezüglich etablierten Werken über Ethik in manchen Aspekten voneinander abweichende Verständnisweisen bei zugleich zunehmender Bedeutungsdifferenzierung feststellen, sodass für den weiteren Fortgang dieser Untersuchung eine klar strukturierte Begriffsbestimmung von ›deontologisch‹, ›teleologisch‹, ›konsequentialistisch‹ und ›axiologisch‹ notwendig ist. Zu diesem Zwecke werden wir zuerst kurz auf die historisch-etymologische Dimension dieses Begriffsproblems eingehen, um danach die moderne Gestalt der ethiktypologischen Klassifikationstermini zu diskutieren. Sowohl ›deontologisch‹ als auch die Prädikate ›teleologisch‹ und ›axiologisch‹ haben ihre begriffsgeschichtlichen Wurzeln im Altgriechischen. ›Deontologisch‹ ist auf ›(to) deon‹ zurückzuführen, was am besten mit ›das, was zu tun ist‹, ›das, was sein muss‹ oder ›das Erforderliche‹ bzw. ›das Richtige‹ übersetzt werden kann. 2 ›(To) deon‹ ist das Partizip Neutrum von ›dein‹, was soviel wie ›es muss‹, und ›es ist nötig‹ bedeutet. Sowohl bei ›dein‹ als auch bei ›(to) deon‹ ist der Nötigungsgrund nicht näher bestimmt und kann, muss aber nicht ein moralischer

Vgl.: Trampota 2003, S. 106. Leist übersetzt diesen Begriff mit das ›Bindende‹, welche Variante insofern mit dem oben Vorgeschlagenen vereinbar ist, als das Bindende in seiner Auslegung als das Verbindliche das ist, was sein muss; vgl.: Leist 2000, S. 267. Bei Düsing findet sich eine direkte Identifizierung mit dem Pflichtbegriff; vgl.: Düsing 2005, S. 9; vgl. ebenfalls: Werner 2002, S. 122. Williams dagegen betont, dass die Griechen überhaupt keinen Pflichtbegriff kannten, sondern allein die Vorstellung von ›dem, was man tun muss‹ ; vgl.: Williams 1985, S. 16.

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Grundbegriffe der Ethiktypologie

sein. 3 In den »Sophistischen Widerlegungen« des Aristoteles findet man zwei prinzipiell voneinander unabhängige, aber oft zusammen auftretende Bedeutungen von ›(to) deon‹ : Einerseits bezeichnet Aristoteles damit ›das Notwendige‹, andererseits auch ›das Gute‹. Wenn sich dagegen, wie es in der »Nikomachischen Ethik« der Fall ist, beide Bedeutungsaspekte verbinden, ist mit diesem Begriff das durch ethische Reflexion festgestellte Richtige und Angemessene gemeint. 4 ›Teleologisch‹ lässt sich dagegen von ›telos‹ 5 ableiten, was ›Ziel‹, ›Endpunkt‹, ›Abschluss‹ oder ›Zweck‹ bedeutet und insbesondere in der aristotelischen Philosophie im Begriff der ›Entelechie‹ im Rahmen von Erklärungen anorganischer und organischer Naturvorgänge eine bedeutende Rolle einnimmt. Zudem existiert eine begriffsgeschichtliche Verbindung zum griechischen ›telein/teleioun‹ sowie zu ›teleos/teleios‹ : Ersteres bedeutet ›vervollständigen‹ und ›vervollkommnen‹, während letzteres mit ›vollständig‹ und ›vollkommen‹ zu übersetzen ist. 6 ›Axiologisch‹ muss auf ›axio‹ zurückgeführt werden, welches die altgriechische Bezeichnung für ›Wert‹ ist. Die heutige Gestalt der ethiktypologischen Grundbegriffe lässt sich etymologisch zwar allgemein auf die griechischen Urbegriffe zurückführen, doch kann man nicht von einem einheitlichen Verständnis dieser Termini in der aktuellen Diskussion sprechen, sondern ist auf eine verbindliche Entwicklung ihres semantischen Profils und der entsprechenden systematischen Implikationen angewiesen. Im Folgenden werde ich in einem kurzen begriffsanalytischen Abschnitt auf die diesSherman weist in diesem Zusammenhang auf den Sachverhalt hin, dass es im Gefolge der neueren kantisch geprägten Aristoteles-Deutungen z. B. von Ross nicht unüblich sei, ›orthos logos‹ mit ›right rule‹ zu übersetzen und unter ›to deon‹ einseitig ›moral duty‹ zu verstehen; vgl.: Sherman 1989, S. 23 f. 4 Jedan verweist darüber hinaus darauf hin, dass sich das moralisch Richtige bei Aristoteles mit dem Schönen (›kalon‹) verbindet bzw. sogar gleichgesetzt wird; vgl.: Jedan 2002, S. 100. 5 Ich beziehe mich im Folgenden auf den Artikel ›telos‹ von Christoph Horn; vgl.: Horn 2002b, S. 427 ff. 6 In der antiken Philosophie taucht der Telosbegriff in naturphilosophischen und handlungstheoretischen Reflexionen auf, wobei sich naturteleologische Überlegungen zwar schon bei vorsokratischen Naturphilosophen wie z. B. Anaxagoras und bei Platon finden, doch wurde dabei noch nicht auf den Terminus ›telos‹ zurückgegriffen. Dies ist erst bei Aristoteles der Fall, der im Kontext seines Konzepts der Finalursache auf das Worumwillen sowohl von menschlichen Handlungen als auch von Naturvorgängen reflektiert und in diesem Rahmen dem Telosbegriff eine wichtige Rolle zuteilt. 3

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Deontologie/Teleologie

bezüglich wichtigsten Aspekte eingehen, um in einer abschließenden Diskussion die für diese Untersuchung verbindliche Begriffssystematik zu bestimmen. Bei den zu klärenden Begriffen handelt es sich um ›Deontologie‹, ›Teleologie‹, ›Konsequentialismus‹ und ›Axiologie‹. Auch wenn mittlerweile eine Vielzahl von Beiträgen zur Diskussion um eine bestmögliche ethiktypologische Begriffsbestimmung existiert und daraus eine äußerst differenzierte Vielfalt unterschiedlicher Vorschläge erwachsen ist, muss sich eine belastbare Begriffsbestimmung m. E. mit verhältnismäßig wenigen begrifflichen Weichenstellungen befassen, die sich in konzentrierter Form vor allem bei Broad, Frankena, Kutschera, Birnbacher und Findlay finden lassen. Die folgenden Reflexionen sind von dem Anliegen getragen, die maßgeblichen Ethiktypen durch möglichst überschaubare Begriffsbestimmungen in ihren strukturellen Eigenheiten zu erfassen.

II.1 Deontologie/Teleologie Die Unterscheidung von deontologischen und teleologischen Ethiken sowie insbesondere die Bedeutung von ›deontologisch‹ im modernen Diskussionskontext ist maßgeblich durch Broads »Five Types of Ethical Theory« 7 geprägt und im philosophischen Diskurs etabliert worden. 8 Nach Broad geht eine deontologische Theorie von folgender formaler Proposition aus: »Such and such a kind of action would always be right Vgl.: Broad 1934. Vgl. zu Broads Absetzung von Sidgwick Kapitel I dieser Studie. Allerdings muss zugleich auf den Sachverhalt hingewiesen werden, dass ›Deontologie‹ bereits im frühen 19. Jahrhundert durch Bentham im Rahmen seines Utilitarismus in die moralphilosophische, ansatzweise aber auch politische Diskussion eingebracht wurde; vgl.: Bentham 1984a, S. 203 Anm. a.; vgl. dazu: Leist 2000, S. 267; Herman 1993, S. 208; Werner 2002, S. 122. Bemerkenswert an Benthams dortigen Ausführungen ist dabei, dass er in Abweichung vom derzeit verbreiteten Verständnis von Deontologie die hinter diesem Begriff stehende Idee als grundsätzlich mit allen Ethiken kompatibel ansieht, die über ein Konzept der moralischen Verpflichtung verfügen. Zudem trägt er dem semantischen Profil des griechischen Urbegriffs indirekt Rechnung, da die dergestalt verstandene Deontologie durch den Bezug auf ein vorauszusetzendes Fundament moralischer Verbindlichkeit ohne Fehlschluss zu rechtfertigen sein soll. Darüber hinaus verfasste Bentham das Werk »Deontology«, welches einen theoretischen und einen (unvollendeten) praktischen Teil umfasst. Zu Beginn des theoretischen Teils findet sich die für Bentham grundlegende Begriffsbestimmung, wobei er Deontologie und Ethik identifiziert und damit einen weitaus umfassenderen Deontologiebegriff verwendet, als er heute üblich ist; vgl.: Bentham 1984b, S. 124 f.

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(or wrong) in such and such circumstances, no matter what its consequences might be«. 9 Diese Skizzierung einer deontologischen Ethik impliziert drei für unsere Zwecke relevante Strukturmerkmale: 1. Nach Broad geht es bei einer deontologischen Ethik nicht um eine Einzelhandlung, sondern stets um eine Art oder einen allgemeinen Typ von Handlung, der den Gegenstand der moralischen Bewertung darstellt. 2. Damit zusammenhängend muss nach Broad festgehalten werden, dass es nach einer deontologischen Ethik situationsabhängig ist, ob eine Art Handlung moralisch richtig oder falsch ist. Broad zufolge ist ein bestimmter Handlungstyp nicht abstrakt richtig oder falsch, sondern immer in seiner jeweiligen situativen Einbettung zu betrachten. 3. Zudem ist eine moralisch richtige Handlung eine solche nicht nur aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einem bestimmten Handlungstyp, sondern auch unangesehen der mit ihr einhergehenden Konsequenzen. Insgesamt betrachtet hat eine moralisch richtige Handlungsweise nach Maßgabe deontologischer Ethiken im broadschen Verständnis einen eigenständigen, intrinsischen Wert. Gegen diese Charakterisierung setzt Broad die Eigenschaften teleologischer Ethiktypen ab: »Teleological theories hold that the rightness or wrongness of an action is always determined by its tendency to produce certain consequences which are intrinsically good or bad«. 10 Während eine deontologische Theorie eine Handlungsweise als intrinsisch wertvoll bzw. wertlos qualifiziere, diene dagegen eine Einzelhandlung in teleologischer Sichtweise nur als Mittel zum Zweck der Verwirklichung bestimmter Konsequenzen, die ihrerseits intrinsischen Wert besäßen und somit die Rolle der Handlung bei deontologischen Ethiken einnähmen. Darüber hinaus analysiert Broad deontologische und teleologische Ethiken hinsichtlich ihrer empirischen und apriorischen Anteile: In einer teleologischen Ethik implizierten die Sätze ›Diese Handlung ist richtig/falsch‹ und ›Alle Handlungen dieser Art sind richtig/falsch‹ alle vorhersehbaren Folgen dieser Handlung. Diese Urteile seien daher genau so empirisch wie jedwede Urteile, die partikuläre Fallgesetze beinhalten. Trotzdem impliziere jede teleologische Theorie auch ein aprio9 10

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S.: Broad 1934, S. 206. S.: Broad 1934, S. 206 f.

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Deontologie/Teleologie

risches Urteil als notwendiges Element, da sie stets ein Urteil der Form ›Irgendetwas, welches eine nicht-ethische Charakteristik aufweist, ist notwendigerweise intrinsisch gut‹ beinhalte. Diese Art von Urteilen hätte dabei nichts mit empirischer Verursachung zu tun, sondern müsste vielmehr als Ausdruck einer bestimmten Beziehung zwischen der nicht-ethischen Eigenschaft und der ethischen Eigenschaft des Gutseins verstanden werden. 11 Eine deontologische Theorie impliziere dagegen ein derartiges apriorisches Urteil, das man nicht als universalistisches Urteil der allgemeinen Form ›Alle Handlungen der Form X sind richtig oder falsch‹ bestimmen könne. Die Andersartigkeit dieses deontologisch-apriorischen Urteils sei dabei folgendermaßen näher zu bestimmen: Die Art der jeweiligen Handlung könne in diesem Kontext im Ausgang von einer bestimmten Variante deontologischer Theorien anhand einer oder weniger Eigenschaften ihrer unmittelbaren Konsequenzen beurteilt werden, wobei entscheidend sei, dass die unmittelbaren Konsequenzen allein als hinreichend für eine definitive Beurteilung einer Handlung als richtig oder falsch betrachtet werden. 12 Alle anderen Eigenschaften der Handlung sowie ihre mittelbaren, d. h. erst später auftretenden Folgen seien in dieser Perspektive anders als bei teleologischen Theorien dementsprechend vollkommen irrelevant. Im Kontext von Überlegungen zur Systematisierung der ethischen Theorien unterscheidet Broad zwischen »Concepts of ObligaBroad spricht in diesem Zusammenhang auch von einer ›intuitive induction‹, die teleologischen Theorien zugrunde liege; vgl.: Broad 1934, S. 214. 12 Der soeben erwähnte apriorische Anteil aller deontologischen Theorien scheint in einem inhaltlichen Gegensatz zur vorherigen Bestimmung der für deontologische Theorien ebenfalls als grundlegend postulierten Voraussetzung der Unabhängigkeit von den Handlungskonsequenzen zu stehen: Sprach Broad im Rahmen der Erörterung deontologischer Theorien anfangs noch von der Irrelevanz der Konsequenzen für die moralische Beurteilung einer Handlung, definiert er wenig später den apriorischen Anteil deontologischer Theorien dergestalt, dass die unmittelbaren Konsequenzen sehr wohl bei der moralischen Evaluation eine gewisse Rolle spielen. Eine kohärente Deutung dieser beiden Aussagen lässt sich durch die Annahme erzielen, dass Broad letztlich die moralische Relevanz der unmittelbaren Handlungskonsequenzen insofern widerspruchslos mit der geltungstheoretischen Unabhängigkeit zusammen denken kann, als er die direkten Folgen der Handlung auch noch ihr selbst zuzählt, d. h. dass sie einen Teil der Handlung ausmachen und nicht von ihr getrennt betrachtet werden sollten. Letztlich muss man die Äußerungen Broads aufgrund ihres in dieser Hinsicht bestehenden Mangels an Eindeutigkeit jedoch als unbefriedigend bezeichnen. Diese Unklarheit verdankt sich zu einem nicht geringen Anteil der begrifflichen Unterbestimmung von ›Handlung‹ und ›Handlungsfolge‹. 11

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tion« und »Concepts of Value«, wobei erstere Begriffe wie »duty«, »ought« und »right«, letztere z. B. »goodness« und »merit« umfassen. 13 Dieser Rückbezug auf die verschiedenen Grundbegriffe dient dabei zusätzlich der Definition der Ethiktypen: Die von deontologischen Theorien vorausgesetzte Annahme bestehe darin, dass der Pflichtbegriff in ethischer Hinsicht fundamental sei und sämtliche Wertbegriffe daher durch deontische Termini definiert werden können. Teleologische Theorien dagegen setzten Wertbegriffe als Grund der Ethik an und behaupteten die Ableitbarkeit deontischer Strukturen von diesen axiologischen Begriffen. Diese Bestimmungen bilden einen zentralen Ausgangspunkt für die weitere ethiktheoretische Diskussion der nachfolgenden Jahrzehnte 14 und stellen daher auch den systematischen Hintergrund des vorliegenden Kapitels dar. Von nachhaltigerer Wirkung auf die zeitgenössische Ethik als die Reflexionen Broads ist der Ansatz Frankenas gewesen. 15 Sofort fällt an seiner Diskussion deontologischer und teleologischer Ethiken auf, dass er sich mit keinem Wort auf Broads einschlägige Differenzierung aus den 30’er Jahren bezieht, sondern die thematische Unterscheidung nur allgemein den ›moral philosophers‹ zuschreibt. 16 In systematischer Hinsicht kann man jedoch durchaus zumindest von einem Anschluss an Broad sprechen. Hinsichtlich teleologischer Ethiken hebt Frankena dabei einen Aspekt hervor, der bei Broad zwar als apriorisches Element jeder teleologischen Ethik ebenfalls eine wichtige Rolle spielt, auf den jedoch nicht vergleichbar reflektiert wird: die konstitutive Abhängigkeit des moralischen Werts einer Handlung von nicht-moralischen S.: Broad 1934, S. 276 f. Die 1985 herausgegebenen »Cambridge Lectures on Ethics«, die Broad in den Jahren 1952/53 hielt, finden in diesem Zusammenhang meist kaum Beachtung, was sich wohl nicht zuletzt damit erklären lässt, dass Broad in diesen Vorlesungen weniger als in dem Vorgängerwerk auf den Unterschied deontologischer und teleologischer Ethiken reflektiert und sich ausgiebig auch moralpsychologischen Fragen widmet. Auffällig ist dabei der Sachverhalt, dass Broad meist nicht mehr von einem Gegensatz von deontologischen und teleologischen, sondern vermehrt von der Dichotomie teleologischer und nicht-teleologischer Ethiken ausgeht; vgl.: Broad 1985, S. 230. 15 Vgl.: Birnbacher 2003, S. V. Vgl. ebenso: Quante 2003, S. 127. Düsing konzentriert sich auf Frankena und setzt Broads Klassifikationsversuche klar davon ab; vgl.: Düsing 2005, S. 9 Anm. 1. 16 Broad wird nur an einer einzigen Stelle als Vertreter des Hedonismus genannt; vgl.: Frankena 1973, S. 90. Das ist insofern etwas verwunderlich, als Frankena in jungen Jahren bei Broad studierte. 13 14

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Deontologie/Teleologie

Eigenschaften der Handlung. 17 Offenbar geht Frankena generell davon aus, dass eine teleologische Ethik stets mit einer Art Maximierungsprinzip verbunden ist, wenn er im Rahmen der Skizzierung teleologischer Pflichtentheorien behauptet: »An act ought to be done if and only if it or the rule under which it falls produces, will probably produce, or is intended to produce a greater balance of good over evil than any available alternative«. 18 Dies wird umso deutlicher, wenn er deontologische von teleologischen Theorien dahingehend abgrenzt, dass sie die maximale Beförderung des Gleichgewichts von Gut und Böse nicht oder zumindest nicht als grundlegendes moralisches Kriterium ansehen. 19 Die einzige von Frankena genauer analysierte teleologische Ethik ist der Utilitarismus. 20 Im Gegensatz zur Abhängigkeit des moralisch Richtigen von einem als wertvoll angesehenen nicht-moralischen Zustand oder Sachverhalt negierten deontologische Theorien die Zulässigkeit einer solchen Funktionalisierung des Moralischen und gingen grundsätzlich von seiner absoluten Eigenständigkeit aus, indem sie die moralische Beurteilung einer Handlung nicht an den Handlungsfolgen, sondern am Akt selbst festmachten. Deontologische Ethiken fokussierten dementsprechend »certain features of the act itself other than the value it brings into existence, […]«. 21 Allerdings divergierten sie hinsichtlich der jeweils zugeschriebenen Bedeutung allgemeiner Regeln: Während Vgl.: Frankena 1973, S. 14. S.: Frankena 1973, S. 14. 19 »For them the principle of maximizing the balance of good over evil, no matter for whom, is either not a moral criterion or standard at all, or, at least, it is not the only basic or ultimate one«; s.: Frankena 1973, S. 15. 20 Frankena differenziert zwischen einem Handlungs-Utilitarismus, einem Allgemeinen Utilitarismus und einem Regel-Utilitarismus. Der Unterschied zwischen dem Handlungs- und dem Allgemeinen Utilitarismus stelle sich dabei als folgender heraus: Während sich der moralische Akteur im ersten Fall die Frage stellen müsse, ob die Folgen seiner Handlung in der ihm jeweils vorliegenden bestimmten Situation dem allgemeinen Wohl dienten, müsse er beim Allgemeinen Utilitarismus prüfen, ob es grundsätzlich für jeden Handelnden in einer vorgegebenen Situation moralisch zulässig wäre, auf eine bestimmte Art und Weise zu handeln. Beim Regel-Utilitarismus hingegen stehe die von der jeweiligen Situation unabhängige Orientierung an einem Gesetz oder einer fundamentalen Regel im Mittelpunkt, wobei die entsprechenden Regeln so bestimmt werden müssten, dass sie dem allgemeinen Wohl zuträglich seien: »That is, the question is not which action has the greatest utility, but which rule has«; s.: Frankena 1973, S. 39. 21 S.: Frankena 1973, S. 15. 17 18

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Grundbegriffe der Ethiktypologie

der sogenannte ›Handlungs-Deontologismus‹ auf der partikulären Urteilsform ›Jede Handlung der Form X ist in der Situation Y moralisch richtig/falsch‹ basiere, liege dem ›Regel-Deontologismus‹ stets ein allgemeines Urteil der Form ›Jede Handlung der Form X ist moralisch richtig/falsch‹ zugrunde. Mit dem Regel-Deontologismus nimmt Frankena eine Form deontologischer Theorien auf, die auch schon bei Broad genannt, jedoch nicht ausführlicher diskutiert wurde. Neben der terminologischen Distinktion von Handlungs- und Regel-Deontologismus geht Frankena auch in einem anderen Punkt über Broad hinaus, indem er im Kontext der Erörterung moralischer Werttheorien die Frage nach der Ausbildung einer normativen Charakterlehre aufgreift und diesen Problemkomplex wiederum vor dem Hintergrund teleologischer und deontologischer Ethiken diskutiert. 22 Insgesamt bleiben zwei Punkte festzuhalten, durch die Frankena eine Modifikation der broadschen Terminologie vollzogen hat: 1. Grundsätzlich kommt er mit Broad zwar darin überein, dass teleologische Ethiken die moralische Qualität einer Handlung an ihrer Hinordnung auf die Verwirklichung intrinsisch wertvoller Zustände festmachen, während deontologische Theorien demgegenüber die Handlung selbst ganz oder weitgehend unabhängig von ihren Folgen als moralisch richtig oder falsch bewerten. Allerdings entwickelt er die über Broad hinausgehende These, dass teleologische Theorien im Unterschied zu deontologischen Ansätzen ein Maximierungsprinzip implizieren. 2. Anders als Broad unterscheidet er einerseits zwischen drei Formen teleologischer Ethik (Handlungs- bzw. Regel-Utilitarismus und Allgemeinem Utilitarismus) und andererseits klar zwischen einem situationsorientierten Handlungs-Deontologismus und einem situationsunabhängigen Regel-Deontologismus. Expliziter als Broad und Frankena unterteilt Kutschera die verschiedenen Ethiktypen anhand des Kriteriums, welchem Aspekt einer Handlung moralischer Wert zugeschrieben wird. Von diesem Standpunkt

Vgl.: Frankena 1973, S. 80. Durch diese Thematisierung des Zusammenhangs der Analyse allgemeiner Ethiktypen und konkreter Charakterbildung gelingt es Frankena im Gegensatz zu Broad, die Auswirkungen teleologischer und deontologischer Ethiken auf die Gestalt der Grundprinzipien der bewusst gesteuerten Persönlichkeitsentwicklung zu verdeutlichen.

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Deontologie/Teleologie

aus ergeben sich nach Kutschera im grundsätzlichen systematischen Anschluss an Broad und Frankena folgende Definitionen: T) Nach einer teleologischen Ethik bemisst sich der Wert einer Handlung nach dem Wert ihrer Resultate. 23 D) Nach einer deontologischen Ethik ist der Wert einer Handlung von dem Wert der allgemeinen Handlungsweise abhängig. 24 I) Eine intentionalistische Ethik bemisst den Wert einer Handlung nach dem Wert der jeweils der Handlung zugrundeliegenden Absicht. 25 D sei die Grundthese eines strikten Deontologismus, während eine abgeschwächte Form deontologischer Theorien zwar die Grundthese teleologischer Ethiken negiere, zugleich jedoch auch das Zugeständnis der Anerkennung einer relativen Werthaftigkeit der Realisierungen einer wertvollen Handlungsweise mache – der Totalwert einer Handlung bestehe dem schwachen Deontologismus gemäß sowohl aus dem Wert der Handlungsweise als auch aus dem ihrer Verwirklichung. 26 Im

Vgl.: Kutschera 1982, S. 63. Die jeweils relevanten Resultate seien die tatsächlichen oder allgemein erwartbaren Handlungsfolgen, vgl.: Kutschera 1982, S. 64. Im Rahmen teleologischer Ethiken würden Wertbegriffe nur Sachverhalten zugeschrieben; vgl.: Kutschera 1982, S. 17. Die Extension des Begriffs des ›Sachverhalts‹ ist derart bestimmt, dass unter ihm auch Handlungen verstanden werden können, was die Situation insofern komplizierter macht, als zu den für teleologische Ethiken entscheidenden Handlungsresultaten auch die jeweiligen Handlungen selbst gezählt werden müssen. 24 Vgl.: Kutschera 1982, S. 66. Allein aufgrund eines deontologischen Ethikmodells sei die Erstellung von Geboten bzw. Verboten mit universellem Geltungsanspruch möglich – nur eine solche Ethik könne dem Generalisierbarkeitspostulat genügen, ohne das es keinerlei allgemein verbindliche ethische Gesetzlichkeiten geben könne. Diese These ist insofern eine besonders starke Behauptung, als sie zum einen die These der Unfähigkeit konsequentialistischer Theorien zur Etablierung unbedingter moralischer Normativität, zum anderen das Fehlen solcher Verbindlichkeitsvorstellungen in der antiken Ethik nahe legt. Gegen letzteres argumentiert vor allem Horn, indem er im Zusammenhang mit seiner handlungsteleologischen Rekonstruktion antiker und moderner Ethiken darauf verweist, dass z. B. auch bei Platon ein unbestreitbarer moralischer Objektivismus vorliege, obwohl es sich um eine allgemein als teleologisch zu klassifizierende Ethik handele; vgl.: Horn 2003, S. 79 ff. Zusätzlich verschärft wird die Sachlage für Kutschera durch den von Horn benannten Sachverhalt, dass sich die platonische Form handlungsteleologischer Ethik ohne Geltungsverlust von seinem metaphysischen Perfektionismus isolieren lässt; vgl. Horn 2003, S. 77. 25 Aufgrund der begrifflichen Ausrichtung dieser Untersuchung werden die Ausführungen Kutscheras zu dieser Form der Ethik hier nicht weiter verfolgt. 26 Vgl.: Kutschera 1982, S. 66 Anm. 38. 23

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Grundbegriffe der Ethiktypologie

Anschluss an Broad bindet Kutschera die Ethiktypen an jeweils unterschiedliche Grundbegriffe zurück, wobei er von einer weitgehenden Dichotomie von Pflicht- und Wertbegriffen ausgeht und diese Auffassung zudem exemplarisch bei Kant zu finden glaubt: Es besteht […] eine enge Beziehung, wenn auch keine Koinzidenz, von deontologischen und Pflichtenethiken einerseits, und teleologischen und Wertethiken andererseits. Das Phänomen des Moralischen wird […] oft so verstanden, daß dafür Pflichten und Gesetze, nicht jedoch Werte typisch sind. Als grundlegendes moralisches Phänomen wird dann die Erfahrung einer Verpflichtung, einer Forderung angesehen, mit der wir uns konfrontiert sehen, nicht jedoch eine Werterfahrung. Demnach stellen auch deontische, nicht aber valuative Begriffe die normative Grundbedingung dar. Charakteristisch für diese Auffassung ist die Ethik Kants, der jede Wertethik als grundsätzlich verfehlt ansah. 27

Darüber hinaus gelte, dass teleologische Ethiken meist Wertethiken, deontologische jedoch Pflichtethiken seien, wobei Wertethiken allerdings nicht immer teleologische Ethiken sein müssten. Auch wenn deontologische Theorien gewöhnlich nicht auf axiologische Konzepte bezogen wären, seien deontische Strukturen wie Gebote allerdings ebenfalls durch Wertbegriffe definierbar. Kutscheras Behandlung der Ethiktypen zeichnet sich vor allem durch die Reflexion auf die Relation von deontologischen und teleologischen Ethiken zu den sie fundierenden Begriffen aus. Seine diesbezügliche These führt deontologische Ethiken auf den Begriff der ›Pflicht‹ und teleologische Modelle auf denjenigen des ›Werts‹ zurück, wobei er in Abweichung von der klaren Einteilung Broads von einer simplifizierenden Verhältnisbestimmung Abstand nimmt, indem er mit der Behauptung der Definition deontischer Konzepte durch Wertbegriffe auf tiefenstrukturelle Beziehungen zwischen scheinbar voneinander unabhängigen Strukturen hinweist, diesen Punkt jedoch nicht ausführlicher ausarbeitet. Darüber hinaus verweist Kutschera auf den insbesondere für die Praxis der Ethiktypklassifikation bedeutsamen Unterschied von starken und schwachen Formen bestimmter Ethikmodelle. Diesbezüglich schlägt er ein konkretes Konzept vor, welches in formaler Perspektive von der Idee eines moralischen Totalwerts einer Handlung ausgeht, der wiederum aus den jeweils im Verhältnis

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S.: Kutschera 1982, S. 74 f.

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Konsequentialismus

zueinander zu gewichtenden Wertaspekten der vorhandenen deontischen und teleologischen Strukturen zusammengesetzt ist. Während Broad und viele ihm nachfolgende Autoren das Prädikat ›deontologisch‹ als kontradiktorischen Gegensatz zu ›teleologisch‹ verstehen, plädiert Birnbacher für eine nur konträre Verhältnisbestimmung beider Begriffe. Nur solche nicht-deontologischen Theorien sollten als ›teleologisch‹ bezeichnet werden, die davon ausgehen, dass die moralische Richtigkeit oder Falschheit von der nicht-moralischen Qualität ihrer Folgen abhängt. Genauer gesagt, wird nach Birnbacher bei teleologischen Modellen die moralische Qualität einer Handlung entscheidend davon bestimmt, in welchem Maße sie nicht-moralische oder moralische Werte verwirklicht oder zumindest zu ihrer Verwirklichung beiträgt. Die moralische Richtigkeit bzw. Falschheit einer Handlung könne jedoch nicht nur von der nicht-moralischen, sondern auch von der moralischen Qualität ihrer Folgen abhängig gemacht werden. Im Gegensatz zu nicht-moralischen Werturteilen, welche primär Sachen bzw. Sachverhalte zum Gegenstand haben, fokussierten moralische Werturteile vor allem Absichten, Motive oder Charaktereigenschaften. 28 Daher schöpften die Begriffe ›deontologisch‹ und ›teleologisch‹ nicht alle Möglichkeiten aus, sondern man könne sich auch den Fall denken, dass eine Ethik die moralische Qualität der Handlungen u. a. von der moralischen Qualität der weiteren Handlungen abhängig macht, die durch die ersten Handlungen bewirkt werden. Bei dieser Möglichkeit liegt nach Birnbacher weder eine deontologische, noch eine klassische teleologische, sondern eine konsequentialistische Ethik vor. 29

II.2 Konsequentialismus Der Begriff des ›Konsequentialismus‹ ist durch Anscombe in Absetzung vom Intentionsbegriff Sidgwicks geprägt worden: 30 Sidgwicks Neufassung des Intentionsbegriffs mit seiner von der nur subjektiven

Vgl. zur Problematik der trennscharfen Unterscheidung zwischen nicht-moralischem und moralischem Wert: Birnbacher 2003, S. 279. 29 Birnbacher bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Anscombe; vgl.: Birnbacher 2003, S. 114. 30 Vgl.: Anscombe 1958. 28

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Grundbegriffe der Ethiktypologie

Perspektive geprägten Verantwortungsvorstellung für die jeweiligen Handlungsfolgen stelle einen gewissen Einschnitt gegenüber dem herkömmlichen Modell der Verantwortung für die von einer Handlung erwartbaren Folgen dar und sein Intentionsbegriff setze sich von den herkömmlichen utilitaristischen Modellen ab. 31 Anscombes Distinktion von Utilitarismus und Konsequentialismus orientiert sich demnach grundsätzlich an der jeweils unterschiedlichen Bestimmung der Relation von Verantwortung und Intention, wobei die Einführung des Terminus ›Konsequentialismus‹ grundlegend auf der Fokussierung der intendierten Handlungsfolgen basiert. Eine konsequentialistische Ethik sehe demnach den Handelnden nur für die von ihm intendierten bzw. in Kauf genommenen Handlungsfolgen in der Verantwortung. Allerdings ist diese durch Anscombe geprägte Auffassung von Konsequentialismus in der heutigen Diskussion meist einem umfassenderen Begriffsverständnis gewichen, welches den traditionellen Teleologiebegriff häufig vollständig ersetzt oder ihm zumindest übergeordnet wird. Exemplarisch ist dies bei Birnbacher der Fall, der zwischen einem teleologischen und einem nicht-teleologischen Konsequentialismus unterscheidet. Während ein reiner nicht-teleologischer Konsequentialismus allein die moralische Richtigkeit der Handlungsfolgen in Betracht ziehe und damit alle nicht-moralischen Qualitätsmerkmale außer Acht lasse, bewerte die teleologische Variante ausschließlich die nicht-moralischen Aspekte. Der nicht-teleologische Konsequentialismus stehe demnach aufgrund eines vorausgesetzten moralischen Standards in großer Nähe zu deontologischen Modellen. 32 Birnbacher subsumiert also grundsätzlich alle Formen teleologischer Ethik unter konsequentialistische Konzepte, wobei er insbesondere deontologische und konsequentialistische Ethiken gegenüberstellt. 33 Im Rahmen einer Vgl.: Anscombe 1958, S. 12. Vgl.: Birnbacher 2003, S. 187 f. Die Unterscheidung zwischen deontologischen und konsequentialistischen Ethiken sei nicht eindeutig, »weil in vielen Fällen unklar ist, welche Elemente von Handlungsbeschreibungen der ›Handlung selbst‹ und welche den ›Handlungsfolgen‹ zugerechnet werden können. […]. Was als Handlung und was als Handlungsfolge gilt, hängt […] in einem gewissen Umfang von den begrifflichen Mitteln ab, mit denen wir Handlungen identifizieren, beschreiben und erklären«; s.: Birnbacher 2003, S. 122. 33 Eine solche Bestimmung des Terminus ›Konsequentialismus‹ greift zwar einerseits die von Anscombe eingeführte Begrifflichkeit auf, entfernt sich jedoch von ihrer ursprünglichen Bedeutungszuschreibung, indem Konsequentialismus nicht mehr nur als konträrer Gegenbegriff zum klassischen Utilitarismus verstanden wird. 31 32

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Konsequentialismus

deontologischen Perspektive würden dabei zumindest einige moralisch richtige Handlungen als intrinsisch wertvoll angesehen, 34 während entsprechende Handlungen innerhalb einer konsequentialistischen bzw. teleologischen Ethik aufgrund ihrer Abhängigkeit von den jeweils mit ihnen verfolgten Zielsetzungen stets nur abgeleiteten oder extrinsischen Wert besitzen könnten. Grundsätzlich enthalte jede konsequentialistische Theorie eine normative und eine axiologische Teiltheorie. 35 Dies ergebe sich aus dem Umstand, dass ein Konsequentialist die moralische Qualität einer Handlung nach ihren Folgen bemesse: Einerseits benötige eine konsequentialistische Ethik bestimmte werttheoretische Grundannahmen, die darüber entscheiden, welche Elemente der Handlungsfolgen in einem werthaften Sinne gut und somit wertvoll bzw. anzustreben sind, andererseits sei die normative Teiltheorie für die Entscheidung zuständig, welche dieser auf die Handlungsfolgen bezogenen Wertsetzungen für eine moralische Handlungsbeurteilung von signifikanter Relevanz sind. Darüber hinaus könne man von der normativen Teiltheorie erfahren, welche moralischen Forderungen aus der Möglichkeit entsprechender Wertverwirklichungen resultieren. 36 Diese Zweistufigkeit von axiologischen und normativen Aspekten ist nach Birnbacher allerdings nicht nur beim Konsequentialismus, sondern ebenfalls bei nichtstrengen deontologischen Theorien anzutreffen. Die axiologischen Aspekte deontologischer Theorien blieben jedoch meist implizit und seien somit nur schwer eindeutig zu bestimmen. Birnbacher greift damit das bereits bei Kutschera angesprochene Problem der Relation von Pflicht, Zweck, Handlungsfolge und Wert auf, belässt es zumindest hinsichtlich deontologischer Ethikmodelle jedoch bei Andeutungen allgemeinen Charakters.

Birnbacher führt diesbezüglich Kants Theorie der Strafe als mustergültiges Beispiel an; vgl.: Birnbacher 2003, S. 121. Moralisches Handeln sei somit für eine deontologische Ethik nie nur Mittel, sondern immer auch Selbstzweck. 35 Vgl.: Birnbacher 2003, S. 173. 36 Vgl.: Birnbacher 2003, S. 173. 34

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Grundbegriffe der Ethiktypologie

II.3 Axiologie Im Vergleich zu den drei anderen Konzepten spielt der Wertbegriff als ethiktypologischer Klassifikationsbegriff eine nur untergeordnete Rolle. 37 Die Frage nach dem theorieimmanenten Status axiologischer Komponenten wird in modernen Diskussionskontexten häufig im Zusammenhang mit der Reflexion auf die Relation von Ethik und Metaethik und weniger auf der Ebene allein der ethischen Theorie erläutert. Dies ist insofern sachlich begründet, als axiologische Aussagen im Gegensatz z. B. zu deontischen Strukturen nicht per se praktischer Natur sind, sondern einen eigenen systematischen Bereich ausmachen. Die Anerkennung eines Wertsachverhalts ist als solche nicht identisch mit der Internalisierung einer praktischen Sollensforderung, auch wenn beide Elemente praktischer Deliberation plausibel miteinander verbunden werden können. Nicht selten wird in der Diskussion der moralphilosophischen Relevanz von Werten allerdings übersehen, dass sich axiologische Reflexionen nicht allein auf diejenige in einer Wertethik schelerscher Prägung fokussierte Frage nach der Werterkenntnis und Wertanerkennung beschränken, sondern sich darüber hinaus auf die meist implizit bleibenden Prozesse und geltungstheoretischen Implikationen der Wertsetzung beziehen können. 38 Axiologien können dem-

Die Gründe dafür mögen unterschiedlicher Natur sein. Sicherlich ist in historischer Perspektive die schwindende Bedeutsamkeit der phänomenologisch-materialen Wertethiken Hartmanns und Schelers der Popularität des Wertbegriffs nicht unbedingt zuträglich gewesen. Auch wenn sich die durch Rickert und Windelband entwickelte formale Wertethik aufgrund der ihr implementierten Methode der transzendentalen Geltungsreflexion entscheidend von der phänomenologischen Wesensschau unterscheidet, ist auch ihr kein grundsätzlich besseres Schicksal als ihrem phänomenologischen Pendant beschieden gewesen; vgl. zur modernen Ablehnung der Wertphilosophie als metaphysisch und ideologisch kontaminiertem Denkansatz: Schnädelbach 1983, S. 197. Rein systematisch wird der Wertbegriff als ethiktypologisches Grundkonzept oft als zu undifferenziert charakterisiert. Dementsprechend bleibt nach Düsing »die Charakterisierung einer Ethik als Lehre von ethischen Werten zu unspezifisch; zumeist sind Güter oder Zwecke damit gemeint, manchmal auch Tugenden oder Eigenschaften von Personen; damit wird aber kein eigener Ethiktypus getroffen.« S.: Düsing 2003, S. 232; vgl. zudem: Düsing 2005, S. 20 Anm. 9. 38 Aus der diesbezüglichen Literatur ist die zu Unrecht vergessene Studie »Axiological Ethics« von Findlay hervorzuheben, in welcher sowohl die ontologische Wertproblematik als diejenige der aktiven Wertkonstitution klar herausgestellt als auch die prekäre Relation von Werten zu Sollensforderungen betont wird; vgl.: Findlay 1970, S. 3 f. 37

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Axiologie

nach zum einen ontologisch und primär theoretisch 39 verfasst sein, zum anderen jedoch auch substantielle oder akzidentelle Strukturkomponenten handlungstheoretischer Reflexionen darstellen. Zwar erhebt Kutschera den Wertbegriff in den Status des primären Klassifikationskriteriums, indem er die Ethiktypen anhand der jeweils als wertvoll betrachteten Handlungskomponenten differenziert, doch ist damit die handlungstheoretisch-axiologische Reflexionsebene ursprünglicher Wertsetzungen noch nicht explizit als ethiktypologisch relevantes Moment berücksichtigt. Eine Untersuchung der Wertsetzung als praktisch-axiologischer Fundierungsakt einer Ethik hat einen systematischen Bereich zum Gegenstand, der unter bestimmten Bedingungen nicht durch die Begriffe der Deontologie/Teleologie oder des Konsequentialismus beschrieben werden kann, da diese zwar werttheoretische Komponenten implizieren bzw. implizieren können, dabei den noematischen Gehalt der jeweiligen axiologischen Strukturen selbst jedoch nicht mehr handlungstheoretisch rekonstruieren und implizit unter geltungstheoretischen Auspizien 40 hinterfragen müssen. Wertsetzungsakte können zwar, müssen jedoch nicht notwendigerweise zweckgerichtet sein. Der Bereich der Axiologie umfasst demnach weitaus mehr als theoretische oder praktische Reflexionen über objektiv bestehende Wertordnungen oder Zwecke- und Güterlehren und kann insbesondere für sich beanspruchen, als einzige Disziplin das bis in metaethische Problemdimensionen hineinreichende Phänomen (letzt-)begründungsrelevanter Wertsetzung zu analysieren.

Im Verlauf dieser Studie wird deutlich werden, dass einige Autoren primär ein ontologisches Axiologieverständnis in der Kant-Interpretation für angemessen halten und dieser Umstand zu nicht geringen interpretatorischen Problemen führt. 40 Diese hier von mir benutzte Begrifflichkeit im Kontext der Beschreibung der systematischen Struktur axiologischer Reflexionshorizonte schließt an Lotze an, der Werte grundsätzlich als ideale Geltungen verstand; vgl.: Lotze 1874–1884. Die von Lotze postulierte ideelle Synthese von Geltung und Wert ist m. E. logisch unabhängig von dessen teleologischem Idealismus und verweist vielmehr auf heuristisch fruchtbare Modifikationsmöglichkeiten des später durch Lask geprägten Begriffs der ›Geltungssphäre‹ als Einheitspunkt von theoretischer und praktischer Reflexion; vgl.: Lask 1993, S. 268 ff. Eine fruchtbare Verbindung von neukantianischen, husserlschen und von Lotze stammenden Einflüssen findet man darüber hinaus im Begriff der »axiotischen Geltungsreflexion« von Wagner, welcher sich auf die wertorientierte Selbstgestaltung des Wollens im Handeln bezieht; s.: Wagner 1980, S. 224 ff. 39

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Grundbegriffe der Ethiktypologie

II.4 Resümee Nach der allgemeinen Darstellung des begrifflich-systematischen Spektrums, welches sich im Zusammenhang mit der Frage nach einer adäquaten ethiktypologischen Klassifikationsterminologie eröffnet, muss nun kritisch auf die Resultate reflektiert und auf diesem Wege eine praktisch sinnvolle Begriffsbestimmung eingeführt werden. Bevor man sich der Aufgabe annimmt, eine begrifflich nachvollziehbare Ethiktypologie zu entwerfen, muss auf das von Birnbacher angesprochene Problem einer hinreichend trennscharfen Unterscheidung von Handlung und Handlungsfolgen eingegangen werden. Insofern man keine grundsätzlich verbindliche Differenz von einer Handlung und deren kausaler Konsequenz plausibel machen kann, ist es aufgrund der systematischen Relevanz dieser Unterscheidung für die Beantwortung der Frage nach konstitutiven Spezifika deontologischer und konsequentialistischer Theorien höchst fraglich, inwiefern eine strenge Unterscheidung zwischen deontologischen und konsequentialistischen Theorien noch durchführbar sein soll. Dabei kann es in unserem Rahmen nicht darum gehen, das Problem der Differenzierung von Handlung und Handlungsfolge auch nur ansatzweise befriedigend zu klären, doch muss zumindest eine pragmatisch sinnvolle und konsistente Begriffsbestimmung geleistet werden, um die elementaren terminologischen Anforderungen für spätere ethiktypologische Klassifikationen 41 wenigstens allgemein erfüllen zu können.

II.4.1 Ethiktypologie und Handlungstheorie: Das Problem von Handlung und Handlungsfolgen Die fundamentale Problematik einer zumindest pragmatisch hinreichenden Bestimmung der definitorischen Elemente von ›Handlung‹ wird hinsichtlich ihrer systematischen Relevanz im Zusammenhang von ethiktypologischen Reflexionen nicht selten ganz vernachlässigt oder nur unzureichend beachtet. Ich werde mich im Folgenden primär einer allgemeinen Festsetzung der Begriffe der ›Handlung‹ und der

Bei diesen Anforderungen handelt es sich wohlgemerkt um nichts mehr als um eine transparente Einführung der Begriffe ›Handlung‹ und ›Handlungsfolge‹.

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Resümee

›Handlungsfolge‹ innerhalb des modernen Kontextes und nicht einer Bestimmung der handlungstheoretischen Grundbegriffe bei Kant widmen, da es trotz des Vorliegens diesbezüglicher Arbeiten 42 strittig ist, inwieweit man bei Kant von einer ausgearbeiteten Handlungstheorie sprechen kann. Zudem greift auch der übrige begriffssystematische Rahmen der vorliegenden Untersuchung mit den Begriffen der ›Deontologie‹ und des ›Konsequentialismus‹ auf theoretische Konzeptionen zurück, die einem aktuellen Diskussionskontext entstammen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es keinerlei Berührungspunkte zwischen den hier skizzierten Vorstellungen und gewissen handlungstheoretischen Prämissen Kants gibt. Auch wenn im Folgenden Handlung und Handlungsfolge grundsätzlich unabhängig von Kant behandelt werden, ist es doch ratsam, insbesondere die entsprechenden Reflexionen Kants speziell zur moralischen Handlung sowie deren Grundlagen quasi als regulative Idee für die eigene Begriffsbildung im Blick zu behalten, da vor allem die Idee einer genuin moralisch qualifizierten Handlungskausalität sowie Handlungsakte wie derjenige der Selbstgesetzgebung besondere Herausforderungen an handlungstheoretische Rekonstruktionen 43 darstellen. Im Kontext rational-handlungstheoretischer Reflexionen 44 sind mindestens vier Strukturmomente für eine Bestimmung der Elemente eines Handlungsakts konstitutiv: 1. das Subjekt der Handlung, 2. die Intention des Subjekts, 3. der Akt des Handlungsvollzugs, 4. die Konsequenzen des Handlungsvollzugs. 45 Die vorgängige philosophische Basisdistinktion ist dabei diejenige zwischen einer Handlung und einem Ereignis (bzw. zwischen Handlung und Verhalten), wobei man sich hinsichtlich der Relationsbestimmung dieser beiden Elemente entVgl. Kaulbach 1978; Willaschek 1992; Scarano 2002. Insofern man die kantische Autonomie als eine konkrete selbstreferentiell-nomothetische Handlung und nicht als eine zur moralischen Handlung zwar befähigende, selbst jedoch eher z. B. als gegebene Verfasstheit zu beschreibende Idee versteht, stellt sich Kant-immanent unmittelbar das Problem der Zweckbezogenheit dieser Autonomieakte, da Kant eine bestimmte Form von handlungstheoretischer Teleologie vertritt, indem er jede Handlung als auf einen Zweck bezogen auffasst; vgl. zum Problem von Handlung und Selbstreferenz Kapitel VI.1 dieser Studie. 44 Vgl. zu den Differenzen von deskriptiven, normativen, rationalen und analytischmetaethischen Handlungstheorien: Poser 1982, S. 19 ff. 45 Vgl.: Schwemmer 1987, S. 194. Schwemmers konstruktivistische Kant-Rekonstruktion wird nur eine untergeordnete Rolle in vorliegender Arbeit spielen können; vgl. jedoch dazu: Rösler 1980, bes. S. 38 ff. 42 43

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scheiden muss, welchen kausalen Status Intentionen besitzen. 46 Eine Handlung ist m. E. kausal auf einen intentionalen Akt eines Handlungssubjekts zurückzuführen, während dagegen ein Ereignis ein nicht-intentionales Geschehen darstellt. 47 Intentionalität verstehe ich dabei grundsätzlich nicht nur als formale Gerichtetheit des Bewusstseins, sondern als eine im weitesten Sinne gegenständlich ausgerichtete Willensstruktur, 48 ohne deren Einbezug keine adäquate Handlungsbeschreibung und -erklärung geleistet werden kann. Ohne Berücksichtigung der Intentionalität ist es aussichtslos, eine Handlung als gezielten Akt kategorial von einem zufälligen Naturereignis zu unterscheiden, ihre askriptive Dimension 49 zu berücksichtigen und somit mit der moralischen und juristischen Zurechnungsfähigkeit die dem Menschen zugehörige Wesenseigentümlichkeit 50 zu rechtfertigen bzw. eine derartige Rechtfertigung begriffstheoretisch zu legitimieren. In diesem Kontext gehe ich dementsprechend von dem schon in anderer terminologischer Gestalt von Aristoteles präsupponierten Sachverhalt aus, dass Gründe im Rahmen von kausalen Funktionsrelationen als spe-

Vgl. zur Kontroverse zwischen Kausalisten und Intentionalisten: Apel 1979; Aquila 1977. 47 Ich schließe mich damit hinsichtlich des kausaltheoretischen Status von logischen Gründen, aber nicht in allen Aspekten dem intentionalen Handlungsbegriff Davidsons an; vgl.: Davidson 1998, S. 21 Anm. 2. Vgl. dazu: Bratman 1985, S. 13–26. Vgl. darüber hinaus zur Intention als innerem Aspekt des Handelns im Unterschied zum Verhalten: Wright 1974, S. 85 ff. 48 Der Terminus der ›Intentionalität‹ ist in der modernen Philosophie immer noch recht weitgehend durch sein ursprünglich von Brentano inspiriertes Verständnis und die von Husserl geprägte Form als ›Bewusstsein von etwas‹ bestimmt; vgl.: Husserl 1992, S. 188. Zwar scheint mir diese formale Auffassung von Intentionalität in ihrer Allgemeinheit durchaus anschlussfähig zu sein, doch erweist sich der ältere, in der mittelalterlichen Philosophie etablierte Intentionalitätsbegriff aufgrund seiner stärkeren Integration von voluntativen Konnotationen als in handlungstheoretischer Perspektive fruchtbarer, da man hinsichtlich der Intention als bloßer Gerichtetheit des Bewusstseins mit Höffe auf den Sachverhalt verweisen muss, dass sich diese Eigenschaft auch schon bei vormenschlichem Verhalten finden lässt und sie somit nicht das mit dem menschlichen Handeln assoziierte Moment der freien Willensbestimmung umfasst; vgl.: Höffe 1982, S. 250 f. 49 Vgl.: Hart 1948–1949, S. 171–194; vgl. zu Hart: Pitcher 1977. Der Askriptivismus wurde zwar auch als Lösungsstrategie für das Problem mentaler Kausalität entwickelt, doch beziehe ich mich hier bewusst nur auf den Aspekt der Zuschreibungsmöglichkeit von Handlungen und vertrete den Askriptivismus nicht als alternative Handlungstheorie. 50 Vgl.: Höffe 1982, S. 249. 46

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Resümee

zifische Form rationaler 51 Intentionalität als Handlungsursachen fungieren können. 52 Zudem ist es plausibel, zwischen einer inneren und einer äußeren Handlung zu differenzieren, wobei erstere allgemein als Denkhandlung im Sinne der Konstitution mentaler Akte (logischer Operationen oder Willensakte) und letztere als außenweltliche Effektivität beschrieben werden kann. Offenkundig ist hier der interne Zusammenhang beider Handlungsformen, da man zumindest bei einem in weitestem Sinne als rational zu bezeichnenden Akteur von einer der äußeren Handlung vorhergehenden inneren Handlung der Zwecksetzung oder Intentionalitätsstrukturierung ausgehen kann. 53 De facto lassen sich die Folgen einer Handlung nicht immer präzise vom Handlungsakt selbst unterscheiden, begrifflich scheint dies vor dem Hintergrund eines intentionalen Handlungsbegriffs allerdings insofern hinreichend möglich zu sein, als alles dasjenige, was sich als kausal bedingte Wirkung eines eine bestimmte Intention verwirklichenden Handlungsvollzugs erweist, zu den Handlungsfolgen gezählt werden muss. Die die Handlung kausal konstituierende Intention ist dementsprechend nicht nur das allgemeine Kriterium für die Differenzierung von Handlung und Handlungsfolge, sondern auch für die weitere Unterteilung der Handlungsfolgen in intendierte und nicht-intendierte Ereignisse oder Handlungen. 54 Die Bestimmung der intendierten HandUnter dem Prädikat ›rational‹ verstehe ich an dieser Stelle nicht nur moralische, sondern auch instrumentelle Rationalität. 52 Indem ein Grund als Ursache eines Handlungsvollzugs fungieren kann, übernimmt er die Funktion eines Handlungsmotivs. 53 Die Problematik der neurophysiologischen Determiniertheit von Handlungen und somit in einer bestimmten Perspektive die Frage nach der Existenz von Handlungen überhaupt kann hier nicht behandelt werden, sondern ich gehe an dieser Stelle aufgrund sinnlogisch fundierter Prämissen davon aus, dass die Unterscheidung zwischen Handlung und Ereignis nicht nur zulässig, sondern geboten ist: Die Negation der Existenz von Handlungen führt vor dem Hintergrund einer entsprechenden tertium-non-daturSituation (wenn gilt: :Handlung ! Ereignis) zur Selbstaufhebung des Geltungsanspruchs der Negation, da diese unter Annahme ihrer Richtigkeit nur ein Ereignis mit der logischen Verbindlichkeit eines Blitzes sein kann. 54 Neben der Annahme von bewussten handlungsinitiierenden Intentionen kann auch das Vorliegen unbewusster Intentionen in Betracht gezogen werden. Dies mag zwar möglicherweise berechtigt sein, doch hängt die These der moralphilosophisch-handlungstheoretischen Relevanz unbewusster Intentionen zum einen von bestimmten psychologischen Prämissen bzw. in letzter Konsequenz von einer m. E. zumindest tendenziell spekulativen Theorie unbewusster psychischer Prozesse und deren kausalen Eigenschaften ab, zum anderen ist unklar, inwiefern die Klassifizierung unbewusster 51

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Grundbegriffe der Ethiktypologie

lungsfolgen muss sich zwar ebenfalls an den jeweiligen Handlungsintentionen ausrichten, doch erweist sich die Unterscheidung von intentional fundierter Handlung und intendierten Handlungsfolgen als subtil, da die Unterscheidung von Handlung und Handlungsfolge nicht mehr anhand formaler (intentional/nicht-intentional), sondern materialer Gesichtspunkte (welche Intention?) getroffen werden muss. 55

II.4.2 Mikro- und makroanalytische Reflexionsebenen der ethiktypologischen Strukturbestimmung: Element und Struktur Eine der Folgen der methodischen Unterbestimmtheit der ethiktypologischen Klassifikation 56 bei den genannten Autoren besteht in einer mangelnden (nur impliziten) oder ganz fehlenden Differenzierung psychischer Akte erstens als Handlung und zweitens zudem als moralisch zurechenbare Handlung überhaupt plausibel ist. 55 Darüber hinaus besteht die Problematik der präzisen Trennung der Handlungsfolgen von Ereignissen, welche auf komplex vermittelte Art und Weise mit der Handlung als erstem Moment einer entsprechenden Kausalkette in Verbindung stehen. Prinzipiell existiert die Möglichkeit, eine potentiell unendliche Kausalkette als infinite und sich stets erweiternde Menge von Handlungsfolgen zu begreifen, so dass die Folgen einer Handlung in einem streng logischen Sinne nicht nur unabsehbar wären, sondern zudem unendlich perennieren würden. Diese Problematik besteht jedoch nicht hinsichtlich der Abgrenzung von Intention und kausaler Handlungsfolge, sondern betrifft die Relationsbestimmung von verschiedenen Handlungsfolgen untereinander und muss hier nicht weiter beleuchtet werden. 56 Als Beispiel sei zur Veranschaulichung in aller Kürze die These Leists genannt, die allgemein darin besteht, dass Kants Ethik den teleologischen Modellen zugerechnet werden müsse, da ihr der Begriff des Willens zugrunde liege und ein Wille immer (qua definitionem) auf einen Zweck hin ausgerichtet sei. Diese These ist nun zwar durchaus prüfenswert und kann sich zudem auf ein gewisses Textfundament berufen, doch impliziert sie eine Reihe von Antworten auf explizit bei Leist gar nicht gestellte und daher nicht erläuterte Fragen: Ist es sinnvoll bzw. zulässig, den ethiktypologischen Status einer Ethik allein anhand des Rekurses auf einen einzigen Begriff zu bestimmen? Falls ja: Auf welcher Reflexionsebene müsste sich dann dieser Begriff bei dem jeweiligen Ethikmodell finden lassen, um derart konstitutiv für die definitive Bestimmung des Ethiktyps sein zu können? Müsste man den Willensbegriff als auch begründungstheoretisch primäres Konzept der kantischen Ethik interpretieren, um ihm berechtigterweise den rekonstruktionstheoretischen Status des ethiktypologisch ausschlaggebenden Strukturmoments zuerkennen zu können? Falls nein: In welche Art von systematischer Relation müsste der Willensbegriff eingebunden sein, um dennoch seine ihm von Leist zugeschriebene Rolle spielen zu können und welche geltungstheoretische Stellung müsste ihm dann dabei zuerkannt werden? Am Beispiel der These Leists kann, an das

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zwischen makro- und mikroanalytischer Reflexionsebene. Dieser Umstand muss im konkreten Fall nicht notwendig zu einer inadäquaten Typbestimmung führen, doch erweist sich diese begriffliche Differenzierung insofern als sachdienlich, als durch sie auch subtilere und andernfalls vielleicht implizit bleibende Gewichtungsfragen bewusst gemacht (nicht notwendigerweise beantwortet) werden können. Die Differenzierung in makro- und mikroanalytische Reflexionsebenen besitzt also primär eine heuristische und keine streng logische Funktion. Sie ist dennoch keine letztlich entbehrliche Spitzfindigkeit, da sie z. B. im Kontext der Analyse der These der ethiktypologischen Transkategorialität einer Theorie erlaubt, die systematische Genese dieser These anhand der Prüfung der jeweiligen Differenzierung und Gewichtung der mikrostrukturellen Signifikanzen (Teilthesen) mit größtmöglicher Genauigkeit zu rekonstruieren. Unter der makroanalytischen Perspektive verstehe ich die umfassende Gesamtklassifikation einer Ethik als deontologisch, konsequentialistisch etc., d. h. das charakteristische Resultat einer ethiktypologischen Makroanalyse besteht in einer These über den jeweils vorliegenden Ethiktyp. Diese übergeordnete Analyseperspektive fokussiert die systematischen Relationen aller typologisch relevanten Merkmale einer Ethik und ermöglicht somit eine kohärenzstiftende Gesamtschau der typologischen Super- bzw. Makrostruktur. Dagegen wird auf der Ebene der mikroanalytischen Reflexion eine Ethik nicht als ganze klassifiziert, sondern nur einzelne ihrer Komponenten und damit ihre Mikrostruktur. Hinsichtlich der typologisch relevanten Komponenten einer Ethik muss man auf mikroanalytischer Ebene zwischen Elementen einerseits und Strukturen andererseits unterscheiden, wobei die Elemente in Form von Begriffen die kleinsten typologisch relevanten Strukturkomponenten einer Theorie darstellen. 57 Ethiktypologische Mikrostruktusoeben Gesagte anschließend und zugleich darüber hinausgehend, weiter gefragt werden: Unterscheidet Leist z. B. zwischen teleologischen Elementen und Strukturen und lässt damit die Möglichkeit komplexer Mischstrukturen offen, oder besteht die implizite Vorannahme darin, dass eine bestimmte Superstruktur z. B. eines Arguments oder überhaupt einer mehrere Elemente umfassenden Gedankensequenz durch den teleologischen Charakter allein schon eines ihrer Elemente diesen Charakter automatisch oder unter Berücksichtigung von bestimmten (ebenfalls näher zu bestimmenden) Zusatzannahmen quasi übernimmt? 57 Als Beispiel für ein deontisches Element kann zur Veranschaulichung der Begriff der A

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ren hingegen müssen mindestens zwei Begriffe umfassen und einen Gehalt aufweisen, welcher sich auf die systematische Relation zwischen den Begriffen bezieht. Eine typische mikroanalytische Struktur ist daher eine These oder ein Argument. Als charakteristische Struktur einer deontologischen Ethik kann die Behauptung des Vorrangs von Pflichten vor Zwecken, als diejenige einer konsequentialistischen Ethik die These der moralischen Bedeutsamkeit der Handlungsfolgen genannt werden. Bei der Bestimmung eines Ethiktyps ist wichtig, wie und warum die Elemente und Strukturen einer Theorie als deontisch etc. identifiziert werden und zu der entsprechenden makrostrukturellen Klassifikation führen sollen. 58 Pflicht, als exemplarisches teleologisches Element derjenige des Zwecks herangezogen werden. 58 Bei einer Betrachtung der Vorgehensweise der Präsentation der neueren ethiktypologischen Thesen zur kantischen Ethik zeichnet sich die Tendenz ab, die Frage nach dem kantischen Ethiktyp eher en passant und ohne eingehendere Darstellung der relevanten methodischen und teilweise auch begrifflichen Prämissen zu beantworten. Zwar muss Autoren wie Herman, Baumanns oder Guyer zumindest partiell eine gewisse Vorsicht hinsichtlich der eigenen Positionierung im Rahmen der ethiktypologischen Diskussion attestiert werden, doch gewinnt man zuweilen den Eindruck, dass schon grundlegende Differenzierungen wie diejenige zwischen metaethischen und genuin ethischen Reflexionen Kants nur ansatzweise oder gar nicht durchgeführt werden. Abgesehen davon, dass die jeweils vorherrschende Bedeutung der verwendeten ethiktypologischen Klassifikationsbegriffe teilweise nur mittels einer Nachzeichnung des Begriffsgebrauchs durch die Autoren erschlossen werden kann, bleibt häufig im Hintergrund, welche konkrete Funktion und Bedeutung die ethiktypologischen Thesen besitzen sollen und vor allem, wie man überhaupt genau zu ihnen gekommen ist. Diese Fragen müssten keineswegs immer mit strenger Verbindlichkeit beantwortet werden, damit eine ethiktypologische These als hermeneutisch interessant oder heuristisch fruchtbar bezeichnet werden kann, doch scheint mir der entscheidende Punkt vielmehr derjenige zu sein, dass das Fehlen schon allgemeiner Grundlagenexplikation als ein Mangel an Problembewusstsein gedeutet werden kann und zudem eine möglichst effektive Diskussion der jeweiligen Sachprobleme erschwert. Damit stelle ich wohlgemerkt und ausdrücklich nicht die Behauptung auf, dass es einer allgemein normierten oder dogmatisch-schulmäßigen Sichtweise auf abstrakt-methodologische Fragen der ethiktypologischen Analyse oder Thesenkonstruktion und -rechtfertigung bedarf, um entsprechende Diskurse sozusagen ›von oben‹ zu reglementieren. Jedoch scheint es allein schon diskurspragmatisch durchaus von Vorteil zu sein, die jeweils bestehenden Klassifikationsprämissen wenigstens ansatzweise transparent zu machen und damit einer direkteren und weniger spekulativ anmutenden Diskussion als ein sie bereicherndes Element bereit zu stellen. Während Broad, Frankena und die anderen in dieser Studie relevanten Ethiktypologen viel Nützliches und Maßgebliches über eine möglichst trennscharfe ethiktypologische Begrifflichkeit zu sagen haben, fällt auf, dass dies in keinem Verhältnis zu ihren Äußerungen

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Grundsätzlich kann man die Bestimmung des Typs einer Ethik im Ausgang sowohl von nur einem Element als auch von komplexen Strukturen vollziehen. In der Diskussion um den kantischen Ethiktyp sind beide Extreme vertreten: Während Leist allein aufgrund des kantischen Willensbegriffs eine teleologische Klassifikation für angemessen hält, geht Wetterström umgekehrt vor und klassifiziert verschiedene Elemente und Strukturen auf jeweils unterschiedliche Weise. 59 Die innere Logik der ethiktypologischen Klassifikation durch die Einteilung in deontologische, teleologische und konsequentialistische Modelle beruht allerdings darauf, durch den Verweis auf Strukturen und nicht auf Elemente gerechtfertigt zu werden, da es zur Differenzierung dieser typologischen Modelle einer Analyse der spezifischen Verhältnisbestimmung der Relevanz von Begriffen bedarf.

II.4.3 Makroanalytische Klassifikationskategorien: Die Grundbegriffe der Ethiktypologie im kritischen Diskurs Broads Begriffspaar ›deontologisch/teleologisch‹ ist schon von verschiedenen Seiten kritisiert und hinsichtlich seiner Praxistauglichkeit bezweifelt worden, 60 stellt jedoch trotz seiner Ergänzungsbedürftigkeit ein sinnvolles begriffliches Instrumentarium für eine tragfähige ethiktypologische Klassifikation dar. Deontologische und teleologische/konsequentialistische Theorien treten zwar oft als Mischformen auf, könzu den methodischen Fragen der typologischen Analyse steht. Nach diesen Autoren müsste man wohl zugeben, dass es eine theoretisch ausgearbeitete und gegenüber Alternativen als überlegen ausgewiesene Methode der angemessenen Bestimmung von Ethiktypen eigentlich gar nicht gibt. Kurz gesagt: Das ›Wie‹ der ethiktypologischen Analyse ist im Gegensatz zu ihrem ›Was‹ – vorsichtig ausgedrückt – unterbestimmt. Die alleinige Bestimmung der Struktur eines Ethiktyps impliziert noch nicht die Bestimmung der rechten Art und Weise, wie man im Rahmen der Analyse einer konkreten Ethik diese dem entsprechenden Theorietyp zuordnet. So kann man z. B. problemlos damit übereinstimmen, dass deontologische Ethiken Pflichtbestimmungen den Primat einräumen, doch welche Vorrangsbedingungen im konkreten Fall erfüllt sein müssen, damit ein solcher Befund konstatiert werden kann, ist weniger eindeutig. 59 Vgl.: Wetterström 1986, S. 226 f. 60 Annas diagnostiziert z. B. hinsichtlich des Teleologiebegriffs das Problem, dass die antike, akteurzentrierte Ethik zwar oft als teleologisch bezeichnet, dieser Terminus jedoch in aktuellen Kontexten oft auf akteurneutrale Zwecke bezogen wird; vgl.: Annas 1993, S. 34 f. A

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nen aber nicht vollständig aufeinander reduziert bzw. zurückgeführt werden. 61 Auch wenn man mit Rawls unter ›Intuitionismus‹ keine epistemologischen Implikationen mitdenken will, 62 scheint mir die broadsche Distanzierung von der Terminologie Sidgwicks sinnvoll zu sein, da gerade die Existenz von sowohl deontologischen als auch teleologischen Formen des Intuitionismus 63 die systematische Unschärfe dieses Konzepts als ethiktypologischem Klassifikationsbegriff verdeutlicht. Der fundamentale Unterschied von deontologischen und teleologischen Theorien kann mit Broad erstens an der jeweils unterschiedlichen moralischen Qualifizierung der Handlungsfolge 64 festgemacht werden und zweitens an dem vor allem auch von Kutschera betonten Sachverhalt, dass deontologische Theorien im Gegensatz zu teleologischen Ethiken in erster Linie allgemeine Handlungsweisen und nicht Einzelhandlungen als solche moralisch qualifizieren. Allerdings ist auch die teleologische Beurteilung allgemeiner Handlungsweisen möglich 65 und sollte daher gegen die etwas einseitige Sichtweise Kutscheras hervorgehoben werden. Deontologische Ethiken beurteilen die einzelnen Handlungsakte hinsichtlich ihrer Entsprechung zur jeweils moralisch gebotenen Handlungsweise, 66 während bei teleologischen Ethiken oft Einzelhandlungen samt ihrer Folgen Gegenstand der moralischen Qualifikation sind. Zudem ist es bei deontologischen Theorien mindestens ebenso entscheidend bzw. für sie charakteristisch, dass die moralisch gebotenen Handlungsweisen nicht aufgrund ihrer Folgen,

Zwar kann diese These hier noch nicht begründet werden, doch wird dies im Schlusskapitel IX dieser Untersuchung geschehen. 62 Vgl.: Rawls 1998, S. 53. 63 Vgl.: Rawls 1998, S. 59. Nagel vertritt z. B. eine deontologische und zugleich intuitionistische Ethik; vgl.: Nagel 1986, S. 176; vgl. dazu: Wolf/Schaber 1998, S. 52. 64 Vgl.: Wolf/Schaber 1998, S. 51. 65 Ob diese Möglichkeit aktualisiert wird, hängt vor allem von der Relation von gebotenem Zweck und den jeweils bestehenden Realisierungsmöglichkeiten dieses Zwecks ab: Wenn z. B. ein bestimmter Zweck nur mittels einer einzigen Handlungsweise (welche auch die Annahme einer Geisteshaltung bzw. Gesinnung sein kann) erfolgreich zu erreichen ist, erweist sich diese Handlungsform als gut, da sie als Mittel zur Verwirklichung eines Zwecks fungiert. Aufgrund der Komplexität der Empirie ist besagtes Szenario allerdings wohl nur in Ausnahmefällen realistisch. 66 Nach Philips muss man in einer deontologischen Ethik dementsprechend Standards der richtigen Handlung definieren können, ohne auf die Begriffe ›gut‹ und ›böse‹ zu rekurrieren; vgl.: Philips 1994, S. 121 Anm. 9. 61

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sondern hinsichtlich ihrer Entsprechung zu einem obersten Prinzip moralisch richtig sind. Allerdings muss in diesem Zusammenhang auf zwei Unzulänglichkeiten des broadschen Konzepts hingewiesen werden: Zum einen ist es fraglich, ob man ›teleologische Ethik‹ sinnvollerweise als deontologischen Ethiken gegenüberstehende klassifikatorische Grundkategorie betrachten sollte, oder ob diese Funktion nicht besser vom Terminus ›konsequentialistisch‹ erfüllt würde. Diesbezüglich ist die Relevanz des Einwands Birnbachers zu beachten, die ursprünglich bei Broad etablierte Definition dieser beiden Termini sei dahingehend zu modifizieren, dass ›deontologisch‹ und ›teleologisch‹ als konträre und nicht als kontradiktorische Begriffe aufgefasst werden müssten. Der bloße Verweis auf die Zweckorientierung einer Ethik ist in der Tat nicht hinreichend, da nicht zwischen moralischen und nicht-moralischen Zwecken und entsprechenden Handlungsfolgen differenziert wird. Allerdings scheint mir dies in Birnbachers Vorschlag, ›Konsequentialismus‹ als Oberbegriff für teleologische und nicht-teleologisch strukturierte Ethiken zu benutzen, welche die moralische Bewertung einer Handlung an deren Folgen festmachen, 67 seinerseits nicht differenziert genug beachtet zu werden: Diese Einteilung in teleologischen und nicht-teleologischen Konsequentialismus unterscheidet zwar natürliche von genuin moralischen Zwecksetzungen, beide Formen der Zweckorientierung werden jedoch stets als mit der konstitutiven Berücksichtigung der Handlungsfolgen verbunden gedacht. Diese letzte Sicht wird bereits bei Broad eingenommen, der teleologische Ethiken prinzipiell als nicht nur zweck-, sondern ohne zusätzliche Rechtfertigung als auch folgenorientiert charakterisiert. 68 Diese Perspektive auf das Verhältnis von Zweckverfolgung und Konzentration auf den moralischen/nicht-moralischen Wert allein oder zumindest primär der Handlungsfolgen ist zwar nun nicht aufgrund einer unmittelbar aus ihr resultierenden Widersprüchlichkeit problematisch und von daher grundsätzlich zulässig, doch muss man kritisch fragen, ob die Betrachtung der Handlungsfolgen In seiner Untersuchung zur Relation von Zwecken und Prinzipien bei Kant geht Atwell umgekehrt vor, indem er Konsequentialismus als eine Form moralischer Teleologie auffasst; vgl. Atwell 1986, S. 1 Anm. 1. 68 Diese Sicht findet sich auch in neueren Ethik-Handbüchern. So bestimmt z. B. Birnbacher den Utilitarismus als teleologische Ethik, weil in ihm der moralische Wert von Handlungen anhand des außermoralischen Werts ihrer Konsequenzen bestimmt werde; vgl.: Birnbacher 2002, S. 96; vgl. ebenfalls: Anzenbacher 1992, S. 32, S. 70 und S. 264. 67

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strukturell notwendig mit einer zweckorientierten Ethik verbunden ist. Dies scheint mir nicht der Fall zu sein, denn es ist durchaus denkbar, dass man einen Zweck allein mit einer Handlung verfolgt, deren moralischer Wert unabhängig von möglichen Konsequenzen ist. Als Beispiel sei in aller Kürze die in dieser Studie behandelte kantische Ethik angeführt: Wenn man Kant dergestalt rekonstruiert, dass die Achtung des Selbstzwecks der Person/der Menschheit den höchsten zu verfolgenden moralischen Zweck darstellt und dieser Zweck auf dem Wege einer sittengesetzlich adäquaten Maximenbildung des Akteurs angestrebt werden kann, impliziert dies keinesfalls eine moralphilosophisch relevante Rolle der konkreten Folgen dieser Handlung der Maximensetzung, sondern mit der Maximenwahl selbst (und in letzter Konsequenz auch mit entsprechend geleiteten Einzelhandlungen) findet bereits eine handelnde Verfolgung des besagten Zwecks statt. Dies gilt aufgrund des Umstandes, dass nach Kant die auf die Verwirklichung des Selbstzwecks der Menschheit ausgerichtete und aus Achtung vor ihm vollzogene Handlung selbst schon eine Form der Verwirklichung des durch sie angestrebten Zwecks darstellt. Es mag zwar zutreffen, dass eine bestimmte moralisch adäquate Maximenwahl zusätzlich zu ihrer an sich bestehenden moralischen Adäquatheit die Eigenschaft besitzt, weitere moralisch geforderte Maximensetzungen zu begünstigen, doch wenn diese Maxime allein oder primär aufgrund ihrer letztgenannten Eigenschaft moralische Dignität besäße, könnte man zwar immer noch von einer teleologischen Ethik sprechen, doch handelte es sich in diesem letzteren Fall um eine konsequentialistische Ethik. Die Verfolgung eines moralischen Zwecks kann mit anderen Worten sowohl unmittelbar durch bestimmte Handlungen als auch mittelbar durch Handlungen mit bestimmten (subjektiv bzw. objektiv erwartbaren/erwarteten) kausalen Folgen geschehen, wobei es sich im ersten Fall zumindest vorzugsweise um durch die Vernunft gegebene (apriorische) Zwecke, im letzteren dagegen um empirische Zwecke handelt, da die aus der Tradition der Ethik bekannten empirischen Zwecke wie Glück, Lust oder Wohlbefinden nur schwerlich in einer exponierten Handlung unmittelbar verwirklicht, sondern über den Weg von vermittelnden Tätigkeiten oder Erfahrungen angestrebt werden können. Während Broad von der grundsätzlichen Folgenbezogenheit 69 des moralischen Werts in teleologischen Ethiken ausgeht und 69

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Auch nach Kutschera wird der Wert einer Handlung im Kontext teleologischer Theo-

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auch Birnbacher in der jüngeren Diskussion alle zweckbezogenen Ethiken unter die konsequentialistischen Modelle subsumiert, muss – auch und gerade im Hinblick auf die Subtilität der Struktur allein schon der kantischen Ethik – schärfer zwischen teleologischen und konsequentialistischen Ethiken unterschieden werden. 70 Zweitens ist die begriffliche Grunddifferenzierung Broads dahingehend ergänzungsbedürftig, als er hinsichtlich deontologischer Theorien terminologisch nicht klar genug zwischen Handlungs- und RegelDeontologismus differenziert, obwohl er den betreffenden Sachverhalt durchaus anspricht. 71 Hier muss man mit Frankena über Broad hinausgehen, um stärker apriorisch orientierte Modelle deontologischer Provenienz von empirienahen Varianten abgrenzen zu können. Frankena führt noch ein weiteres Unterscheidungsmerkmal bzgl. deontologischer und teleologischer Ethiken an: Ihm zufolge implizieren teleologische Theorien stets ein Maximierungsprinzip, während deontologische Ethiken solchen Erwägungen gegenüber entweder indifferent seien oder zumindest nicht in konstitutiver Art und Weise von solchen Prinzipien abhingen. 72 Dagegen ist einzuwenden, dass z. B. die Ethik Epikurs aufgrund ihrer zweckorientierten Struktur einerseits allgemein als teleologisch bezeichnet werden kann, 73 andererseits jerien nach Maßgabe des Werts ihrer Konsequenzen bestimmt, doch könne zu letzteren auch der Handlungssachverhalt selbst gezählt werden, sodass hier ein weites Verständnis des Folgenbegriffs vorliegt; vgl.: Kutschera 1982, S. 64; vgl. darüber hinaus zum inklusivistischen Folgenbegriff des Konsequentialismus: Skorupski 1999, S. 54. 70 Die hier unterstützte Differenzierung zwischen teleologischen und konsequentialistischen Ethiken findet sich ebenfalls angedeutet in: Höffe 2002, S. 193. Sie impliziert wohlgemerkt nicht die These, dass teleologische Ethik in historischer Perspektive nicht auch durch eine graduell unterschiedliche Berücksichtigung der Handlungsfolgen zu charakterisieren wären. Leist zieht eine noch strengere Grenzlinie zwischen klassischer teleologischer Ethik und modernem Konsequentialismus und kritisiert Broads Identifizierung beider Ansätze; vgl.: Leist 2000, S. 218 f.; vgl. ebenfalls: Skorupski 1999, S. 56. Auch Nida-Rümelins Auffassung konsequentialistischer Ethiken rückt nicht den Zweck-, sondern den Konsequenzbezug des moralischen Handlungswerts in den Mittelpunkt; vgl.: Nida-Rümelin 1993, S. 85. 71 Von Frankena über Kutschera bis hin zu Birnbacher ist die Unterscheidung zwischen handlungs- und regel-deontologischen Theorien üblich und darüber hinaus nicht nur in der Fachliteratur einschlägig, sondern auch insofern berechtigt, als sich beide Theorien hinsichtlich ihrer Feinstruktur unterscheiden. Allerdings wird diese Unterscheidung auch heute keinesfalls immer berücksichtigt; vgl.: McNaughton 1998, S. 890; vgl. dazu: Werner 2002, S. 123. 72 Vgl.: Frankena 1973, S. 15. 73 Vgl.: Hossenfelder 1991, S. 54. Windelband/Heimsoeth schreiben Epikur aufgrund A

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doch eine Form des asketischen Hedonismus verkörpert, in dessen Rahmen das Prinzip der Lust- oder Genussmaximierung keinerlei konstitutive Funktion innehat. 74 Insofern scheint sich eine Wert- oder Zweckmaximierung nicht einfach analytisch aus der teleologischen Grundstruktur zu ergeben, was jedoch noch nicht die Notwendigkeit der Ablehnung der These Frankenas impliziert, da man immer noch für die Sicht plädieren könnte, dass Epikurs Lusttheorie die Ausnahme von einer sonst gültigen Regel darstellt. Allerdings muss man – nicht nur in Bezug auf Epikur – konstatieren, dass die Annahme eines Maximierungsprinzips als eines entscheidenden Merkmals teleologischer Theorien problematisch ist. Dies gilt zum einen, weil der Bereich primär zweckbezogener Ethiken dadurch unnötig beschränkt würde, 75 zum anderen aufgrund der damit verbundenen systematischen Implikation, dass Maximierungsanforderungen konsequenterweise auch innerhalb deontologischer Theorien als genuin teleologisches Moment bewertet werden müssten und damit z. B. die Sollensforderung der bestmöglichen (maximalen) Erfüllung seiner Pflicht streng genommen jede derartige Ethik als zumindest auch teleologisch ausweisen würde. Die Aufnahme des Maximierungsprinzips als Merkmal speziell teleologischer Theorien würde demnach nicht zu einer Präzisierung des ethiktypologischen Klassifikationsvokabulars, sondern vielmehr zu einer sachlich ungerechtfertigten Vereinnahmung der Maximierungsidee führen, was in letzter Konsequenz eher einer Verwässerung der Differenzen zwischen Maximierungs- oder Optimierungskonzepten seiner Negation der stoischen Weltsicht einen antiteleologischen Zug in der theoretischen Philosophie zu, während der ästhetische Selbstgenuss des Intellektuellen das höchste Gut in der Ethik darstelle; vgl.: Windelband/Heimsoeth 1957, S. 155 bzw. S. 145. 74 Dementsprechend konstatiert Hossenfelder, »daß Epikurs Lustlehre sehr stark vom gängigen Hedonismusverständnis abweicht. Wir finden weder bei ihm selbst noch bei seinen Schülern Hinweise, daß im Garten Rezepte der Lustmaximierung entwickelt worden seien.« S.: Hossenfelder 1991, S. 60. 75 Dies ist der Fall, weil die Maximierungsidee in keiner begriffslogisch notwendigen Relation zur Zweckbezogenheit steht. Das Maximierungsprinzip des Guten wird gemeinhin als Grundaspekt des Konsequentialismus betrachtet; vgl.: Parfit 1984, S. 25. Dennoch gibt es auch Formen des nicht-maximierenden Konsequentialismus, wie er z. B. von Slote vertreten wird; vgl.: Slote 1984, S. 140 und S. 162; Slote 1989. Schaber gesteht darüber hinaus zu, dass eine Maximierungsidee nicht analytisch aus der konsequentialistischen Bestimmung des Guten resultiert; vgl.: Schaber 1997, S. 284; vgl. ebenfalls: Lenzen 2003, S. 164.

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in verschiedenartigen Ethiktypen als ihrer adäquaten Strukturanalyse förderlich wäre. Von Broad und Kutschera lässt sich darüber hinaus ein weiterer für unsere Diskussion wichtiger Punkt lernen: Es ist durchaus sinnvoll und dient der systematischen Übersicht über die Grundstruktur der Ethiktypen, die spezifischen Geltungsansprüche der verschiedenen Ansätze auf entsprechende normative Basisstrukturen zurückzuführen, also auf diejenigen systematischen Verhältnisbestimmungen, die das unhintergehbare und charakteristische Fundament des jeweiligen Ethiktyps ausmachen. Dies mag auf den ersten Blick vielleicht trivial erscheinen, doch besteht insbesondere im Falle der kantischen Ethik die Gefahr, sich durch scheinbar klare und eindeutig zu klassifizierende Oberflächenstrukturen zu einem vorschnellen ethiktypologischen Urteil hinreißen zu lassen. 76 Zudem können berechtigterweise zwar nicht zwingende, jedoch strukturelle Tendenzen indizierende Rückschlüsse von den konstatierbaren inhaltlichen Beziehungen zwischen den verschiedenen Grundbegriffen und den entsprechenden durch sie fundierten Ethiktypen gezogen werden. Diesbezüglich ist einerseits mit Kutschera die broadsche Trennung von Pflicht- und Wertbegriffen zu hinterfragen, andererseits muss auch Kutscheras eigene Zuordnung von deontologischen Ethiken zu Pflichtbegriffen, die in einer gewissen Spannung zu seiner These der werttheoretischen Definierbarkeit der deontischen Begriffe steht, kritisch betrachtet werden. 77 Über das von Broad und Kutschera Genannte hinaus muss allerdings der Unterschied von ethischen und metaethischen Basisbegriffen beachtet werden. So mag zwar einer streng deontologischen Ethik der Pflichtbegriff zugrunde liegen, doch ist dies grundsätzlich kompatibel mit einer metaethischen Axiologie oder Zwecklehre. Insofern dient die typologische Reduktion einer Ethik auf ihre jeweiligen systematischen Fundamente Dieser Umstand kann letztlich plausiblerweise zumindest als ein wichtiger Grund für die lange Zeit vorherrschende Überbetonung allein deontologischer Elemente und die Vernachlässigung axiologischer und teleologischer Fundamentalstrukturen betrachtet werden. 77 Natürlich muss man sich fragen, welchen Sinn der Begriff einer deontologischen Ethik unabhängig von seinem Primärbezug zum Pflichtbegriff überhaupt besitzen soll, woraus sich ein grundsätzlicher Zweifel an einem wirklich eigenständigen Profil dieses Ethiktyps ergibt. Hier zeigt sich das generelle Problem der anerkannten ethiktypologischen Begrifflichkeit, bei einer tieferschürfenden Reflexion zumindest tendenziell die Schärfe ihres Profils einzubüßen; vgl. dazu Kapitel IX.6 dieser Untersuchung. 76

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der Erhellung ihrer Oberflächen-, nicht jedoch zugleich ihrer Tiefenstruktur. Zuletzt bleibt zu klären, was sinnvollerweise unter einer ›axiologischen Ethik‹ zu verstehen ist. Insofern man unter ›Axiologie‹ oder ›axiologischer Ethik‹ einfach nur eine ethische Theorie versteht, die behauptet, dass das menschliche Handeln zumindest in moralischer Hinsicht konstitutiv auf moralische oder nicht-moralische Werte bezogen ist oder sein sollte, könnte man sicherlich beinahe jede Ethik im weiteren Sinne als axiologisch bezeichnen. Allerdings ist ebenso schnell einzusehen, dass eine solche Bestimmung nicht geeignet ist, um das charakteristische Merkmal dieses ethiktypologischen Klassifikationsbegriffs adäquat zu bestimmen, da nicht nur axiologische Ethiken, sondern auch und vor allem teleologische Theorien von Autoren wie Broad und Kutschera als auf Wertbegriffe bezogene Strukturen definiert werden. Dementsprechend macht Kutschera in diesem Kontext darauf aufmerksam, dass einerseits teleologische Ethiken prinzipiell wertethisch fundiert sind, andererseits wertethische Konzepte nicht notwendigerweise teleologisch strukturiert sein müssen. Diese Unzulässigkeit einer Identifikation axiologischer und teleologischer Ethiken impliziert logisch die Möglichkeit nicht-teleologischer Wertethiken und erweist die Dimension axiologischer Bestimmungen als einen eigenständigen Reflexionsbereich. Mit den bisherigen Überlegungen ist jedoch noch nicht aufgewiesen, dass es sinnvoll ist, von ›axiologischer Ethik‹ zu sprechen, denn der Begriff ›axiologisch‹ könnte theoretisch auch nur als untergeordnetes prädikatives Element verstanden werden. Dies würde bedeuten, dass es zwar durchaus gerechtfertigt wäre, innerhalb deontologischer, teleologischer oder konsequentialistischer Ethikkonzepte von spezifisch axiologischen Elementen und Aspekten zu sprechen, nicht jedoch von axiologischen Ethiken als spezieller Form der ethischen Theorie. In der Tat dient die begriffliche Unterscheidung von Axiologie und Ethik nicht zuletzt der Berücksichtigung der Differenz zwischen der oft bestehenden metaethischen Ausrichtung werttheoretischer Reflexionen und der ethischen Theorie samt konkreter moralischer Forderungen. Im Folgenden werde ich in Absetzung von Findlay 78 nicht von ›axiologischer Ethik‹, sondern von ›Axiologie‹ und ›axiologischen Aspekten/Elementen‹ etc. sprechen, wenn es sich um

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Vgl. Findlay 1970.

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den systematischen Kontext der Wertsetzung, -erkenntnis und -anerkennung handelt. Das Ergebnis der kurzen Begriffsdiskussion lässt sich in pointierter Form folgendermaßen zusammenfassen: Deontologische Theorien (D) Strenge deontologische Theorien sind konstitutiv durch die folgenden drei Strukturmerkmale gekennzeichnet: 1. die moralische Qualifikation von Handlungsweisen, 2. die Unabhängigkeit des moralischen Werts der Handlungsweisen von deren Folgen sowie 3. dem situativen Kontext. Nicht-strenge deontologische Theorien lassen dagegen neben dem deontologischen Element der moralischen Evaluation von Handlungsweisen (1.) auch eine untergeordnete moralphilosophische Relevanz von Handlungsfolgen zu, sodass sich der Wert einer Handlungsweise in diesem Fall aus ihrem folgenunabhängigen Selbstwert und demjenigen ihrer Folgen zusammensetzt. Zudem ist zwischen handlungs- und regel-deontologischen Ansätzen zu differenzieren, wobei der Handlungs-Deontologismus die Relation einzelner Handlungen in bestimmten Situationen zu einer moralisch positiv konnotierten Handlungsweise bewertet, während der Regel-Deontologismus 79 eine Handlungsweise als solche moralisch qualifiziert und die jeweilige Einzelhandlung abgesehen von der empirischen Situation bewertet. Das normative Primärelement einer deontologischen Ethik ist ein Prinzip oder ein Gesetz; die maßgeblichen deontischen Grundbegriffe sind diejenigen der Pflicht und des Gebots. Teleologische Theorien (T) Strenge teleologische Theorien bestimmen den moralischen Wert einer Handlung allein im Hinblick auf ihre Eignung zur erfolgreichen Verfolgung bzw. Verwirklichung eines Zwecks. Nicht-strenge teleologische Theorien schränken die Geltung dieses Grundsatzes dahingehend ein, dass in ihnen auch deontische Elemente wie z. B. Pflichten eine untergeordnete Relevanz besitzen können. Im Falle konsequentialistisch-teleologischer Ethiken wird die Zweckdienlichkeit einer Handlung primär oder zumindest auch über den Wert ihrer Folgen beDiesbezüglich kann man durchaus mit Düsing sagen, dass die regel-deontologische Ethik die exponierte Form dieses Ethiktyps darstellt; vgl.: Düsing 2005, S. 11.

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stimmt, während bei nicht-konsequentialistisch-teleologischen Ethiken ein Zweck auch unmittelbar durch die Handlung selbst verfolgt oder verwirklicht werden kann. Die spezifische Charakteristik einer teleologischen Ethik resultiert aus der Beschaffenheit des jeweils vorausgesetzten Zwecks, wobei es zwischen natürlichen und vernünftigen Zwecken bzw. einer Natur- und einer Vernunftteleologie zu unterscheiden gilt. Auch wenn im Kontext solcher Ethikmodelle häufig Maximierungsprinzipien zum Tragen kommen, stellen sie keine notwendige strukturelle Komponente teleologischer Theorien dar. Das normative Primärelement teleologischer Ethiken ist ein Zweck bzw. ein zu verwirklichender wertvoller Zustand; die maßgeblichen teleologischen Grundbegriffe sind diejenigen des Zwecks und des Werts. Konsequentialistische Theorien (K) Strenge konsequentialistische Theorien sind konstitutiv durch das Strukturmerkmal gekennzeichnet, dass sie die moralische Bewertung einer Handlung allein am Wert ihrer Konsequenzen ausrichten. 80 Nicht-strenge konsequentialistische Theorien beziehen im Unterschied zu strengen Varianten auch den Wert der durch eine Handlung instanziierten Handlungsweise (d. h. ein deontisches Moment) in die moralische Beurteilung einer Handlung mit ein. Im Gegensatz zu naturteleologischen Formen des Konsequentialismus sind für vernunftteleologische Varianten nicht die nicht-moralischen, sondern die moralischen Aspekte der Handlungsfolgen für die moralphilosophische Beurteilung von Handlungen relevant. Wie bei deontologischen Theorien gilt es dabei zwischen Handlungs- und Regelkonsequentialismus zu unterscheiden. Axiologie Axiologien zeichnen sich durch das Strukturmerkmal der Analyse von Wertsetzung, -erkenntnis und -anerkenntnis aus. Dabei unterscheiden sich Axiologie und Ethik darin, dass der Fokus der ersteren auf die Frage nach Wertsetzung nicht per se mit der Frage nach den moralisch gebotenen Sollensforderungen identisch ist, sondern vielmehr ein in der Praxis ethischer Theoriebildung meist logisch oder methodisch vorDiesbezüglich ist mit Leist zu konstatieren, dass allein diese Form des Konsequentialismus das eigentlich Charakteristische dieses Ansatzes darstellt, da eine nebengeordnete Betrachtung der Handlungsfolgen wenig aussagekräftig ist; vgl.: Leist 2000, S. 218.

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Resümee

gelagertes Problem thematisiert. Axiologien müssen nicht, können aber teleologisch strukturiert sein. Sie sind durch den Wertbegriff charakterisiert und können als metaethische Begründungsstrukturen sowie als Komponenten einer ethischen Theorie fungieren. Während die Frage nach der ethisch relevanten Werterkenntnis oft in ontologisch verfassten Axiologien behandelt wird, steht die Untersuchung der Wertsetzung meist in systematischer Beziehung zu handlungstheoretischen Reflexionen. Der Problemkomplex der Wertanerkennung verweist dagegen vor allem auf moralpsychologische Kontexte. Hinsichtlich der systematischen Relation von deontologischen Ethiken einerseits und vernunftteleologischen sowie schwach-konsequentialistischen Ethiken andererseits ist rein formal festzuhalten, dass sich die beiden letztgenannten Modelle in gewisser Nähe zum schwachen Deontologismus befinden. Dies resultiert zum einen aus dem Sachverhalt, dass auch die Vernunftteleologie in Übereinstimmung mit deontologischen Modellen die Voraussetzung einer strengen Idee von Moralität als normativen Maßstab für moralisch adäquate Handlungen implizieren kann, zum anderen aus der Anerkennung der partiellen Relevanz von Strukturelementen anderer Ethiktypen für das Theorieprofil des schwachen Konsequentialismus. Im Gegensatz zum häufig anzutreffenden Vorurteil der strukturell begründeten Unfähigkeit teleologischer Theorien zur Etablierung strenger (kategorischer) moralischer Verbindlichkeit ist zu konstatieren, dass dies kein logisch notwendiges Merkmal solcher Modelle ist, 81 sondern z. B. auf Formen eines naturVgl.: Birnbacher 2003, S. 128. Auch ein konsequentialistisch orientierter Ethiker könne bestimmte Pflichten etc. als unbedingt gültig ansehen und dementsprechend verteidigen, auch wenn eine solche Position den geltungstheoretischen Nachteil für den Konsequentialisten habe, die entsprechenden Argumentationsstrukturen fundamental auf nicht-notwendige, da primär empirische Sachverhalte beziehen zu müssen und somit keine streng vernunftnotwendigen Aussagen für sich beanspruchen zu können. Gleiches gelte für moralische Rechte; vgl.: Birnbacher 2003, S. 130. Allerdings bleibt in Birnbachers Argumentation unklar, warum der konsequentialistisch argumentierende Akteur primär auf empirische Sachverhalte verwiesen sein soll, da dies nur den naturteleologischen Konsequentialismus abdeckt. Die Pointe meines Arguments besteht vielmehr darin, dass im Falle eines Vergleichs des praktisch-geltungstheoretischen Status etwa von Vernunftpflichten (Deontologie) und Vernunftzwecken (Vernunftteleologie) etwaige diesbezügliche Differenzen nicht durch den Verweis auf das unterschiedliche normative Potential der deontischen und teleologischen Strukturelemente, sondern allein durch die Zurkenntnisnahme von voneinander abweichenden geltungstheoreti-

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Grundbegriffe der Ethiktypologie

teleologisch orientierten (Handlungs-)Konsequentialismus unter der Präsupposition der praktisch-geltungstheoretischen Kontingenz nichtmoralischer Zwecke zutrifft, wobei besagte Kontingenz zudem naheliegenderweise aus entsprechenden naturontologischen Prämissen resultieren könnte. Eine praktische Vernunftteleologie unterscheidet sich in nichts von einer streng deontologischen Theorie, was ihr strukturell bedingtes Potential zur Instanziierung von absoluter moralischer Verbindlichkeit anbetrifft. Mit dem schmalen Grad zwischen schwachem Deontologismus und schwacher Vernunftteleologie ist dabei m. E. bereits das systematische Reflexionsfeld benannt, welches für eine adäquate ethiktypologische Analyse der kantischen Ethik von vorrangiger Bedeutung sein wird. Die soeben durchgeführte Diskussion der wichtigsten Grundbegriffe der Ethiktypologie erhebt zwar nicht den Anspruch auf Vollkommenheit oder gar Letztgültigkeit, doch scheint sie mir zumindest alle primär relevanten Aspekte der differenzierbaren Elemente der diversen Ethikarten zu benennen und in einem sinnvollen Maß voneinander abzugrenzen. 82 Einige der in unserer Untersuchung noch folgenden Reflexionsschritte werden darüber hinaus indirekt als Tauglichkeitstest dieser Begriffsbestimmungen dienen.

schen Eigenschaften der jeweils vorausgesetzten Vernunfttheorien rekonstruiert werden können. Einen ähnlichen Punkt spricht Kutschera an, wenn er auf die transtypologische Relevanz der jeweils zugrundeliegenden Axiologien verweist; vgl.: Kutschera 1982, S. 70. 82 In diesem Zusammenhang ist zudem hervorzuheben, dass es idealtypische Distinktionen sind, die keineswegs häufig in Reinform in der Praxis ethischer Theoriebildung vorkommen.

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III. Hauptpositionen der ethiktypologischen Diskussion

Jede philosophische Diskussion ist in einen spezifisch strukturierten Rahmen eingebettet, wobei sich die verschiedenen Kontexte hinsichtlich ihres Einflusses und ihrer inhaltlichen Verwobenheit mit dem Diskurs unterscheiden. Die ethiktypologische Kant-Kontroverse stellt dahingehend keine Ausnahme dar und wird nicht selten im Zusammenhang mit der Frage nach dem Status von Gefühlen oder anthropologischen Bedingungen behandelt. Um die systematische Relevanz dieses Rahmendiskurses für die Typologie-Diskussion zu ermitteln, wird er im Folgenden anhand einer allgemeinen thesenorientierten Rekonstruktion skizziert und zur Typologie-Debatte in Beziehung gesetzt.

III.1 Der systematische Kontext der Ethiktypdebatte In vielen philosophischen Lehrbüchern und auch spezielleren philosophischen Abhandlungen dominiert ein bestimmtes, durch spezifische inhaltliche Aussagen charakterisiertes Bild der kantischen Ethik. Zwar wäre die Behauptung, es handele sich dabei um ein einheitliches KantBild im strengen Sinne, simplifizierend und daher falsch, doch lassen sich einige inhaltliche Gemeinsamkeiten ausmachen, die einen gewissen Kern an Überzeugungen bilden, welche immer wieder auch in Detailstudien und nicht zuletzt kritischen Arbeiten zu Kant eine Rolle spielen. 1 Unabhängig von der speziell ethiktypologischen Diskussion werden der kantischen Ethik gemeinhin folgende Eigenschaften zugeschrieben: Sie sei

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Vgl.: Schneewind 1992, S. 309. A

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1. apriorisch, da das oberste Moralprinzip rein aus der Vernunft stammen soll; 2. universalistisch, da das oberste Moralprinzip ausnahmslos für alle Vernunftwesen gelten soll; 3. rigoristisch, da der kategorische Anspruch des Moralprinzips unangesehen jeglicher besonderen Umstände sowohl emotionaler als auch sozialer Natur geltend gemacht werden soll; 4. formalistisch, da allein die gesetzesmäßige Form und kein besonderer Inhalt der Maximen vom Sittengesetz geboten werde; 5. antikonsequentialistisch, da der moralische Wert der Handlung nicht von ihren Folgen, sondern der Willensstruktur bzw. der ihnen zugrundeliegenden Maxime abhinge. Die philosophischen Überzeugungen, die Kant dabei nicht nur in der typologisch orientierten Debatte zugeschrieben werden, lassen sich in Form von bestimmten, an die soeben angeführten Merkmale anschließenden Thesen formulieren, die ich zum Zwecke der Übersicht die Deontologie-These (D), die Formalismus-These (F), die UniversalismusThese (U) und die Rigorismus-These (R) nenne, wobei mir bewusst ist, dass diese Auflistung keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann und die Benennung dieser vier Thesen nicht alternativlos ist. 2 1. Deontologie-These (D): Die kantische Ethik sei eindeutig eine deontologische Ethik, d. h. dass sie – allgemein ausgedrückt – von einem moralphilosophischen Primat des Richtigen (Kategorischer Imperativ, Pflichten) gegenüber dem Guten (Zwecke, Werte) ausgehe. 3 In der kantischen Ethik werde zuerst bestimmt, was zu tun sei, und nachfolgend gemäß diesem Kriterium der Pflichterfüllung aus Pflicht das Gute bzw. eine gute Handlung als ein dem Richtigen gemäßer Akt definiert. Durch diese methodische Vorgehensweise stelle die kantische Ethik einen radikalen Bruch gegenüber der teleologischen antiken Tradition dar, 4 die die ethische Reflexion ganz auf den Begriff des Guten als anzustrebendes Ziel der guten Handlung ausgerichtet habe. Zwar stellt die Deontologie-These bereits eine typologische Position des aktuellen Diskurses und somit streng genommen keine Rahmenthese für diesen Diskurs dar, doch geht es hier nur darum, dass zur klassischen Perspektive auf Kant auch die deontologische Klassifikation gezählt werden muss. 3 Trampota 2003, S. 27 und S. 58 ff.; Nida-Rümelin 1996, S. 20 ff.; Ott 2001, S. 78. 4 Werner spricht von einer ›deontologischen Wende‹, die durch Kant vollzogen worden sei; vgl.: Werner 2002, S. 124. 2

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Der systematische Kontext der Ethiktypdebatte

2.

Formalismus-These (F): Kants Ethik sei formalistisch, 5 d. h. sie abstrahiere auf Prinzipienebene von allen materialen Elementen. 6 Dementsprechend müsse vor allem anderen rein formal bestimmt werden, was zu tun sei. Nur so meine Kant, den apriorischen und somit absolut verbindlichen Charakter seiner praktischen Philosophie wahren zu können. 7 Viele der Anhänger dieser These vertreten zudem die Ansicht, Kants Ethik basiere primär auf dem formalen Kategorischen Imperativ in seiner Version der sogenannten Gesetzesformel, 8 der zufolge alle handlungsleitenden Maximen des Willens als Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung dienen können sollen. Aufgrund dieses Charakteristikums stehe die kantische Ethik in einem gebrochenen Verhältnis zu der durch inhaltliche Zwecksetzungen geprägten Alltagsrealität des Menschen. 9

Brinkmann unterscheidet vier Formen der Formalismus-These: Der logische Formalismus fasse den KI als negatives Kriterium entsprechend dem Nichtwiderspruchsprinzip auf, der prozedurale Formalismus zeichne dagegen eher den Prozess moralischer Reflexion nach, während eine Auffassung des KI als Form einer formalen Heuristik diesen primär als richtungweisenden Kompass und nicht als definitive Entscheidungsinstanz verstehe, und der konstruktive Formalismus in Kants Ethik zeige schließlich, wie man bei einem gegebenen Rahmen von Zwecken und Handlungsmöglichkeiten zu einem integrativen Begriff des Guten gelangen könne; vgl.: Brinkmann 2003, S. 22. 6 Vgl. zum hegelschen Vorwurf der ›abstrakten Unbestimmtheit‹ des Prinzips der formalen Widerspruchsfreiheit als Grundsatz der Pflichtbestimmung: Hegel 2000, S. 252; vgl. dazu: Wimmer 1980, S. 201 f. Die wohl prominenteste und zudem mit einer eigenständigen alternativen Position verbundene Formalismuskritik im letzten Jahrhundert ist bekanntlich von Scheler ausgearbeitet worden; vgl.: Scheler 1921, bes. S. 2 und S. 42; vgl. darüber hinaus: Taylor 1975, S. 85 ff.; Kerner 1990, S. 92 ff.; Ott 2001, S. 78; Anderson 1921, S. 297–307; Jensen 1934, S. 202 f.; Welzel 1962, S. 178; Putnam 2004, S. 27. O’Neill formuliert in ihrem kurzen Rückblick auf die Rezeptionsgeschichte der kantischen Moral- und Gerechtigkeitstheorie mit dem bestehenden Vorwurf der unzulässigen Abstraktheit und Lebensferne der subjekttheoretischen Prämissen Kants einen ähnlichen, wenn auch nicht identischen Punkt; vgl.: O’Neill 2004, S. 60; vgl. allgemein zur Formalismuskritik am Kategorischen Imperativ: Patzig 1983, S. 58. 7 Schönherr-Mann versteht den kantischen Formalismus nicht zuletzt als Reaktion auf historisch-gesellschaftliche Prozesse; vgl.: Schönherr-Mann 2004, S. 17. 8 Eine erwähnenswerte Ausnahme stellt Casas dar, der zwar den KI in den Mittelpunkt der kantischen Ethik rückt und diese deontologisch deutet, zugleich jedoch die herausragende Rolle der Selbstzweckformel vor allem bei der Begründung der Pflichten gegen sich selbst betont; vgl.: Casas 1996, S. 23. Casas stellt dabei die These auf, dass die Pflichten gegen sich selbst sogar ganz allein anhand der Selbstzweckformel und somit ohne die Regulation durch die Universalisierungsformel abgeleitet werden können. 9 In diesem Sinne wirft Hengstenberg Kant vor, dessen Formalismus nötige zu einem 5

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Hauptpositionen der ethiktypologischen Diskussion

3.

Universalismus-These (U): Nach der kantischen Ethik gelten die moralischen Sollensforderungen ausnahmslos für alle Vernunftwesen. Diesbezüglich nehme sie keinen Bezug auf die empirischen Realitäten der menschlichen Psyche, der Gesellschaft und Geschichte. Kant ignoriere den Einfluss von sozialen Umständen und historischen Bedingungen auf das menschliche Leben und insbesondere auf die Konstitution des moralischen Bewusstseins und Verhaltens. Grundsätzlich kann man diese Aussagen in der These zusammenfassen, die kantische Ethik vernachlässige die empirisch-anthropologische (nicht zuletzt die sinnlich-körperliche 10 ) Dimension des Menschen zugunsten der vorausgesetzten universalistischen Idee von Moralität. 11 3.1. Rigorismus-These (R): Als eigenständiger Unterpunkt des eben Genannten kann zudem die Behauptung angeführt werden, dass Kant keinerlei (Selbst-)Wert in der affektiv-emotionalen Seite der menschlichen Natur sehe, 12 sondern diese eher als Problem für die Ausübung von Moralität betrachte. 13 Zudem wird die etwas schwächere These der moralischen Irrelevanz bzw. des außermoralischen Status 14 von Gefühlen in der kantischen Ethik vertreten. Im Ausgang von dieser Annahme wird Kants praktische »Verzicht auf die materiale Fülle verschiedenartigster Wertverwirklichungen«; s.: Hengstenberg 1969, S. 172. 10 Schon August Wilhelm Rehberg, der erste Rezensent der »Kritik der praktischen Vernunft« in der Jenaer Allgemeinen Literatur-Zeitung 1788 und seinerseits eigenständiger Verfechter der kantischen Grundeinsichten aus der »Kritik der reinen Vernunft«, erklärt Kant zum Befürworter einer »Ertödtung der Sinne« und verurteilt diese als den »allerschlimmsten Fanatismus«; zit. in: Schulz 1975, S. 61. Besonders vehement wird die behauptete Abwertung des Körperlichen bei Kant von den Gebrüdern Böhme moniert; vgl.: Böhme/Böhme 1982, S. 383. Nida-Rümelin spricht im Zusammenhang der kantischen Verhältnisbestimmung von Pflicht und Neigung von der »schlechten puritanischen Tradition«, in der seine Terminologie stehe; vgl.: Nida-Rümelin 1996, S. 23. 11 Vgl. dazu die Kritik Bubers, Kant habe die Kernfrage der philosophischen Anthropologie (»Was ist der Mensch?«) nicht beantwortet: Buber 1982, S. 8. 12 Vgl.: Hinman 1994, S. 213. Nach Erkens hat die kantische Ethik Schwierigkeiten mit der Würdigung der Bedeutung der menschlichen (auch moralischen) Gefühle; vgl.: Erkens 1999, S. 228. 13 Vgl. zur unmittelbar moralischen Irrelevanz von Gefühlen bei Kant aus feministischer Sicht: Pauer-Studer 1995, S. 83–93; vgl. ebenso die psychologisierende Deutung Meier-Seethalers in: Meier-Seethaler 1998, S. 56 ff. 14 So seien für Kant Freundschaft und Liebe außerhalb von Moralität zu verorten; vgl.: Nussbaum 1990, S. 50; vgl. zudem: Williams 1978, S. 360 ff.; Okin 1993, S. 307 f.

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Der systematische Kontext der Ethiktypdebatte

Philosophie oft als Form einer unflexiblen, rigoristischen 15 Ethik deklariert, welche in aller Härte z. B. gegenüber dem aus dem moralischen Handeln möglicherweise resultierenden menschlichen Leid am sittengesetzlich Gebotenen festhalte. Diese Charakterisierungen der kantischen Ethik sind grundsätzlich logisch voneinander unabhängig, d. h. dass sich z. B. die Behauptung des Formalismus nicht zwingend aus der Einstufung der kantischen Ethik als deontologisch ergibt, da man sich auch inhaltlich spezifizierte deontologische Ethiken wie z. B. eine dem biblischen Dekalog folgende Morallehre denken kann. 16 Zudem sind deontologische Ethiken prinzipiell durchaus mit der Behauptung der konstitutiven moralphilosophischen Relevanz von Gefühlen und anderen empirischen Sachverhalten kompatibel, da auch ein gefühlsbasierter intuitivistischer Deontologismus widerspruchsfrei denkbar ist. Insofern handelt es sich bei den genannten Eigenschaftszuschreibungen nicht um ein systematisch geschlossenes Interpretationsgebäude, sondern vielmehr um eine Aufzählung generell voneinander unabhängiger, faktisch aber nicht selten zusammen auftretender Aussagen hinsichtlich der Kernmerkmale von Kants prakVgl.: Nida-Rümelin 1996, S. 24; vgl. ebenso: Tugendhat 1993, S. 116 f. Nach Windelbands und Heimsoeths philosophiehistorischem Klassiker habe Kant aus der Idee der Menschenwürde »eine stolze und strenge Moral abgeleitet, welche in der Darstellung seines Alters die Züge des Rigorismus und einer gewissen pedantischen Schroffheit nicht verkennen läßt.« S.: Windelband/Heimsoeth 1957, S. 475. Russell bezeichnet den Kategorischen Imperativ in seinem launigen Durchgang durch die Philosophiegeschichte als »reichlich strenge Forderung« und konstatiert darüber hinaus, dass die kantische Ethik durch »einen leicht abstoßenden Zug kalvinistischer Rechtschaffenheit« charakterisiert sei; vgl.: Russell 1994, S. 331. Lenk versteht Kants Ethik als »rigorose Pflichtenmoralität«, die auch die Möglichkeit von inhumanen Entscheidungen impliziere; s.: Lenk 1998, S. 34; vgl. ebenfalls: Patzig 1983, S. 159 und S. 164. Cassirer differenziert zwischen dem frühen und dem alten Kant, wobei der junge Kant der 60’er Jahre dem Gefühl durchaus noch etwas habe abgewinnen können, beim alten Kant jedoch »nur die strengen Töne des Rigorismus« zu hören seien; s.: Cassirer 1991, S. 42. An gleicher Stelle behauptet er darüber hinaus, dass Kant in Bezug auf das »Glück des Lebens […] nur den Standpunkt der völligen Entsagung« kenne. Diese angebliche kantische Lebensauffassung wird von Hare wiederholt auf dessen rigoristische Erziehung zurückgeführt; vgl.: Hare 1997, S. 148 und S. 155; vgl. Hare 1995, S. 343. Bei Wellmer findet sich schließlich eine Verbindung der F- und R-These, wenn er als Grundlage des kantischen Rigorismus eine formalistische Hypostasierung des Gesetzesbegriffs ausmacht; vgl.: Wellmer 1986, S. 10, S. 12 und S. 39 f.; vgl. allgemein zu den verschiedenen Arten des Rigorismus-Vorwurfs: Wimmer 1990, S. 44 ff. 16 Eine solche Ethik würde man grundsätzlich der Form einer heute in philosophischen Kreisen unpopulären ›divine command theory‹ zuordnen. 15

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tischer Philosophie. Es wäre nun übertrieben, zu behaupten, dass die eben genannten Aussagen sowohl zur Philosophie als auch zur Person Kants durch eine Art paradigmatische Revolution in der Kant-Forschung obsolet geworden und daher in dieser Form aktuell nicht mehr relevant seien. Auch in neueren Veröffentlichungen zu Kants Ethik wird, jeweils in verschiedener Ausprägung und Zielrichtung, auf deren formalen Charakter, 17 die weitgehende Irrelevanz empirisch-anthropologischer Gegebenheiten sowie insbesondere auf ihre deontologische Struktur18 hingewiesen. Dennoch ist unübersehbar, dass sich insbesondere in den letzten drei Jahrzehnten viele Philosophen/-innen affirmativ gegenüber einer Interpretation der kantischen Ethik verhalten, die entweder alle oder zumindest einige der oben genannten Aussagen stark relativiert oder sogar explizit bestreitet. 19 Zwar können diese neueren Werke streng genommen genauso wenig wie die Vertreter des klassischen Kant-Bildes ohne weiteres auf einen inhaltlichen Einheitspunkt gebracht werden, doch teilen sie bestimmte Kritikpunkte am oben skizzierten Interpretationsansatz. Diese Kritik an den vorhin skizzierten, lange tradierten Behauptungen bezüglich der kantischen Ethik lässt sich allgemein in Form der folgenden Thesen zusammenfassen: 1. Kritik der Deontologie-These (KD): Entgegen der verbreiteten Lehrmeinung sei die kantische Ethik keine deontologische Ethik, da sie nicht das für eine solche Klassifikation charakteristische Kriterium der primären Bestimmung des Richtigen unabhängig von der Bestimmung des Guten erfülle. 20 Das Gute (Zwecke, Werte) werde bei Kant nicht einfach von vorgängigen PflichtbestimVgl.: Schefczyk 1995. Vgl.: Trampota 2003, bes. S. 23 ff., S. 58 ff. und S. 106 ff. 19 Vgl. zu dieser Forschungstendenz: Sherman 1989, S. 24. 20 Nach Herman führt Kant den Pflichtbegriff primär ein, um das zentrale Konzept des unbedingt Guten zu erläutern; vgl.: Herman 1993, S. 209. Kants Ethik dürfe insgesamt nicht als deontologisch bezeichnet werden, insofern diese Klassifikation die Behauptung des Primats von Pflichten gegenüber Werten bedeute; vgl.: Herman 1993, S. 210. Guyer weist zwar auf die deontologische Vorgehensweise Kants in der zweiten Kritik hin, vertritt jedoch zugleich die Position, dass Kants Ethik aufgrund ihres Fundiertseins im absoluten Wert der Freiheit streng genommen die Dichotomie von Deontologie und Teleologie unterlaufe, sie dennoch gerechtfertigterweise dem teleologischen Ethiktyp zugerechnet werden könne; vgl.: Guyer 2000, S. 133. Leist sieht dagegen den guten Willen als charakteristisches teleologisches Merkmal der kantischen Ethik und lehnt daher ihre deontologische Interpretation ab; vgl.: Leist 2000, S. 267 f. 17 18

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Der systematische Kontext der Ethiktypdebatte

2.

mungen bzw. dem Kategorischen Imperativ abgeleitet und spiele somit prinzipiell eine nur untergeordnete Rolle, sondern besitze einen bisher nicht oder zumindest nicht ausreichend zur Kenntnis genommenen Status. Deshalb sei es nicht korrekt, Kant als exemplarischen Kritiker von teleologischen/konsequentialistischen Ethiken zu skizzieren. 21 Kritik der Formalismus-These (KF): Die bisher in der Forschung anzutreffende Betonung der formalistischen Elemente der kantischen Ethik sei entweder überzogen oder resultiere aus einem Missverständnis der diesbezüglichen Aussagen Kants. Der Kategorische Imperativ sei entweder nicht das entscheidende Strukturmerkmal der kantischen Moralphilosophie oder, falls dies zugestanden wird, zumindest kein leeres, abstraktes Gebilde. 22 Zudem sei Kant ein Theoretiker, der sich durchaus erfolgreich mit dem Problem der Relation von obersten Moralprinzipien und der vermittelnden, empirisch orientierten Urteilskraft auseinandergesetzt habe. 23 Daher träfe auch die Behauptung der Lebensferne und zudem der Zweckfreiheit nicht zu. 24

Cummiskey 1996, S. 3. Cummiskey hält eine konsequentialistische Kant-Interpretation für die systematisch beste, nicht unbedingt jedoch philologisch exakteste Rekonstruktion; vgl.: Cummiskey 1996, S. 15. 22 Bei Jonas findet sich eine Verbindung der Kritik der Formalismus- und der EmotionsThese, da er die von Kant postulierte Ehrfurcht vor dem Sittengesetz als affektiv bestimmte Materialität des Kategorischen Imperativs deutet, welche sich jedoch nicht aus diesem selbst ableiten ließe und eine Anschauung erfordere; vgl.: Jonas 1984, S. 167 ff. Wagner verweist auf die potentielle bzw. implizite materiale Fülle des Kategorischen Imperativs, die nicht theoretisch gegeben, sondern vielmehr durch das handelnde Subjekt praktisch zu erschließen sei: »Was da Formalismus heißt, ist in Wahrheit das Prinzip und Kriterium für das Auffinden des Inhalts des Sittengesetzes.« S.: Wagner 1980a, S. 343. Bei Wood findet sich der Verweis auf den Sachverhalt, dass Kant sowohl in der frühen Preisschrift als auch in der GMS die Notwendigkeit materialer Zwecke und Werte betone; vgl.: Wood 1999, S. 114. Coreth und Schöndorf gehen zwar von einer formalen Grundlegung der kantischen Ethik, zugleich jedoch auch von materialen Aspekten des KI aus; vgl.: Coreth/Schöndorf 1990, S. 133. Lauth dagegen wendet sich klar gegen die Formalismus-These und sieht in der »Errichtung einer allgemeinen, beständigen Ordnung nach Gesetzen« ein »durchaus materiales Ziel« der kantischen Ethik; vgl.: Lauth 1953, S. 141. 23 Vgl.: O’Neill 2004, S. 63 (auch Anm. 9). 24 Eine differenzierte Position bezieht Nisters, wenn er im Ausgang von der Analyse des kantischen Maximenkonzepts einerseits konstatiert, dass Kants Ethik den »ganzen Menschen« mit allen affektiven Aspekten seiner Natur umfasse, andererseits jedoch keine abstrakt-allgemeine Kritik an einer formalistischen Deutung formuliert, sondern 21

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3.

Kritik der Universalismus-These (KU): Kant habe in seiner praktischen Philosophie keineswegs die empirische Natur des Menschen ignoriert, gering geschätzt oder einfach vernachlässigt. 25 Die These, dass Kant die moralphilosophische Relevanz der anthropologischen Grundlagen der menschlichen Existenz verkenne, sei nicht zuletzt auf eine einseitige und somit das adäquate Gesamtbild seiner praktischen Philosophie verzerrende Rezeption seiner Werke zurückzuführen. 26 Vielmehr müsse man sogar von bestimmten anthropologischen Voraussetzungen der kantischen Ethik sprechen. 27 Der kantische Universalismus sei demnach keineswegs strenger Natur, sondern beinhalte oder toleriere auch partikularistische Elemente. 3.1. Kritik der Rigorismus-These (KR): Die Auffassung von der kantischen Abwertung von Gefühlen und affektiven Einstellungen sei insofern unzutreffend, als sie nach Kant zwar in der Tat nicht unmittelbar handlungsleitend sein sollten, in der moralischen Lebensführung allerdings sehr wohl eine positive und zu bejahende Rolle spielen könnten. Entgegen anderslautenden Interpretatio-

die Primärfunktion der Verallgemeinerungskomponente des Kategorischen Imperativs dergestalt bestimmt, dass sie einen »formalen Zielhorizont« bereit stelle; vgl.: Nisters 1989, S. 14. Patzig hingegen vertritt die These, dass Kants moralphilosophische Betrachtungsweise zumindest in derjenigen Hinsicht nicht formal (im Sinne von inhaltsleer) zu nennen sei, als Kant gesellschaftliche Institutionen nicht ignoriere; vgl.: Patzig 1983, S. 156. Diese These hängt substantiell von Patzigs Annahme ab, dass das Kriterium der Verallgemeinerungsfähigkeit von Maximen soziale Institutionen und allgemein etablierte Gewohnheiten voraussetze; vgl.: Patzig 1983, S. 156 f. 25 Baranzke ist eine Vertreterin von KU, da sie auf die kantische Konzeption der Liebespflichten innerhalb der Tugendlehre verweist. In diesen Passagen fänden sich entgegen der Kritik z. B. von Jonas verantwortungsethische Ansätze, »die von Reflexionen auf die Bedürfnisse des Menschen als körperlich verfasstes Vernunftwesen ausgehen […].« S.: Baranzke 2004, S. 220; vgl. ebenso zur verantwortungsethischen Dimension der kantischen Ethik: Korsgaard 2004, S. 213–244. Baumanns hebt darüber hinaus die Abhängigkeit der für die Religionsphilosophie konstitutiven Postulatenlehre von der sinnlichen Menschennatur bei Kant hervor; vgl.: Baumanns 2000, S. 11. Die Herausstellung der Bedeutung der anthropologischen bzw. allgemein empirischen Erforschung des Menschen für die kantische Ethik ist das bestimmende Thema von Loudens umfassender Studie; vgl.: Louden 2000, S. VII. Apel und Niquet verweisen darüber hinaus auf die Existenz sowohl einer pragmatischen (empirischen) als auch transzendentalen Anthropologie bei Kant; vgl.: Apel/Niquet 2002, S. 153 ff. 26 Diesen Punkt (neben anderen) macht insbesondere Wood in seiner Studie zur kantischen Ethik stark; vgl.: Wood 1999, S. XIIIf. 27 Vgl.: Schönecker/Wood 2002, S. 36 f.

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Der systematische Kontext der Ethiktypdebatte

nen würde man Kant missverstehen,28 wenn man ihn dahingehend auslege, dass Emotionen letztlich weitestgehend unterdrückt oder sogar ausgelöscht werden sollten. 29 Der meist am kantischen Lügenbeispiel festgemachte Rigorismusvorwurf sei gegenstandslos und zumindest partiell ein Resultat aus Missverständnissen und ungenauer Lektüre. 30 Es wäre nun nicht nur im Hinblick auf die oft beschworene enorme Fülle an jährlichen Neuerscheinungen31 einerseits und die Anzahl auch älterer, klassischer Studien zur kantischen Ethik andererseits eine unlösbare Aufgabe, alle eben genannten Diskussionspunkte 32 in einer einzigen Studie seriös zu behandeln. Allein schon die Komplexität der Struktur der kantischen Ethik, unabhängig von der Bearbeitung der zu ihr erschienenen und erscheinenden Sekundärliteratur, erweist sich als Hindernis. Die diese Untersuchung leitende Fragestellung nach der grundsätzlich adäquaten ethiktypologischen Klassifizierung der kantischen Ethik und dementsprechend nach den diesbezüglich primär relevanten Strukturmerkmalen erfordert es allerdings auch nicht, alle vier in der Kant-Forschung bestehenden Problembereiche einer Analyse zu unterziehen. Vielmehr stellt sich in diesem Kontext die Kritik an der

Speziell gegen die frühe Kant-Kritik Schillers wendet sich Ebbinghaus, der die damit angestoßene Diskussion um Pflicht und Neigung als »unsinnige Kontroverse« betrachtet, »die der sich selbst nicht verstehende Versuch Schillers hervorgebracht hat, die kantische Moralphilosophie in den shaftesburyschen Gefühlsmoralismus einzutauchen, […].« S.: Ebbinghaus 1988, S. 219; vgl. klärend dazu: Köhl 1990, S. 96 ff. 29 Vgl.: Baron 1995, S. 225 f.; vgl. ebenfalls: Baron 2004. Vgl. darüber hinaus die Position Shermans, die Emotionen u. a. im Ausgang von der Tugendlehre der MS als eine notwendige Bedingung für Handlungen aus Pflicht hervorhebt; vgl. Sherman 1997, S. 278 ff. 30 Vgl.: Nisters 1989, S. 59 ff. 31 Vgl. zu diesem Problem die Bemerkungen Steigleders in: Steigleder 2002, S. XVI. 32 Nicht zuletzt KU und KR erfreuen sich einer wachsenden Beliebtheit, was allerdings nicht für jeden Interpreten einen Grund zu ungetrübter Freude an der Anzweiflung althergebrachter Vorstellungen über Kant darstellt. So legt Pippin pointiert den Finger in die Wunde: »Wenn früher die Reinheit und Rigorosität der Kantischen Morallehre gegenüber Angriffen verteidigt wurde, die Moral innerhalb und nicht oberhalb einer Reihe von unhintergehbaren menschlichen Belangen und historischen und sozialen Beschränkungen verstehen wollten […], so wird Kant jetzt durch eine ›Ich-bin-auch-einKantianer‹-Strategie verteidigt – durch den Versuch, Kant so darzustellen, als ob er bereits verschiedene Tatsachen der menschlichen Natur, der Geschichte und der menschlichen Sozialität auf angemessene Weise berücksichtigt habe.« S.: Pippin 2005, S. 45 Anm. 30. 28

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Hauptpositionen der ethiktypologischen Diskussion

Deontologie-These (KD-These) als maßgeblicher Ausgangspunkt heraus, wobei auch die Kritik an der Formalismus-These (KF-These) insofern zu beachten ist, als Kants praktische Philosophie meist nicht nur als Pflichtenethik, sondern als formalistische Pflichtenethik charakterisiert wird. Weder F noch KF sind allerdings identisch mit der D- bzw. KD-These oder auch nur logisch mit ihnen verbunden, da auch materiale Deontologie-Konzepte widerspruchsfrei denkbar sind. Während die Kritiken an der Universalismus-These (KU-These) und der Rigorismus-These (KR-These) zwar durchaus wichtige und keinesfalls etwa nur zu vernachlässigende Probleme der kantischen Ethik berühren, können sie streng genommen nicht mit Recht als Thesen zu ihrem ethiktypologischen Status verstanden werden. Es ist zwar durchaus plausibel, von anthropologisch geprägten oder auf dem menschlichen Gefühl basierenden Ethiken zu sprechen, doch würde mittels einer allein daraus geschlossenen ethiktypologischen Klassifikation z. B. einer ›anthropologischen Ethik‹ 33 oder einer ›Gefühlsethik‹ die ursprüngliche Frage nach dem spezifischen Ethiktyp nicht hinreichend beantwortet. Auch wenn die ethiktypologische Diskussion wie z. B. bei Wood im Umfeld der KR- und KU-These geführt wird, muss sie klar von dem sie umgebenden Kontext unterschieden und gesondert analysiert werden.

III.2 Die Applikation der makroanalytischen Klassifikationskategorien und die Skizzierung der Hauptpositionen im aktuellen Diskurs Mit der in Kapitel II dieser Untersuchung vollzogenen Definition der Klassifikationsbegriffe als terminologische Werkzeuge zur Beschreibung der typologischen Makrostruktur einer Ethik ist nur eine notwendige Vorarbeit für eine Analyse der auf Kant bezogenen Diskussion geleistet. Der nächste Schritt besteht in der konkreten Anwendung der dort entwickelten makroanalytischen Klassifikationskategorien auf So hat etwa Nisters keine Scheu, diese Bezeichnung für die kantische Ethik zu verwenden: »Kants Ethik […] als anthropologische Ethik zu bezeichnen, wäre nicht verfehlt.« S.: Nisters 1989, S. 75. Die Tatsache, dass Kant zwar in der MS und RGV, weniger jedoch in der GMS und KpV die spezifisch menschlichen Seinsbedingungen fokussiert, lässt diese These jedoch als für die gesamte kantische Ethik als nur bedingt repräsentativ erscheinen.

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Die Applikation der makroanalytischen Klassifikationskategorien

die verschiedenen Kant-Rekonstruktionen. Diese Applikation wird genauer dadurch geleistet, die bisher nur abstrakt bestimmten Eigenschaften deontologischer, teleologischer und konsequentialistischer Theorien sowie axiologischer Reflexionen auf die verschiedenen Interpretationen der kantischen Ethik zu beziehen. Zu diesem Zweck müssen spezifische Kriterien expliziert und gerechtfertigt werden, anhand derer über die jeweils adäquate Einordnung in das festgelegte Klassifikationsschema befunden werden kann. Solche Kriterien können allerdings nicht schon auf mikroanalytischer Ebene festgesetzt werden, da eine Aussage des Typs ›Jede Interpretation ist x (deontologisch etc.), welche das Sittengesetz auf die Weise y rekonstruiert‹ den typologisch primär maßgeblichen makrostrukturellen Kontext außer Acht lässt und folglich nur unzureichend aussagekräftig sein kann. Mikrostrukturelle Komponenten spielen dennoch allein schon insofern eine wichtige Rolle, als ihre systematischen Relationen untereinander die Makrostruktur bestimmen können. M. a. W.: Die Qualifizierung eines Elements wie z. B. des Sittengesetzes als deontologisch verweist zwar auf die Möglichkeit des Vorliegens der D-These, beweist alleine jedoch noch nicht die Tatsächlichkeit des infrage stehenden Sachverhalts. Die in Kap. III.1 durchgeführte Reflexion auf den Rahmen der Typologiedebatte um die kantische Ethik hat in Ergänzung zu dem in Kap. II.4.3 Konstatierten ergeben, dass die Debatte unabhängig von den anderen genannten Thesen ist, sodass die Stellung der zu behandelnden Autoren zu Kants Berücksichtigung von Emotionen und anthropologischen Gegebenheiten sowie zu seiner expliziten Befürwortung eines ethischen Formalismus prinzipiell keinen Bestandteil der kriteriellen Bedingungen der Anwendung der makrostrukturellen Typologiebegriffe darstellt. Bei den zu bestimmenden Positionen handelt es sich 1. um die bereits erwähnte Deontologie-These (D-These), 2. die Teleologie-These (T-These), 3. die starke Konsequentialismus-These (K-These) und 4. die schwache Komplexitätsthese (SKOM-These). Die D- und T-These existieren jeweils in einer starken und einer schwachen Ausprägung, während sich die SKOM-These zumindest in den in dieser Untersuchung behandelten Formen grundsätzlich durch eine gewisse Zurückhaltung auszeichnet. Einige Vertreter sowohl der D- als auch der T-These betonen die Relevanz von werttheoretischen Fragen für das Profil der kantischen Ethik, doch schlägt sich die Beachtung dieser Aspekte nicht in einer vorrangigen Klassifikation des kantischen MoA

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dells als Wertethik nieder. Welche Rolle die werttheoretischen Komponenten der kantischen Ethik bei den unterschiedlichen Typklassifikationen genau einnehmen und wie sie selber strukturiert sind, wird daher im Einzelfall aufzuweisen sein. Im Folgenden werde ich die charakteristischen Strukturmerkmale der vier genannten Thesen unter systematischen Gesichtspunkten rekonstruieren und anhand eines kurzen Verweises auf konkrete Formen dieser Thesen prägnante Strukturelemente einzelner Interpretationen benennen. Bei der Charakterisierung der D-, T-, K- und SKOM-These handelt es sich um idealtypische Thesengruppen, d. h. dass nicht alle Vertreter einer bestimmten These auch explizite Vertreter aller der im Folgenden angeführten Teilthesen sind, letztere jedoch mit den jeweils explizit vertretenen Thesen der verschiedenen Autoren zumindest grundsätzlich kompatibel oder ihnen implizit sein müssen. 34 Etwaige individuelle Abweichungen von den im Folgenden skizzierten Thesenstrukturen stellen meist das Resultat einer unterschiedlich beantworteten hermeneutischen Gewichtungsfrage dar und markieren ein gewisses, mit der jeweiligen These kompatibles Varianzspektrum. 35 Diesbezüglich entscheidend ist zudem, dass sich einige Autoren gar nicht explizit zu allen Subthesen positionieren. 36 Auch wenn die hier benutzte Rede von einer ›einheitlichen Gestalt‹ bestimmter ethiktypologischer Thesen aufgrund der verschiedenen in der Forschung existierenden Ausprägungen der jeweiligen Auffassungen nur unter den besagten Einschränkungen verbindlich ist, lassen sich doch einige invariante Merkmale dieser Behauptung ausmachen, die zumindest in allgemeiner Weise für die Dies bedeutet genauer, dass nicht alle Vertreter z. B. der T-These exakt dieselbe Auffassung vom Sittengesetz, Selbstzweck oder dem Kategorischen Imperativ besitzen müssen, um als solche gelten zu können. Vielmehr ist in diesem Fall entscheidend, dass sie die Grundthese der Primärrelevanz teleologischer Momente bei Kant behaupten, was sich konkret durchaus in partiell unterschiedlichen Teilthesen niederschlagen kann. 35 Dieses individuelle Varianzspektrum muss allein schon aufgrund der Vielschichtigkeit der kantischen Ethik zugestanden werden, da diese aus einer Fülle an unterschiedlich miteinander vernetzten Elementen konstituiert wird, sodass zwei exakt übereinstimmende Interpretationen geradezu unwahrscheinlich sind. 36 Ausdrücklich sei an dieser Stelle jedoch darauf hingewiesen, dass die von mir identifizierten Thesen trotz ihres idealtypischen Charakters allein aus der strukturorientierten Untersuchung der in der Forschung tatsächlich vertretenen Interpretationen resultieren, weshalb z. B. auch keine starke Komplexitätsthese angeführt wird, welche aufgrund eines andernfalls vielleicht dominierenden Zwanges zur Erfüllung eines vorausgesetzten, abstrakten Begriffsschemas ebenfalls berücksichtigt werden müsste. 34

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Die Applikation der makroanalytischen Klassifikationskategorien

verschiedenen Klassifizierungen der kantischen Ethik bezeichnend sind, zugleich aber eine jeweils genauere Spezifizierung zulassen. Die für die verschiedenen Thesen charakteristischen Behauptungen stellen dabei die Resultate der Anwendung der makroanalytischen Klassifikationskategorien auf die kantische Ethik dar. In den folgenden Unterkapiteln werden zuerst einige Vertreter der verschiedenen Thesen benannt. Daraufhin beschreibe ich anhand der Darstellung einzelner Unterthesen einer Hauptthese die jeweils maßgeblichen Teilbehauptungen, fasse danach die systematischen Hauptelemente einer Hauptthese zusammen und stelle schließlich möglichst pointiert die von den wichtigsten Vertretern angeführten Argumente dar, bevor die Kerngehalte des zuvor Erarbeiteten in einer Kurzzusammenfassung in leicht fasslicher Form präsentiert werden. Die Aufführung einzelner Argumentationen dient neben dem Nachweis der Rechtmäßigkeit meiner jeweiligen Klassifikation der Interpretation des jeweiligen Autors als Korrektiv gegenüber der vergleichsweise allgemeinen Thesenformulierung, wodurch auch dem individuellen Profil der verschiedenen Rekonstruktionen Rechnung getragen und der Auslegungsspielraum auch innerhalb ein und derselben Hauptthese verdeutlicht werden soll. Im weiteren Verlauf dieser Studie werden die verschiedenen Formulierungen des Kategorischen Imperativs eine große Rolle spielen, weshalb in den übrigen Abschnitten dieser Untersuchung – wenn nicht anders angegeben – folgende Abkürzungen verwendet werden: ›UF‹ für die Universalisierungsformel, ›NF‹ für die Naturgesetzformel, ›SZF‹ für die Selbstzweck- bzw. Menschheitsformel, ›AF‹ für die Autonomieformel und ›RZF‹ für die Reich-der-Zwecke- Formel.

III.2.1 Kants Ethik als deontologische Theorie (I): Die starke Deontologie-These (D) Die bisher vollzogene Bestimmung von D ist insofern nur von vorläufiger Geltung, als sich ihre Formulierung als zu allgemein und dadurch zu ungenau erweist, um ihre tatsächlich in der Kant-Forschung vertretene Gestalt zu repräsentieren. Es gilt daher im Folgenden, möglichst konkrete Elemente der kantischen Ethik zu benennen, die für die starke D-These von primärer Signifikanz sind.

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III.2.1.1 Das systematische Profil der D-These Als Vertreter der starken D-These sind z. B. Klaus Düsing, 37 Andreas Trampota, Paul W. Taylor, 38 George C. Kerner, 39 Konrad Ott, 40 Hermann Weidemann, 41 John Skorupski 42 und Marcel Niquet zu nennen. In ihren Kant-Rekonstruktionen haben sie die D-These je unterschiedlich kontextualisiert und teilweise voneinander abweichend ausgearbeitet. Die Struktur der in der aktuellen Diskussion vertretenen D-These in ihrer strengen Variante lässt sich mithilfe von sechs Hauptthesen rekonstruieren: D1: These des Primats deontologischer Restriktionen Die kantische Ethik beinhaltet die Annahme, dass die Vernunft der sinnlichen Natur und den damit verbundenen zielorientierten Begehrungen des Menschen unvermeidlich bestimmte Grenzen setzt und sie dementsprechend einschränkt. 43 Diese notwendigen Einschränkungen Vgl.: Düsing 2005, S. 13 ff. Vgl.: Taylor 1975. In seiner Kant-Darstellung konzentriert sich Taylor auf die GMS, da er dort den inhaltlichen Kern der praktischen Philosophie Kants zu finden glaubt. Kants Ethik sei eindeutig deontologisch und zudem formalistisch, wobei Taylor beide Aspekte zwar in gewisser Nähe zueinander sieht, allerdings nicht miteinander identifiziert. Vor allem stellt er sowohl bezüglich des Konzepts des guten Willens als auch des moralischen Gesetzes bzw. des Kategorischen Imperativs die Folgenunabhängigkeit der moralischen Qualitäten der durch sie qualifizierten Handlungen heraus; vgl.: Taylor 1975, S. 85 ff. Die Bedingungen, die nach Kant ein Gesetz zum moralischen Gesetz machen, zeichneten sich durch einen nicht-teleologischen Charakter aus; vgl.: Taylor 1975, S. 105. 39 Vgl.: Kerner 1990. Kant stelle die utilitaristische Denkrichtung auf den Kopf, indem er die Unabhängigkeit des moralischen Handelns von jeglichen Zielsetzungen betone; vgl.: Kerner 1990, S. 78. 40 Vgl.: Ott 2001. Kants Ethik sei deontologisch, da sie zu kategorischen Pflichten führe; vgl.: Ott 2001, S. 78. Das von Ott angesetzte Kriterium für das Vorliegen einer deontologischen Ethik orientiert sich damit allein am praktischen Geltungsmodus des Elements der Pflicht, wobei nicht hinreichend deutlich wird, ob schon unbedingte praktische Normativität als solche das bei Ott implizit bleibende Kriterium erfüllt. 41 Vgl.: Weidemann 2001, S. 24. 42 Vgl.: Skorupksi 1999, S. 55. 43 Vgl.: Trampota 2003, S. S. 26. Trampotas Kant-Interpretation hebt an dieser Stelle vor allem die kantische Annahme der sinnlich-vernünftigen Doppelnatur des Menschen hervor und basiert auch bei den übrigen in dieser Hinsicht relevanten Stellen seiner kritisch-komparativen Studie hauptsächlich auf der These der Abhängigkeit der Struktur der kantischen Ethik von bestimmten anthropologischen Präsuppositionen; vgl.: Trampota 2003, vor allem Kap. 1.7 und 1.8. 37 38

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der natürlichen Interessensverfolgung durch die praktische Vernunft sind auch positiv formulierbar als die Tatsache, dass sich der Mensch schon vor jeder Zielsetzung dem unbedingten Anspruch des Sittengesetzes unterworfen weiß, da jeder Willensakt eines Vernunftwesens in Form des Kategorischen Imperativs prinzipiell auch reine Vernunft impliziert. Diesen Sachverhalt hat Kant vor allem in der Faktumslehre begründet 44 und anhand seiner Konzeption einer Handlung aus Pflicht 45 in sein Ethikmodell implementiert. Implikation von These D1: Diese Restriktionen der praktischen Vernunft, für die der Mensch durch Achtung vor dem Sittengesetz empfänglich ist, sind selbst nicht ziel-orientiert 46 , sondern stellen eine selbstzweckhafte Aktivität dar. Diese Aussage ergibt sich aus dem Element der These D1, dass jede Willensbestimmung schon vor einer zielgerichteten Willensausrichtung unter dem Anspruch der Vernunft steht. D2: These der deontischen Gegenständlichkeit 47 des Sittengesetzes Da das Sittengesetz notwendig ein dem Willen immanentes Element darstellt und schon bei dem Prozess der Zwecksetzung eine unverzichtbare apriorische Maßstabsfunktion besitzt, kann es selbst kein mögliches Objekt des Willens, sondern allein eine Verpflichtungsinstanz sein. 48 Die These der deontischen Gegenständlichkeit des Sittengesetzes und die Annahme der nicht-teleologischen Beschaffenheit der Handlungsrestriktionen führen zur These D3: D3: These des nicht-instrumentellen Charakters des Sittengesetzes Das Sittengesetz kann kein Mittel zu einem übergeordneten Zweck bzw. Guten sein, da es selbst die normative Bedingung aller Zwecke darstellt und somit apriori bestimmt, welche Zwecke moralisch gut Vgl.: Trampota 2003; S. 60 f. Vgl.: Düsing 2005, S. 13 und S. 16. 46 Vgl.: Taylor 1975, S. 105; vgl.: Trampota 2003, S. 26 f. 47 Eine deontische Gegenständlichkeit liegt vor, wenn sich der Wille in der Weise auf eine Vorstellung bezieht, dass er unmittelbar durch den von ihr gebotenen Gehalt bestimmt wird. Die deontisch intendierte Vorstellung fungiert als zu befolgendes Gesetz oder zu erfüllende Pflicht. Eine Auflistung der drei ethiktypologisch maßgeblichen Intendierungsmodi bzw. Gegenständlichkeitsformen findet sich in Kapitel III.2.2.2 dieser Studie. 48 Vgl.: Trampota 2003, S. 27. 44 45

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sind. 49 Somit hängt in der kantischen Ethik das Gute (Werte/Zwecke) hinsichtlich seiner ursprünglichen Konstitution vollständig vom moralisch Richtigen (Sittengesetz) ab und nicht umgekehrt. D4: These des nicht-teleologischen Charakters des Selbstzwecks Der Selbstzweck der Menschheit ist kein materiales Telos für den Willen, sondern ebenso wenig wie das Moralgesetz ein hervorzubringendes Objekt menschlichen Strebens. Er fungiert dagegen allein als eine dieses Streben nur restringierende Vorstellung, welche in jedem Willen vor jeder konkreten Zwecksetzung präsent ist. 50 D5: These der prinzipiellen Folgenunabhängigkeit der moralischen Handlungsqualität Die moralische Qualität einer Handlung ist unabhängig von den durch sie bewirkten Folgen und bemisst sich an der Qualität der durch sie realisierten Handlungsweise bzw. Maxime. 51 Die Primärbedingung des moralischen Werts einer Handlung stellt die Widerspruchsfreiheit der ihr zugrundeliegenden Maxime dar. D6: These der untergeordneten Relevanz von Wertbestimmungen Werte spielen im Vergleich zum sittlich Gebotenen keine oder nur eine klar subordinierte Rolle, da alle Werte vom vorausgesetzten Sittlichen abhängen. 52 Eine begriffliche Bezugnahme auf axiologische Elemente oder Strukturen ist für eine Rekonstruktion des Gehalts der kantischen Ethik nicht notwendig. Systematische Hauptelemente der D-These Für die starke D-These sind folgende Elemente von besonderer Relevanz: 1. das Sittengesetz/der Kategorische Imperativ, 2. das Faktum der Vernunft, 3. die Handlung aus Pflicht, 4. die Willensbestimmung, Vgl.: Taylor 1975, S. 105; vgl.: Trampota 2003, S. 27. Bezüglich der Selbstzweck-Formel gesteht Kerner zwar zu, dass sie aufgrund der Begrifflichkeit eher wie eine konsequentialistische bzw. teleologische Formel anmute, doch sei dies das Resultat einer nur oberflächlichen Betrachtung, da ›Menschheit‹ und ›Persönlichkeit‹ letztlich nichts anderes als Moralität bedeuteten; vgl.: Kerner 1990, S. 123; vgl.: Trampota 2003, S. 61. 51 Vgl.: Niquet 2002, S. 35 ff.; vgl.: Kerner 1990, S. 78; vgl. Taylor 1975, S. 85 ff. 52 Vgl.: Trampota 2003, S. 13. Explizit bezieht sich Trampota allerdings primär auf außermoralische Werte; vgl.: Trampota 2003, S. 108 f. 49 50

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5. die Menschheit als Selbstzweck, 6. die moralische Qualität der Maxime und 7. die Achtung der Menschheit in jeder Person. Das Sittengesetz/der Kategorische Imperativ (1) wird in diesem deontologischen Interpretationskontext als Struktur begriffen, in der sich der allen Zwecksetzungen vorhergehende unbedingte Vernunftanspruch manifestiert, wobei die stärker handlungsbezogene Faktumslehre (2) als exponierter Ort für die motivationstheoretisch relevante Formulierung dieses Sachverhalts in der kantischen Ethik betrachtet werden kann. In dieser Perspektive stellt Kants Lehre vom Faktum der Vernunft das Hauptargument gegen eine Deutungsweise dar, welche das Moralgesetz als teleologische Struktur auffasst. Die leitende Hintergrundidee dieser Argumentation besteht darin, dass jegliche teleologische Reifizierung des Sittengesetzes dieses dem Objektbereich möglicher Wahlakte zuordnen würde, was als Verkennung seiner strukturell bedingten Funktion der apriorischen Restriktion möglicher Gegenstandsbereiche für entsprechende Willensakte gedeutet wird. Die strukturelle Differenz der stark deontologischen Interpretationen zu zweckorientierten Ansätzen zeigt sich in Übereinstimmung damit in aller Deutlichkeit auch bei den Elementen (3) und (4): Eine moralisch adäquate Handlung richte sich bei Kant nicht nach Zwecken, sondern geschehe allein aus der Beachtung der unmittelbar vernunftgegebenen Pflicht (3), was bedeute, dass die Bestimmung des Willens (4) unabhängig von einer vorhergehenden Willensausrichtung auf ein bestimmtes Objekt geschehe. Der Selbstzweck der Menschheit (5) stellt neben der Faktumslehre ein weiteres hervorzuhebendes Element der starken D-These dar, da seine kantische Spezifizierung als nicht zu bewirkender, sondern selbständiger Zweck als explizite Absetzung von teleologischen und konsequentialistischen Modellen ausgelegt wird. Nicht die Handlungsfolgen, sondern die den Handlungen zugrunde liegenden Maximen (6) als individuell intendierte Handlungsweisen stellen das entscheidende Element bei der Beurteilung der moralischen Qualität von Handlungen dar. Der Inhalt der kantischen Achtungstheorie (7) wird in Entsprechung zur Auffassung von (5) als Anerkennung der Idee des Selbstzwecks der Menschheit gedeutet, was aufgrund der soeben erwähnten Interpretation der Selbstzweckidee impliziert, dass diese Achtung ebenfalls nicht durch Willensakte hervorgebracht werden kann und im handlungstheoretischen Kontext die Funktion einer nicht-teleologischen Beschränkung der Handlungsgrundsätze und Zwecke innehat.

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III.2.1.2 Konkrete Formen der D-These: Trampota und Niquet Insbesondere die Varianten der starken D-These von Trampota (A) und Niquet (B) sind komplex und zeichnen sich durch die über reine ethiktypologische Thesenbildung hinausgehende Reflexion auf bestimmte, der kantischen Ethik zugrundeliegende Annahmen über die Vernunft und die anthropologischen Bedingungen der Moralität aus. Zur materialen Vertiefung der Charakterisierung der starken D-These werden ihre Varianten der D-These daher im Folgenden kurz zur Sprache kommen. Ad (A): Trampotas Kernargument für eine stark deontologische Interpretation beruht entscheidend auf dem Verweis auf Struktur und Gegebenheitsweise des Sittengesetzes, insbesondere auf »seine unverfügbare Präsenz in unserem praktischen Selbstbewusstsein«. 53 Das moralische Gesetz sei bereits eine unverzichtbare »inhärente Eigenschaft der praktischen Vernunft« 54 , wobei sich die praktische Vernunft vollkommen unabhängig von der tatsächlichen Willensausrichtung grundsätzlich auf »unbedingte Bedingungen des Handelns« 55 ausrichte. Trampota behauptet keineswegs, dass die vernünftig-moralische Selbstbestimmung des Menschen bzw. des endlichen Vernunftwesens nach Kant gewissermaßen ›ins Leere‹ gehen würde, also auf keinerlei Orientierung im Sinne von bestimmten, zu berücksichtigenden Voraussetzungen zurückgreifen könne. Die primäre Begründung seiner deontologischen Interpretation der kantischen Ethik beruft sich vielmehr auf die konstatierte strenge Vernunftimmanenz dieses praktischen Selbstverhältnisses. 56 Entscheidend sei, dass sich die Zwecksetzung aus praktischer Vernunft an nichts Außermoralischem orientiere, sondern bei dieser Aktivität nur aus sich selbst schöpfe. Trampota stellt darüber hinaus die Faktumslehre in die zentrale systematische Position, da sie wie kein anderes strukturelles Element dieser Theorie ihren genuin transzendentalphilosophischen Charakter bestimme. 57 Die Faktumslehre S.: Trampota 2003, S. 58. S.: Trampota 2003, S. 60. 55 S.: Trampota 2003, S. 60. 56 »Das Setzen von Zielen, das selbst nicht Ziel-geleitet ist, setzt zwar in gewisser Weise Vernünftigkeit und Freiheit im Sinne der Autonomie voraus. Aber Vernünftigkeit und Autonomie sind nach Kant gerade keine Moral-externen Vermögen, sondern praktischmoralische Fähigkeiten, die keine selbständige Theorie des Guten begründen«. S.: Trampota 2003, S. 27. 57 »Die Kernthese der kantischen Ethik, derzufolge reine Vernunft praktisch sein kann, 53 54

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besage letztlich nichts anderes, als dass in jedem zielgerichteten Willensakt ein Grundsatz der reinen Vernunft enthalten sei, 58 sodass das Moralgesetz nicht als ein Willensobjekt konstituiert werden könne, sondern vielmehr notwendig als transzendental-deontologische Handlungsbedingung fungiere. Kant rekurriere bei der Begründung seiner Ethik im Gegensatz zu Rawls 59 auf keinerlei Theorie des Guten, da für Kant alle materialen Zwecke nur von subjektiver Relevanz seien und durch deren begründungstheoretische Relevanz die von ihm angestrebte universelle Vernunftnotwendigkeit unterminiert würde. Dieser Umstand sei für Kant insofern unproblematisch, als er im Gegensatz zu Rawls von einer hinreichenden Motivationskraft der praktischen Vernunft ausgehe: Die Verwurzelung des moralischen Gesetzes in unserer noumenalen ›Natur‹ und die damit verbundene rein moralische Motivationskraft ist somit der Ursprung der gesamten kantischen Ethik, weswegen Kants Grundlegung der Ethik in einem starken Sinne deontologisch ist. 60

Ad (B): Niquet bestimmt eine Metaphysik des praktisch-moralischen Sollens als substrukturellen Kern der deontologischen Moraltheorie Kants, wobei er zusammenfassend folgende Punkte als deren Hauptcharakteristika anführt: 61 1. Die imperativische Form des Sittengesetzes sei durch die in der transzendentalen Anthropologie beschriebene sinnlich-vernünftige Doppelnatur des Menschen bedingt.

ist also identisch mit der Aussage, dass es ein unbedingtes praktisches Gesetz in unserem Willen gibt, das nicht auf unseren kontingenten und empirisch zu bestimmenden Begierden und Wünschen beruht. Und die transzendentalphilosophische Behauptung ist eine unumgängliche Implikation der kantischen Lehre vom Faktum der Vernunft, wonach wir das Moralgesetz als eine unbezweifelbare Faktizität innerhalb der spontanen Aktivität der praktischen Vernunft entdecken, und zwar nicht modo directo, sondern reflexiv«; s.: Trampota 2003, S. 60 f. 58 Trampota unterstellt der kantischen Faktumslehre dabei eine antiteleologische Stoßrichtung; vgl.: Trampota 2003, S. 58. 59 Nach Trampota gebe es bei Rawls zwar genauso wie in der kantischen Ethik einen normativen Primat von einschränkenden Moralprinzipien, doch beruhe die rawlssche Konzeption zudem auf der unverzichtbaren Anerkennung eines anthropologischen Primats bestimmter grundlegender Güter, die eine spezifisch motivationstheoretische Rolle im Gesamtkonzept einnähmen; vgl.: Trampota 2003, S. 64. 60 S.: Trampota 2003, S. 66. 61 Vgl. zum Folgenden: Niquet 2002, S. 35 ff. A

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2. Der propositionale Gehalt sowohl des Sittengesetzes/Kategorischen Imperativs als auch jede dementsprechend moralisch geltende Moralnorm sei dagegen von diesen transzendental-anthropologischen Bestimmungen vollkommen unabhängig. 3. Die Moralität von Handlungen sei von jeglichen innerweltlichen Handlungsfolgen sowie Nebenfolgen unabhängig und bestimme sich allein durch das Verhältnis der Maxime des Willens zur allgemeinen Struktur der Autonomie. 4. Kants rein deontologisches Moralkonzept impliziere mit der nichtkonsequentialistischen Auffassung von moralischen Handlungen neben dem in Punkt (3) Angesprochenen auch ein Moment der Nicht-Reziprozität: Die Handlungsweise anderer Menschen, z. B. die Reaktion auf moralische Handlungen, sei für die moralische Qualität der Willensbestimmung irrelevant. 62 5. Die kantische Moraltheorie sei eine streng apriorische Theorie und somit geltungstheoretisch von jeglichen raum-zeitlichen Faktoren unabhängig. 6. Die transzendentale Anthropologie in Form der kantischen Lehre von der sinnlich-intelligiblen Verfasstheit des Menschen bilde den Vereinigungspunkt von reinem Geltungsgehalt und imperativischem Geltungsmodus des Sittengesetzes und mache letzteren insofern verständlich, als das neigungsaffizierte, endliche Vernunftwesen nicht trotz, sondern gerade aufgrund dieses Umstandes Adressat der unbedingten moralischen Sollensforderung sei. III.2.1.3 Zusammenfassung Das primäre Charakteristikum der starken D-These besteht in der Betonung der Relevanz der Funktion des Sittengesetzes bzw. Kategorischen Imperativs als apriorische Restriktionsinstanz hinsichtlich der Konstituierung praktischer Objekte als Gegenstände des Willens (D1/ D2/D3). In diesem Zusammenhang wird auch der Selbstzweck der Menschheit als spezielle Formulierung der Vernunftidee von Moralität und nicht als eigenständiges axiologisches Element oder als besondere »Die Idee, dass es moralisch geboten sein könnte, von den Handlungsimperativen einer rein deontologisch verfassten Moralität abzuweichen, deswegen, weil die Befolgung der Imperative einer solchen Moralität zu manifest unmoralischen Konsequenzen im Gefüge der faktisch gegebenen sozialen Welt der realen Interaktionen unter menschlichen Aktoren führen könnte, ist kein möglicher Gedanke einer klassisch-kantischen praktischen Philosophie.« S.: Niquet 2002, S. 37. 62

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Form eines Strebensziels aufgefasst, wodurch der kantischen Rede von einem selbständigen Zweck Rechnung getragen werden soll (D4). Vor allem Trampota und Niquet verweisen auf die Gründung der kantischen Ethik in transzendental-anthropologischen Bedingungsstrukturen des endlichen Vernunftwesens, wobei allerdings insbesondere bei Trampota tendenziell offen bleibt, inwiefern diese Begründungsthese einen metaethischen Charakter besitzt. Die entscheidende Pointe von Trampotas Kant-Rekonstruktion wird durch die These markiert, dass die Vernunftidee von moralischer Normativität zwar Zwecke bedinge und restringiere, selbst jedoch als diesen zweckhaften Strukturen vorgeordnet verstanden werden müsse und dementsprechend nicht sinnvoll in teleologischen/konsequentialistischen Termini rekonstruierbar sei (D1/D5). Der stark-deontologische Charakter der kantischen Ethik wird grundsätzlich auf die unverfügbare Gründung der kategorischen Sollensforderungen in der menschlichen Vernunftnatur zurückgeführt, womit Trampota vor allem auf die Unverträglichkeit dieses Ethikmodells mit teleologischen Deutungen verweist. Der Selbstzweck der Menschheit fungiere nicht als anzustrebendes Ziel von Handlungen, sondern Kant zeige mit der Faktumslehre, dass auch diese Formulierung als bewusste Absetzung von zweckorientierten Ethiken konzipiert worden sei (D4). Niquet hebt vor allem die Unabhängigkeit des Inhalts des Moralgesetzes sowie der moralischen Qualität von Handlungen von empirischen Gegebenheiten und somit auch von allen realen oder denkbaren Konsequenzen hervor (D5). Der bei Trampota als für D charakteristisch identifizierte Primat deontologischer Restriktionen durch das Sittengesetz/den KI (D1) steht in Niquets Rekonstruktion insofern in direkter Beziehung zur Betonung der sinnlich-vernünftigen Doppelnatur des Menschen, als der Gehalt des Sittengesetzes nur im Kontext der Annahme von der auch sinnlichen Bestimmtheit des Menschen zur die Willensbestimmung beschränkenden Imperativstruktur geformt wird.

III.2.2 Kants Ethik als deontologische Theorie (II): Die schwache Deontologie-These (SD) Nach dieser Darstellung der essentiellen Merkmale der starken D-These stellt sich nun die Frage nach dem strukturellen Profil der existierenden Alternativen. Neben der strengen Variante gibt es noch eine A

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schwächere Version, die zwar grundsätzlich mit D darin übereinstimmt, dass die kantische Ethik primär deontologisch strukturiert ist, zugleich jedoch nicht-deontischen Elementen und Strukturen eine größere Relevanz für deren adäquate Gesamtcharakterisierung einräumt. Daher nenne ich diese Form von D die ›schwache Deontologie-These› (SD-These). Zwar ist es keineswegs einfach, eine scharfe und in dieser Bestimmtheit allgemein verbindliche Trennlinie zwischen starker und schwacher D-These zu ziehen, da es sich dabei um eine zuweilen subtile Gewichtungsfrage handelt, doch gibt es innerhalb der Gruppe der deontologischen Kant-Interpretationen bestimmte Unterschiede und Gewichtungsdifferenzen, deren Ignorierung das Profil der D-These entscheidend verwässern würde. In diesem Kontext ist maßgeblich, woran der Unterschied zwischen D und SD genauer festgemacht wird. Es gilt also, die größere Relevanz nicht-deontischer Aspekte für Kants Ethik spezifischer zu bestimmen. III.2.2.1 Das Abgrenzungsproblem der starken und schwachen Deontologie-These Um eine transparente Demarkationslinie zu ziehen, könnte man verschiedene Strategien verfolgen: 1. Zum einen ist es möglich, diese Frage anhand einer Analyse der jeweiligen Interpretation und Gewichtung der Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs und somit der Auslegung einer Gestalt des obersten Pflichtenprinzips zu klären. Daher ist es denkbar, einen deontologisch orientierten Autor, der zumindest die Selbstzweckformel als nicht-deontische (axiologische oder teleologische) Struktur anerkennt und zudem als relevant für eine adäquate Rekonstruktion der kantischen Ethik betrachtet, als einen Vertreter von SD zu charakterisieren. 2. Daneben gibt es analog zum Vorgehen Trampotas hinsichtlich Rawls die Möglichkeit, eine Ethik als schwach-deontologisch zu klassifizieren, insofern bei ihr nicht nur eine eigenständige Theorie des moralisch Gebotenen, sondern auch des Guten (Anzustrebenden) zu finden ist. 3. Als eine dritte Variante bietet sich der Ansatz an, die spezifischen Gewichtungen von implizit oder explizit zweckbezogenen Argumentationen und Begriffen bei Kant zu analysieren: Kant greift in verschiedenen Zusammenhängen auf teleologisch anmutende Argumentationsstrukturen zurück, die nicht immer ohne Weiteres 92

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mit einer strengen, rein deontologischen Interpretation vereinbar zu sein scheinen. Je nachdem, wie stark die jeweiligen Interpreten diese nicht-deontischen Momente gegen eine klassisch-deontologische Klassifizierung ins Feld führen bzw. inwiefern die Autoren behaupten, dass ohne diese Strukturen ein Verständnis der kantischen Ethik unmöglich sei, könnte man die Interpretationen ihrerseits entsprechend differenzieren und einordnen. Bei dieser Variante wäre es daher nicht notwendig, dass die Existenz einer eigenständigen Theorie des Guten behauptet und einer Theorie des Richtigen beigeordnet würde. In letzter Konsequenz treffen sich die beiden ersten Varianten in ihrem inhaltlichen Kern, da es zumindest möglich ist, eine axiologische oder teleologische Lesart der Selbstzweckformel als Anerkennung einer eigenständigen Theorie des Guten zu verstehen: Die Selbstzweckhaftigkeit des Vernunftwesens wäre demnach das unableitbare Gute und mit der aus praktischer Freiheit vollzogenen Befolgung des Kategorischen Imperativs zu befördern. Insofern stellt sich Strategie (1) grundsätzlich als spezielle Form von (2) dar und (2) dementsprechend als verallgemeinerte Abstraktion von (1). Der Vorzug besonders der allgemeiner formulierten Variante (2) besteht darin, dass sie genau an demjenigen Punkt ansetzt, auf welchen sich schon die grundsätzliche Definitionsanstrengung konzentrierte, nämlich beim Verhältnis von einer Theorie des Richtigen und einer Theorie des Guten. Die dritte Variante fokussiert über den in (1) und (2) betrachteten Aspekt des Stellenwerts einer Theorie des Guten hinaus die kantische Benutzung konsequentialistischer Terminologie/Argumentationsmuster und bekommt dadurch zumindest quantitativ ein weiteres Feld an philosophischen Elementen der kantischen Ethik in den Blick. Allerdings ist es mehr als fraglich, ob man mit Vorgehensweise (3) tatsächlich eine hinreichend exakte Differenzierung zwischen beiden Formen deontologischer Ethiken leisten kann, da weder die Benutzung teleologischer Termini noch das Vorhandensein teleologischer Argumentationsfiguren allein mit einer streng deontologischen Theorie inkompatibel sind. 63 Es handelt sich dabei um das bereits in Kap. II.4.2 behandelte Problem der ethiktypoDieser Einwand ist demjenigen Trampotas strukturanalog, der das bloße Vorhandensein teleologischer Terminologie für eine Differenzierung von teleologischer und deontologischer Ethik als ungeeignet ansieht; vgl.: Trampota 2003, S. 62.

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logischen Klassifikation allein anhand der Analyse einzelner Elemente. Entscheidend ist jedoch vielmehr, welche systematischen Funktionen diesen Elementen innerhalb der kantischen Ethik jeweils zugeschrieben und inwieweit diese Funktionen als konstitutiv angesehen werden. So besteht noch keinerlei gravierende Problematik, wenn unter der Wahrung des Primats einer unabhängigen und primär fundierenden Theorie des Richtigen mit bestimmten Zielvorstellungen operiert wird, auch wenn natürlich nach der Begründung dieser Ziele gefragt werden muss. Zudem existiert abgesehen davon immer noch die Möglichkeit, die teleologischen Argumentationen etc. als Inkonsistenzen innerhalb eines streng deontologischen Konzepts zu deuten, aber deswegen nicht automatisch den reinen ethiktypologischen Status der Theorie zu negieren. Zwar kann man eine solche Argumentation streng genommen immer anführen und natürlich auch trotz guter Gegenargumente willentlich daran festhalten, doch zeigen sich bei nüchterner Betrachtung deutliche Grenzen dieses Vorgehens. Diese Grenzen sind spätestens da zu finden, wo der eindeutige geltungstheoretische Primat einer Theorie des moralisch Richtigen nicht mehr zweifelsfrei eingehalten wird, demnach nicht mehr klar ist, ob wirklich alle in der Theorie maßgeblichen Begriffe und Ideen des Guten vollständig vom vorher deontisch bestimmten Moralischen abgeleitet sind, oder ob es nicht doch spezifische Bestimmungen des Guten gibt, welche über eine gewisse moralisch-praktische Eigenständigkeit verfügen und daher den absoluten Vorrang von moralischen Pflichtbestimmungen implizit oder explizit unterminieren. – Dies kann wohlgemerkt auch im Falle einer Identitätsthese von Richtigem und Gutem von Bedeutung sein, in welchem Falle eine besonders schwierige Situation vorliegt. Die Klärung genau dieser Frage stellt Strategie (2) ins Zentrum der Aufmerksamkeit, weshalb diese Variante (und damit auch (1)) zur möglichst praktikablen Differenzierung von starker und schwacher Deontologie-These besser geeignet ist als die Alternative (3). 64 Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Analyse nicht-deontischer Begriffe und Argumentationen irrelevant für eine sinnvolle Behandlung dieser Frage ist, doch kann eine solche Analyse nicht als primäre Grundlage der angestrebten Differenzierung dienen. Die dritte Strategie spielt bei der Differenzierung von starken und schwachen deontologischen Lesarten insofern eine wichtige Rolle, als sie in dem Fall auf das Vorliegen einer schwach-deontologischen Lesart verweist, wenn sie nicht nur als verzichtbares Beiwerk, sondern als konstitutiver Bestandteil des kantischen Gesamtentwurfs zur praktischen Philosophie interpretiert wird, ohne den sich ein sachlich angemessenes Verständnis

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Dementsprechend zeichnet sich die schwach-deontologische KantInterpretation in der hier vollzogenen Klassifikation dadurch aus, dass sie entweder von der nur unvollständigen Abhängigkeit des Guten vom moralisch Richtigen ausgeht und damit den eindeutigen Primat der Pflichtstrukturen in gewisser Weise 65 relativiert oder die Unverzichtbarkeit der Zurkenntnisnahme nicht-deontischer Elemente und Prämissen für ein adäquates Verständnis der kantischen Ethik behauptet. Beides kann, muss aber nicht identisch sein. Die Differenzierung der starken und schwachen Deontologie-These soll dabei wohlgemerkt nicht als statisch-kategoriale Trennung beider Interpretationsweisen, sondern vielmehr als heuristisches Werkzeug verstanden werden, das dem Zweck dienen soll, den bestehenden graduellen Unterschieden innerhalb der deontologischen Kant-Deutungen gerecht zu werden. Es handelt sich hier um teilweise subtile, eher voneinander abweichende Tendenzen als um monolithische Gegensätze anzeigende Differenzierungen. III.2.2.2 Das systematische Profil der SD-These Vertreter der SD-These sind u. a. John Rawls, Allen Wood, Charles D. Broad, 66 Christine Korsgaard, Thomas Wetterström, 67 Nancy Sherman 68 und Christoph Horn. 69 Die jeweils individuellen Ausprägungen kantischer Ethik nicht erzielen lässt. Eine solche bedingte Konstitutivität nicht-deontischer Strukturen, die innerhalb eines insgesamt deontologischen Deutungsrahmens widerspruchsfrei konstatiert werden kann, bezieht sich nicht auf die letzte Begründungsebene der kantischen Ethik, sondern fungiert als unverzichtbares hermeneutisches, zudem hinsichtlich Kriterium (2) regulatives Instrument bei der Evaluierung des jeweiligen Typus eines Ethikmodells. 65 Mir scheint es an dieser Stelle wenig sinnvoll zu sein, die Art der Relativierung definitorisch noch spezifischer festzulegen, da andernfalls die Vielfalt möglicher schwach-deontologischer Interpretationen aus dem Blick geraten könnte. 66 Vgl.: Broad 1934, S. 207. Broad geht davon aus, dass konkrete Ethiken meist Mischtypen darstellen; vgl.: Broad 1934, S. 207 f. 67 Vgl.: Wetterström 1986, S. 226 f. Nach Wetterström liegt im Falle der kantischen Ethik eine Vermischung von deontologischen und regel-teleologischen Strukturen vor; vgl. zur Regel-Teleologie: Wetterström 1986, S. 214 f. 68 Sherman erkennt zwar grundsätzlich den deontologischen Charakter der kantischen Ethik an, verweist jedoch zugleich auf das Missverständnis einer abstrakten Gegenüberstellung von Kant und Aristoteles; vgl.: Sherman 1989, S. 23 ff. 69 Horn vertritt die schwache D-These im Zusammenhang mit seiner handlungsteleologischen Rekonstruktion antiker und moderner Ethiken, indem er neben dem Verweis auf die deontologische Grundlage des Paradoxons der Methode aus der zweiten Kritik A

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der SD-These unterscheiden sich voneinander in noch höherem Maße als diejenigen ihrer starken Variante, sodass auch hier die jeweils unterschiedlichen Schwerpunkte der verschiedenen Interpretationen und bestimmter Nebenthesen beachtet werden müssen. Die Differenz von substantieller und modaler Spezifikation/Modifikation Da es unterschiedliche Formen der Abschwächung einer ethiktypologischen These gibt, müssen die relevanten systematischen Charakteristika der verschiedenen Abschwächungsformen begrifflich erfasst werden können. Zu diesem Zweck unterscheide ich im Folgenden zwischen substantiellen und modalen Spezifikationen bzw. Modifikationen der D-These und ihrer Subthesen D1-D6. Die substantielle Spezifikation/ Modifikation einer These bezieht sich auf den jeweils thematischen Gehalt, die modale auf die Form der Gegebenheit sowie den Modus der Geltung dieses Gehalts. Das Varianzspektrum substantieller Spezifikationen/Modifikationen umfasst eine theoretisch unendliche Menge an konstatierbaren Gehalten und lässt sich daher rein formal nicht begrenzen. 70 Das Varianzspektrum genuin modaler Spezifikationen/Modifikationen umfasst zum einen (A) den Gegebenheits- und (B) den Geltungsmodus ethiktypologisch relevanter Elemente, zum anderen (A’) mögliche Spezifikationen des jeweiligen Gegebenheitsmodus im Kontext ethiktypologisch relevanter Strukturen. Bei (A) kann man von einer erststufigen, bei (A’) von einer zweitstufigen gegebenheitsmodalen Spezifikation bzw. Modifikation sprechen. Ad (A): Die grundsätzlichen (erststufigen) Kategorien der gegebenheitsmodalen Spezifikation sind diejenigen der (a1) teleologischen, (a2) deontischen und (a3) axiologischen Gegenständlichkeit. Diese drei Begriffe bezeichnen die ethiktypologisch grundsätzlich relevanten Forzum einen die konzeptionelle Parallele von platonischem und kantischem Willensbegriff, zum anderen die strukturelle Relevanz des höchsten Guts und des Selbstzwecks als Strebensobjekte betont; vgl. zum Willensbegriff: Horn 2002a, bes. S. 60 f.; vgl. zu handlungsteleologischen Ethiken: Horn 2003, bes. S. 90 ff.; vgl. zur Interpretation des Selbstzwecks: Horn 2004, bes. S. 208 ff., wo Horn die kriteriologische Funktion des Selbstzwecks der Menschheit herausarbeitet. 70 Die jeweils individuell plausibel erscheinenden Kontexte substantieller Einschränkungen müssen im konkreten Fall der kantischen Ethik durch bestimmte Textgrundlagen gegeben sein und können davon unabhängig nicht allgemein verbindlich festgesetzt werden.

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men des Gegenstandsbezugs des Willens eines (endlichen) handelnden Vernunftwesens. Über diesen Weg der Spezifizierung der Art des praktischen Intendierens wird der Gegebenheitsmodus der jeweils thematisierten Vorstellungsgehalte bestimmt, da letztere ohne den sich auf sie beziehenden Intendierungsmodus bloß theoretische Reflexionsobjekte darstellen und erst durch ihren aktiven Einbezug durch einen Akteur in sein Handlungskonzept (seine Vorstellung eines Handlungsvollzugs) zu Elementen einer praktischen Objektreferenz werden. 71 Die charakteristischen Merkmale dieser drei Modi der praktischen Objektreferenz können dabei im Rahmen ihrer formalen Definition verdeutlicht werden: (a1) Teleologische Gegenständlichkeit liegt vor, wenn sich der Wille in der Weise auf eine Vorstellung bezieht, dass er auf die Beförderung und/oder Verwirklichung ihres Gehalts ausgerichtet ist. Die teleologisch intendierte Vorstellung fungiert als anzustrebender und/oder zu verwirklichender Zweck. (a2) Deontische Gegenständlichkeit liegt vor, wenn sich der Wille in der Weise auf eine Vorstellung bezieht, dass er unmittelbar durch den von ihr gebotenen Gehalt zur Adaption bestimmter Handlungsweisen verpflichtet wird. Die deontisch intendierte Vorstellung fungiert als zu befolgendes Gesetz oder zu erfüllende Pflicht. (a3) Axiologische Gegenständlichkeit liegt vor, wenn sich der Wille in der Weise auf eine Vorstellung bezieht, dass er durch die Anerkennung ihres Werts bestimmt wird. Die axiologisch intendierte Vorstellung fungiert als zu achtender und/oder zu verwirklichender Wert. Alle drei praktischen Gegenständlichkeitsmodi können prinzipiell natur-, sozial- oder vernunftbasiert sein, d. h. jegliche Willensausrichtung auf Zwecke, Pflichten oder Werte kann sich hinsichtlich der Rechtfertigung ihrer praktischen Erforderlichkeit entweder auf die normativ verstandenen Gegebenheiten der Natur oder der Gesellschaft sowie die Forderungen der Vernunft beziehen. Wie schon in anderem Zusammenhang in Kap. II dieser Untersuchung angesprochen wurde, ist (a3) allgemein mit (a1) und (a2) Dass dabei die Art der Vorstellungsgegebenheit für den Akteur durch den Akteur selbst bestimmt wird bzw. werden kann und daher ursprünglich nicht gegeben ist, sondern aktiv konstituiert wird, stellt keinen Widerspruch, sondern das charakteristische Merkmal genuin praktischer Objektreferenz dar.

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kompatibel. 72 Auch können (a1) und (a2) in Übereinstimmung gebracht werden, insofern es sich nicht um eine Form teleologischer Gegenständlichkeit handelt, die als Bedingung von deontischer Gegenständlichkeit fungiert. 73 Alle genannten Kompatibilitätsoptionen sind nur dann gegeben, wenn die jeweilige Zuschreibung typologisch unterschiedlicher Gegebenheitsmodi auf der Annahme basiert, dass diese Modi als hinreichend distinkte Hinsichten auf das jeweils thematisierte Element fungieren können und somit nicht gegen den aristotelischen Satz vom verbotenen Widerspruch verstoßen. Den drei genannten Spezifikationen der Gegebenheitsmodi korrespondieren drei Formen der Reifizierung von Vorstellungen. Es handelt sich dabei um die teleologische, deontische und axiologische Reifizierung. Dies sind die Bezeichnungen der unterschiedlichen Akte der Vergegenständlichung, welche die jeweiligen Spezifikationen zum Resultat haben: Wenn ich z. B. den Selbstzweck der Menschheit als Zweck interpretiere, handelt es sich um eine teleologische Reifizierung dieser Vorstellung. Beim Vergleich von zwei unterschiedlichen gegebenheitsmodalen Spezifikationen derselben Vorstellung kann man darüber Ein Beispiel für die Konvergenz von teleologischer (a1) und axiologischer (a3) Gegenständlichkeit wäre etwa eine Ethik, nach welcher das menschliche Glück den höchsten Zweck aller Bestrebungen darstellt, weil es als der höchste Wert gilt. Eine Konvergenz von deontischer (a2) und axiologischer Gegenständlichkeit (a3) liegt z. B. vor, wenn ein Gebot, ein Gesetz oder eine Pflicht als Ausdruck eines verbindlichen Werts verstanden wird und aufgrund dieses unmittelbaren Wertbezugs zu befolgen ist. 73 So gibt es z. B. die Interpretationsmöglichkeit, den kantischen Selbstzweck der Menschheit zum einen als anzustrebenden Zweck, zum anderen jedoch auch als praktisch erforderliche Voraussetzung der Pflichten zu begreifen, sodass im Falle der Annahme einer Identität oder Kongruenz von teleologischer und deontischer Gegenständlichkeit bei zugleich konstatierter Bedingtheit der Pflichten durch einen Zweck die Bedingung mit dem durch sie Bedingten gleichgesetzt würde, was nicht ohne Weiteres plausibel ist. Eine vergleichsweise unproblematische Art der Angleichung von Zwecken (a1) und Pflichten (a2) besteht z. B. darin, von der ›Pflichterfüllung als Zweck‹ zu sprechen und den Graben zwischen beiden Gegebenheitsmodi auf der sprachlichen Ebene zu überbrücken. Allerdings würde eine solche Strategie dem Niveau zumindest der Diskussion um den kantischen Ethiktyp nicht gerecht, da es nicht allein um typologisch alternative Reformulierungsmöglichkeiten bestimmter Vorstellungen, sondern auch um die von Kant her ausweisbare Bestimmung der strukturellen Relation von Selbstzweck/rationaler Natur, Sittengesetz/KI, Pflichten und Zwecken geht. Letzteres erfordert nicht nur eine Auslotung des typologisch relevanten Artikulationsspektrums, sondern darüber hinaus die Reflexion auf die diesem Spektrum vorgeordnete Idee von Moralität und moralischem Handeln samt zugehöriger systematischer Weichenstellungen. 72

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hinaus von einer gegebenheitsmodalen Modifikation sprechen. Eine gegebenheitsmodale Modifikation vollzieht sich beispielsweise dann, wenn eine zuvor teleologisch-gegenständlich aufgefasste Vorstellung (ein Zweck) auch oder stattdessen als deontisch-gegenständliche Vorstellung (als Pflicht) verstanden wird. 74 Eine solche Modifikation ist demnach ein gezielter Akt der Abwandlung einer bereits vorliegenden Spezifikation. 75 Die Beachtung und Rekonstruktion gegebenheitsmodaler Modifikationen von bestimmten typologisch relevanten Elementen ist für die in dieser Studie verfolgten Zwecke deswegen bedeutsam, weil anhand ihrer Nachzeichnung in der Darstellung und Diskussion der verschiedenen Klassifikationsthesen genauer eruiert werden kann, worin letztere sich auch auf subtiler Ebene unterscheiden. Ad (A’): Die allgemeine gegebenheitsmodale Modifikation (A) kann dahingehend präzisiert werden, dass die erststufige modale Konstatierung der teleologischen etc. Gegenständlichkeit eines Elements (des Sittengesetzes/des Selbstzwecks etc.) durch eine zweitstufige modale Modifikation ergänzt bzw. in materialer Hinsicht bereichert werden kann, indem der konstatierte Gegebenheitsmodus als instrumenteller bzw. nicht-instrumenteller spezifiziert wird. Dies würde beispielsweise bedeuten, dass das Sittengesetz erstens als mögliches Strebensobjekt des Willens rekonstruiert und somit teleologisch reifiziert, dieses Objekt in einem zweiten Schritt darüber hinaus als Mittel zur Verwirklichung eines anderen Zwecks verstanden würde. 76 Neben der Unterscheidung von Gegebenheits- und Geltungsmodus sowie der drei objektreferentiellen Intendierungsmodi muss demnach zusätzlich innerhalb des Gegebenheitsmodus zwischen einer instrumentellen (Element X ist Mittel zum Zweck Y) und einer nicht-instrumentellen Gegebenheitsform (Element X ist Zweck Y) differenziert werden. 77 Gegebenheitsmodale Modifikationen eines Elements können sowohl innerhalb ein und derselben Interpretation als auch bei einem Vergleich von zwei verschiedenen Rekonstruktionen vorliegen. 75 Jede Form der gegebenheitsmodalen Spezifikation ist das Resultat einer ihr vorausgehenden gegebenheitsmodalen Reifizierung, doch natürlich ist nicht jede gegebenheitsmodale Reifizierung eine entsprechende Modifikation. 76 Das Sittengesetz bildete somit das Element einer Zielkette. 77 Hiermit behaupte ich natürlich nicht, dass die Differenz von instrumenteller und nicht-instrumenteller Bezugnahme alle Möglichkeiten der gegenständlichen Intention erschöpft. Diese Analysehinsicht ist vielmehr die speziell typologisch interessante, da sie insofern besonders eng mit der Frage nach dem in einem Ethikmodell primär zu berücksichtigenden Wert zu tun hat, als eine instrumentelle Bezugnahme z. B. auf das 74

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Diesbezüglich ist zu beachten, dass auch ein deontisch reifiziertes Element wie eine Pflicht als Mittel zur Verwirklichung eines teleologisch oder axiologisch reifizierten Elements verstanden werden kann, welcher Fall ein exemplarisches Beispiel für eine Subordination deontisch vermittelter Normativität gegenüber teleologischen bzw. axiologischen Geltungsansprüchen darstellt. Instrumentelle oder nicht-instrumentelle Gegebenheit stellt demnach eine den drei genannten Spezifikationsmöglichkeiten übergeordnete Bestimmung des Gegebenheitsmodus dar. Darüber hinaus ist hinsichtlich der Relationen zwischen erst- und zweitstufigen modalen Modifikationen zu beachten, dass man nur im Falle der teleologischen Gegenständlichkeit von einer Restriktionsfunktion der erststufigen gegenüber der zweitstufigen Spezifikation sprechen kann, da ein Zweck niemals primär Mittel und somit vorrangig instrumentell verfügbar sein kann. 78 Andernfalls wäre die erststufige Spezifikation als Zweck von vornherein defizient. Ad (B): Die grundsätzlichen Kategorien der geltungsmodalen Spezifikation sind diejenigen der Kategorizität und der Hypothetizität. Das Sittengesetz kann in Form des Kategorischen Imperativs theoretisch als kategorisch-unbedingt geltende, aber auch als hypothetischbedingt geltende Verbindlichkeitsstruktur rekonstruiert werden. 79 Beide Kategorien stehen sich kontradiktorisch gegenüber und können im Gegensatz zu den unter Punkt (A) aufgeführten Aspekten nicht in verschiedenen Hinsichten zugleich als für ein Element zutreffend behauptet werden. Die systematische Beziehung von gegebenheits- und geltungsmodaler Spezifikation zeichnet sich durch die Vielfalt an möglichen Kombinationen aus: Es kann sowohl kategorisch (unbedingt) als auch hypothetisch (bedingt) verbindliche Zwecke, Pflichten und Werte geben, und umgekehrt werden die geltungsmodalen Kategorien ebenso Sittengesetz als Ausdruck der Annahme seiner Minderwertigkeit gegenüber demjenigen zu verstehen ist, wozu es als Mittel dienen soll. 78 Natürlich kann ein Zweck aus einer anderen, übergeordneten Perspektive auch als Mittel fungieren, doch handelt es sich bei dieser Möglichkeit um unterschiedliche gegebenheitsmodale Spezifikationen zwar desselben Elements, doch auf unterschiedlichen Reflexionsebenen. Wenn ein Zweck auf derselben Reflexionsebene zugleich als Mittel bezeichnet wird, müssen die jeweiligen Funktionskontexte hinreichend voneinander differenziert werden können, um Inkonsistenz zu vermeiden. Das Inkonsistenzproblem stellt sich m. E. daher nicht bei differenzierten Zielketten oder Zweckhierarchien. 79 Damit ist wohlgemerkt nicht gesagt, dass eine hypothetische Auffassung des KI plausibel wäre.

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wenig durch die Art der gegebenheitsmodalen Spezifikation restringiert. Die allgemeine Struktur der SD-These lässt sich anhand von sechs Teilthesen in Unterscheidung von denjenigen der D-These folgendermaßen bestimmen: SD1: These des eingeschränkten Primats deontologischer Restriktionen Die kantische Ethik impliziert, dass die Vernunft der sinnlichen Natur und den damit verbundenen zielorientierten Begehrungen des Menschen unvermeidlich bestimmte Grenzen setzt und sie dementsprechend einschränkt. 80 Diese notwendigen Einschränkungen der natürlichen Interessensverfolgung durch die reine praktische Vernunft sind auch positiv formulierbar als die Tatsache, dass sich der Mensch schon vor jeder Zielsetzung dem unbedingten Anspruch des Sittengesetzes unterworfen weiß, da jeder Willensakt eines Vernunftwesens in Form des Kategorischen Imperativs prinzipiell auch reine Vernunft beinhaltet. Implikation von These SD1: Diese Restriktionen der praktischen Vernunft sind selbst nicht zielorientiert, sondern stellen eine selbstzweckhafte Aktivität dar. Diese Aussage ergibt sich aus dem Element der These SD1, dass jede Willensbestimmung schon vor einer zielgerichteten Willensausrichtung (apriori) unter dem Anspruch der Vernunft steht. 81 Allerdings besteht auf kantischer Grundlage insbesondere im Falle der Menschheitsformel des Kategorischen Imperativs die Möglichkeit einer Rekonstruktion der deontologischen Restriktionen mittels teleologischer/axiologischer Begrifflichkeit, sodass der Primat dieser Restriktionen auch nicht-deontologisch als Anerkennung eines Werts bzw. unbedingt zu verfolgenden Zwecks verstanden und die für die D-These charakteristische Ausschließlichkeit des Vorrangs deontischer Strukturen (D1) negiert werden kann. Die Konstatierung dieser alternativen Rekonstruktionsmöglichkeit bedeutet nicht die Falschheit der deontologischen Rekonstruktionsvariante. Die Art der Einschränkung von SD1 gegenüber D1 bezieht sich auf die Form terminologischer Explikation und nicht etwa auf den Geltungsmodus des Inhalts des Sittengesetzes.

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Vgl.: Rawls 2002, S. 233. Vgl.: Horn 2002a, S. 59 ff. A

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SD2: These der deontischen und vernunftteleologischen Gegenständlichkeit des Sittengesetzes Da das Sittengesetz ein dem Willen immanentes Element darstellt und insofern schon bei dem Prozess der Zwecksetzung eine unverzichtbare Rolle spielt, kann es selbst in dieser Hinsicht kein teleologisches Objekt des Willens sein. Zumindest jedoch als Element des höchsten Guts stellt das Sittengesetz insofern auch eine zweckartige Vorstellung für den Willen dar, als dessen Verwirklichung durch zweckbestimmte Handlungen verfolgt werden kann. 82 In Form der Selbstzweckformel stellt sich das Sittengesetz zudem als imperativisch modifizierte Zweckstruktur dar. 83 Die Art der Einschränkung von SD2 gegenüber D2 bezieht sich nicht auf den Geltungs-, sondern den Gegebenheitsmodus des Sittengesetzes. SD3: These des eingeschränkt nicht-instrumentellen Charakters des Sittengesetzes Das Sittengesetz kann kein Mittel zu einem übergeordneten nicht-moralischen Zweck bzw. Guten sein, da es selbst die normative Bedingung aller Zwecke darstellt und somit apriori bestimmt, welche Zwecke moralisch gut sind. In dieser Hinsicht hängt in der kantischen Ethik das Gute (Zwecke) hinsichtlich der ursprünglichen Konstitution vollständig vom moralisch Richtigen (Sittengesetz) ab und nicht umgekehrt. Das Sittengesetz kann jedoch auch als Ausdruck des unbedingten Werts der praktisch-rationalen Vernunft verstanden und rekonstruiert werden, 84 und vor diesem Hintergrund ist eine Deutung der Befolgung des sittengesetzlich Gebotenen implizit als Mittel zur Verfolgung des Zwecks der Verwirklichung der rationalen Natur zulässig.

Vgl.: Horn 2002a, S. 57. Horn bezieht sich in dieser Passage zwar auf den teleologischen Charakter der Freiheit als Prinzip der Pflichten, doch nennt Kant meistens das Sittengesetz oder dessen Form des Kategorischen Imperativs als Pflichtenprinzip, sodass auch Horns Rekonstruktion der teleologischen Auffassung des Prinzips der Pflichten bei Kant unter SD2 eingeordnet werden kann. Auf die Differenz von Sittengesetz und Freiheit wird in Kapitel V dieser Untersuchung eingegangen. 83 Vgl.: Korsgaard 1996a, S. 17. 84 Vgl. zur rationalen Natur als höchstwertiges und wertbegründendes Element der kantischen Ethik: Wood 1999, S. 121; vgl. zur Hinordnung des guten Willens auf einen motivierenden Zweck: Wood 1999, S. 454. 82

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Die Art der Einschränkung von SD3 gegenüber D3 bezieht sich auf die Funktion des Sittengesetzes, da es nicht allein als Restriktionsprinzip, sondern auch als Element einer vernunftteleologischen Superstruktur fungiert. SD4: These der indirekten vernunftteleologischen Gegenständlichkeit des Selbstzwecks Der Selbstzweck der Menschheit ist zwar nicht nur, jedoch auch auf bestimmte Weise ein materiales Telos für den Willen. Insbesondere in Form der Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs wird der Selbstzweck der Menschheit als anzustrebender Zweck konzipiert, wobei er zwar nicht als herkömmlich hervorzubringendes Objekt verstanden wird, wohl jedoch als den direkt zu bewirkenden Zwecken übergeordnete 85 und handlungsleitende Vernunftbestimmung fungiert. 86 Die Art der Einschränkung von SD4 gegenüber D4 bezieht sich nicht auf den Geltungs-, sondern den Gegebenheitsmodus des Selbstzwecks. SD5: These der Folgenunabhängigkeit der moralischen Handlungsqualität Die moralische Qualität einer Handlung ist unabhängig von den durch die entsprechende Handlung bewirkten Folgen und bemisst sich an der Qualität der durch sie realisierten Handlungsweise bzw. Maxime. 87 Die Beurteilung der moralischen Qualität einer Maxime weicht dabei insofern partiell von dem in D5 Vorauszusetzenden ab, als nicht nur ihre formale Widerspruchsfreiheit und damit konsistenzbedingte Gesetzesfähigkeit, sondern ihr wertexpressives Potential als kriterielle Bedingung des moralischen Werts einer Handlung fungiert. Diese subtile Differenz ist auf die bereits in SD3 virulente Differenzierung zwischen dem Sittengesetz als oberstem moralisch maßgeblichen Kriterium und der praktischen Vernunft als Vermögen der handlungsbestimmenden Berücksichtigung dieser normativen Instanz zurückzuführen. Vertre-

Vgl.: Horn 2004, S. 211 f. Vgl.: Korsgaard 1996a, S. 17. Wie in Kap. III.2.2.3 dieser Studie näher ausgeführt wird, bevorzugt Korsgaard die Redeweise von einem ›negativen Zweck‹, dem man nicht zuwider handeln solle. Dennoch behandelt sie den Selbstzweck als vernunftteleologisches Element. 87 Vgl.: Rawls 2002, S. 233; vgl.: Wood 1999, S. 40 ff. 85 86

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ter der SD-These betonen daher meist den gegenüber der UF vorrangigen Wert der SZF als KI-Formel zur Maximenanalyse. 88 SD6: These der eingeschränkt untergeordneten Relevanz von Wertbestimmungen Werte spielen in der kantischen Ethik zwar eine untergeordnete, zu ihrem adäquaten Verständnis allerdings unverzichtbare Rolle. Diese Bedeutsamkeit von Werten und Wertsetzungen kann allgemein beschrieben werden als die unverzichtbare Relevanz einer Konzeption des Guten, welche nicht immer per definitionem mit dem Sittengesetz identisch ist. Dabei kann es sich um natürliche 89 oder soziale Sachverhalte 90 und Bedürfnisse 91 , aber auch um transzendental-handlungstheoretische Elemente 92 handeln, wobei die auf natur- und sozialaxiologischer Gegenständlichkeit basierende Konzeption des Guten im Unterschied zum vernunftaxiologisch fundierten Guten strukturell nicht mit dem sittengesetzlich bestimmten Richtigen verbunden ist. 93 Die Tugendlehre aus der MS stellt darüber hinaus ein Element dar,

Vgl.: Korsgaard 1996a, S. 124; Wood 1999, S. 139 f.; Horn 2004, S. 196 ff. Vgl. zur Relevanz naturteleologischer Konzepte: Wood 1999, S. 214 f. und S. 207. 90 Das Reich der Zwecke als Gegenstand des Sittengesetzes wird von Rawls empirisch gedeutet als zwar apriorisch angelegtes, zugleich aber konkretes, empirisches Objekt der praktischen Vernunft, das in einem gerechten Gemeinwesen, also einem sozialen Gebilde besteht. Rawls lässt an dieser Deutung keinen Zweifel aufkommen: »Das Reich der Zwecke ist ein weltliches Ideal.« Vgl.: Rawls 2002, S. 405. Er sieht die materiale Füllung dieser Idee besonders in Kants politischen Schriften realisiert. An anderer Stelle betont er, dass dieses Reich ein natürliches Gut und das Streben nach ihm mit der bestehenden Naturordnung problemlos kompatibel sei; vgl.: Rawls 2002, S. 299. 91 Vgl. dazu Rawls: »Nach meinem Verständnis sagt Kant, daß wir bestimmte wahre menschliche Bedürfnisse haben, daß also bestimmte Voraussetzungen bestehen, deren Erfüllung nötig ist, damit die Menschen ihr Leben genießen können. Es ist eine Pflicht gegen sich selbst, daß man sich um die Erfüllung dieser Bedürfnisse kümmert, und es gibt eine Form des Geizes, die uns verlockt, diese Pflicht zu verletzen […]. Demnach müssen wir (soweit es die Umstände zulassen) eine soziale Welt wollen, in der diese Garantie [die Garantie der Möglichkeit der Berücksichtigung eigener Bedürfnisse, C. B.] gegeben ist.« S.: Rawls 2002, S. 238. Eine solche material aussagekräftige Idee sei notwendig, um »dem Willen eines als vernünftig und rational angesehenen Akteurs Inhalt zu verleihen.«; s.: Rawls 2002, S. 294. 92 Vgl.: Korsgaard 1996a, S. 17; vgl. ebenso: Korsgaard 1996b, S. 122. 93 Auch wenn ein vernunftaxiologisch bestimmtes Gutes qua definitionem nicht identisch mit dem Sittengesetz oder dem ›Richtigen‹ ist, muss es kategorial von einem natürlichen Gut/Guten unterschieden werden. 88 89

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welches von Kant nicht in deontischen, sondern zweckbezogenen Begriffen formuliert ist. 94 Die Art der Einschränkung von SD6 gegenüber D6 bezieht sich im Falle der Annahme eines anzunehmenden natürlichen/sozialen Guts (natur- bzw. sozialaxiologische Gegenständlichkeit) weder auf den Gegebenheits- noch den Geltungsmodus des Sittengesetzes, da es dennoch deontisch reifiziert und seine Geltung nicht relativiert wird. Durch die explizite Konstatierung natürlich oder sozial basierter Werte wird somit keine kontingente Bedingung des Gehalts des Moralgesetzes eingeführt, sondern eine kontingente Bedingung nur der Ausübung von Moralität anerkannt. Vor dem Hintergrund des dem Sittengesetz vorgeordneten Werts der praktischen Akteuridentität bzw. der Idee der praktischen Vernunft bezieht sich die Art der Einschränkung gegenüber D6 auf die präsuppositionslogische Relation von Wert/ Axiologie (praktische Identität bzw. Vernunft) und Norm/praktischer Verbindlichkeit (Sittengesetz/Kategorischer Imperativ). Systematische Hauptelemente der SD-These Entscheidend für ein Verständnis des allgemeinen Grundgedankens der SD-These ist die Berücksichtigung der unterschiedlichen gegebenheitsmodalen Einschränkungen bestimmter Elemente der D-These, welche sich jedoch in keinem Fall auf den Geltungsmodus, d. h. die moralisch verbindliche Normativität des ersten Prinzips und des Selbstzwecks bezieht. Das Profil der SD-These wird partiell von denselben Elementen geprägt wie dasjenige der D-These und unterscheidet sich demnach vor allem hinsichtlich ihrer Interpretation und Gewichtung innerhalb des Ganzen der kantischen Ethik. Für die SD-These sind folgende Elemente von besonderer Relevanz: 1. das Sittengesetz/der Kategorische Imperativ, 2. das höchste Gut, 3. der Wert der rationalen Natur, 4. die Menschheit als auch zu verwirklichender Selbstzweck, 5. der moralische Handlungswert, 6. die empirischen (natürlichen/sozialen) Bedingungen des Menschen und 7. die Tugendlehre. Das Sittengesetz/der Kategorische Imperativ (1) wird wie in der D-These als Vernunftidee bzw. kategorisches Gebot aufgefasst, wobei vor allem die Menschheitsformel des KI mittels nicht-deontischer (teleologischer/ Vgl.: Wood 1999, S. 327. In dieser Auffassung fungiert die Tugendlehre als vernünftige Güterlehre, sodass hier eine enge Wechselrelation von Zwecken und Werten vorliegt.

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axiologischer) Terminologie rekonstruiert wird. Die für die D-These charakteristische deontische Gegenständlichkeit des Sittengesetzes wird insofern relativiert, als es im höchsten Gut als der Idee der Glückswürdigkeit (2) einen zu befördernden und verwirklichenden Zweck menschlichen Handelns darstellt. Im Anschluss an SD1 wird das Sittengesetz in SD3 als begriffliche Konkretion der kantischen Vernunftidee von Moralität verstanden und diese Moralitätsidee wiederum als Ausdruck des absoluten Werts der zugrundeliegenden Vernunftnatur (3) rekonstruiert. Eine ebenfalls eindeutige Abweichung von der D-These stellt die Auffassung des Selbstzwecks der Menschheit (4) dar, da dieser nicht nur in Parallele zur Rekonstruktion des Sittengesetzes in D1 als Restriktionsstruktur, sondern darüber hinaus als anderen Einzelzwecken übergeordneter, dennoch grundsätzlich anzustrebender Zweck gedeutet wird. Der moralische Wert einer Handlung bzw. der ihr zugrunde liegenden Maxime (5) wird dabei wie in D5 als gegenüber den jeweiligen Handlungsfolgen indifferent skizziert, zugleich jedoch über das Kriterium der internen Konsistenz hinaus anhand seiner strukturellen Relation zum Wert der rationalen Natur bestimmt. Insbesondere in den Rekonstruktionen von Rawls und Wood wird auf jeweils ähnliche Art und Weise darauf verwiesen, dass Kant auch die empirische/anthropologische Bedingtheit des Menschen berücksichtigt habe und demnach bestimmte, natürlich gegebene Bedürfnisse sowie spezifische Zwecke sozialer Provenienz (6) neben dem streng moralisch Gebotenen legitimerweise als anzustrebendes Gut fungieren dürften bzw. sogar sollten. Die Tugendlehre der MS (7) wird darüber hinaus als teleologische und zudem materiale Ergänzung des in der GMS und KpV Konstatierten ausgelegt, wobei ein eudaimonistischer Deutungsrahmen abgelehnt wird. III.2.2.3 Konkrete Formen der SD-These: Korsgaard und Wood Während sich Korsgaards transzendental-handlungstheoretische Interpretation (A) durch die Reflexion der Relation von Akteuridentität, Handlung und diesbezüglich vorauszusetzenden praktisch-axiologischen Annahmen auszeichnet, stellt Woods Version (B) mit ihrer Betonung der sowohl empirischen als auch axiologischen Aspekte sozusagen eine eigentümliche Abwandlung von Korsgaards Ansatz dar. Ad (A): Korsgaards Kant-Rekonstruktion ist von einer grundsätzlichen These getragen: Kants entscheidende Einsicht sei gewesen, dass Normativität und Wert nicht, wie noch in der antiken Philosophie an106

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genommen, von den uns umgebenden Objekten der Natur oder sozialen Konstrukten abzuleiten seien, sondern vielmehr aus der menschlichen Fähigkeit zur rationalen Selbstgesetzgebung, zur Autonomie resultierten. 95 Sowohl die in der ethischen Theorie primäre praktische Normativität als auch moralisch relevante Wertsetzungen und die daraus resultierenden Werte würden nach Kant demnach aktiv durch Akteure erzeugt. 96 Dabei stünde der Akt der Wert- und Normativitätskonstitution nach Kant in unmittelbarer Verbindung zur praktischen Identität des Akteurs: He argues that the conception of ourselves as ›ends-in-ourselves‹ is a presupposition of our rational choice. To choose something is to take it to be worth pursuing; and when we choose things because they are important to us we are in effect taking ourselves to be important. 97

Jegliche objektreferentiellen Zweck- und Wertsetzungsakte seien auf die selbstreferentielle Wertschätzung der Akteuridentität als höchster Selbstzweck bzw. -wert zurückzuführen: Weil jeder Akteur seine eigenen Zwecke für erstrebenswert und gut ansehe, fasse er das diesen Zwecken zugrundeliegende Zwecksetzungsvermögen der Menschheit implizit als ursprüngliche Wertquelle auf, sodass die Menschheit als transzendentale Bedingung aller Zwecksetzungen bzw. Handlungen auch die moralisch adäquate Willensbestimmung betreffe: »These conVgl.: Korsgaard 1996b, S. 1 ff. Auch wenn Korsgaards prozeduraler Realismus nur partiell auf Kant rückführbar zu sein scheint, bezeichnet er dennoch in einer ihren eigenen Ansatz erläuternden Passage auch die Essenz ihrer Interpretation der kantischen Axiologie: »[…]: values are constructed by a procedure, the procedure of making laws for ourselves.« S.: Korsgaard 1996b, S. 112. Daher ist es auch grundsätzlich berechtigt, Korsgaards Ansatz mit Höffe als konstruktivistisch zu bezeichnen; vgl.: Höffe 2004, S. 261. 97 S.: Korsgaard 1996a, S. IX. Dieser Rekurs auf die praktische Akteuridentität soll vor allem der Eingrenzung der Reichweite der Geltung universaler moralischer Gesetze bei Kant dienen. Dabei bedeutet das Handeln unter einer Vorstellung von praktischer Identität nichts anderes als das Offensein für Handlungsgründe und somit die Fähigkeit der Anerkennung von Normativität, welchen Gedanken Korsgaard in Anbindung an die kantische Selbstzweckkonzeption entwickelt: »Since you are human you must take something to be normative, that is, some conception of practical identity must be normative for you. If you had no normative conception of your identity, you could have no reasons for action, and because your consciousness is reflective, you could then not act at all. Since you cannot act without reasons and your humanity is the source of your reasons, you must value your own humanity if you are to act at all.« S.: Korsgaard 1996b, S. 123. 95 96

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siderations establish humanity as the objective end needed for the determination of the will by a categorical imperative.« 98 Die rationale oder vernünftige Natur zeichne sich in der kantischen Ethik somit prinzipiell durch das Vermögen der ursprünglichen Werterzeugung und -zuschreibung aus, wobei sich in der Idee des in transzendental-handlungstheoretischer Hinsicht notwendigen Selbstzwecks der Menschheit als unhintergehbarer Handlungsfähigkeit die ganze strukturelle Komplexität der Vernunftnatur manifestiere. Die Abhängigkeit der objektreferentiellen Wertschätzungsakte von selbstbezüglichen Schätzungsvollzügen beziehe sich auch auf Handlungen: Eine Handlung sei nach Kant nicht deswegen moralisch, weil praktische Normativität eine intrinsische Eigenschaft der jeweiligen Handlungen ausmache, sondern aufgrund ihrer Bestimmtheit durch die intrinsische Normativität der praktischen Vernunft als Autonomie. 99 Die spezifische Artikulation des Kategorischen Imperativs in Gestalt der Menschheitsformel sei dabei insofern unumgänglich und nicht nur als eine äußerliche Spielerei aufzufassen, als es im Ausgang von der kantischen Handlungstheorie notwendig sei, dem menschlichen Willen ein Objekt seines zweckgerichteten Strebens bereitstellen zu können: »Pure practical reason itself must gain access to us through ends.« 100 Die Menschheits- oder Selbstzweckformel stelle dementsprechend ein dem Menschen fassbares moralisches Ziel seiner Handlungen bereit und komme dem menschlichen Zweckbedürfnis entgegen, ohne dass es mit der für Kant primären Willensbestimmung aus Pflicht konfligiere. Korsgaard differenziert dabei deutlich zwischen der Universalisierungs- und der Menschheitsformel, da beide z. B. im Falle des kantischen Lügenbeispiels zu unterschiedlichen Resultaten führten. 101 Im Vergleich zur Universalisierungsformel sei die auf dem Selbstzweck der Menschheit basierende KI-Formel strenger, auch wenn beide Formeln auf demselben axiologischen Fundament gegründet seien. Allerdings begreift Korsgaard die kantische Menschheitsidee primär als negativen Zweck, dem man nicht zuwider handeln solle, und weniger als S.: Korsgaard 1996a, S. 17. Vgl.: Korsgaard 1996b, S. 36. Dies muss als Konkretisierung der bereits erwähnten Annahme verstanden werden, dass nach Kant Objekte (also auch Handlungen als ›prozessuale Objekte‹) generell keinen Wert an sich besitzen können. 100 S.: Korsgaard 1996a, S. 177. 101 Im Unterschied zur UF verbiete die SZF das Lügen; vgl.: Korsgaard 1996a, S. 134 f.; vgl. zu Gemeinsamkeiten und Differenzen beider Formeln: Korsgaard 1996a, S. 143 f. 98 99

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positiv wohlbestimmtes Handlungsziel. 102 In Strukturanalogie zur deontologischen Auffassung von Vernunftgeboten fungiert die rationale Natur als begrenzende Bedingung rationaler Wahlakte sowie Handlungen, 103 und das Vermögen zur rationalen Wahl wird ebenfalls als nicht hervorzubringender, sondern unter klassisch-strebenstheoretischen Hinsichten unzugänglicher Zweck skizziert. 104 Die Idee der intelligiblen Welt und der intelligiblen Existenz des Menschen besitze sowohl in der GMS als auch in der zweiten Kritik dieselbe, nämlich werttheoretisch-motivierende Funktion, 105 auch wenn beide genannten Werke in einem entscheidenden Aspekt voneinander abwichen: Die Pointe der Faktumslehre aus der KpV bestehe im Gegensatz zu dem von Kant in der GMS Intendierten in der Erkenntnis, dass wir uns nicht nur als intelligible Existenzen denken, sondern darüber hinaus von derartigen Ideen auch zum konkreten Handeln in der empirisch verfassten Welt motivieren lassen könnten. 106 Ad (B): Die grundsätzlich deontologische Richtung von Woods Kant-Interpretation wird deutlich, wenn er im Kontext der Diskussion des Zusammenhangs von moralischem Handlungswert und Maximenstruktur in der GMS betont, dass nach Kant der jeweilige Wert 102 Vgl.: Korsgaard 1996a, S. 17 und S. 124 f. Grundsätzlich sei bei Kant zwischen hervorzubringenden und nicht zu verletzenden Zwecken zu unterscheiden; vgl.: Korsgaard 1996a, S. 108. Die Menschheit sei nach Kant zwar ein negativer Zweck, stelle jedoch das materiale telos des Kategorischen Imperativs dar; vgl.: Korsgaard 1996a, S. 110. 103 Vgl.: Korsgaard 1996a, S. 123. 104 Vgl.: Korsgaard 1996a, S. 125. 105 Vgl.: Korsgaard 1996a, S. 170 f. 106 Vgl.: Korsgaard 1996a, S. 170. Korsgaard deutet Kants Motivationstheorie demnach als eine Form des Internalismus, der keine nicht-moralischen Triebfedern als Bestimmungsgrund des Willens zulasse: »The motivating thought of morality is the thought that you can contribute to making the world a Kingdom of Ends.« S.: Korsgaard 1996a, S. 29. Dabei darf man Korsgaard nicht missverstehen: Nicht das sinnliche oder auch intellektuelle, aber egoistisch ausgerichtete Verlangen nach einem primär empirisch aufgefassten Reich der Zwecke sei die handlungsrelevante Idee, sondern die beim Gedanken des Reichs der Zwecke vorausgesetzte Idee der Freiheit: Nur durch unser moralisches Handeln und somit durch die Ausübung unserer Freiheit zur rationalen Wahl sei eine (in letzter Konsequenz natürlich auch empirisch zu verstehende) Welt möglich, die nicht durch primär naturgesetzliche Kontingenz, sondern vielmehr die praktische Umsetzung moralischer Leitideen wie der wechselseitigen Anerkennung der Menschen als selbstzweckhafte und wertstiftende (»value-conferring«) Akteure geprägt sei. Das Reich der Zwecke sei ein Ideal, kein zu bewirkendes Ziel; vgl.: Korsgaard 1997, S. 321.

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nicht in dem durch die Maximen angestrebten Ziel, sondern in der strukturellen Beschaffenheit der Maxime selbst liege. 107 Grundsätzlich versteht Wood die drei Versionen des Kategorischen Imperativs 108 in der GMS als Annäherung an den Wert, der dem KI als solchem zugrunde liegt: Die Naturgesetzformel (FLN) basiere auf dem unbedingten Wert des guten Willens, der seinerseits in der Idee der Pflicht als Achtung vor dem Sittengesetz seinen Ausdruck finde. Dabei handele es sich jedoch nur um einen rein formalen Zugang zum moralischen Wert, der durch die Menschheitsformel (FH) material angereichert werde: »It represents the substance of our absolute self-worth as the worth of our rational nature as such.«109 Die Autonomieformel (FA) stelle nun die Kombination dieser beiden formal und material bestimmten Wertkonzeptionen dar. Wood rekonstruiert die unterschiedlichen Artikulationen des Kategorischen Imperativs demnach grundsätzlich als stufenweise Explikation axiologischer Basisannahmen Kants. 110 Die material-axiologische Prämisse der unbedingten Würde der rationalen Natur des Vernunftwesens bzw. des Menschen stehe nicht im Widerspruch zur formalen Forderung der Universalisierbarkeit der handlungsleitenden Maximen oder der zweckunabhängigen Gutheit des guten Willens, sondern käme vielmehr der schon früh gewonnenen Einsicht Kants entgegen, dass jede Willensbestimmung einen Zweck 107 Vgl.: Wood 1999, S. 40 ff. Wood lässt keinen Zweifel daran, dass Kants These vom unbedingten Wert des guten Willens und der tugendhaften Handlung nicht ohne Weiteres mit dem konsequentialistischen Kriterium der konstitutiven moralischen Qualifikation der Handlungsfolgen kompatibel sei, auch wenn sich nach ihm beide Perspektiven nicht apriori widersprechen müssen. Darüber hinaus stellt er fest, dass aufgrund der unzulässigen Voraussetzung eines Objekts der praktischen Vernunft kein materiales Prinzip als praktisches Gesetz fungieren könne und das adäquate Konzept des Guten vom moralischen Gesetz abgeleitet werden müsse. Nach Wood ist ein vorausgesetztes nicht-moralisches Gutes als Grund des Sittengesetzes mit der kantischen Ethik also nicht zu vereinbaren. 108 Die allgemeinste und abstrakteste Form des Kategorischen Imperativs sieht Wood in der folgenden, ›CI‹ bezeichneten Aussage aus der GMS: »Adopt only maxims that conform to universal law as such.« S.: Wood 1999, S. 78. Vgl. zu Woods weiteren Differenzierungen: Wood 1999, S. 17 f. 109 S.: Wood 1999, S. 75. 110 Die Naturgesetzformel in der MS begründe nur eine positive Pflicht, die Menschheitsformel jedoch elf Pflichten; vgl.: Wood 1999, S. 140. Wood geht in diesem Zusammenhang so weit zu behaupten, dass eine Negation der Gesetzesformel nicht identisch sei mit der Zurückweisung der kantischen Ethik; vgl.: Wood 1999, S. 97.

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als Bestimmungsgrund des Willens erfordere. Die spezifisch kantische Relationsbestimmung von absolutem Wert der rationalen Natur, kategorischer Sollensforderungen und der Setzung notwendiger Zwecke zeigt sich nach Wood vor allem in der Menschheitsformel (FH), die für die Anwendung des Moralprinzips als zentral angesehen werden müsse: 111 Während konsequentialistische Theorien die Erfüllung von Pflichten als Herbeiführung bestimmter erstrebter Zustände begreifen würden, deuteten deontologische Theorien (wie es Kants Ethik im alleinigen Ausgang von der Universalisierungsformel (FUL) sei) dies als Gehorsam gegenüber einem verpflichtenden Gesetz oder einem Befehl. Dagegen sei FH genau genommen weder das eine noch das andere: Though FH takes the form of a rule or commandment, what it basically asserts is the existence of a substantive value to be respected. This value does not take the form of a desired object to be brought about, but rather the value of something existing, which is to be respected, esteemed, or honored in our actions. 112

Kant weiche dabei vom utilitaristisch-konsequentialistischen Denken in zwei Punkten ab: Erstens bestreite er die Prämisse, dass bestimmte Zustände die basalen Wertträger seien, zweitens gehe es nach Kant in der Moral nicht darum, etwas hervorzubringen oder herbeizuführen. 113 Auch die Tugendpflichten der MS seien zwar durchaus als Zwecke des menschlichen Strebens 114 formulierbar, stellten aber zugleich 111 Vgl.: Wood 1999, S. 141. Wohlgemerkt bedürfe auch FH noch ergänzender, empirischer Prämissen zur Vermittlung des KI mit der Alltagsrealität; vgl.: Wood 1999, S. 154. Grundsätzlich haben Woods Ausführungen bezüglich bestimmter Anwendungsprobleme des Kategorischen Imperativs einen tendenziell apologetischen Charakter; vgl.: Wood 1999, S. 155. 112 S.: Wood 1999, S. 141. 113 Vgl.: Wood 1999, S. 141. 114 Die Tugendlehre sei »overwhelmingly teleological« und innerhalb des Systems der ethischen Pflichten könne man die kantische Vorgehensweise nicht als im klassischen Sinne deontologisch, sehr wohl jedoch als teleologisch bezeichnen; vgl.: Wood 1999, S. 327. Zu diesem Schluss kommt Wood, da er in der Tugendlehre nicht den Vorrang des rein Moralischen, sondern der zu bewirkenden Zwecke vorliegen sieht. Sogar die vollkommenen Pflichten gründeten auf teleologischen Überlegungen und nicht auf rein deontologischen Beschränkungen. Insofern besteht eine innere Spannung in den diesbezüglichen Ausführungen Woods. Seine Antwort auf das Vereinbarungsproblem von deontischen und konsequentialistischen Elementen besteht darin, die begründungstheoretische Reflexionsebene von der Art der Argumentation in Anwendungsfragen zu dif-

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keine Zwecke nach dem Muster klassischer teleologischer Ethiken dar. Den Unterschied zum Perfektionismus 115 sieht Wood genauer darin begründet, dass zwar auch der Anhänger einer teleologischen Vollkommenheitsethik das Prinzip der Verpflichtung auf eine bestimmte Wertschätzung zurückführt, der moralische Akteur im Kontext der kantischen Ethik jedoch nicht nur bestimmte vernünftige Zwecke für wertvoll erachtet, sondern zudem die rationale Natur bzw. die rationale Selbstgesetzgebung als Quelle aller Werte unbedingt schätzt. 116 Darüber hinaus zeichnet sich Woods schwach deontologische Interpretation durch die Betonung der Relevanz naturteleologischer und empirischer Sachverhalte für das Profil der kantischen Ethik aus. So wendet er sich z. B. gegen Hills These, dass man auf dem Boden der kantischen Ethik ohne Kenntnis der empirischen Struktur anderer Menschen bestimmen könne, was jeweils (also situativ spezifiziert) moralisch geboten sei. 117 Ebenso sieht er im Gegensatz zu z. B. Paton die Rolle einer praktischen Anthropologie bei Kant nicht nur in der Hilfeleistung bei der Bestimmung konkreter Mittel, um einen moralischen Zweck zu verfolgen und gegebenenfalls zu erreichen: »[…] in fact Kant regards empirical information about human nature as well as a priori or metaphysical principles as determining the content of moral ends and thereby of ethical duties.« 118 Im Ausgang von der Menschheitsformel FH müsse man zwangläufig auf Erfahrungswissen über die menschliche Natur zurückgreifen, um entscheiden zu können, welche Zwecke und daher welche Art von Maximenbildung und Handlung als adäquater Ausdruck der Achtung vor der rationalen Natur angesehen werden können. Eine herausragende Bedeutung innerhalb dieser praktischen Anthropologie müsse bestimmten naturteleologischen ferenzieren: »Kant’s theory of ethical duties is consequentialist in its style of reasoning, but not in its fundamental principle.« S.: Wood 1999, S. 414 Anm. 14. 115 Wood bezieht sich darüber hinaus auf Kants Einschätzung in der GMS, dass der Perfektionismus dem Gedanken der Autonomie am nächsten komme; vgl.: Wood 1999, S. 161. 116 Vgl.: Wood 1999, S. 162. Umgekehrt gehöre es nicht zur Struktur einer perfektionistischen Ethik, dass man z. B. intellektuelle Bedürfnisse als solche für wertvoll erachte, sondern einzig die jeweiligen Vorstellungen vom Vollkommenen oder objektiven Guten. Darüber hinaus laufe Kants Kritik am Eudaimonismus aristotelischer und stoischer Prägung nicht auf das Heteronomie-Problem, sondern auf die Unterbestimmtheit des Begriffs der »Vollkommenheit« hinaus; vgl.: Wood 1999, S. 161 f. 117 Vgl.: Wood 1999, S. 195. 118 S.: Wood 1999, S. 195.

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Annahmen zugeschrieben werden, die insbesondere bei der Behandlung menschlicher Fähigkeiten und Eigenschaften zum Tragen kämen. 119 Dies zeige sich auch darin, dass die in Kants Philosophie der Geschichte und Politik formulierten Zielvorstellungen des menschlichen Zusammenlebens nicht moralische, sondern natürliche Zwecke seien. 120 III.2.2.4 Zusammenfassung Der an der Relation von D1 und SD1 aufgezeigte Charakter der Einschränkungen der SD-These gegenüber der starken Variante ist insofern von exemplarischer Natur, als die Vertreter der SD-These in erster Linie einen anderen Gegebenheitsmodus des Sittengesetzes bzw. des Selbstzwecks behaupten sowie, damit einhergehend, die Verwendung einer von der D-These abweichenden teleologischen oder axiologischen Terminologie als zulässig oder gar erforderlich erachten. Die vor allem von Wood betonte Relevanz empirisch-anthropologischer Teilthesen soll im Rahmen der SD-These keine geltungstheoretische Unterminierung des obersten Moralprinzips mit sich führen, sondern allein die Ausführungsbedingungen des für moralisch wertvoll Erkannten betreffen. Das Besondere von Korsgaards Rekonstruktion und das Charakteristikum ihrer Variante des schwach-deontologischen Interpretationsmodells muss in der konsequenten Herausarbeitung der Relation von kantischer Handlungstheorie, dem Konzept moralischer PrinziWood erwähnt z. B. die kantischen Versuche einer naturteleologischen Erklärung des menschlichen Schlafs bzw. Träumens oder des Ärgerns; vgl.: Wood 1999, S. 207. 120 »The teleology in Kant’s philosophy of history is not a moral teleology, supporting a belief in nature’s purposes from a practical standpoint. On the contrary, the only connection he draws between our goals and nature’s operates in exactly the opposite direction: The problem of a civil constitution is one set for us by nature. The ends of morality are to be devised subsequently, with this natural ends as something given.« S.: Wood 1999, S. 214 f. Trotz dieser durchaus deutlichen Hervorhebung teleologischer Strukturen bei Kant wehrt sich Wood gegen die im Rahmen der Diskussion der kantischen Pflichtenlehre vorgebrachte These Sidgwicks, dass Kants Begriff der Vollkommenheit einen impliziten teleologischen Bezug »to some end beyond itself« habe, der das Streben nach Vollkommenheit zum Mittel der Erreichung eines übergeordneten und mit Glückseligkeit verbundenen Zwecks mache; vgl.: Wood 1999, S. 326. Dies könne höchstens dann der Fall sein, wenn der kantische Vollkommenheitsbegriff rein technisch im Sinne einer Anpassung an einen gegebenen Zweck zu verstehen sei. Da »Vollkommenheit« bei Kant jedoch nicht zuletzt auch die selbstzweckhafte moralische Vollkommenheit umfasse, kommt Wood zu dem Schluss: »[…] Kant’s theory of duties does not collapse into a system of eudaemonistic consequentialism.« S.: Wood 1999, S. 327. 119

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piengeltung und der selbstreflexiven Tiefenstruktur von Wertsetzungen gesehen werden. Autonomie erweist sich in dieser Perspektive als erststufig selbstreferentielle und zweitstufig objektreferentielle Fähigkeit zu unbedingter sowie bedingter Wertsetzung, was daher nicht nur für objektbezogene Wertzuschreibungen, sondern in erster Linie für die praktische Erfassung des absoluten Selbstwerts der eigenen Identität als rationaler Akteur als konstitutiv verstanden werden muss (SD6). Unbedingtheit und Bedingtheit der jeweils konstatierten Werte seien dabei nicht unmittelbar logisch mit dem Problem von Akteurs- oder Objektreferenz verknüpft, denn mit der Menschheitsformel verfüge Kant auch über eine Formel des Kategorischen Imperativs, welche eine moralisch notwendige und somit unbedingt wertvolle Zweckstruktur als primär negatives praktisches Objekt 121 konkreter Handlungen bereitstelle (SD4). Aufgrund ihrer grundsätzlichen Auffassung von Handlungen als Wertsetzungs- bzw. Anerkennungsakten und der zugleich bestehenden Annahme der impliziten Verbindung von objektreferentiellen und selbstreferentiellen Wertzuschreibungsvollzügen ergibt sich, dass aufgrund dieser Prämissen auch jede objektbezogene Handlung als Ausdruck eines praktischen Selbstverhältnisses des Akteurs zu seiner eigenen Identität verstanden werden muss. Korsgaards Rekonstruktion ist daher insofern deontologisch, als sie am Primat deontologischer Handlungsrestriktionen bei Kant festhält; sie ist eine schwach-deontologische Interpretation, da Korsgaard zum einen diesen Primat im Unterschied zu den Vertretern der starken D-These auf praktische, handlungstheoretisch rekonstruierte Wertsetzungen zurückführt, welche sie als für die Akteuridentität konstitutiv versteht (SD1), zum anderen den Selbstzweck der Menschheit nicht allein als handlungsbedingendes, sondern zudem handlungsleitendes Element der kantischen Ethik versteht, sodass die Idee der Menschheit bei ihr auch eine (vernunft-)teleologische Funktion erfüllt. Autonomie als rationaler Wertgrund von moralischer Verbindlichkeit wird explizit als moralkonstitutive Handlung beschrieben, woraus die für Korsgaard charakteristische Verbindung von axiologischen, deontologischen und handlungstheoretisch-teleologischen Rekonstruktionsgesichtspunkten resultiert. 121 Ein negatives Objekt ist in diesem Zusammenhang ein Zweck, welcher in erster Linie durch Unterlassungshandlungen als Einlösung von sittengesetzlich instanziierten Restriktionsansprüchen angestrebt bzw. verwirklicht werden kann.

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Wood versucht insgesamt einerseits, die Fundierung der kantischen Ethik in dem Wert der rationalen Natur herauszuarbeiten, andererseits ist er zugleich der Ansicht, dass Kant von der Relevanz empirischer Gegebenheiten 122 für die materialen Aspekte seiner Ethik überzeugt war und neben dem unbedingten Wert des praktisch-rationalen Wesens auch diesen Aspekt der menschlichen Existenz für moralphilosophisch relevant befand (SD6). 123 Der Kategorische Imperativ in Form der Menschheitsformel fungiert in dieser Sicht als Aufforderung zur Achtung des Werts der Menschheit und wird primär in seiner expressiven Funktion als handlungsleitende Artikulation der Anerkennung eines bereits existenten Werts und nicht als Produktion eines noch nicht bestehenden Sachverhalts bzw. Gegenstands aufgefasst. Die Positionierung Woods in der ethiktypologischen Debatte als Vertreter der SD-These kann im Kontext seiner Auslegung und Gewichtung der unterschiedlichen KI-Formulierungen insofern pointiert auf den Punkt gebracht werden, als Kant nach Wood bei alleiniger Betrachtung der Gesetzesformel ein klassischer Deontologe ist, die Primärrelevanz der Menschheitsformel jedoch gegen eine solche Klassifikation spricht. Diese Einsicht bedingt eine Abschwächung der Konstitutivität deontologischer Elemente und Strukturen in der Beurteilung Woods (SD1), welche zudem durch die nachdrückliche Hervorhebung der Bedeutung naturteleologisch-empirischer Strukturen flankiert und zusätzlich verstärkt wird (SD6). 124 Zwar existieren durchaus Berührungspunkte zu Korsgaards Version der SD-These, doch betont Wood vehementer die Relevanz von Konzepten des nicht-moralischen Guten für ein adäquates Kant-Verständnis. Darüber hinaus konzentriert er sich im Unterschied zu Korsgaard stärker auf die Frage der Wertanerkennung als auf diejenige der Wertsetzung. 125 Vgl.: Wood 1999, S. 70. »[…] as a self-conscious representative of the Enlightenment, Kant never meant to deny the essential place of ethics of an empirical study of human nature.« S.: Wood 1999, S. 10. 124 Hier bestehen bestimmte Berührungspunkte zu Rawls, der ebenfalls von der relativen Eigenständigkeit eines Konzepts des natürlichen Guten bei Kant ausgeht. Allerdings arbeitet Wood nicht hinreichend heraus, ob die Naturteleologie in Kants politisch und geschichtlich orientierten Werken als Ausdruck einer nicht-moralischen Theorie des Guten oder als moralisch primär neutrale Anerkennung empirischer Notwendigkeiten verstanden werden sollte. 125 Vgl. zu einer stärker harmonisierenden Deutung von Korsgaard und Wood: Kerstein 2006. 122 123

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III.2.2.5 Fazit: Kernaspekte der D- und SD-These Die der D- und der SD-These gemeinsame Hauptstruktur stellt die These des Primats deontologischer Restriktionen (D1) dar, welche auch in der eingeschränkten Form (SD1) die zweckunabhängige Kategorizität des Kategorischen Imperativs und darüber hinaus denselben Gehalt des Sittengesetzes impliziert. Die Zweckunabhängigkeit der Geltung des KI muss dahingehend präziser beschrieben werden, dass die unbedingte Verbindlichkeit moralischer Imperative auch im Rahmen der SD-These nicht an die Bedingung einer partikularen Zweckdienlichkeit gebunden ist, sondern vielmehr insbesondere in Form der Selbstzweck- oder Menschheitsformel selbst als höherstufiger, anderen Einzelzwecken regulativ übergeordneter und aus der Akteuridentität als Handlungsfähigkeit bzw. Autonomie transzendental-reflexiv zu erschließender Vernunftzweck (Korsgaard, Horn) rekonstruiert wird. In SD1 wird demnach keine von D1 systematisch abweichende Geltungsbedingung etwa eines die vernunftteleologischen Elemente bedingenden nicht-vernünftigen Zwecks postuliert, sondern ein über D1 hinausgehender begrifflicher Artikulationsrahmen vorausgesetzt. In dieser Hinsicht besteht die in der SD-These vollzogene Abschwächung der D-These streng genommen nicht in einer Ein-, sondern vielmehr in einer Entschränkung des Bereichs der für zulässig befundenen begrifflichen Handlungsspielräume. Darüber hinaus resultiert auch aus der Modifikation von D2 zu SD2 keine geltungsmodale Umdeutung des Sittengesetzes, da das Sittengesetz in beiden Teilthesen unbedingt gilt und somit in Form des Kategorischen Imperativs die Funktion der Prinzipiierung unbedingter moralischer Gebote übernehmen kann. In SD2 geschieht vielmehr die Reflexion einer vernunftteleologischen Implikation von D2, indem die Verwirklichung des obersten Moralprinzips als moralisches ›telos‹ begriffen wird. 126 Als komplexer stellen sich allerdings die Relationen von SD3 zu D3, SD4 zu D4 sowie SD5 zu D5 dar: Allen drei SD-Teilthesen liegt, je nach Autor mehr oder weniger ausgeprägt, die Annahme der Zulässigkeit bzw. Erforderlichkeit nicht einer Trennung oder gar Entgegensetzung, wohl jedoch einer typologisch signifikanten Differenzierung von Sittengesetz und rationaler Natur zugrunde, welche

126 Da D2 nicht immanent selbstwidersprüchlich ist, sind SD2 und D2 miteinander kompatibel.

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sich je nach Kontext unterschiedlich auswirkt. Sowohl bei Korsgaard als auch bei Wood steht die menschliche Vernunftnatur und nicht das Sittengesetz im Mittelpunkt der werttheoretischen Rekonstruktionspassagen; beide beurteilen die mittels UF erzielbare Aussonderung von Maximen als moralphilosophisch unzureichend, weshalb sie durch das mittels SZF instanziierte Kriterium der axiologischen Widersprüchlichkeit 127 zu ergänzen sei. Die in D4 konstatierte deontische Gegenständlichkeit des Selbstzwecks wird in SD4 zu einer vernunftteleologischen Gegenständlichkeit, da die von z. B. Trampota als nichtteleologisch aufgefasste Restriktionsfunktion des Selbstzwecks in einer ersten Stufe bei Korsgaard als negativer, obzwar materialer Zweck, bei Horn noch positiver als höchststufig-regulativer Vernunftzweck rekonstruiert wird, dem auch in konkreten Handlungen (dann allerdings indirekt) Rechnung getragen werden kann. Diese bei der SD-These vorfindliche Tendenz zur Differenzierung von Sittengesetz als Moralprinzip und rationaler Natur als umfassender Wertkonzeption wird allerdings stets vor dem Hintergrund entwickelt, dass beide Elemente in struktureller Hinsicht untrennbar miteinander verbunden sind, durch welche Grundentscheidung bereits eine generelle Nähe zur D-These gegeben ist. Wir werden im Zusammenhang mit der Analyse der T- sowie der K-These sehen, dass diese in der SD-These vielmehr angedeutete Differenzierung in der aktuellen Diskussion auch weitaus offensiver ausgearbeitet wird und vor allem im Falle von Cummiskeys konsequentialistischer Deutung zu einer der D-These klar entgegengesetzten Perspektive auf die kantische Ethik führt.

III.2.3 Kants Ethik als teleologische Theorie (I): Die starke Teleologie-These (T-These) Ein herausforderndes Element der neueren Interpretationen der kantischen Ethik besteht einerseits in der Artikulation eines Zweifels an der Rechtmäßigkeit einer deontologischen Klassifizierung überhaupt, andererseits in der konsequenten Betonung und Höherbewertung teleologischer und axiologischer Grundbegriffe und Begründungsstruktu127 Ein axiologischer Widerspruch ist hier eine andere Bezeichnung des Widerspruchs im Wollen, welcher durch eine Nicht-Achtung des Werts der Menschheit entsteht.

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ren. Während der erste Punkt noch nicht beinhaltet, dass Kants Ethik eine teleologische Theorie ist, da man wie Arrington sowie teilweise Baumanns und Herman auch nur auf die Unzulänglichkeit der beiden ethiktypologischen Termini verweisen und sich somit gegen Deontologie und Teleologie als adäquate Klassifikationsbegriffe gleichermaßen entscheiden kann, stellt die Annahme einer konstitutiven Relevanz teleologischer Elemente schon die Form einer Gegenposition zur D-These dar. Zwar besitzen auch neuere stark- und schwach-deontologische Kant-Interpretationen innovative Aspekte und haben u. a. im Falle von Korsgaard und Rawls zu einflussreichen und eigenständigen Ansätzen geführt, doch scheinen mir entscheidende Impulse in der aktuellen Kant-Forschung nicht zuletzt von denjenigen Rekonstruktionen auszugehen, die sich gegen eine deontologische Lesart aussprechen und/ oder auf die Möglichkeit anderer Deutungshorizonte verweisen. In diesem Kapitel werde ich daher auf die Struktur und ansatzweise auf ausgewählte konkrete Formen der Teleologie-These (T-These) eingehen. Wie schon im Falle der D-These gibt es auch eine starke und eine schwache Variante der T-These, die jeweils unterschiedliche Ausprägungen gefunden haben. Der fundamentale Kern aller Formen der T-These besteht in der Annahme, dass die kantische Ethik durch eine Priorität moralischer Zwecke oder zu verwirklichender moralischer Werte sowohl gegenüber dem moralisch Richtigen in Form von Pflichten als auch dem nicht-moralischen Guten charakterisiert ist. Moralische Gebote und Pflichten stellen in dieser Perspektive entweder vor allem Mittel zum Zweck der Beförderung und Verwirklichung des jeweils vorausgesetzten Guten oder das begriffliche Ausdrucksmedium der zugrundeliegenden Wertkonzeption dar und besitzen unabhängig von ihrer Relation zu diesen Ziel- bzw. Wertbestimmungen keinen genuin moralischen Wert. Die starke Version der T-These beinhaltet die explizite Ablehnung eines primär deontologischen und naturteleologischen Deutungsrahmens, indem Geboten und Pflichten sowie Konzepten des nicht-moralischen Guten keine nennenswerte oder eine eindeutig untergeordnete Relevanz für die adäquate Rekonstruktion der kantischen Ethik zugeschrieben wird. Dagegen wird insbesondere deontologischen Handlungsrestriktionen in der schwachen Variante (STThese) insofern eine weitreichendere systematische Rolle zuerkannt, als Pflichten und Gebote aus dieser Perspektive wichtige Elemente des kantischen Modells darstellen und somit als moralischen Zwecken zwar ebenfalls untergeordnet, nicht jedoch als grundsätzlich verzicht118

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bar aufgefasst werden. 128 Die SD-These und ST-These sind durchaus unterscheidbar, weisen allerdings eine große Nähe zueinander auf. III.2.3.1 Das systematische Profil der T-These In der aktuellen Diskussion wird die starke T-These von Anton Leist, Paul Guyer und Barbara Herman vertreten. Ihre allgemeine Struktur kann anhand folgender Teilthesen beschrieben werden: T1: These des Primats vernunftteleologischer Elemente und Strukturen Die Struktur der kantischen Ethik ist maßgeblich durch die Annahme der unhintergehbaren Relevanz genuin moralischer Zwecke geprägt. 129 Als primär relevante moralische Zwecke fungieren dabei der Selbstzweck der Menschheit, die Hervorbringung und Erhaltung des guten Willens sowie die Beförderung und Verwirklichung des höchsten Guts. T1 impliziert dabei nicht notwendigerweise die Subthese, dass Kant methodisch zuerst bei einer Theorie des Guten ansetze, um das Richtige in der Folge vollständig davon abzuleiten, sondern vielmehr die vergleichsweise gemäßigte Annahme, dass deontische Elemente und Strukturen ohne Bezug auf ihnen übergeordnete teleologische Strukturen (Zwecke) nur unzureichend rekonstruierbar sind. 130 T2: These der vernunftteleologischen Gegenständlichkeit des Sittengesetzes Obwohl das Sittengesetz notwendig ein dem Willen immanentes Element darstellt und insofern schon bei dem Prozess der Zwecksetzung eine unverzichtbare Rolle spielt, kann es ein mögliches Objekt des Willens sein, insofern es konsequent als übergeordneter, apriorischer und daher nicht willkürlich gesetzter Zweck verstanden wird. 131 Das Sittengesetz bzw. dessen Achtung in allen Handlungen fungiert in dieser Per128 In Entsprechung zur Unterscheidung der D- und SD-These zeichnet sich die STgegenüber der T-These dadurch aus, dass das moralisch Gebotene nicht vollständig im Anzustrebenden oder Anzuerkennenden aufgeht. 129 Vgl.: Herman 1993, S. 216 und S. 238; Leist 2000, S. 268. 130 Auch wenn diese vorsichtigere Formulierung dem allgemeinen Profil der T-These m. E. angemessen ist, muss zugleich darauf verwiesen werden, dass zumindest Herman explizit von einem methodologischen Primat axiologischer Reflexionen spricht und Leists Ansatz ebenfalls in diese Richtung zu deuten ist. 131 Vgl.: Herman 1993, S. 216.

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spektive als die einzelnen willkürlich gesetzten Zwecke apriorisch restringierender Vernunftzweck, welcher zugleich als absoluter, primär zu verwirklichender und zu schätzender Wert in Erscheinung tritt. Die Beförderung und Verwirklichung des höchsten Guts stellt die Zielvorstellung rationaler Handlungen dar und ist nach Kant ein objektiv gebotener Zweck, der als solcher auch eine gegenständliche Gegebenheit des Sittengesetzes beinhaltet. T3: These des spezifisch instrumentellen Charakters des Sittengesetzes Das Sittengesetz steht in unmittelbarem Zusammenhang zum ursprünglich wertstiftenden Vermögen der praktischen Vernunft und dient dahingehend als Mittel zur Verwirklichung eines Zwecks, sodass die Befolgung des sittengesetzlich Gebotenen im Rahmen der Realisierung des übergeordneten Zwecks der praktischen Vernunft bzw. des Selbstzwecks der Menschheit verstanden werden muss. 132 Der instrumentelle Charakter des Sittengesetzes ist insofern spezifisch, als es sich nicht um eine Zweck-Mittel-Beziehung zwischen zwei heterogenen Elementen handelt, sondern um eine spezifische Instanziierungsrelation zwischen einem zugrundeliegenden wertvollen Vermögen und einer durch dieses Vermögen ermöglichten Prinzipienstruktur. Auch das Sittengesetz bzw. der Kategorische Imperativ ist demnach in letzter Konsequenz nicht wirklich vollkommen unabhängig von anderen normativen Strukturen, sondern steht im systematischen Horizont eines höherstufigen Vernunftzwecks. Das ›Mittel‹ besitzt in diesem Fall allerdings dennoch nicht notwendigerweise einen nur relativen Wert, da es ein exponiertes Verwirklichungsmoment eines absolut wertvollen Vermögens darstellt. 133 T4: These der vernunftteleologischen Gegenständlichkeit des Selbstzwecks der Menschheit Der Selbstzweck der Menschheit stellt das normativ-handlungsleitende Primärelement und daher den maßgeblichen Ausdruck der Idee der Moralität dar. Die Menschheit als rationale Natur besitzt den höchsten Vgl.: Guyer 2000, S. 1 und S. 151 f. Herman und Leist verstehen Sittengesetz und KI vor allem in ihrer wertexpressiven Funktion, doch Guyer fasst das Sittengesetz noch radikaler als bloßes Mittel ohne wirklichen Eigenwert auf; vgl.: Guyer 2000, S. 2. 132 133

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moralischen Wert, und moralische Prinzipien sowie gute Handlungen müssen entweder als Ausdruck/Verwirklichung dieses Selbstzwecks verstanden werden können oder dessen Verwirklichung befördern. Dergestalt gute Handlungen sind demnach nicht allein deswegen gut zu nennen, weil ihnen nicht-selbstwidersprüchliche bzw. nicht-autodestruktive Maximen zugrunde liegen, sondern aufgrund ihrer Beziehung zum unbedingten Zweck der Vernunftnatur. T5: These der prinzipiellen Folgenunabhängigkeit der moralischen Handlungsqualität Der moralische Wert einer Handlung bemisst sich allgemein an ihrem Potential zur Verfolgung bzw. Verwirklichung des Vernunftzwecks der rationalen Natur. Da die für die kantische Ethik maßgeblichen Zwecke nicht aus der natürlich-sinnlich beschaffenen conditio humana, sondern aus der Vernunft selbst stammen, wird der Wert von Handlungen nicht durch ihre notwendigerweise empirisch-kausalen und somit prinzipiell unabsehbaren Folgen bestimmt. 134 T6: These der Primärrelevanz von Wertbestimmungen Werte spielen für eine adäquate Rekonstruktion der kantischen Ethik eine unverzichtbare und entscheidende Rolle. 135 Von vorrangiger Bedeutung sind die Werte der praktischen Vernunft, des guten Willens sowie des Selbstzwecks der Menschheit, welche die grundlegenden begrifflichen Artikulationen der kantischen Idee der Moralität darstellen und zudem in seiner Theorie moralischen Urteilens von primärer Relevanz sind. Dementsprechend muss die Ebene ursprünglicher Wertsetzungen und Werturteile als derjenigen der formalen Prinzipien und Pflichtbestimmungen übergeordnet betrachtet werden, was sowohl eine Auffassung von Werten als apriorische Bedingungsstrukturen als auch von moralisch gebotenen Verwirklichungen axiologischer Sachverhalte als anzustrebende Zwecke umfasst. 136 Systematische Hauptelemente der T-These Die T-These impliziert gegenüber der D-These eine Reihe von gegebenheitsmodalen Modifikationen und fokussiert in Anlehnung an die 134 135 136

Vgl.: Leist 2000, S. 255 f. Vgl.: Leist 2000, S. 254; vgl.: Herman 1993, S. 210 f. Vgl.: Herman 1993, S. VIII. A

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D- und SD-These folgende Elemente: 1. das Sittengesetz/den Kategorischen Imperativ, 2. den guten Willen, 3. das höchste Gut, 4. den Wert der rationalen Natur, 5. den Selbstzweck der Menschheit, 6. den moralischen Handlungswert und 7. die Wertstiftung/-erzeugung. Das Sittengesetz und der Kategorische Imperativ (1) werden in diesem Zusammenhang nicht als primär relevante Restriktionsbedingungen bzw. -gebote, sondern als der höherstufigen Normativität der Vernunftzwecke der Menschheit (5) und des höchsten Guts (3) untergeordnete Elemente interpretiert. Der gute Wille (2) kann mit Leist in seiner konstitutiven Zweckbezogenheit dementsprechend als teleologisches Kernelement und als handlungsbezogener Ausdruck des unbedingten Werts des ursprünglich werterzeugenden Vermögens der praktischen Vernunft/der rationalen Natur (4/7) verstanden werden. Die teleologisch verstandene Priorität des Selbstzwecks der Menschheit (5) gegenüber dem deontischen Konzept der Pflicht bedeutet dabei allerdings nicht, dass der moralische Wert von Handlungen nicht allein mittels Berücksichtigung der Bestimmungsgründe des Willens, sondern ebenso mittels der moralisch relevanten Handlungsfolgen bestimmt werden kann oder gar muss. III.2.3.2 Konkrete Formen der T-These: Leist, Herman und Guyer Die drei Versionen der T-These von Leist (A), Herman (B) und Guyer (C) zeichnen sich trotz der benannten strukturellen Gemeinsamkeiten durch teilweise erhebliche Unterschiede aus, denen im Folgenden durch eine pointierte Darstellung der Hauptaspekte aller drei Interpretationsansätze Rechnung getragen werden soll. Die Varianten der T-These werden im Folgenden ausführlicher als z. B. diejenigen der D-These dargestellt, da die Grundgedanken der teleologischen Position maßgebliche systematische Impulse in der typologisch orientierten Diskussion liefern und dadurch die herkömmlich eher deontologisch ausgerichtete Interpretationslinie in besonderem Maße herausfordern. Ad (A): Leists interpretatorische Bemühungen137 konzentrieren sich vor allem auf die GMS, wobei er sich primär der Frage nach der kantischen Beschreibung moralischer Handlungen widmet. Kant be137 Das primäre Ziel Leists besteht zwar nicht in einer peniblen Kant-Rekonstruktion, sondern der Ausarbeitung eines an Kant anschließenden Ansatzes, doch setzt letzteres einige interpretatorische Bemühungen voraus, die sich direkt auf Kant selbst beziehen; vgl.: Leist 2000, S. 245 ff.

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nutze vor allem die drei Begriffe des ›guten Willens‹, der ›Pflicht‹ und der ›Maxime‹, um moralische Handlungsakte zu kennzeichnen. Leist schlägt vor, das Konzept des guten Willens aus der GMS nicht als Inbegriff guter Handlungsabsichten, sondern als Kurzbezeichnung für eine spezifische Werttheorie aufzufassen. 138 In diesem Zusammenhang sei es wichtig, dass der an sich bestehende Wert des guten Willens vom Wert der Handlungsfolgen abgegrenzt werde. Folgerichtig rekonstruiert Leist die kantische Moralphilosophie grundsätzlich nicht primär im Ausgang vom Kategorischen Imperativ, sondern fokussiert den guten Willen als fundamentales Gut 139 und als Oberbegriff in Kants Axiologie. Die Ablehnung des Kategorischen Imperativs als Testverfahren für moralische Maximen führt in seiner Kant-Rezeption ebenfalls zu einer anderen Funktion und Stellung des Konzepts des guten Willens. Dessen Hauptfunktion bestehe nicht in der Aufstellung von bestimmten formalen Kriterien, sondern in der Etablierung des Begriffs der Moral und inhaltlicher Kriterien des richtigen Handelns. 140 Als sich selbst hervorbringendes Vermögen zur Konstitution moralisch-normativer Kriterien sei der gute Wille demnach das Fundament der kantischen Theorie kategorischen Sollens und bilde somit die zentrale und primär zu untersuchende Struktur seiner Ethik. Da die moralischen Kriterien für eine gute Handlung nicht vorgegeben würden, sondern Ergebnis eines produktiven menschlichen Akts seien, versteht Leist Kants Ethik als eine Erzeugungstheorie der Moral 141 und schreibt ihr eine werttheoretische Produktionsthese 142 zu. Zur expliziten Konstatierung der T-These kommt Leist im Ausgang von einer analytischen Reflexion auf den zentralen Begriff des Willens: Da der Wille als solcher immer auf etwas gerichtet sein müsse und das Konzept des guten Willens die Kernstruktur der kantischen Ethik ausmache, müsse diese als eine Form der teleologischen Ethik klassifiziert werden. 143 138 Vgl.: Leist 2000, S. 254. Daher beginne die GMS auch nicht mit einer Reflexion auf alltagsmoralische Dispositionen, sondern mit werttheoretischen Überlegungen. 139 Vgl.: Leist 2000, S. 254. 140 Vgl.: Leist 2000, S. 267. 141 Vgl. dazu Leists Erzeugungsdefinition der Moral: »Moralisch relevante Handlungen sind Bestandteile eines praktischen Systems, das wir mit Hilfe eines eigenständigen Vokabulars unter konstitutiver Bezugnahme auf uns selbst und auf andere speziell erzeugen.« S.: Leist 2000, S. 24. 142 Vgl.: Leist 2000, S. 257. 143 Vgl.: Leist 2000, S. 268.

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Leists teleologische Klassifizierung verdankt sich also nicht primär einer komplizierten Abwägung verschiedener Strukturelemente mit unterschiedlichen ethiktypologischen Merkmalen, sondern letztlich der grundsätzlichen Entscheidung, den guten Willen als Basis der kantischen Theorie einzustufen und diesen dann als prinzipiell zweckorientiert auszulegen. Der Begriff ›Konsequentialismus‹ wird von ihm zwar erläutert, 144 nicht jedoch mit der kantischen Ethik in Verbindung gebracht. Während Leist mit dem Begriff ›Teleologie‹ offenbar keinerlei Probleme verbindet, sieht er im Gegenbegriff ›Deontologie‹ ein theoretisch weniger wertvolles Instrument zur Beschreibung moralisch relevanter Sachverhalte. Insbesondere den Selbstwert des Handelns könne man mit diesem Begriff nicht ausdrücken, weshalb Leist von seiner Benutzung Abstand nimmt. 145 Gegenüber Analysen der Formen des Kategorischen Imperativs in der GMS sei es wichtiger und von vorrangiger inhaltlicher Bedeutung, die praktische Vernunft zu untersuchen, da erst gezeigt werden müsse, wie diese selbst kategorisch sein könne, bevor es möglich sei, den von ihr abgeleiteten Prinzipien dieselbe Eigenschaft zuzuschreiben. 146 Verstärkte Aufmerksamkeit verdiene die Selbstzweck-Formel, die Leist in inhaltlicher Hinsicht primär als werttheoretische Reflexion rekonstruiert und für eine sich an den moralischen Implikationen von Handlungen orientierende Deutung als zentral ansieht. 147 Ihre Grundaussage sei dahingehend zu bestimmen, dass Vernunftwesen als solche Selbstzweckcharakter besäßen und dass die kantischen Forderungen der Erhaltung des eigenen Lebens, der Ent-

144 Vgl.: Leist 2000, S. 199; vgl. darüber hinaus zu ›Konsequentialismus‹ und ›Teleologie‹ : Leist 2000, S. 211 ff. 145 Vgl.: Leist 2000, S. 369 f. 146 Vgl.: Leist 2000, S. 274. Kants Werttheorie schreibe der praktischen Vernunft und nicht einzelnen Imperativen Wert zu, weshalb man sich in der Analyse der Fundamente der kantischen Ethik primär auf erstere konzentrieren solle. Darüber hinaus geht Leist davon aus, dass die Kategorischen Imperative nicht gegeben sind, sondern erzeugt werden müssen. Dies geschehe durch die reflexive Tätigkeit der praktischen Vernunft als der konstitutiv werterzeugenden Fähigkeit des Menschen. In GMS I finde sich eine handlungstheoretische, in GMS II eine vernunfttheoretische Erläuterung des KI; vgl.: Leist 2000, S. 248. 147 Allerdings lasse sich aus der Selbstzweck-Formel die Universalität des Gebotenen nicht plausibel ableiten oder demonstrieren; vgl.: Leist 2000, S. 339.

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wicklung der eigenen Talente etc. durch diese werttheoretische Bestimmung nachvollziehbar würden. 148 Ad (B): Hermans Kant-Rezeption ist grundsätzlich von zwei Thesen bestimmt: einer These zur Theorie des moralischen Urteilens (1) und einer These zum werttheoretischen Fundament der moralischen Urteilsakte (2). In Bezug auf die kantische Theorie des moralischen Urteilens (1) sei die bisherige Konzentration der Forschung auf den Kategorischen Imperativ und seine Formen insofern verfehlt, als sie eine unzulässige Verkürzung zur Folge habe. Man könne die systematische Rolle des KI nicht verstehen, indem man sich ausschließlich auf Fragen der Universalisierung oder der Relation von formaler Prozedur und dem daraus resultierenden Gewinn von Inhalten kapriziere. 149 Demgegenüber versteht Herman den KI vielmehr in seiner grundlegenden Abhängigkeit von einem spezifischen Wertkonzept. Der Kategorische Imperativ besitze dementsprechend nicht nur die ihm meist zugeschriebene Funktion, Maximen auf ihre Widerspruchsfreiheit und somit formal bestimmte Moralität hin zu prüfen, sondern sei auf weit komplexere Weise mit der moralisch urteilenden Person als Zentrum sowohl rationaler Deliberation als auch moralischer Wahrnehmung verbunden, als gemeinhin angenommen würde. Hinsichtlich der kantischen Theorie moralischer Urteilsakte (2) vertritt sie die These, dass ein moralisches Urteil und somit auch der KI auf einem spezifischen Wertfundament 150 basiere, das Herman mit der ›vollständig verkörperten Person‹ identifiziert. 151 Die ethiktypologische Frage wird von Herman mit einer differenzierten Absage an deontologische Klassifikationen beantwortet: 148 Auf der Grundlage der Selbstzweck-Formel entwickelt Leist eine eigene »Werthaftes Handeln-Formel«, welche er einerseits als »›eigentliche Formulierung des Kategorischen Imperativs‹« Kants betrachtet, andererseits jedoch zugleich bezweifelt, dass Kant diese Form des KI ebenso eng an die Handlungskategorie bindet, wie er selbst es für notwendig hält; s.: Leist 2000, S. 340. Diese Formel fordert ein Handeln »in Übereinstimmung mit den Pflichten, die sich aufgrund des Werts deines Handelns und des Handelns der anderen ergeben«; s.: Leist 2000, S. 340. Aufgrund dieser ungenauen Aussage scheinen mir diejenigen Überlegungen, die Leist auf der Formel des werthaften Handelns aufbaut, nicht mehr hinreichend eindeutig als Interpretationen der kantischen Theorie gelten zu können, sodass ich sie an dieser Stelle nicht weiter verfolge. 149 Vgl.: Herman 1993, S. IX. 150 Herman spricht von einer methodologischen Priorität der Werttheorie; vgl.: Herman 1993, S. VIII. 151 Vgl.: Herman 1993, S. IX.

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Whatever it is that makes Kantian ethics distinctive, it is not to be found in the subordination of all considerations of value to principles of right or duty. In this sense, Kantian ethics is not a deontology. Although principles of right constrain our pursuit of particular conceptions of the good, this does not amount to the absolute ›priority of the right‹ in the canonical sense. 152

Angesichts der mehrfachen Verständnismöglichkeit von ›deontologisch‹ spezifiziert sie ihre Position dergestalt, dass Kants Ethik höchstens insofern deontologisch sei, als in ihr eine moralphilosophisch relevante Differenzierung von Tun und Unterlassen zur Geltung gebracht werde. 153 Grundsätzlich hält Herman fest, dass nach Kant eine spezifische Idee des Guten als Bestimmungsgrund von Handlungen fungiere. 154 Ein Kernargument besteht dabei in dem Verweis auf die Unplausibilität der rationalen Einsichtigkeit moralisch gebotener Handlungsbeschränkungen ohne jeden Bezug auf eine Werttheorie. 155 Eine klassisch-deontologische Interpretation würde die kantische Ethik weitaus schwächer darstellen, als sie von ihrem Deutungspotential her tatsächlich ist bzw. bei der richtigen Auslegung sein könnte. Den traditionellen Begriff der ›Deontologie‹ lässt sie schließlich vollends fallen, da er ihr durch seine zumindest implizit behauptete Irrelevanz werttheoretischer Erwägungen für die Etablierung moralischer Prinzipien als Annäherung an die kantische Ethik ungeeignet erscheint.156 Herman rekonstruiert das axiologische Fundament der kantischen Ethik grundsätzlich als eine Metaphysik des Werts, 157 die insbesondere S.: Herman 1993, S. 210. Allerdings handele es sich bei dieser Auffassung des Prädikats »deontologisch« um eine schwache Variante, die keinerlei Abgrenzung von der These der Wertfundiertheit der Ethik bedeute und daher über kein wirklich scharfes Profil verfüge; vgl.: Herman 1993, S. 210 Anm. 5. 154 Vgl.: Herman 1993, S. 210. 155 Vgl.: Herman 1993, S. 210 f. und S. 216. Herman arbeitet insbesondere bei diesem Punkt mit der hermeneutischen Prämisse, dass eine fruchtbare Rekonstruktion der kantischen Ethik von der Voraussetzung ihrer systematischen Überzeugungskraft getragen wird. 156 »I am convinced that the combination of its root meaning emphasizing rule and principle with the idea that moral requirements are not based in conceptions of value or of goodness makes inaccessible just those theoretical options I find necessary for an accurate accounting of Kantian ethics.« S.: Herman 1993, S. 212 f. 157 Unter dem Begriff des ›Werts‹ versteht sie letztlich nichts anderes als das Prinzip der praktischen Vernunft: »[…] what I am calling ›value‹ is just the same old principle of practical reason, albeit interpreted in a way that permits it to do the practical work one thought could be done only by a conception of value.« S.: Herman 1993, S. 239. 152 153

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auf der These des guten Willens als einzig unbedingtem Guten basiert. Aus dieser Prämisse folgen nach Herman die beiden weiteren Behauptungen, dass a) die Gutheit des Willens in seiner inneren Beschaffenheit und nicht in den durch ihn bewirkten Resultaten bestehe und dass sich b) diese Gutheit des Willens aus seiner über sein Prinzip vermittelten Relation zur praktischen Vernunft herleite. 158 Handlungen als raum-zeitliche Ereignisse könnten in Entsprechung zu (b) nur aufgrund der Art und Weise gut geheißen werden, wie sie gewollt werden. Die entscheidende Frage an die kantische Ethik sei in diesem Zusammenhang, ob die formalen praktischen Prinzipien, mit denen sich der gute Wille in Übereinstimmung befindet, als Ziel fungieren können. Diesbezüglich argumentiert Herman, dass Prinzipien sehr wohl als Zwecke fungieren könnten, insofern man unter ›Zweck‹ nicht nur konkret eine Art von Objekt, sondern – allgemeiner – eine Quelle von handlungsleitenden Gründen verstehe. 159 Ihr diesbezüglicher Grundsatz lautet demnach: »Accepting any standard as regulative over a domain of activity is to adopt the standard as an end.« 160 Zwar seien die Prinzipien der praktischen Vernunft nach Kant formal, doch bedeute dies nach entsprechenden Ausführungen in der KpV nicht, dass sie jeglichen Inhalts ermangelten. Rein formale Prinzipien seien zwar keine materialen Prinzipien, doch bedeute dies nur, dass sie keinen kontingenten, sondern einen rational notwendigen Inhalt hätten. 161 Neben diesem Verständnis eines Prinzips als Zweck fokussiert Herman die Frage nach der Relation von formalen Prinzipien, Maximengehalt und moralischem Wert. 162 Eine deontologische Kant-Re158 Demnach seien die von Kant akzeptierten Wertträger allein Willensaktivitäten und nicht etwa Objekte oder Ereignisse, insofern sie nicht mögliche Zwecke rationaler Willensakte darstellten. 159 Vgl.: Herman 1993, S. 216. 160 S.: Herman 1993, S. 216. 161 Vgl.: Herman 1993, S. 217. Dieses Zitat Hermans in kritischer Absicht aufgreifend, macht Louden gegen sie geltend, dass Kants rein vernunftbestimmter Teil der Ethik selbst bei einer gewissen zugestandenen Inhaltlichkeit des obersten Moralprinzips keine hinreichend konkrete Handlungsanweisung generieren könne; vgl.: Louden 2000, S. 5. 162 Dabei reformuliert sie die kantische Unterscheidung von Maximen als subjektiven Handlungsgrundsätzen und objektiv verbindlichen Prinzipien in teleologischen Termini: »The contrast is between a conception of an action as taken to be (believed to be) good and one that is objectively good. Those maxims are objectively good that conform to the principles of practical rationality.« S.: Herman 1993, S. 217 f. Als einen Hauptgrund für die Verkennung der axiologischen Implikationen des kantischen Maximenkonzepts

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konstruktion könne insofern nicht zur Klärung der Frage nach der Beziehung von Maximeninhalt und moralischem Wert beitragen, als sie den moralischen Wert einer Handlung allein am Pflichtmotiv festmache, welches jedoch erst nach der Bewertung einer Handlung als einer von der moralischen Pflicht geforderten relevant sein könne. In dieser Perspektive werde der wichtige Umstand verdeckt, dass es nach Kant zwei zu unterscheidende Aspekte einer Handlung gebe, die ihr moralischen Wert verleihen: Zum einen sei eine Handlung dann moralisch wertvoll, wenn sie allein aus dem Motiv der Pflicht vollzogen würde, zum anderen könne eine Handlung jedoch ebenfalls über moralischen Wert verfügen, insofern sie von Maximen mit moralischem Gehalt bestimmt sei. Beide Aspekte fänden im Konzept moralischen Werts zu einer Einheit: »[…]: moral worth marks a unity of motive and maxim content.« 163 Maximen stellten einen Ausdruck des Willens der handelnden Person dar, weshalb ihr Inhalt auch dasjenige repräsentiere, was der Akteur für gut und wertvoll befinde. 164 Das bisher Herausgearbeitete impliziert ein Verständnis der praktisch-rationalen Prinzipien der kantischen Ethik als Repräsentationen des Guten, die sowohl Beurteilungsnormen als auch diejenigen Willensstrukturen bereitstellen, die die jeweiligen Akteurmaximen konfigurieren. Die Notwendigkeit einer axiologischen Auffassung praktischer Prinzipien zeige sich exemplarisch in dem kantischen Beispiel der Unzulässigkeit der Maxime des falschen Versprechens, welche nicht allein durch den Verweis auf formale Widersprüche, sondern vielmehr nur unter Einbezug der in diesem Fall vorliegenden Missachtung der Würde der Person plausibel rekonstruierbar sei. 165 Hermans Kant-Reführt sie die deontologische Perspektive und die damit verbundene Geringschätzung der werttheoretischen Frage an; vgl.: Herman 1993, S. 218. 163 S.: Herman 1993, S. 218. 164 Dabei sei es nach Kant wahrscheinlich, dass nicht alle inhaltlichen Elemente einer Maxime mit dem rein moralisch Geforderten übereinstimmten, doch geht Herman daher nur von der Annahme aus, dass der werthafte Maximengehalt zumindest partiell von den Prinzipien praktischer Rationalität bestimmt werde. 165 Der in der Forschung beliebte Universalisierungstest zeige zwar, dass und warum z. B. die Maxime ›Halte nie Deine Versprechen‹ (V) falsch sei, da die Maxime offensichtlich den Universalisierungstest nicht bestehen könne. Doch damit sei die eigentliche, nämlich genuin moralische Frage immer noch nicht beantwortet, denn es sei über die bisher erörterten Implikationen von V hinaus zu begründen, warum man nicht vom entsprechenden Verhalten anderer Akteure profitieren dürfe; vgl.: Herman 1993, S. 226 und S. 132 ff. Die allgemeine Antwort Kants bestünde darin, auf den Konflikt zu ver-

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konstruktion beansprucht trotz ihrer These, dass der Kern der kantischen Ethik in der stufenweisen Entwicklung einer Werttheorie bestehe, sich im Einklang mit der in der GMS festgesetzten Forderung eines streng apriorischen Fundaments der Ethik zu befinden. Die diesbezüglich entscheidende These Hermans lautet, dass die dem obersten Moralprinzip von Kant zugedachte Funktion der rationalen Regelung handlungsorientierter Reflexionsprozesse nur unter einer werttheoretischen Rekonstruktionsperspektive erfüllt werden kann. Die praktisch-rationale Natur des Menschen bildet nach Herman durch den KI nicht nur den normativen Standard moralisch relevanter Handlungen, sondern macht als solche auch die Zweckbestimmung des Willens aus: »Rational nature is […] the regulative and unconditioned end of willing – that is, a final end, an end-in-itself.« 166 Dabei sei zu beachten, dass die rationale Natur nur dann ein möglicher Selbstzweck sein könne, wenn sie den letzten Bestimmungsgrund des Willens als ihr eigenes Prinzip beinhalte und der Wille somit über Autonomie verfüge. Da Herman an einer Ablösung der deontologischen Interpretationstradition interessiert ist, reformuliert sie diesen Sachverhalt in der ihrer Ansicht nach angemesseneren werttheoretischen Sprache: »[…] as an end-in-itself, rational nature contains the conditions of its own goodness, goodness not dependent on any further end.« 167 Ad (C): Das Originelle an Guyers Position besteht sicherlich in der These der Bedingtheit und dem letztlich instrumentellen Charakter des Sittengesetzes: »[…], while all human beings must be treated as ends in themselves, the sheer fact of adherence to universal law is not an end in itself but is rather the means to the realization of the human potential for autonomy or freedom in both choice and action.« 168 Demnach seien in kantischer Perspektive zwar menschliche Wesen als Selbstzweck zu betrachten und zu behandeln, nicht jedoch das Sittengesetz – dieses sei in struktureller und funktionaler Hinsicht allenfalls ein Mittel zur Verfolgung der übergeordneten Zwecksetzung der Realisieweisen, den das Profitieren vom Verhalten anderer Menschen vor dem normativen Hintergrund der Prinzipien praktischer Rationalität bzw. der rationalen Handlung als solcher darstelle. Indem man nun über diese Problematik des moralischen Gehalts von Maximen reflektiere, beschäftige man sich eindeutig mit einer fundamentalen Wertfrage. 166 S.: Herman 1993, S. 238. 167 S.: Herman 1993, S. 238. 168 S.: Guyer 2000, S. 1. A

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rung von Freiheit. 169 Guyer besteht in diesem (kantischen) Kontext darauf, »that freedom is our most fundamental value, that the law that we can formulate by means of our reason is valuable only as the means to freedom, and that a system of human happiness should be the outcome of the use of our freedom – […].« 170 Damit schreibt Guyer Kant die These zu, dass in dessen Ethik primär dasjenige moralisch werthaft sei, was in einem spezifisch affirmativen Zusammenhang zur Freiheit steht. Dieser Zusammenhang dürfe dabei nicht derart allgemein bestimmt werden, dass Freiheit den Kernbegriff der kantischen Ethik ausmacht – dies gehöre schon zur Standardinterpretation Kants –, sondern entscheidend sei vielmehr die Erkenntnis des überragenden axiologischen Status dieses Konzepts. Eine konsequent axiologische Lesart der Freiheitslehre stelle die plausiblere Alternative zu derjenigen Deutung dar, welche das Problem der Motivation zu moralischen Handlungen allein mit dem Verweis auf die auch intelligible Identität des Akteurs zu lösen versucht.171 Nicht der metaphysische, sondern der normative Aspekt der Freiheit müsse demnach im Mittelpunkt des Interesses stehen, damit man sowohl den Aussagen der zweiten Auflage der Vorrede der KrV 172 als auch der Fundierungsbasis der moralischen Pflichten gerecht werden könne. Dieser Interpretationsansatz Guyers ist dabei in ethiktypologischer Hinsicht 173 insofern von nicht zu unterschätzender Bedeutung, als sich gleich mehrere diesbezüglich relevante Untersuchungshorizonte auftun. Zum einen äußert Guyer die Vermutung, dass die Fundierung der kantischen Ethik auf dem Freiheitskonzept die klassische Dichotomie von deontologischen und teleologischen Ethiken unterlaufen könnte, zum anderen impliziert seine Lesart eine im kantischen Rahmen unorthodoxe Auffassung der Relation von Pflichten und Zwecken: Zwecke würden bei Kant nicht von einem reinen (apriorischen) praktischen Gesetz abgeleitet, sondern zuerst müsse Vgl.: Guyer 2000, S. 155. S.: Guyer 2000, S. 2. Diese Einsicht habe sich nach und nach seit den 50’er Jahren bei Kant entwickelt und gefestigt; vgl.: Guyer 2000, S. 7. 171 S.: Guyer 2000, S. 4. 172 Die Pointe der zweiten Vorrede bestehe in der Artikulation der Intention der Wissensbegrenzung und nicht der Moralbegründung; vgl.: Guyer 2000, S. 5. 173 Guyers Aufsätze zur kantischen Ethik beinhalten neben den oben angesprochenen Aspekten eine Reihe weiterer auch in ethiktypologischer Hinsicht anregender Interpretationsimpulse, denen hier nicht adäquat nachgegangen werden kann. Auch die Thesen zur kantischen Entwicklungsgeschichte müssen hier unberücksichtigt bleiben. 169 170

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ein moralisch notwendiger Zweck bestimmt werden – der Wert bzw. Zweck der menschlichen Freiheit – und die Angemessenheit der handlungsleitenden Maximen an das Sittengesetz sei dem gemäß das adäquate Mittel zur Verfolgung dieses Ziels. 174 Der Kategorische Imperativ fungiere demnach nicht allein als praktisches, sondern ebenfalls als für die Verwirklichung der Freiheit nützliches Prinzip. Zwar sei uns die Freiheit des Willens auf noumenaler Ebene als unhintergehbares Faktum gegeben, doch müsse Freiheit auf phänomenaler Ebene aktiv durch konkrete Handlungen bewahrt und ihr dienliche Bedingungen geschaffen werden. Die Schaffung und Bewahrung von der Freiheit dienlichen Bedingungen in der Welt sei demnach die primäre Aufgabe und der Sinn des Sittengesetzes und des Kategorischen Imperativs. 175 Guyers direkte Äußerungen zur ethiktypologischen Problematik sind hinsichtlich ihres positiven Gehalts latent mehrdeutig: Wahrscheinlich sei die Annahme am angemessensten, dass Kants Ethik letztlich weder deontologisch noch teleologisch zu nennen sei, da das Wertkonzept des Freiheit und das deontische Strukturmoment des Sittengesetzes auf komplexe (wechselseitige) Art und Weise aufeinander verweisen: No end that is not licensed by the unconditional constraint of the moral law can be good, but the unconditional constraint furnished by the moral law is in turn the condition necessary to preserve and enhance the unconditional value of freedom itself. The moral law is not only a constraint of our pursuit of contingent ends; it is also the expression of a necessary end. 176

Dieses Zitat veranschaulicht die Schwierigkeiten, die viele Ausführungen Guyers für das Projekt einer eindeutigen Einordnung seiner Position in ein sauber strukturiertes Begriffsschema mit sich bringen: Während es zuerst hieß, dass moralisch Gefordertes ursprünglich nicht vom Sittengesetz, sondern vom übergeordneten Wert der Freiheit abgeleitet werden müsse und das Sittengesetz allein instrumentellen Wert besäße, formuliert Guyer an zuletzt erwähnter Stelle ein Verhältnis von Freiheit und Sittengesetz, nach dem moralisch gute Zwecke 174 Vgl.: Guyer 2000, S. 151 f. Als argumentativ entscheidende Passage für seine Position nennt Guyer darüber hinaus den Übergang von der UF zur SZF in GMS II, welcher deutlich mache, dass der von Kant postulierte Wert der Fähigkeit zur Zwecksetzung nichts anderes sei als der Wert der Freiheit. 175 Vgl.: Guyer 2000, S. 151 f. 176 S.: Guyer 2000, S. 133 f.

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prinzipiell von vom Sittengesetz gestellten Bedingungen/Restriktionen abhängen und somit das Gute eben nicht allein das Richtige prinzipiiert, sondern eher von einer wechselseitigen Bedingungsrelation die Rede zu sein scheint, welche an bestimmte Ausführungen Hermans erinnert. 177 Zudem sympathisiert Guyer offenbar mit einer schwachen Form der Komplexitätsthese, indem er die Wahrscheinlichkeit der typologischen Transkategorialität der kantischen Ethik in Betracht zieht (vgl. Kap. III.2.5). Diesen in der Gesamtschau vielleicht etwas unentschieden bzw. unklar anmutenden Passagen zum Trotz ist Guyers Rekonstruktion grundsätzlich von einer teleologischen Struktur bestimmt. 178 Dies zeigt sich exemplarisch an seiner Rekonstruktion der allgemeinen Relation von Sittengesetz und Zweck- bzw. Wertbestimmungen in der GMS sowie ihres Zusammenhangs mit der kantischen Motivationskonzeption: Während in Bezug auf GMS 427/428 oft argumentiert werde, dass in kantischer Perspektive ein objektives Moralgesetz einen objektiven Zweck erfordere, behauptet Guyer: Kant is not looking for an end that the antecedent adoption of the principle of morality could force a rational being to adopt, but for an end the intrinsic and absolute value of which would compel any rational being to adopt the principle of morality. 179

Diese pointierte Aussage bringt den ethiktypologischen Sprengstoff Guyers unüberbietbar zur Geltung – er behauptet nichts anderes, als dass, zumindest nach den kantischen Ausführungen der GMS und der ethischen Vorgängerwerke, das Sittengesetz nicht unmittelbar den Willen eines rationalen Wesens bestimme, sondern für dessen willentliche Internalisierung die Anerkennung eines unbedingten Werts notwendig sei. M. a. W.: Die Annahme des Sittengesetzes als konkret verpflichtendes Handlungsprinzip setze eine Form von axiologischer 177 Wenn das Sittengesetz, wie in dem Schlussteil des vorherigen Zitats behauptet, selbst Ausdruck eines notwendigen Zwecks sein soll, müssten auch nicht nur diejenigen Zwecke moralisch gut sein, die durch dieses Gesetz selbst legitimiert werden, insofern man unter dem zugrundeliegenden Zweck in Assonanz zu Reinholds und Prauss’ Freiheitsrekonstruktion keine moralisch neutrale bzw. moralphilosophisch prädifferente oder transkategoriale Struktur verstehen will. Dies würde sich nur dann anders verhalten, wenn das Sittengesetz der vollkommene Ausdruck des präsupponierten Werts/ Zwecks wäre. 178 Vgl. dazu seinen Kommentar zu Korsgaard in: Guyer 2000, S. 144 Anm. 15. 179 S.: Guyer 2000, S. 145.

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Vermittlungsleistung voraus; die Beziehung zwischen Freiheit und Sittengesetz sei synthetisch und nicht analytisch. 180 Diese Eigenständigkeit der Wertdimension trete mit besonderer Deutlichkeit in der Naturrechtsvorlesung von 1784 (›Naturrecht Feyerabend‹) zutage, in der Kant die entscheidende Frage nach der Voraussetzung einer Einsicht in den unbedingten Wert der Freiheit für die Konstatierung des Werts der Autonomie auf andere Art und Weise beantwortet habe als in der GMS und KpV: 181 Kant entwerfe dort ein Konzept, in dem Freiheit einen absolut eigenständigen Wert innehabe und das Sittengesetz die Funktion einer Maximierung ihrer Verwirklichung besitze. Konkret beruft er sich auf Kants These, dass der Mensch seine ihm eigene Würde nicht aus seiner Rationalität beziehe, sondern allein aufgrund seiner Freiheit innehabe. 182 Auch lehnt Guyer dementsprechend die These ab, dass Freiheit erst durch die gesetzliche Restriktion des Sittengesetzes Wert bekomme, da das Sittengesetz seinen Wert nicht unabhängig 180 Allerdings ist Guyer trotz der Betonung der bestehenden Unterschiede grundsätzlich bestrebt, das kantische Vorgehen in GMS und KpV als zumindest miteinander vergleichbar zu skizzieren: Auch wenn die konkrete Argumentationsstruktur Kants in der KpV nicht mit derjenigen der GMS übereinstimme, sei doch auch in der zweiten Kritik der Wert der freien bzw. rationalen Handlung das entscheidende Theorieelement: »Finally, in spite of its avowedly deontological rather than teleological character, the argument of the Critique of Practical Reason ultimately culminates in the same assertion of the absolute value of the freedom of rational agency.« S.: Guyer 2000, S. 154. Zwar erkläre Kant in diesem Werk die moralische Motivationsfrage für unbeantwortbar, doch basiere die Motivationslehre auf derselben Werttheorie wie die GMS. 181 Die in den Hauptwerken gegebene Antwort bestehe darin, dass die Autonomie deswegen den höchsten Wert besitze, da sie ein Ausdruck von Freiheit sei und diese sowohl bewahre als auch befördere. Freiheit sei in diesem Kontext demnach zwar eine notwendige Bedingung des Werts der Adaption des Sittengesetzes und nicht an sich, d. h. unabhängig von der Wahl des Sittengesetzes, wertvoll, doch wäre eine Annahme des absoluten Werts der Adaption des Sittengesetzes ohne vorausgesetzte Freiheit ebenso verfehlt. Guyer qualifiziert Freiheit offenbar als teleologische und das Sittengesetz als deontische Struktur, da er hinsichtlich dieser ersten Antwort zum Urteil gelangt, dass eine teleologische oder deontologische Klassifikation nicht mehr möglich sei: »On this approach, the distinction between teleology and deontology ultimately collapses.« S.: Guyer 2000, S. 156. 182 Vgl.: Guyer 2000, S. 156 f. Zudem beschäftigt sich Guyer ausführlich mit kantischen Reflexionen aus den 70’er Jahren, in denen Kant nicht so scharf zwischen Moralität und Glück differenziert wie in den veröffentlichten Hauptschriften. An verschiedenen Stellen ist dort von einer Glückseligkeit aus Freiheit bzw. Moralität die Rede, und Guyer sieht in diesen moralphilosophischen Notizen aus der vorkritischen Periode eine Theorie dargelegt, welche die Maximierung und Systematisierung des Glücks mittels der Vernunft ins Zentrum rückt; vgl.: Guyer 2000, S. 100 ff.

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von seiner auf die Freiheit hingeordneten Funktion besitze und daher von Natur aus gar nicht zum Prozess der Wertverleihung in der Lage sei. 183 Vor dem Hintergrund dieser Position Kants von 1784 könne demnach das Sittengesetz als moralisch notwendig bezeichnet werden, ohne dass dessen intrinsischer Wert vorausgesetzt werden müsse. Die Deutung der Freiheitstheorie als eine die Verbindlichkeit des Sittengesetzes praktisch-begründende Axiologie hat nicht zu unterschätzende Folgen für die funktionale Bestimmung der verschiedenen Formulierungen des Kategorischen Imperativs. 184 Ohne die Annahme eines rational notwendigen Zwecks als Erfüllung eines auf einem nicht-empirischen Motiv beruhenden Strebens könne die Möglichkeit der Akzeptanz des Sittengesetzes durch den Willen nicht rational plausibel gemacht werden. Für diesen notwendigen Zweck habe Kant verschiedene Formulierungen benutzt, welche jedoch alle letztlich auf den Kernbegriff der ›rationalen Natur‹ gebracht werden könnten. In dieser Perspektive ist konsequenterweise Rationalität selbst das oberste Ziel menschlicher Handlungen: Nicht nur partikuläre Handlungen, sondern auch die »higher-order action of making CI into its fundamental maxim« 185 müsste nach Kant über einen Zweck verfügen, wobei er in der Religionsschrift explizit auf den Handlungscharakter der Annahme des Kategorischen Imperativs aufmerksam gemacht habe. Die SZF weise daher eine besonders komplexe Implikationsstruktur auf, da sie das Vernunftwesen einerseits als Mittel und andererseits als obersten Zweck moralischer Handlungen charakterisiere. Jede moralische Handlung sei nach Kant im Hinblick auf die Funktion der rationalen Natur in zwei Hinsichten zu betrachten: Zum einen verwirkliche sich die rationale Natur in jedem moralischen Akt und fungiere daher immer als Selbstzweck, zum anderen sei sie zugleich auch Mittel zu einer überindividuellen Verwirklichung von Vernunft. Mit der Formulierung der SZF stelle Kant nicht nur eine hilfreiche Veranschaulichung des ohnehin schon vorhandenen Gehalts der UF bereit, sondern die SZF sei aufgrund der ihr eigenen Bestimmung

S.: Guyer 2000, S. 158. Allgemein kritisiert Guyer Kants Erläuterung der Formeln anhand der Gesichtspunkte von Form und Materie sowie deren Synthese dahingehend, dass er damit nur darlege, wie ein Objekt bestimmt werde, nicht aber die Bestimmungsmethode eines Prinzips; vgl.: Guyer 2000, S. 175. 185 S.: Guyer 2000, S. 197. 183 184

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eines rationalen Zwecks absolut notwendig, um überhaupt erklären zu können, wie das Annehmen des Sittengesetzes als für den Willen verbindliche Prinzipienstruktur, d. h. die empirische Realisierung des Sittengesetzes möglich sei. 186 III.2.3.3 Zusammenfassung Im Unterschied zur SD-These, welche primär eine gegebenheitsmodale Abschwächung der D-These bzw. von bestimmten Teilthesen impliziert, stellt sich die T-These als partiell offene und direkte Kritik an der Adäquatheit einer deontologischen Rekonstruktionsperspektive dar. Im Gegensatz vor allem zur starken D-These geht die starke Teleologie-These in der bei Leist zu findenden Form nicht von der Priorität des deontischen Begriffs der Pflicht, sondern der durch die Konzeption des guten Willens begrifflich gefassten Idee des Guten aus (T1/T6). Daher seien nicht die Formulierungen des Kategorischen Imperativs, sondern die praktische Vernunft selbst werthaft (T3). Indem man aus Pflicht handele, drücke man in erster Linie nicht seine persönliche Achtung vor den formalen Restriktionen des Kategorischen Imperativs aus, sondern diese Handlungen seien vielmehr als Ausdruck des Werts der praktischen Vernunft und somit als Manifestation des praktisch-rationalen Selbstzwecks des werthaften Ursprungs aller Werte zu verstehen (T4). Während Leist aufgrund seiner Fokussierung des guten Willens als fundamentale Wertinstanz und der Betonung der Zielgerichtetheit jedes Willens eine deontologische Rekonstruktion ablehnt bzw. eine teleologische befürwortet, steht der gute Wille bei Herman auf eine nur latent andere Weise im Mittelpunkt: Zwar argumentiert sie nicht vergleichsweise direkt mit den teleologischen Implikationen der allgemeinen Semantik und speziellen Funktionalität des Willensbegriffs, doch führt sie wie Leist sowohl den Kategorischen Imperativ als auch die Pflichtkonzeption auf eine durch die Leitidee des guten Willens bezeichnete Axiologie der praktischen Vernunft zurück und bindet somit die deontischen Elemente mit aller Konsequenz in einen vernunftteleologischen bzw. -axiologischen Rahmen ein. Leist und Herman kommen zudem darin überein, dass neben dem vorauszusetzenden Vermögen der praktischen Vernunft Willensaktivitäten (also Handlungen) und nicht etwa Pflichten oder der Kategorische Imperativ die konstitutiven Wertträger darstellen. Insgesamt erweist sich die kantische 186

S.: Guyer 2000, S. 200 ff. A

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Ethik in Hermans Interpretation als moralphilosophischer Ansatz, der die von der klassischen Deontologie postulierte Unabhängigkeit des Pflichtbegriffs von einer Wertidee bestreitet ((T1/T6) und vielmehr auf der Annahme einer wechselseitigen Verwiesenheit von durch Prinzipien geleiteter praktischer Vernunft und Wert basiert. 187 Die von Herman konstatierte Wertkonzeption der praktischen Vernunft fungiert nicht allein als moralisch-normativer Standard, sondern explizit als selbstzweckhaftes Ziel des rationalen Willens (T4). In dieser Perspektive kann das Prinzip des Richtigen nur dann den unbedingten Zweck des Willens darstellen, wenn es innerhalb der reflexiven Struktur des Akteurs als Ausdruck des Guten verstanden wird (T3). Umgekehrt könne die praktische Vernunft als unbedingt Gutes nur als primär handlungsleitendes Ziel des Willens fungieren, insofern sie mit dem Kategorischen Imperativ die Bedingungen ihrer eigenen moralischen Gutheit beinhalte. Zwar erkennt Herman auch deontischen Strukturen eine nicht unbedeutende Funktion zu und könnte unter diesem Gesichtspunkt auch als Vertreterin der schwachen D-These verstanden werden, doch impliziert ihre Interpretation in letzter Konsequenz eine weitreichende Ersetzbarkeit bzw. teleologische Rekonstruierbarkeit dieser deontischen Begriffe und zudem deren prinzipielle Abhängigkeit von übergeordneten Wertstrukturen, weshalb ihre Klassifikation als Form der starken Teleologie-These angemessener ist. Guyer schließlich geht generell davon aus, dass Sittengesetz, Kategorischer Imperativ und Pflichtbestimmungen allein nicht die normativ entscheidenden Elemente der kantischen Ethik darstellen, sondern im Dienste der Verwirklichung und Bewahrung des Werts der Freiheit stehen und daher nur unter dieser Voraussetzung unbedingt handlungsleitend sein können. Das diesbezüglich einschlägige Argument Guyers wird u. a. im Ausgang von bestimmten kantischen Äußerungen in der Religionsschrift entwickelt und beruht auf der Annahme, dass auch zur Adaption des Kategorischen Imperativs als Bestimmungsgrund des Willens eine besondere Handlung erforderlich sei, welche aufgrund der handlungsteleologischen Prämissen Kants wiederum nur unter Maßgabe eines vernunftnotwendigen Zwecks ermöglicht würde. Festzuhalten bleibt, dass das kantische Ethikprojekt in Guyers 187 »We need to understand Kant as arguing both that if there is unconditioned goodness it can only be in a principle of practical reason and that if reason is practical its principles describe a conception of value.« S.: Herman 1993, S. 239.

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Rekonstruktion auf der Voraussetzung einer spezifischen Form von moralkonstituierenden und zudem wertbedingten Handlungen gründet und dadurch als grundsätzlich zweckzentriertes Unternehmen skizziert wird. III.2.3.4 Das systematische Profil der ST-These Die schwache Teleologie-These zeichnet sich in Anlehnung an die SDThese gegenüber ihrer starken Variante durch die Einschränkung verschiedener Teilthesen aus. Inhaltlich betrachtet steht sie in größtmöglicher Nähe zur SD-These, da beide Thesen sowohl deontische als auch teleologische Aspekte anerkennen. Somit ist die Entscheidung zwischen der SD- und der ST-These eine teilweise recht subtile Gewichtungs- und keine radikale Grundsatzfrage. Auch wenn an dieser Stelle mit Hans Krämer nur ein Vertreter der ST-These behandelt wird, 188 kann ihre Struktur anhand der folgenden allgemeinen Subthesen hinreichend beschrieben werden: ST1: These des eingeschränkten Primats teleologischer Strukturen Die Struktur der kantischen Ethik ist zwar maßgeblich durch die Annahme der unhintergehbaren Relevanz genuin moralischer Zwecke geprägt, doch ist die Berücksichtigung der den Zweckbestimmungen untergeordneten deontologischen Restriktionen für eine adäquate Kant-Rekonstruktion unverzichtbar. 189 Als primär relevanter moralischer Zweck fungiert dabei in erster Linie der Selbstzweck der Menschheit. ST1 impliziert dabei nicht notwendigerweise die Subthese, dass Kant methodisch zuerst bei einer Theorie des Guten ansetzt, um das Richtige in der Folge vollständig davon abzuleiten, sondern vielmehr die vergleichsweise gemäßigte Annahme, dass deontische Elemente und Strukturen ohne Bezug auf teleologische Strukturen (Zwecke) nur unzureichend rekonstruierbar sind.

188 In gewisser Weise kann man auch Wimmer als Vertreter der ST-These anführen, da er die kantische Ethik aufgrund der in ihr stattfindenden moralischen Beurteilung von Zwecken als teleologisch in einem weiten Sinne bezeichnet; vgl.: Wimmer 1980, S. 205. Seine diesbezüglichen Ausführungen eignen sich aufgrund ihrer Knappheit jedoch nicht für eine entsprechende Thesenzuschreibung oder gar gründlichere Analyse. 189 Vgl.: Krämer 1995, S. 12 f.

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ST2: These der bedingten vernunftteleologischen Gegenständlichkeit des Sittengesetzes Obwohl das Sittengesetz im Kontext der übergeordneten Zweckvorstellung der Selbsterhaltung der Vernunftnatur auch gegenständlich verstanden werden kann, handelt es sich insofern nur um eine bedingte Gegenständlichkeit, als es zugleich als apriorische Restriktion der Zwecksetzungen bzw. Maximenwahl fungiert. Das Sittengesetz impliziert daher die Bedingung der eigenen (vernunft-)teleologischen Reifizierung, indem es unbedingte Verpflichtungen generiert. 190 ST3: These des spezifisch instrumentellen Charakters des Sittengesetzes/KI Die eingeschränkte Gegenständlichkeit des Sittengesetzes besitzt insofern einen spezifisch instrumentellen Charakter, als die Befolgung des durch den Selbstzweck der Menschheit moralisch Gebotenen als Mittel zur Selbsterhaltung der menschlichen bzw. vernünftigen Natur dient. Zugleich kann dieses Streben als unmittelbarer Ausdruck dieser Vernunftnatur verstanden werden, sodass besagte Selbsterhaltung zwar durch Befolgung des Sittengesetzes/des KI vollzogen werden soll, zugleich jedoch nicht nur eine Folge von sittengesetzlich adäquaten Handlungen darstellt, sondern sich im Akt des moralisch bestimmten Strebens selbst manifestiert. 191 Das ›Mittel‹ besitzt dennoch keinen nur relativen, sondern einen eigenständigen Wert. ST4: These des vernunftteleologischen Charakters des Selbstzwecks der Menschheit Der Selbstzweck der Menschheit bezeichnet auf der einen Seite die akteurneutrale moralische Vollkommenheit, auf der anderen Seite jedoch auch eine Form von individueller Selbstverwirklichung, welche nicht unter das kantische Heteronomie-Verdikt fällt. Die Menschheit als unbedingter Zweck ist dabei insofern als anzustrebende Zielvorstellung zu verstehen, als sie das vernünftige Wesen des Menschen bezeichnet und den Vernunftzweck der Selbsterhaltung der Vernunftnatur dar-

190 Krämer versteht den Selbstzweck des Sollens als letzten Zweck der Welt und verbindet damit implizit die teleologische und deontologische Perspektive auf Kant in einer Weise, welche mit einer im weiten Sinne gegenständlichen Auffassung des Sittengesetzes kompatibel ist; vgl.: Krämer 1995, S. 21. 191 Vgl.: Krämer 1983, S. 196.

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stellt. 192 Indem der Selbstzweck der Menschheit geachtet und befördert wird, wird der Zweck der Erhaltung der menschlichen Natur verfolgt. ST5: These der Folgenunabhängigkeit der moralischen Handlungsqualität Der moralische Wert der Handlung bemisst sich zwar an der durch sie instanziierten Handlungsweise, doch die moralische Qualität der jeweiligen Handlungsweise selbst ist konstitutiv durch den übergeordneten Vernunftzweck/-wert der rationalen Natur in Form der praktischen Vernunft bedingt. Der moralische Wert einer Handlung hängt nicht von den Handlungsfolgen, sondern von ihrer strukturellen Relation zum Sittengesetz ab. ST6: These der beigeordneten Relevanz von Wertbestimmungen Werte sind in der kantischen Ethik weder primär relevant noch den Pflichten eindeutig subordiniert, sondern axiologische Begriffsgehalte bezeichnen insofern dasselbe wie deontische Elemente/Strukturen, als sie im Rahmen der Frage nach der Zweckorientierung moralischen Handelns als Objekte des rationalen Strebens fungieren. Systematische Hauptelemente der ST-These Die ST-These impliziert gegenüber der T-These einige gegebenheitsmodale Modifikationen. Folgende Aspekte sind dabei zentral: 1. Das Sittengesetz/der Kategorische Imperativ, 2. der Selbstzweck der Menschheit, 3. der moralische Handlungswert und 4. wertvolle Objekte bzw. anzustrebende Güter. Das Sittengesetz/der Kategorische Imperativ (1) wird in Parallele zu T2/T3 grundsätzlich als zu verwirklichende Zielvorstellung sowie als Mittel zur Realisierung des moralischen Zwecks des menschlichen Handelns aufgefasst (ST2/ST3), wobei allerdings im Unterschied zur T-These zugleich auf die Rechtmäßigkeit einer deontisch reifizierten Auffassung des Sittengesetzes als apriorischem Restriktionsprinzip verwiesen wird. Der Selbstzweck der Menschheit (2) fungiert wie in T4 als höchststufiger moralischer Zweck und wird zudem als Begriff für den Zweck der Selbsterhaltung der menschlichen Vernunftnatur verstanden (ST4). Der Wert einer moralischen Handlung (3) kann sich bei Kant nach der ST-These ebenso wie nach T5 nicht nach den Handlungsfolgen bemessen lassen, da die Pointe der kantischen Ethik in der Etablierung eines durch ver192

Vgl.: Krämer 1995, S. 21; Krämer 1983, S. 196. A

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nunftteleologische Prämissen fundierten unbedingten Sollens besteht (ST5). In Übereinstimmung damit werden Wertbestimmungen (4) den deontischen Elementen/Strukturen hinsichtlich ihrer Relevanz weitgehend gleichgestellt, was eine abschwächende Modifikation von T6 bedeutet. III.2.3.5 Konkrete Form der ST-These: Krämer Krämers Ausarbeitung der ST-These beruht grundsätzlich auf begriffshistorischen Reflexionen und damit verbundenen systematischen Schlussfolgerungen. Er betrachtet die kantische Ethik als eine Zäsur zwischen antiker/mittelalterlicher sowie frühneuzeitlicher und moderner Ethik: Während die ältere Moralphilosophie eine Strebensethik sei, basiere die durch Kant etablierte Ethik auf der Idee der unbedingten Verpflichtung. 193 Unter ›Strebensethik‹ versteht Krämer eine moralphilosophische Konzeption, die das gute Leben des einzelnen Menschen in den Mittelpunkt stellt und als Gesamtzweck formuliert. 194 Demgegenüber sei die kantische Ethik dadurch ausgezeichnet, dass sie wie keine Morallehre vor ihr die Idee des kategorischen Sollens als Grundlage aller ethischen Reflexion begriffen habe. 195 Krämer schätzt

193 Vgl.: Krämer 1995, S. 9. Krämer lässt an dem kategorischen Unterschied beider Ethikarten keinen Zweifel: »Es ist […] ein Irrtum, irgendwo in der Antike eine derartige Sollensethik zu unterstellen.« S.: Krämer 1995, S. 9. Im Vergleich zur älteren Strebensethik sei die neuzeitliche Sollensethik klar durch bestimmte Defizite belastet; vgl.: Krämer 1983, S. 185. 194 Vgl.: Krämer 1995, S. 10; vgl. zu Krämers eigenem strebensethischen Ansatz: Schnoor 1989, S. 78 Anm. 336. Der Begriff des ›Strebens‹ decke dabei ein dergestalt weites Feld ab, dass sowohl individuelle als auch kollektive Handlungen darunter fallen könnten, »die strategisch, taktisch oder wie auch immer gemeinsame Lebensziele verfolgen und durchsetzen, womit ein anderer, eher zweckrationaler Aspekt des Handelns angesprochen ist als der moralische oder diskursethische vorgängiger Verständigung oder auch der spezifisch politische, der in der Regel oberhalb des Gruppenhandelns liegt. Entspricht also die Ethik autonomen Strebens und Wollens derjenigen des Sollens in Gestalt der Moralphilosophie, so könnte man sie inhaltlich, von den Gegenständen des Strebens her gesehen, auch als Güter- oder Wertethik bezeichnen.« S.: Krämer 1995, S. 82 f. 195 Krämer spricht dem Sinn nach auch vom Wollen als dem Primat teleologischer und dem Sollen als dem Primat deontologischer Ethiken; vgl.: Krämer 1995, S. 14. Was Kants Selbsteinschätzung betrifft, vermutet er, dass dieser weniger das kategorische Sollen, als vielmehr die einheitliche Begründung der Ethik in einem formalen Apriori der autonomen Vernunft als primär relevantes Charakteristikum seiner Ethik ansah; vgl.: Krämer 1983, S. 184. Die Begründungsfrage der kantischen Ethik hat dagegen nach

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die Struktur der kantischen Ethik allerdings keinesfalls als so einfach beschreibbar ein, da sich bei Kant nicht zuletzt stoische und (neo-)epikureische Denkweisen und Begriffe identifizieren ließen: Die Wendung zum deontologischen Paradigma hat sich bei Kant nur schrittweise vollzogen […] und bis zuletzt wesentliche Bestände der antiken und frühneuzeitlichen Strebensethik bewahrt. Die Grundlagen der kantischen Ethik entstammen in der Tat dem Neostoizismus (Begriffe der Vernunft, Würde, Pflicht, Apathieideal, Vergleichgültigung der Weltgüter) oder Neoepikureismus (hedonistischer Glücksbegriff) der Neuzeit; Einflüsse des (christlichen) Platonismus treten hinzu (Freiheits- und – mittelbar – Autonomiebegriff, bezogen auf das Beisichselbstsein der Vernunft als Glied der intelligiblen Welt). 196

In diesem längeren Zitat finden sich nun schon einige grundsätzliche und aufschlussreiche Aussagen zur ethiktypologischen Klassifizierung: Einerseits sieht Krämer mit Kant sehr wohl zumindest tendenziell einen Paradigmenwechsel von einer Strebensethik zu einer deontologischen Moralphilosophie vollzogen, andererseits zählt er eine ganze Reihe zentraler kantischer Begriffe auf, die er auf antike Traditionen zurückführt und somit einem prädeontologischen Paradigma zuschreibt. Darüber hinaus versuche Kant mit seiner Ethik, die Krämer als »Mischtypus«197 bezeichnet, die beiden zu seiner Zeit maßgeblichen Strömungen der Strebensethik und der religiösen sowie gesellschaftlichen Sollensforderungen zu vereinen. Zwar benutzt Krämer teilweise den Terminus ›Teleologie‹, doch verweist er kritisch auf die diesem Begriff eigene Mehrdeutigkeit und ersetzt ihn meistens durch den bereits erwähnten Terminus ›Strebensethik‹. 198 Krämers ethiktypologische Begriffsbestimmung stellt sich Krämer nichts mit seiner eigenen Diskussion der Sollensethik zu tun und könne daher unberücksichtigt bleiben; vgl.: Krämer 1983, S. 184. 196 S.: Krämer 1995, S. 12. 197 S.: Krämer 1995, S. 12. 198 Grundsätzlich seien die Termini ›Deontologie‹ und ›Teleologie‹, deren Differenzierung Krämer auf Grote zurückführt, dahingehend problematisch, als sie meist mit Gesinnungs- bzw. Verantwortungsethik gleichgesetzt würden, welche wiederum nicht Krämers Thema sein sollen; vgl.: Krämer 1983, S. 184; vgl. zudem seine Anmerkungen zum Teleologiebegriff, die er allerdings auch in Bezug auf die Entwicklung seiner eigenen Ethik tätigt: »Er suggeriert einmal die Verwechslung von Handlungszielen mit objektiven, ansichseienden Naturzwecken, von denen wir in der Neuzeit gerade absehen müssen; er wird ferner häufig für den Konsequentialismus einer Verantwortungsethik gegenüber einer Gesinnungsethik gebraucht, die aber durchaus zur Moralphilosophie A

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dabei, zumindest im Rahmen der Kant-Rekonstruktionen, insofern als partiell ungewöhnlich dar, als er unter einer reinen oder strengen deontologischen Ethik eine Theorie versteht, die eine grundsätzlich heteronome und somit externalistische Sollensvorstellung beinhaltet und damit das kantische Autonomie-Konzept ausschließt. 199 Kant vertritt nach Krämer demnach keine strenge Form der Deontologie, da sein Ansatz einen Vermittlungsversuch von Wollen und Sollen darstellt. Vielmehr weist er wiederholt auf den engen Bezug zur antiken Strebensethik hin und sieht dabei insbesondere die Selbstzweckhaftigkeit des Sollens und somit vor allem die Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs als begrifflich-strukturelle Manifestation derjenigen Denkweise, aus der Kants Ethik grundlegend erwachsen sei: Kant kann wohl nur deshalb den Selbstzweckcharakter des Sollens herausstellen und vollends Moralität als Letztzweck der Welt interpretieren, weil er insgeheim Anleihen bei der älteren teleologischen Tradition macht, indem er auf einen Vorbegriff vom Wesen des Menschen rekurriert. 200

Neben dem Verweis auf die Tatsache, dass die kantische Idee der Selbstbestimmung auch schon ein fester Bestandteil teleologischer Ethiken sei, 201 betont Krämer insbesondere den traditionellen Bedeutungsgehalt des Pflichtbegriffs: Ursprünglich gehöre auch der vom Wort ›Pflegen‹ abgeleitete Terminus der ›Pflicht‹ zur teleologischen Ethik und bezeichne in diesem Zusammenhang das richtige und wesensgemäße Handeln, wodurch auch Tiere und Pflanzen Pflichten in diesem Sinne haben könnten. Dieser traditionell nicht rigoristisch geprägte Terminus habe allerdings einen Prozess der Entteleologisierung durchlaufen, welcher sein strenges (kantisches) Profil erst durch Einflüsse u. a. der römischen Amtssprache, der patristischen Moraltheologie und des Protestantismus erlangt habe. 202 Insofern ist es ein zentrales Anliegen Krämers, einen der meist für primär relevant angesehenen Begriffe Kants als genuin teleologisch zu erweisen. zu rechnen und für das hier Gemeinte unbrauchbar wäre; und schließlich riskiert er die Festschreibung auf eine explizite Zweckrationalität, die zwar auch, aber nicht ausschließlich intendiert ist.« S.: Krämer 1995, S. 81 f. 199 Vgl.: Krämer 1995, S. 15. 200 S.: Krämer 1995, S. 21. Zudem müsse man beachten, dass auch derjenige Philosoph, der für Kant von entscheidendem Einfluss war, nämlich J.-J. Rousseau, ein Vertreter einer eudaimonistischen Strebensethik gewesen sei; vgl.: Krämer 1983, S. 192. 201 Vgl.: Krämer 1983, S. 188. 202 Vgl.: Krämer 1983, S. 189.

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Darüber hinaus begreift er die kantische Ethik als Resultat der Bemühung, die in der philosophischen Tradition wohlbekannte Idee einer Verbindung von Vernunft und Selbsterhaltungsstreben neu zu formulieren. 203 Dieser Gedanke gewinnt bei Krämer schließlich die folgende Pointierung: In den ausnahmslos geltenden, quasi-naturgesetzlich gesehenen vermeintlichen Imperativen der Sollensethik liegen tatsächlich zentrale Akte der Selbsterhaltung vor, die im Grundstreben des Menschen als Menschen wurzeln und die als solche nicht eigentlich unterlassen werden können. 204

Durch diese Perspektive auf die Grundlagen von Kants Moralphilosophie sei nicht zuletzt das durch eine deontologische Lesart forcierte Problem der Motivation zum moralischen Handeln entschärft, 205 da es nicht zu einem vollständigen Gegensatz von Selbstliebe und Moralität komme. Indem man Moralität mit Vollkommenheit identifiziere und beide an die Identität des Akteurs binde, bedeute das Streben nach Moralität zugleich ein Streben nach individueller Vervollkommnung, wobei diese Konstellation nicht in die von Kant verteufelte Heteronomie führen könne. Für Krämer steht demnach fest: Allein die Einbettung der kantischen Ethik in einen nicht-deontologischen, strebensethischen Deutungskontext könne ihr eine gewisse Sinnhaftigkeit und philosophische Kohärenz verleihen, da ihr selbst eine derart gestaltete Tiefenstruktur zugrunde liege. III.2.3.6 Zusammenfassung Krämer vertritt keineswegs die Ansicht, dass Kants Ethik für eine klare strukturelle Wende in der Geschichte der Moralphilosophie steht. Vielmehr liege ihr eine bestimmte, strebensethische Tiefenstruktur zugrunde, obwohl sie auch über eine deontologische Seite verfüge, die zwar zur Kenntnis genommen werden müsse, nicht jedoch den primären strukturellen Kern ausmache und sie von anderen Ethiken vor allem der Antike kategorisch abhebe (ST1). Dabei greift er jedoch nicht auf die Methode Leists zurück, den guten Willen als Grundbegriff Kants zu deuten und diesen dann teleologisch zu rekonstruieren. Überhaupt setzt Krämer bei seinem Verweis auf die strebensethischen Wur-

203 204 205

Vgl.: Krämer 1983, S. 196. S.: Krämer 1983, S. 196. Vgl.: Krämer 1983, S. 190. A

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zeln Kants nicht primär bei einzelnen Begriffen und Ideen an, sondern bezieht sich mit dem Begriff der Pflicht, der Würde und auch dem des Glücks gleich auf eine Reihe fundamentaler Termini der kantischen Ethik. Der von ihm dafür verantwortlich gemachte systematische Hintergrund resultiere aus der kantischen Vorgehensweise, sowohl den Begriff des Wollens als auch denjenigen des Sollens in den Mittelpunkt stellen zu wollen, was letztlich zu einer unbefriedigenden Hybridethik ohne klare Primärstruktur führe. Einen prägnanten Punkt zur Veranschaulichung dieser Mischstruktur stellt die von Krämer behauptete Voraussetzung eines spezifischen Wesensbegriffs vom Menschen für den Kategorischen Imperativ dar (ST3/ST4). Im Rahmen der Analyse Krämers stellt sich die kantische Ethik auch hinsichtlich ihrer Betonung des kategorischen Sollens demnach als eine Theorie dar, die zwar in formal-oberflächlicher Perspektive nicht-teleologisch zu sein scheint, in inhaltlich-tiefenstruktureller Sicht jedoch durchaus in solchen Denkweisen verwurzelt ist (ST6). Auch wenn Krämers ethiktypologisch relevanten Äußerungen nicht immer eine wünschenswerte Eindeutigkeit aufweisen, erweist sich sein komplexes historisch-systematisches Deutungsmodell als Form der ST-These, da er rein teleologische/konsequentialistische sowie entsprechend einseitige deontologische Interpretationen ablehnt und den Kategorischen Imperativ sowie die Pflichten nur als plausibel rekonstruierbar ansieht, wenn sie unter dem Primat einer zweckbasierten bzw. wesenstheoretisch fundierten, strebensethischen Tiefenstruktur betrachtet werden. III.2.3.7 Fazit: Kernaspekte der T- und ST-These Im Unterschied zu den beiden deontologischen Interpretationsansätzen werden die T- und ST-These von der Teilthese getragen, dass die der kantischen Ethik zugrundeliegende Idee der Moralität nur in Form eines allem anderen vorhergehenden und unbedingt zu verfolgenden bzw. zu achtenden Vernunftzwecks adäquat rekonstruierbar ist (T1/ ST1). Die ebenfalls vorhandenen deontischen Strukturen und Elemente sind in dieser Perspektive vollständig bzw. nahezu vollständig abgeleitet, Formulierungen teleologischer Ideen oder generell von nur subordinierter Relevanz. Zur Relation der T-/ST-These sowohl zur D- als auch zur SD-These ist festzuhalten, dass es sich beim teleologischen Deutungsansatz nicht um eine geltungs-, sondern eine gegebenheitsmodale Modifikation der ethiktypologischen Grundstrukturen und -elemente handelt, sodass sowohl die kantische Moralitätsidee als auch 144

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die Instanzen der Normativitätsvermittlung (Vernunftzwecke, KI etc.) in der Regel 206 auch in der T- und ST-These als streng verbindlich aufgefasst werden. Dies ist auch als Grund für die Vernachlässigung rein konsequentialistischer Rekonstruktionsperspektiven zu vermuten, denn keiner der vier Autoren vertritt die Subthese einer nennenswerten moralphilosophischen Relevanz der Handlungsfolgen. In methodischer Hinsicht unterscheiden sich Leist, Herman, Guyer und Krämer voneinander: Während Leist primär von der Analyse des Willensbegriffs ausgeht, Herman bei der Rolle von Wertbestimmungen in der moralischen Urteilsbildung ansetzt und Guyer insbesondere auf das Verhältnis von Freiheit und Sittengesetz reflektiert und zudem auf die Aufwertung bestimmter Vorlesungsmitschriften und Reflexionen abzielt, arbeitet Krämer mit einer Form der etymologisch-historischen Begriffsanalyse, welche bestehende Kontinuitäten zu vorneuzeitlichen Ethikmodellen zum Vorschein bringen soll. In dieser Perspektive erweist sich sogar der deontische Vorzeigebegriff der ›Pflicht‹ als ursprünglich in teleologischen Kontexten beheimatetes Konzept, und aufgrund der Fülle der von Krämer hergestellten Bezüge der kantischen zur antiken Ethik verliert Kants Moralphilosophie den Nimbus des Neuen und Eigenständigen, den sie noch im Lichte der D-These besaß.

III.2.4 Kants Ethik als konsequentialistisches Modell: Die starke Konsequentialismus-These (K-These) Wenn bei der Darstellung und Strukturanalyse der starken und schwachen Teleologiethese festgestellt wurde, dass diese Rekonstruktionsansätze eine Herausforderung des klassisch-deontologischen Kant-Bildes darstellen, so trifft dies in ungleich größerem Maße auf den Kern der starken Konsequentialismus-These zu. Dieser Kern besteht, über die Grundannahme der Primärrelevanz von Zwecken der starken Teleologie-These hinausgehend, in der Behauptung, dass die moralisch

206 Als Grenzfall ist hier Guyer zu nennen, der die Kategorizität des Sittengesetz vollständig an dessen wertmaximierendes Potential rückbindet, sodass es zwar unbedingt verbindlich gelten, dies jedoch nur unter einer bestimmten Bedingung (nämlich dem Freiheitsbezug) der Fall sein soll, weshalb das Sittengesetz auch keinen eigenständigen Wert besitze.

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relevanten Aspekte der Folgen einer Handlung für den Wert dieser Handlung entscheidend sind. In dieser Perspektive reicht es demnach nicht aus, wenn einer Handlung eine sittengesetzlich bestimmte Maxime zugrunde liegt, sondern die Folgen dieser Handlung müssen der Verwirklichung des vorausgesetzten moralischen Vernunftzwecks dienlich sein. Es erhellt sofort, dass dieser konsequentialistische Zugang zur kantischen Ethik schon ohne tiefschürfende Detailanalysen bestimmten, in aller Deutlichkeit entwickelten metaethischen Aussagen Kants z. B. in der GMS und KpV zu widersprechen scheint, denn sowohl der gute Wille als auch das Paradoxon der Methode verweisen vielmehr auf die moralphilosophische Irrelevanz jeglicher Handlungskonsequenzen. Im Gegensatz dazu zeichnet sich der konsequentialistische Interpretationsansatz durch die beiden starken Annahmen aus, dass erstens die Verfolgung eines moralischen Zwecks in kantischer Perspektive einer Handlung aus Pflicht inhaltlich entgegenstehen könne, und zweitens in einem solchen Fall die Beförderung des moralischen Zwecks aufgrund der moralischen Relevanz der Handlungsfolgen von vorrangiger Bedeutung sei. Insofern markiert die starke Konsequentialismus-These die Gegenthese zur starken DeontologieThese schlechthin. III.2.4.1 Das systematische Profil der K-These In der aktuellen Diskussion wird die K-These von John St. Mill, 207 Richard M. Hare und David Cummiskey vertreten. 208 Ihre allgemeine Struktur kann anhand folgender Teilthesen beschrieben werden: 207 Mill ist zwar in der aktuellen Diskussion nicht vorrangig präsent, doch finden sich bei ihm grundlegende Argumentationsansätze für eine konsequentialistische Kant-Interpretation, welche auch z. B. bei Hare wiederkehren; vgl.: Mill 1985, S. 8 und S. 91. 208 In jüngerer Zeit hat Jörg Schroth eine kritische Betrachtung nicht-konsequentialistischer Kant-Interpretationen vorgelegt, welche sich nicht unmittelbar als Form der K-These klassifizieren lässt, da sie primär als Zurückweisung ganz bestimmter antikonsequentialistischer Klassifikationsargumente aufzufassen ist; vgl.: Schroth 2003, S. 142 Anm. 22. Grundsätzlich muss man nach Schroth begrifflich festsetzen, dass eine moralisch gute Handlung mit dem Pflichtbewusstsein und eine richtige Handlung mit dem Moralkriterium übereinstimmt, wobei die erste Form moralischer Beurteilung als moralische Wertung und die zweite als rechtliche Wertung bezeichnet wird. Entscheidend ist Schroths Kritikpunkt an Köhl, dass dieser nur ungenau von der Unabhängigkeit des moralischen Werts von den Handlungsfolgen spreche, obwohl man doch zwischen moralischer und rechtlicher Wertung differenzieren müsse; vgl.: Schroth 2003, S. 144. Diesen Aspekt führt Schroth noch weiter aus, wenn er auch die gegen Hare gerichtete

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K1: These des Primats vernunftteleologischer Strukturen Die Struktur der kantischen Ethik ist maßgeblich durch die Annahme der unhintergehbaren Relevanz genuin moralischer Zwecke geprägt. Als primär relevante moralische Zwecke fungieren dabei in erster Linie der Selbstzweck der Menschheit, die Hervorbringung und Erhaltung des guten Willens sowie die Beförderung und Verwirklichung der rationalen Natur und des höchsten Guts. 209 K2: These der vernunftteleologischen Gegenständlichkeit des Sittengesetzes Obwohl das Sittengesetz notwendig ein dem Willen immanentes Element darstellt und somit schon bei dem Prozess der Zwecksetzung eine unverzichtbare Rolle spielt, kann es ein mögliches Objekt des Willens sein, insofern es konsequent als übergeordneter, apriorischer und daher nicht willkürlich gesetzter Zweck verstanden wird. Das Sittengesetz bzw. dessen Achtung in allen Handlungen fungiert in dieser PerspekKant-Interpretation von Rohs zurückweist, dass die bei Kant bestehende Unabhängigkeit der Zuschreibung von moralischem Handlungswert bzw. -unwert von möglichen Nutzenverteilungen ein Anzeichen für den nicht-konsequentialistischen Charakter der kantischen Ethik darstelle. Im Ausgang von Nelson schreibt Schroth auch Kant die Position zu, dass moralischer Handlungswert auf dem Pflichtbewusstsein als dem Bestimmungsgrund der Handlung beruhe: »Das heißt, der moralische Wert bezieht sich auf die moralisch gute Handlung und nicht auf die moralisch richtige Handlung.« S.: Schroth 2003, S. 146. Aus dieser Bestimmung resultiere keine nicht-konsequentialistische Klassifikation der kantischen Ethik, denn selbst unter Voraussetzung der skizzierten Auffassung von moralischem Wert sei es immer noch widerspruchsfrei denkbar, dass die Richtigkeit der Handlung (die Übereinstimmung mit dem Moralkriterium) konsequentiell bestimmt sei. In der kritischen Ethik Kants heißt es dazu jedoch, dass das Sittengesetz bzw. der Kategorische Imperativ die Funktion der Maximenbestimmung übernehmen soll – Sittengesetz und Pflichtbewusstsein sind dabei weder identisch noch grundsätzlich getrennt, sondern die kantische Konzeption einer moralisch guten Handlung basiert dergestalt auf der notwendigen Verbindung von Pflichtbewusstsein (Gutheit der Handlung) und Orientierung am Moralkriterium (Richtigkeit der Handlung), dass die moralphilosophisch interessante Rede von einer wertvollen Handlung die Bestimmung des Begriffs des ›Pflichtbewusstseins‹ stets die dem Sittengesetz adäquate Maximenwahl impliziert: Eine moralisch wertvolle Handlung geschieht aus Achtung vor dem Sittengesetz bzw. der Person. Wenn aber die Handlung aus Pflicht geschehen soll, soll sie das Sittengesetz (nicht, wie Schroth sagt, nur das subjektive Pflichtbewusstsein) als ihren Bestimmungsgrund besitzen, sodass hier auch der Inhalt des nicht-konsequentialistischen Moralkriteriums Kants und damit die Richtigkeit der Handlung eine unmittelbare Rolle spielt. 209 Vgl.: Cummiskey 1996, S. 91 und S. 105. A

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tive als die einzelnen willkürlich gesetzten Zwecke apriorisch restringierender Vernunftzweck, welcher zugleich als absoluter, primär zu verwirklichender und zu schätzender Wert in Erscheinung tritt. Die Beförderung und Verwirklichung des höchsten Guts und des Selbstzwecks stellen die Zielvorstellungen rationaler Handlungen dar und sind nach Kant objektiv gebotene Zwecke, die als solche in weitestem Sinne auch eine teleologische Gegebenheit des Sittengesetzes beinhalten. K3: These des spezifisch instrumentellen Charakters des Sittengesetzes Das Sittengesetz steht in unmittelbarem Zusammenhang zum ursprünglich wertstiftenden Vermögen der praktischen Vernunft und dient dahingehend als Mittel zur Verwirklichung eines Zwecks, sodass die Befolgung des sittengesetzlich Gebotenen im Kontext der Realisierung des übergeordneten Zwecks der praktischen Vernunft bzw. des Selbstzwecks der Menschheit verstanden werden muss. Der instrumentelle Charakter des Sittengesetzes ist insofern spezifisch, als es sich nicht um eine Zweck-Mittel-Beziehung zwischen zwei heterogenen Elementen handelt, sondern um eine spezifische Instanziierungsrelation zwischen einem zugrundeliegenden wertvollen Vermögen und einer durch dieses Vermögen ermöglichten Prinzipienstruktur. Auch das Sittengesetz bzw. der Kategorische Imperativ ist demnach in letzter Konsequenz nicht wirklich vollkommen unabhängig von anderen normativen Strukturen, sondern steht im systematischen Horizont eines höherstufigen Vernunftzwecks. K4: These des vernunftteleologischen Charakters des Selbstzwecks der Menschheit Der Selbstzweck der Menschheit stellt das normativ-handlungsleitende Primärelement und daher den maßgeblichen Ausdruck der Idee der Moralität dar. 210 Die Menschheit als rationale Natur besitzt den höchsten moralischen Wert, und moralische Prinzipien sowie gute Handlungen müssen entweder als Ausdruck/Verwirklichung dieses Selbstzwecks verstanden werden können oder dessen Verwirklichung befördern. Dergestalt gute Handlungen sind demnach nicht allein deswegen gut zu nennen, weil ihnen nicht-selbstwidersprüchliche bzw. 210

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Vgl.: Cummiskey 1996, S. 73 und S. 77; vgl.: Hare 1997, S. 151.

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nicht-autodestruktive Maximen zugrunde liegen, sondern aufgrund ihrer Beziehung zum unbedingten Zweck der Vernunftnatur und der praktischen Vernunft. K5: These der spezifischen Folgenabhängigkeit der moralischen Handlungsqualität Der moralische Wert der Handlung bemisst sich zwar auch an der durch sie instanziierten Handlungsweise, doch die moralische Qualität der jeweiligen Handlungsweise selbst ist konstitutiv durch den übergeordneten Vernunftzweck/-wert der rationalen Natur in Form der praktischen Vernunft bedingt. 211 Der moralische Handlungswert bemisst sich insofern an der moralischen Qualität ihrer Folgen, als letztere mit der präsupponierten moralischen Zweckmäßigkeit übereinstimmen und den jeweiligen Zweck befördern können oder nicht. 212 Die Folgenabhängigkeit des moralischen Handlungswerts ist demnach spezifisch, da sie sich an einer apriorisch vorhergehenden Zweckidee von Moralität bzw. Menschheit orientiert und diese Idee nicht selbst bedingt. K5 beinhaltet in ihrer strengsten Auslegung die Möglichkeit, dass bestimmte Pflichten verletzt werden können, um dem übergeordneten Vernunftzweck des Selbstzwecks der Menschheit oder desjenigen des höchsten Guts gerecht zu werden, da alle Pflichtbestimmungen in letzter Konsequenz im Dienst dieser Zwecke stehen. 213 K6: These der Primärrelevanz von Wertbestimmungen Werte spielen für eine adäquate Rekonstruktion der kantischen Ethik eine unverzichtbare und zudem entscheidende Rolle. Von vorrangiger Bedeutung sind die Werte der rationalen Natur sowie des Selbstzwecks der Menschheit, welche die grundlegenden begrifflichen Artikulationen der kantischen Idee der Moralität darstellen und zudem in seiner Theorie moralischen Urteilens von primärer Relevanz sind. 214 Dementsprechend muss die Ebene ursprünglicher Wertsetzungen und Werturteile als derjenigen der formalen Prinzipien und Pflichtbestimmungen übergeordnet betrachtet werden, was sowohl eine Auffassung

Vgl.: Cummiskey 1996, S. 59 und S. 158 ff. Vgl.: Hare 1997, S. 165. 213 Vgl.: Cummiskey 1996, S. 59. Freilich versucht Cummiskey, die Vereinbarkeit von Pflichtbefolgung und konsequentiell bestimmtem Handlungswert aufzuweisen. 214 Vgl.: Cummiskey 1996, S. 75 ff. 211 212

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von Werten als apriorische Bedingungsstrukturen als auch von moralisch gebotenen Verwirklichungen axiologischer Sachverhalte als anzustrebende Zwecke umfasst. Die Primärrelevanz von Wertbestimmungen zeigt sich ganz konkret im Falle der ›overridingness‹ des Werts der Handlungsfolgen gegenüber unmittelbaren Pflichtbestimmungen und stellt den entscheidenden Grund für den konsequentialistischen Charakter der kantischen Ethik dar. Systematische Hauptelemente der K-These Die K-These impliziert gegenüber der D-These eine Reihe von gegebenheitsmodalen Modifikationen und fokussiert in Anlehnung an die D- und SD-These folgende Elemente: 1. das Sittengesetz/den Kategorischen Imperativ, 2. den guten Willen, 3. das höchste Gut, 4. den Wert der rationalen Natur, 5. den Selbstzweck der Menschheit, 6. den moralischen Handlungswert und 7. die Wertstiftung/-erzeugung. Das Sittengesetz bzw. der Kategorische Imperativ (1) werden in diesem Zusammenhang nicht allein als Restriktionsbedingungen bzw. -gebote, sondern als der höherstufigen Normativität der Vernunftzwecke der Menschheit (5) und des höchsten Guts (3) untergeordnete Elemente interpretiert. Der gute Wille (2) kann in seiner konstitutiven Zweckbezogenheit als vernunftteleologisches Kernelement und als handlungsbezogener Ausdruck des unbedingten Werts des ursprünglich werterzeugenden Vermögens der praktischen Vernunft/der rationalen Natur (4/7) verstanden werden. Die konsequentialistisch verstandene Priorität des Selbstzwecks der Menschheit (5) gegenüber dem deontischen Konzept der Pflicht bedeutet, dass der moralische Wert von Handlungen nicht allein mittels Berücksichtigung der Bestimmungsgründe des Willens, sondern ebenso der moralisch relevanten Handlungsfolgen bestimmt werden kann bzw. muss. Daher versteht Cummiskey in seiner radikalen konsequentialistischen Perspektive auch den Wert der rationalen Natur nicht im strengen Sinne als unbedingt, sondern bindet ihn an einzelne Akteure bzw. den Wert ihrer jeweiligen Zwecksetzungen, da die Vernunftnatur immer eine konkrete Ausübung brauche. Hare dagegen versteht unter dem Selbstzweck in Anlehnung an die RZF primär die vernünftige Koordination der eigenen rationalen Präferenzen mit denjenigen anderer, was die Aneignung fremder Zwecke erfordere.

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III.2.4.2 Konkrete Formen der K-These: Hare und Cummiskey Auch wenn sowohl Hare als auch Cummiskey an verschiedenen Stellen betonen, dass Kant in ihren Augen kein Konsequentialist war, 215 nehmen sie diese Aussagen andernorts wieder zurück bzw. relativieren sie auf eine Weise, die bezüglich beider Interpretationsansätze den Eindruck evoziert, dass Kants Ethik ihrer Ansicht nach eine eigentümliche und vielleicht nur nicht ganz zu Ende gedachte Form des Konsequentialismus darstellt. M. E. stellen beide Formen der konsequentialistischen Interpretation trotz besagter Abschwächungen eine starke Form der K-These dar, weil es bei ihnen im Unterschied zur SD- und STThese keine implikationsreichen Zugeständnisse an andere Klassifikationsmöglichkeiten gibt. Während Hares Rekonstruktion (A) auf den Erweis der Kompatibilität kantischer Prämissen und Argumente mit utilitaristischen Denkmodellen abzielt, sieht Cummiskey (B) in Kants Ethik primär eine originelle Version konsequentialistischen Denkens. Aufgrund der Knappheit der Ausführungen Hares sowie der Qualität ihrer Kritik von Rohs 216 einerseits und der umfangreicheren und differenzierten Analysen Cummiskeys andererseits werde ich mich in Darstellung (s. u.) und Kritik (Kap. IX) primär auf Cummiskeys Ansatz konzentrieren. Ad (A) Hare stellt eine Reihe von unterschiedlichen und partiell nur schwer miteinander vereinbaren Thesen auf: 1. Kant hätte Utilitarist sein können, war es aber nicht, 217 2. Kants formale Theorie kann als Utilitarismus gedeutet werden, 218 3. Kant war insofern Deontologe, als der Pflichtbegriff im Zentrum seiner Ethik steht, 219 4. Kant war ein »rational-will utilitarian«, 220 5. unter der Voraussetzung einer adäquaten Bestimmung des Konsequentialismusbegriffs sei auch Kants Ethik unter dieses Modell zu subsumieren. 221 Der diesbezügliche Hauptkonflikt besteht zwischen der These 3 und den Thesen 4 und 5, doch offenbar ist Hare der Ansicht, dass der Primat des klassisch-deontologischen Strukturmoments der Pflicht keinen problematischen Gegensatz zur utilitaristischen Gesamtklassifikation darstellt. Als Besonderheit dieser 215 216 217 218 219 220 221

Vgl.: Cummiskey 1996, S. 15 f.; Hare 1997, S. 148. Vgl.: Rohs 1995. Vgl.: Hare 1997, S. 148; Hare 1995, S. 343. Vgl.: Hare 1997, S. 148. Vgl.: Hare 1997, S. 148. S.: Hare 1997, S. 151; Hare 1995, S. 344. Vgl.: Hare 1997, S. 163. A

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Form der K-These ist demnach festzuhalten, dass sie mit These 3 ein Element einer klassisch-deontologischen Deutung beinhaltet. Hares Begründungsansätze für die genannten Thesen bestehen in bestimmten Umdeutungen kantischer Grundbegriffe, wobei er sich besonders auf die Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs und den guten Willen konzentriert. Ein der SZF gemäßes Handeln erfordere in erster Linie, dass man die moralischen Zwecke anderer Vernunftwesen zu den eigenen Zwecke mache. Daraus schließt Hare auf These 4, da er unter den Zwecken anderer Wesen Präferenzen versteht: »For a utilitarian too can prescribe that we should do what will conduce to satisfying people’s rational preferences or wills-for-ends – ends of which happiness is the sum«. 222 Während beim Utilitarismus die Interessen aller Menschen gleich zählten, müsse man nach Kant alle Menschen gleich achten – darin sieht Hare schon eine grundsätzliche Übereinstimmung beider Richtungen. In seiner Rekonstruktion der kantischen Pflichtableitungen in der GMS zeigt sich Hares unorthodoxes Verständnis des Gehalts der SZF, 223 wenn er weder im Selbstmord noch in der Verkümmerung der eigenen Talente einen Widerspruch zum eigentlichen Willen des Vernunftwesens sehen kann, sondern stets auf den Primat der internen Konsistenz von Willensziel und Akteurautorität verweist. 224 Die Zwecke anderer Menschen seien sowohl in Kants wie auch Hares eigener Ethik das jeweils zu beachtende Restriktionskriterium, 225 sodass auch das kantische Selbstmordverbot daraus resultiere, da es gegen den Willen des anderen Menschen verstoße. 226 Der gute Wille sei nicht unabhängig von den ihnen impliziten Verwirklichungsintentionen, sondern

S.: Hare 1997, S. 151. Auch die UF sei problemlos mit dem Utilitarismus zu vereinbaren: »The upshot is that I shall be able to will only such maxims as do the best, all in all, impartially, for all those affected by my action. And this, […] is utilitarianism.« S.: Hare 1997, S. 153. 224 »I might have as an end the saving myself from intolerable pain. Obviously there is no difficulty in my sharing this end with myself, or agreeing with my way of behaving to myself«. S.: Hare 1997, S. 152. 225 Vgl.: Hare 1995, S. 347. 226 Hare rekonstruiert das moralisch Problematische am Töten und Lügen nicht als unmittelbare Nicht-Achtung des unbedingten Werts des Vernunftwesens, sondern über den Weg der Beurteilung der Folgen dieser Handlungen: Das Töten sei schlecht aufgrund der Konsequenz des Todes, das Lügen sei untersagt wegen der Folgen des Betrogenseins des anderen Menschen; vgl.: Hare 1997, S. 164. 222 223

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allein aufgrund der Konsequenzen seiner Ausübung gut zu nennen. 227 Zudem sei auch die Tugendlehre aus der MS insofern utilitaristisch, als die moralische Vollkommenheit des guten Willens durch seine Form – die Form praktischer Liebe – bestimmt werde und letztere wiederum zur Beförderung der Zwecke aller Akteure führe. 228 Ad (B) Cummiskey ist davon überzeugt, dass Kants Ethik nicht nur mit konsequentialistischen Denkweisen kompatibel ist, sondern darüber hinaus selbst eine spezifische Form des Konsequentialismus impliziert und allgemein eine Synthese der intuitiv plausiblen Elemente des Kantianismus mit dem Konsequentialismus darstellt. 229 Auch wenn Kant selbst nicht als Konsequentialist gelten könne, stelle sein Ethikmodell eine Rechtfertigung einer neuen Form konsequentialistischer Ethik bereit, die Cummiskey einen ›kantischen Konsequentialismus‹ nennt. 230 Seine Kant-Deutung hebt sich insofern graduell von anderen aktuellen Ansätzen ab, als sie in aller Deutlichkeit und zudem partiell unter Verwendung eines aus konsequentialistischen Theorien stammenden Vokabulars bestreitet, dass es ein Bestandteil von Kants Moralphilosophie sei, der bestmöglichen Beförderung des Guten deontologische Beschränkungen aufzuerlegen. 231 Das Ziel der kantischen Moralphilosophie bestehe vielmehr in einer philosophischen Begründung der Forderung nach einer maximalen Unterstützung der Bedingung rationaler Handlungen und sei im Ausgang von der GMS in erster Linie als Theorie der Rechtfertigung normativer Prinzipien und des Wesens der moralischen Motivation zu verstehen. 232 In diesem ZuVgl.: Hare 1997, S. 165. Daher müssten auch am Reich-der-Zwecke-Formel orientierte Maximen als utilitaristisch bezeichnet werden, da sie als Ausdrucksmedium praktischer Liebe fungierten; vgl.: Hare 1997, S. 157. 229 Vgl.: Cummiskey 1996, S. 3. 230 Eine nochmals andere Formulierung Cummiskeys besagt, dass die wichtigsten Elemente von Kants Ethik rational als kantischer Konsequentialismus rekonstruiert werden können; vgl.: Cummiskey 1996, S. 4. Zwar ist nach Cummiskey zu beachten, dass Kant an bestimmten Stellen durchaus nicht-konsequentialistisch argumentiert habe, doch ändere dieser Umstand nichts an der Tatsache des impliziten Konsequentialismus Kants. Seine nicht-konsequentialistischen Aussagen gründeten auf einem Rest einer am Common-Sense orientierten Intuition und seien argumentativ nicht untermauert. Trotzdem bleibt grundsätzlich festzuhalten, dass Cummiskey Kant keine explizite Befürwortung oder Verteidigung des Konsequentialismus zuschreibt; vgl.: Cummiskey 1996, S. 5. 231 Vgl.: Cummiskey 1996, S. 3. 232 Vgl.: Cummiskey 1996, S. 3 f. 227 228

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sammenhang differenziert er zwischen den beiden Aspekten der Begründungstheorie und deren Rechtfertigung, wobei normative Prinzipien Elemente der ethischen Theorie seien und ihre theoretische Rechtfertigung zur metaethischen Reflexionsebene gezählt werden müssten. 233 Kants Begründungstheorie basiere grundsätzlich auf der These, dass die fundamentalen normativen Prinzipien durch rationale Handlungen erzeugt würden. Dementsprechend beginne er nicht mit einer Theorie des Guten bzw. der guten Zwecke und komme dann zu seinem Pflichtkonzept, sondern setze umgekehrt bei der Idee der Pflicht an und reflektiere vor diesem Hintergrund auf die Wertfrage. 234 Obwohl dieses Vorgehen zwar nicht klassisch-konsequentialistisch zu nennen sei, wäre der strikte Umkehrschluss auf eine Inkompatibilität der kantischen Ethikbegründung mit konsequentialistischen Theoriekomponenten unzutreffend. 235 Cummiskey geht davon aus, dass die Bestimmung des normativen Gehalts eines Moralgesetzes durch ein formales Prinzip und die Annahme, dass dieser Gehalt in Form eines anzustrebenden Zwecks durch eine moralisch gute Handlung maximal befördert werde, nicht notwendig zu einem Widerspruch führen müssen. Das Hauptargument gegen eine konsequentialistische Lesart der kantischen Ethik bestehe in dem Verweis darauf, dass die konsequentialistische Trennung von Entscheidungsprozessen und denjenigen Faktoren, die eine gute Handlung zu einer solchen machen, dem kantischen Internalismus nicht gerecht werden könne. Dies sei allerdings insofern falsch, als Kants Internalismus nur das Vorhandensein eines moralisch richtigen Urteils, nicht aber dessen alleinige Priorität erfordere, da es in der kantischen Ethik eine Hierarchie von Maximen gebe. Cummiskey entwickelt daher Argumente, die sich zwar an der engen Verbindung von Pflicht und Handlungsmotiv orientieren, zugleich jedoch den Punkt stark machen, dass diese Maximenhierarchie Raum für konsequentialistische Struk233 Als Korrektiv dieser Unterscheidung betont Cummiskey zugleich einen gewissen Grad an Kontinuität, den ethische und metaethische Erwägungen aufweisen; vgl.: Cummiskey 1996, S. 7. 234 Vgl.: Cummiskey 1996, S. 9. In Parallele zu Hares Berücksichtigung der Pflicht ignoriert auch Cummiskey nicht die Relevanz deontischer Elemente in der kantischen Ethik. 235 »Contrary to the widespread assumption, an evaluation of Kant’s concept of obligation or duty, his distinction between formal and material principles, his theory of the good, and his derivations of the categorical imperative demonstrate the compatibility of Kantian foundations and consequentialism.« S.: Cummiskey 1996, S. 9.

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turen lasse: Zum einen sei offenkundig, dass der Kategorische Imperativ mit der Idee des Selbstzwecks selbst eine spezifische Konzeption des Guten voraussetze, zum anderen müssten konsequentialistische Prinzipien keineswegs auf inhaltlich spezifizierte Neigungen gegründet sein und somit gegen Kants Maßgaben verstoßen. Grundsätzlich müsse man zwischen zwei Konzeptionen des moralphilosophischen Prinzipienformalismus bei Kant differenzieren: Das erste Verständnis des formalen Prinzips impliziere die Fundierung auf den begrifflichen Eigenschaften des Moralprinzips wie etwa Notwendigkeit und Universalisierbarkeit, während die zweite Möglichkeit nicht die Begründung, sondern die Zweckbezogenheit fokussiere: »[…], a formal principle is a principle that has as its end an objectively justified and necessary end – an end that provides justifying and motivating reason for all rational agents.« 236 Im Ausgang von dieser letzten Bestimmung eines objektiven und notwendigen Zwecks radikalisiert Cummiskey diesen Gedanken und bestimmt die Rolle dieser Art von Zweck in der kantischen Ethik, indem er die Frage stellt, warum man ein Versprechen in kantischer Perspektive nicht brechen dürfe, auch wenn man dadurch ein vermehrtes Einhalten von Versprechen in der Zukunft bewirken würde. Das Gleiche gelte darüber hinaus für das Töten von Unschuldigen mit dem Ziel, dadurch eine größere Anzahl unschuldiger Menschen retten zu können. 237 Die Universalisierung von zugrundeliegenden Maximen, die eine maximale Beförderung des Guten bedeuten, führt nach Cummiskey weder zu einem Widerspruch im Willen noch im Begriff. Unter Rekurs auf GMS 429 stellt er die vorrangige Relevanz des dort zu findenden Gedankens heraus, dass ein Kategorischer Imperativ nur unter der Bedingung der Existenz eines objektiv notwendigen Zwecks möglich sei. Eine solche objektiv notwendige Zielstruktur könne einzig die rationale Natur selbst sein, die den Grund des Kategorischen Imperativs als ein objektives Prinzip des Willens darstelle. 238 Zwar besitze die rationale Natur einen besonderen Wert, doch sei dieser von dem Akt der rationalen Wahl und somit stets S.: Cummiskey 1996, S. 50. Vgl.: Cummiskey 1996, S. 59. 238 Dies treffe nicht immer vorbehaltlos zu, wobei insbesondere an Fälle zu denken sei, in denen nicht die notwendige Bedingung allen Werts involviert ist (so z. B. im Falle des Werts einer Tomate, der allein von den bestehenden oder nicht bestehenden Bedürfnissen einzelner Personen abhänge). Daher sei die Bedingung von Wert selbst nicht logisch zwingend wertvoll oder gar unbedingt werthaft; vgl.: Cummiskey 1996, S. 77. 236 237

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von einem Akteur abhängig. Cummiskey sieht im Anschluss an O’Neill mit dem unbedingten Wert der rationalen Natur für den Akteur die Aufgabe verbunden, die Bedingungen rationaler Handlungen zu befördern und Schaden von ihnen abzuwenden. 239 Dieser Gedankenschritt sei dabei zugleich der erste Schritt der Ableitung des normativen Konsequentialismus, der sich aus dem kantischen Internalismus folgern lasse: »The formula of the end-in-itself is constituted, at least in part, by the complex moral goal of promoting the flourishing of rational nature and the realization of permissible ends.« 240 Zudem müsse man anerkennen, dass die rationale Natur einen akteurneutralen Wert besitze, was ein weiteres Argument für eine konsequentialistische Deutung darstelle. 241 Der Wert der Fähigkeit zur rationalen Entscheidung und Handlung sei zwar faktisch von einem konkreten Akteur abhängig, doch sei er daher nicht gleich relativ, da die Wertschätzung dieser eigenen Fähigkeit für jeden Akteur eine Notwendigkeit sei. Cummiskey sieht auf deontologischer Seite grundsätzlich die Gefahr des Missverständnisses, den Selbstzweck praktischer Rationalität nur als Restriktion der Zweckwahl und nicht als Erfordernis der Beförderung des Guten aufzufassen. Ein solcher Vorwurf sei insofern das Resultat einer gewissen Konfusion, als die rationale Natur und die zulässigen Zwecke anderer Vernunftwesen auch in der konsequentialistischen Lesart als Beschränkungen subjektiver Zwecke fungierten. 242 Im Rahmen seiner Bemühungen um eine überzeugende Darstellung der konsequentialistischen Auffassung der Menschheitsformel bringt er hinsichtlich der Opferproblematik die Grundidee seiner Kant-Lesart pointiert auf den Punkt: If my sacrifice is required by universal and unconditional moral principles (to which I am necessarily committed), then my sacrifice is not an affront to the

Vgl.: Cummiskey 1996, S. 86 f. S.: Cummiskey 1996, S. 87. 241 Während der unbedingte Wert der rationalen Natur zur Voraussetzung jeglicher rationalen Handlung diene, fungierten die Erhaltung und Förderung dieser Natur sowie die Verwirklichung moralisch zulässiger oder gebotener Zwecke als Zielvorstellungen dieser Handlungen. Die rationale Natur als solche könne dabei zwar nicht in einem klassischen Sinne maximiert, wohl jedoch könnten die Bedingungen zur Bewahrung und Affirmation der praktischen Rationalität mit maximalem Engagement und möglichst umsichtiger Reflexion gefördert werden. 242 Vgl.: Cummiskey 1996, S. 89. 239 240

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dignity of humanity, thus it should not undermine or tarnish the agent’s respect for human dignity. 243

Grundsätzlicher formuliert lautet Cummiskeys Argument demnach, dass im Falle des Opferns Unschuldiger zu einem moralischen Zweck die Würde der geopferten Personen nicht verletzt würde, da ja nicht ein nur subjektiver, sondern ein objektiver Zweck verfolgt und somit nicht gegen das diesbezügliche kantische Verdikt verstoßen würde. 244 Zudem schreibe die Menschheitsformel zwar die zulässigen Zwecke, nicht aber jeden einzelnen ihrer Verwirklichungswege vor. 245 In Cummiskeys Variante der K-These wird die von Kant konstatierte Würde jeder Person demnach als Argument für und nicht, wie es meist in deontologischen Interpretationen der Fall ist, gegen eine Vergleichbarkeit des Personenwerts ausgelegt: »The equal value of all rational beings provides a clear basis for a requirement to maximally promote the flourishing of rational agency.« 246 III.2.4.3 Zusammenfassung Im Unterschied zur SD-These, welche primär eine gegebenheitsmodale Abschwächung der D-These bzw. von bestimmten Teilthesen impliziert, stellt sich die K-These als offene und direkte Kritik an der Adäquatheit einer deontologischen Rekonstruktionsperspektive dar. Cummiskeys Version der K-These zeichnet sich im Vergleich zur T-These vor allem durch die weniger ausgeprägte Betonung der Relevanz von Wertbestimmungen sowie insbesondere die These der direkten Vergleichbarkeit des Werts von Personen in Form der Idee einer ›axiologischen Verrechnungsmöglichkeit‹ vor dem Hintergrund der Annahme der moralischen Relevanz der Handlungsfolgen aus. Man muss demnach einerseits von einer Dominanz von K1 und K4 gegenüber K6, andererseits von einer signifikanten systematischen Schlüsselstellung von K5 sprechen. Dies steht darüber hinaus in Zusammenhang mit der Auffassung des Grundcharakters der von Kant vertretenen Auffassung von moralischem Gebotensein als Aufforderung zur maximalen S.: Cummiskey 1996, S. 135. Vgl.: Cummiskey 1996, S. 141. Vgl. darüber hinaus: »If I sacrifice some for the sake of others I do not use them arbitrarily, and I do not deny the unconditional value of rational beings.« S.: Cummiskey 1996, S. 146. 245 Vgl.: Cummiskey 1996, S. 143. 246 S.: Cummiskey 1996, S. 129 f. 243 244

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Beförderung der Entwicklungsmöglichkeiten rationaler Selbstbestimmung bzw. Handlung. Diese letzte These wird in dieser radikalen Form nur von Cummiskey und abgewandelt von Hare vertreten und stellt daher eine spezifisch für die K-These charakteristische Teilbehauptung dar. Im Vergleich mit der T- und ST-These fällt auf, dass die K-These streng genommen nur durch K5 deutlich von den teleologischen Ansätzen abweicht, da die teleologischen und konsequentialistischen Interpretationen hinsichtlich der unverzichtbaren Rolle von moralischen Zwecken und partiell auch Werten grundsätzlich übereinkommen. Bei Cummiskey wirkt sich die Betonung der kantischen Annahme der Begründung des Kategorischen Imperativs durch den objektiven Zweck der rationalen Natur im Vergleich mit der T-These insofern konkreter bzw. radikaler aus, als er nicht nur einen normativen Vorrang dieses Zwecks gegenüber den nach Maßgabe des KI bestimmten Pflichten behauptet, sondern zudem die Handlungsorientierung am Zweck der rationalen Natur als fundamentale Forderung Kants auffasst. Die Interpretationsperspektive Cummiskeys läuft in ihrer schärfsten Auslegung tatsächlich auf das Prinzip ›der Zweck heiligt die Mittel‹ hinaus, da die von ihm propagierte Zulässigkeit oder gar Gebotenheit der Verletzung fundamentaler Achtungspflichten gegenüber dem Leben einzelner Personen zugunsten der Beförderung eines übergeordneten Zwecks durch die Folgen einer Handlung die absolute Verbindlichkeit des Sittengesetzes letztlich relativiert und somit unterminiert.

III.2.5 Kants Ethik als typologisch transkategoriales Modell: Die schwache Komplexitätsthese (SKOM-These) Die bisher dargestellten und auf ihre Grundstruktur hin analysierten Interpretationsansätze der kantischen Ethik kommen dahingehend überein, dass sie von der Prämisse der grundsätzlichen typologischen Klassifizierbarkeit der kantischen Ethik ausgehen. Abseits des vielbeachteten und von prominenten Philosophen/innen aufgesuchten ›Kampfplatzes‹ zwischen deontologischen und teleologischen/konsequentialistischen Kant-Interpretationen existiert jedoch auch eine Herangehensweise an Kants Ethik, welche sich durch eine eher skeptische Sicht auf die u. a. durch Broads und Frankenas Terminologie geprägte ethiktypologische Klassifikationsweise auszeichnet und von der 158

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grundsätzlichen Überzeugung getragen wird, dass die Struktur der kantischen Ethik weder primär auf deontischen noch auf teleologischen Kernbegriffen beruht. Auch wenn Vertreter der SD-These wie Korsgaard und der T- sowie der ST-These wie Herman oder Krämer mit der Behauptung übereinstimmen würden, dass sich die kantische Ethik durch ein erhebliches Maß an Komplexität auszeichnet, stellen sie diese Komplexität erstens nicht mit letzter Konsequenz in den Mittelpunkt und ziehen zweitens keine radikalen klassifikationstheoretischen Schlüsse. Anders verhält es sich bei den Vertretern der schwachen Komplexitätsthese (SKOM-These), die nicht nur zugestehen, dass verwickelte Wechselbeziehungen zwischen typologisch verschiedenartigen Elementen und Strukturen existieren, sondern darüber hinaus behaupten, dass die vorhandenen strukturellen Relationen zwischen den heterogenen Aspekten eine klassisch-schematische Einteilung unmöglich machen. Zugleich zeigt sich der gegenüber einer theoretisch denkbaren strengen KOM-These abgeschwächte Charakter der SKOM-These in der partiellen Kompatibilität mit bestimmten Zugeständnissen an die SD- und ST-These. Damit steht sie insgesamt sowohl der D-/SD- als auch der T-/ST-These gegenüber und besitzt trotz der ebenfalls vorhandenen Berührungspunkte ein eigenes Profil. III.2.5.1 Das systematische Profil der SKOM-These Die Komplexitätsthese wird von Arrington und Baumanns vertreten und impliziert nicht nur die Behauptung der typologischen Komplexität der kantischen Ethik, sondern steht zudem in einer vielschichtigen und daher ihrerseits komplizierten Beziehung zu alternativen Deutungen. Ihr Profil umfasst die folgenden Teilthesen: SKOM1: These der typologischen Transkategorialität der primär relevanten Elemente bzw. Strukturen Die maßgeblichen Elemente und Strukturen der kantischen Ethik können nicht gerechtfertigterweise als entweder deontologisch oder teleologisch/konsequentialistisch bezeichnet werden, sondern stehen in systematischer Hinsicht über bzw. jenseits dieser ethiktypologischen kategorialen Einteilung. 247

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Vgl.: Baumanns 2004, S. 53. A

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SKOM2: These der unzureichenden Differenzierung zwischen den typologischen Hauptstrukturen SKOM2 ist insofern eine Konkretisierung der argumentativen Bedingungen von SKOM1, als sie den Grund für das in SKOM1 Behauptete benennt bzw. präzisiert: Die typologische Transkategorialität der diesbezüglich primär relevanten Strukturen ist ein Resultat ihrer ethiktypologischen Unterbestimmtheit, 248 d. h. Kant differenziert nicht hinreichend zwischen deontischen und teleologischen/konsequentialistischen Prädikationen. SKOM3: These des spezifisch typologisch transkategorialen Begriffs des Selbstzwecks der Menschheit SKOM3 stellt eine Spezifizierung von SKOM1 und SKOM2 dar, indem die bereits konstatierte Transkategorialität der Primärstrukturen am Selbstzweck der Menschheit bzw. des Vernunftwesens aufgezeigt wird: In der Selbstzweckidee der Vernunftnatur und des vernünftigen Wesens konvergieren das moralisch Richtige und das Gute auf eine Weise, welche insofern als spezifisch bezeichnet werden muss, als die Art der Konvergenz eine Klassifikation als deontologisch oder teleologisch nicht zulässt. Kant bestimmt seine Konzeption des selbstzweckhaften Vernunftwesens auf eine Art und Weise, der eine nur unzureichende Differenzierung zwischen dem intrinsisch und dem konsequentialistisch Wertvollen zugrunde liegt und liefert daher keine ausreichende Basis für eine typologisch aussagekräftige Klassifikation seiner verschiedenen Wertaussagen. 249 SKOM4: These der typologischen Äquivalenz von Pflichten und Zwecken SKOM4 ist eine materiale Konkretisierung von SKOM1: Deontische Elemente wie Pflichten und teleologische/konsequentialistische Elemente wie Zwecke stehen hinsichtlich ihrer strukturellen und somit typologischen Relevanz in einem derart ausgewogenen Verhältnis zueinander, dass sie keinen Anlass zu einer einseitigen Klassifizierung der kantischen Ethik liefern können. 248 Gewissermaßen könnte man zugleich von einer ethiktypologischen Überdetermination bestimmter Elemente/Strukturen sprechen, da auch diese Beschreibung dem Umstand der behaupteten Implikationskomplexität Rechnung trägt. 249 Vgl.: Baumanns 2004, S. 53 f.

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Systematische Hauptelemente der SKOM-These Die SKOM-These stellt vor allem folgende Elemente in den Mittelpunkt: 1. die Pflicht, 2. den guten Willen und 3. den Selbstzweck der Menschheit. Die kantische Pflichtkonzeption (1) und der gute Wille (2) werden in ihrer wechselseitigen Verwiesenheit begriffen, wobei insbesondere auf die kantische Aussage Bezug genommen wird, dass der Pflichtbegriff denjenigen des guten Willens beinhaltet. Diese Relationsbestimmung zeige nicht die Überordnung der Pflicht, sondern bedeute vielmehr, dass die Pflichtkonzeption nicht ohne Rekurs auf den Willensbegriff rekonstruierbar sei. Der Selbstzweck der Menschheit (3) nimmt im Rahmen der SKOM-These eine Schlüsselposition ein, da sich in der Idee vernünftiger Personalität eine spezifische Form der Verbindung von moralisch Gebotenem und dem anzustrebenden Guten finden lasse, welche jegliche einseitig orientierte ethiktypologische Klassifikation als obsolet disqualifiziere. In dieser Perspektive stellt die Selbstzweckidee den entscheidenden Konvergenzpunkt von deontischen und teleologischen/konsequentialistischen Aspekten und damit den fundamentalen argumentativen Ausgangspunkt der SKOMThese dar. III.2.5.2 Konkrete Formen der SKOM-These: Arrington und Baumanns Die beiden hier behandelten Varianten der SKOM-These von Arrington (A) und Baumanns (B) zeichnen sich trotz der partiell gemeinsamen Fokussierung gleicher Elemente durch voneinander abweichende klassifikatorische Tendenzen aus, wodurch in Parallele zu deontologischen bzw. konsequentialistischen Interpretationen die potentielle Binnendifferenziertheit auch dieser Position anhand konkreter Beispiele deutlich gemacht werden kann. Ad (A): Arringtons Variante der SKOM-These besitzt eine Tendenz zur SD-These, da sie aufgrund der Unabhängigkeit der Pflicht vom Wert der durch eine pflichtgemäße Handlung bewirkten Folgen und der absoluten, von weiteren Wertreflexionen unabhängigen Falschheit von Handlungen eindeutige Zugeständnisse an die Legitimation deontologischer Klassifikationen macht. 250 Daher konstatiert Arrington, dass Kants Ethik deontologisch genannt werden müsse, insofern dies die Unabhängigkeit der Handlungsbewertung von den jeweils gegebenen Umständen bedeute. Wenn man jedoch unter ›Deon250

Vgl.: Arrington 1998, S. 293. A

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tologie‹ eine Ethik der Pflichten und unter ›Teleologie‹ eine Zweckethik verstehe, wobei erstere ausschließlich Gebote und das Prinzip der Richtigkeit, letztere bestimmte Werte und das Prinzip der Gutheit fokussiere, dann sei die kantische Ethik zu komplex, um vor diesem Hintergrund adäquat kategorisierbar zu sein. Unter Berücksichtigung dieser klassischen ethiktypologischen Schemata sei Kants Ethik nicht deontologisch, da 1. Glück ein bedingter Teilzweck der praktischen Vernunft sei, 2. die Rolle des guten Willens diejenige eines unbedingten Werts übernehme, und 3. der Pflichtbegriff untrennbar mit demjenigen des guten Willens verbunden sei. Der Selbstzweck der Menschheit und der Person müsse darüber hinaus als unverzichtbar für ein Verständnis des Kategorischen Imperativs angesehen und zudem der absolute Wert des rationalen Willens berücksichtigt werden, um der vielschichtigen Binnenstruktur dieser Ethik gerecht werden zu können. 251 Die grundsätzliche Pointe der Ausführungen Arringtons besteht insgesamt in der These, dass es zwar gute Gründe für eine deontologische Klassifikation der kantischen Ethik gebe, die eigentliche Größe dieses Ansatzes sich jedoch tendenziell eher in der Transzendierung der herkömmlichen Dichotomie von Deontologie und Teleologie erweise. Ad (B): Ausgangspunkt der Überlegungen Baumanns’ ist die Idee des Selbstzwecks, in der das Gute und das moralisch Richtige gewissermaßen zusammenfallen sollen, sowie die Tugendlehre aus der MS: In der Kantischen Idee des ›Zweckes an sich selbst‹ […], die auf autonome Charakterbildung als selbstverfaßte Existenz zielt, kongruieren die moralischen Subjektsqualitäten, und die das Gute, d. h. den guten Willen, spezifizierenden Objekte des moralischen Handelns, koinzidieren mit dem Rechten des Handelns die zu erstrebenden Werte bzw. Güter in Gestalt des Tugendsystems der ›Metaphysik der Sitten‹. 252

In einer ersten Rezeption dieser Aussage muss als Hauptthese rekonstruiert werden, dass die Selbstzweck-Konzeption weder als deontologisch noch als teleologisch/konsequentialistisch klassifiziert werden könne, sondern beide ethiktypologischen Elemente auf spezifische Art und Weise verbinde. Diese allgemeine Grundthese wird von Baumanns auf zweifache Weise anhand des direkten Bezugs auf Strukturelemente der kantischen Ethik konkretisiert: Im Selbstzweckgedanken fielen demnach zum einen die moralischen Eigenschaften des Akteurs mit 251 252

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Vgl.: Arrington 1998, S. 293. S.: Baumanns 2004, S. 53.

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den Objekten seines Handelns, zum anderen das ›Rechte des Handelns‹ mit den werthaften Tugenden zusammen. Baumanns erklärt dabei nicht näher, was er genau unter dem besagten ›Rechten‹ versteht, doch liegt die Vermutung nahe, dass mit diesem Begriff die moralischen Prinzipien bzw. das Sittengesetz und der Kategorische Imperativ bezeichnet werden sollen. Der Selbstzweck des Vernunftwesens stelle demnach eine Form von Synthese von deontischen, teleologischen/ konsequentialistischen und axiologischen Elementen dar und entziehe sich jeglicher einseitigen Klassifikation. In einer zweiten Rezeptionsphase fällt jedoch auf, dass sich im ersten Nebensatz (der zusätzlichen Erläuterung der Selbstzweckidee) eine weitere These verbirgt, welche sich ebenfalls auf den Selbstzweck, nicht jedoch allein auf dessen Binnenstruktur, sondern auf seine Funktion als Ganzes bezieht. Demzufolge umfasse das Konzept der Person als Zweck an sich selbst die Zielvorstellung eines selbstbestimmten und somit freien (rationalen) Lebens, in welchem der moralischen Charakterentwicklung bzw. Selbstbildung der personalen Eigenschaften und Handlungsdispositionen eine besondere Rolle zukomme. Einerseits solle die Selbstzweckidee die drei typologisch verschiedenen Komponenten vereinen, andererseits hält Baumanns offenbar ebenfalls die Konstatierung einer teleologischen Funktion dieser Idee für gerechtfertigt. Auch wenn Tugenden bei Kant Wertkonzepte darstellten, besäßen die diesbezüglich relevanten Lehrstücke in der MS nach Baumanns keine typologische Reinheit: Die kantische Tugendlehre führt die Entgegensetzung von Kantischer ›Pflichtethik‹ und ›Tugendethik‹ ebenso wie die am empiristischen Seinsbegriff orientierte Titulierung der Kantischen Ethik als nicht seins-, sondern sollensbegriffliche ›Deontologie‹ (Lehre von der reinen Sollenspflicht) ad absurdum. Die Kantische Ethik hat für die Realdistinktionen ›Wert‹-›Norm‹, ›Wert‹-›Gut‹, ›Gutes‹-›Rechtes‹, ›Gutes‹-›Gerechtes‹, sowie für die Unterscheidung des ›Natürlich-Guten‹ vom ›Praktisch-Guten‹ und der ›natürlichen Moral‹ von der ›offiziellen […] Moral‹, keinen logischen Ort. 253

Hier geht Baumanns zur Feststellung der genuin begrifflichen Problematik über, d. h. zum Problem des Mangels an wichtigen Differenzierungen ethischer Grundkonzepte. Dabei schließt er sich implizit der kritischen Bemerkung von Schönecker und Wood an, dass man bei Kant keine ausgearbeitete Theorie speziell des moralischen Werts fin253

S.: Baumanns 2004, S. 53. A

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den könne. Allerdings geht Baumanns so weit, zu behaupten, dass nicht nur die Unterscheidung von Wert und Norm, sondern auch diejenige zwischen dem natürlich gegebenen und dem praktischen, durch freie Handlungen zu bewirkenden Guten im Rahmen der kantischen Systematik nicht hinreichend distinkt rekonstruierbar sei. Diese These lässt trotz ihres radikalen Charakters noch offen, ob Kant z. B. gezielt an einer Parallelisierung von naturteleologischen und allein durch reine Vernunft begründeten Argumenten interessiert war. Auch wenn Baumanns zunächst von einer einfachen Klassifikation der kantischen Ethik Abstand genommen hat, nimmt er letztlich doch – wenn auch differenziert und im Endresultat dezidiert kritisch – auf die ethiktypologische Begrifflichkeit Bezug: Eher noch als ›Deontologie‹, so möchte man beinahe pointieren, passt auf den Kantischen Ethik-Typus der Titel ›Konsequentialismus‹, der jenem in der Nachfolge des ›Teleologismus‹ in neuerer Terminologie opponiert wird, wenn man ihn semantisch auf die seins- und vernunftinteressierte Arbeit im und am Reich der Zwecke bezieht. In Wahrheit aber unterläuft die Kantische Ethik der selbstzweckhaften Personalität die Disjunktion des intrinsisch und konsequentiell Wertbestimmten. 254

Die letzte Pointe der Ausführungen Baumanns besteht also in der Behauptung, dass im Konzept der Person als Zweck eine Transzendierung der ethiktypologischen Dichotomien stattfinde und dementsprechend eine in der traditionellen Terminologie formulierbare Klassifikation der kantischen Ethik nicht adäquat sei. III.2.5.3 Zusammenfassung Die SKOM-These in den Varianten von Arrington und Baumanns zeichnet sich nicht durch den Aufweis von bei den anderen Interpretationen ignorierten oder gar nicht zur Kenntnis genommenen Aspekten bzw. Argumenten, sondern in erster Linie durch eine von ihnen abweichende Bewertung derselben Elemente aus, da sie trotz bestimmter Tendenzen zu einer eher deontologischen bzw. konsequentialistischen Lesart auf die enge Verbundenheit ethiktypologisch heterogener Begriffe verweist. In Entsprechung zur D-These anerkennt z. B. Baumanns, dass in der Selbstzweckidee zweckunabhängige Akteurmerkmale ihren Ausdruck finden, doch beachtet er auch die gegebene Rechtmäßigkeit einer teleologischen Deutung dieses Konzepts, indem 254

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er das Selbstzweckhafte als mögliches Objekt eines guten Willens versteht (SKOM3). In dieser Hinsicht wird also das Vorhandensein beider entgegengesetzter typologischer Charakteristika behauptet. Zugleich beruht diese Variante der SKOM-These auf der Überzeugung, dass deontische und teleologische Momente vor allem bei dieser Idee des Zwecks an sich eine nur unzureichende Differenzierung erfahren, sodass sie zwar einerseits beide an dieser Idee aufweisbar sein sollen, ihr Vorhandensein sich jedoch aufgrund ihres sozusagen kontaminierten Zustands einer genauen Analyse widersetze (SKOM4). Arrington dagegen argumentiert für seine Version der gemäßigten Komplexitätsthese mit dem Argument eines gewissen Gleichgewichts zwischen deontischen und konsequentialistischen Elementen (SKOM4) und greift den bei Baumanns vorherrschenden Punkt der Annäherung an die Ununterscheidbarkeit von Deontischem und Teleologischem der Selbstzweckidee nicht explizit auf. Die vor allem für Baumanns’ Variante zentrale Teilthese SKOM3 steht insbesondere zu SD4, T4 und ST4 in einem nur schwer präzise erfassbaren Verhältnis, da sie streng genommen eine implizite Synthese dieser drei Teilthesen ist und aufgrund der ihr eigenen skeptischen Schlussfolgerung zugleich mehr als deren bloße Summe darstellt.

III.3 Hauptaspekte des ethiktypologischen Diskurses Auch wenn es sich bei dem in den vorhergehenden Unterkapiteln erfolgten Überblick über die maßgeblichen typologischen Klassifizierungen der kantischen Ethik nur um eine allgemeine und nicht alle existierenden Varianten umfassende Rekonstruktion der diesbezüglich relevanten Strukturmerkmale, Teilthesen und Begründungen handelt, sollte deutlich geworden sein, dass die aktuelle Diskussion einen beachtlichen Grad an Differenziertheit erreicht hat, den es im Rahmen ihrer strukturellen Analyse mit adäquaten begrifflichen Mitteln zu berücksichtigen gilt. In diesem letzten Abschnitt gilt es, im Unterschied zu den erfolgten Detailrekonstruktionen die allgemeinen inhaltlichen und strukturellen Signifikanzen der Ethiktypdebatte herauszustellen und damit nicht nur die Strukturmerkmale der einzelnen typologischen Thesen, sondern auch des ihnen übergeordneten Diskurses zu bestimmen. Die hier anstehende Aufgabe besteht zugunsten der Nachvollziehbarkeit wohlgemerkt nicht in einer buchhalterisch-pedantiA

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schen Auswertung aller Aspekte der erfolgten Positionsklassifikation, sondern letztere wird im Rahmen der übergeordneten Fragestellung nach systematisch signifikanten Aspekten ausgewertet und ist dementsprechend fokussiert. Eine höherstufige Reflexion auf die inhaltlichen Implikationen der verschiedenen Thesen und darüber hinaus auf deren Relationen zueinander hat insbesondere die folgenden drei Analyseschritte zu vollziehen: 1. Die pointierte Herausstellung der bei allen drei Thesen übereinstimmend relevanten Elemente der kantischen Ethik; 2. Die Explikation der bestehenden systematischen Überschneidungspunkte der drei Positionen (Bestimmung der transtypologisch gültigen Thesen); 3. Die grundsätzliche Bestimmung des Modalcharakters der Modifikationen der T- und SKOM-These gegenüber der D-These sowie der schwachen gegenüber der starken Variante einer These. Punkt 1 dient insofern der vorübergehenden Komplexitätsreduktion, als der Reflexionsfokus im Unterschied zum mikrostrukturell orientierten Begriffsinstrumentarium, welches z. B. im Rahmen der Differenzierung der verschiedenartigen modalen Modifikationen zur Anwendung kam, auf der Frage nach den von allen Thesen gemeinsam für konstitutiv befundenen Elementen der kantischen Ethik liegt. Die Identifizierung gemeinsamer Primärelemente ist dabei wohlgemerkt nicht identisch mit dem in Punkt 2 Adressierten, da die Menge der allgemein für maßgeblich relevant befundenen Elemente nicht kongruent mit derjenigen der transtypologisch für valide befundenen Teilthesen ist. 255 Der dritte Arbeitsschritt besteht im Aufweis der Verschiedenartigkeit der vorhandenen modalen Modifikationen, um nicht allein die bereits herausgestellten gegebenheitsmodalen Modifikationen der verschiedenen Teilthesen, sondern darüber hinaus weitere Abweichungsformen in den Blick zu bekommen. Ad1: Angesichts der philosophiehistorischen Wirkung beider Konzepte ist es nicht überraschend, dass das Sittengesetz und der Kategorische Imperativ in fast allen Ansätzen eine wichtige Rolle einnehmen. Dennoch sind es (vielleicht wider Erwarten) nicht diese Strukturmomente, welche im Mittelpunkt der Typologiediskussion stehen: 255 Unter der notwendigen und zugleich hinreichenden Bedingung der Konstatierung einer transtypologisch gültigen These verstehe ich eine diesbezügliche Übereinstimmung von mindestens zwei typologisch unterschiedlichen Positionen.

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Zwar spielen beide vor allem im Kontext der D-/SD- und der T-/STThese eine konstitutive Rolle, doch ist es speziell der Selbstzweck der Menschheit bzw. der Person und damit auch die Menschheitsformel des Kategorischen Imperativs, die nicht nur bei ihnen, sondern auch in der SKOM-These eine Schlüsselrolle einnimmt. Bei Trampotas Variante der D-These fungiert die Selbstzweckidee in Verbindung mit der Achtungskonzeption explizit als antiteleologisches/-konsequentialistisches Element, da Trampota in der Achtung vor dem Selbstzweck der Person gerade dasjenige Gewahrsein eines Werts zu finden glaubt, welches dem Akt des Strebens bzw. Anstrebens im Rahmen einer konsequentialistischen Ethik direkt entgegengesetzt ist, indem es nicht auf Verwirklichung, sondern Anerkennung angelegt ist. In dieser Perspektive kann der unbedingte Wert eines Menschen nicht als etwas irgendwann Verwirklichtes herbeigeführt, sondern als immer schon (apriori) existent angenommener Wert in den Handlungen geachtet und gewürdigt werden. Die entsprechenden Würdigungsakte zeichneten sich dabei im Sinne einer deontologischen Auffassung nicht durch Zweck-, sondern durch Restriktionsgebundenheit aus. In Korsgaards Variation der SD-These fungiert die Menschheit ebenfalls in erster Linie als transzendentale Bedingung von Handlungen, da die unbedingte Wertschätzung der Akteuridentität, welche bei allen Handlungsvollzügen vorausgesetzt werden muss, als in engster Verbindung mit der bedingungslosen Wertschätzung der Menschheit stehend interpretiert wird. Zugleich anerkennt sie jedoch die ebenfalls existente gegebenheitsmodale Modifikation dieser Auffassung der Menschheit, indem sie diesen Selbstzweck auch als einen die Moralitätsidee explizierenden Handlungszweck begreift. Auch Wood fokussiert die Menschheit als Kernstruktur der kantischen Ethik, in der rationales Sollen, absolute Werthaftigkeit und unbedingte Zweckmäßigkeit eine eigentümliche Verbindung eingehen. Daher lässt sich bei ihm neben der nicht-teleologischen Auslegung der Menschheit auch diejenige als absoluter Wert und unbedingt anzustrebender Zweck finden. Im Falle der T- und K-These zeigt sich ein ganz ähnliches Bild: Sowohl Herman als auch Cummiskey befürworten eine zweifach differenzierte Interpretation der Selbstzweckkonzeption als in handlungstheoretischer Hinsicht transzendental-notwendige Wertquelle und als handlungsleitender Zweck, wobei der letzte Aspekt ausschließlich bei Cummiskey einen derart hohen Grad an inhaltlicher und geltungstheoretischer Eigenständigkeit aufweist, dass zum einen die VerwirkA

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lichungsbestrebung des objektiven Vernunftzwecks der rein pflichtgemäßen Willensbestimmung entgegenstehen und ihr zum anderen als Handlungsgrundlage übergeordnet sein kann. Während in Krämers ST-These die selbstzweckhafte Menschheit primär als zu verwirklichendes und zudem zu erhaltendes vernunftnatürliches Wesen des Menschen, demnach als handlungsleitender Zweck in Erscheinung tritt, fungiert sie im Kontext der SKOM-These bei Baumanns als ethiktypologisch überkomplexer bzw. dadurch nahezu indifferenter Kontaminationspunkt von zu beachtenden Pflichten, anzustrebenden Zwecken und zu achtenden bzw. anzuerkennenden Werten. Diese letzte Auffassung deckt sich zu großen Teilen mit derjenigen Woods als einem Vertreter der SD-These, obwohl Baumanns’ Abschwächung einer idealtypisch konstruierbaren starken KOM-These genau in die andere, nämlich konsequentialistische Richtung geht. Festzuhalten bleibt, dass 1. der Selbstzweck der Menschheit in allen Thesen als ein zentrales Element der kantischen Ethik betrachtet wird, 2. dieser Selbstzweckkonzeption von mehreren Autoren (mit Ausnahme von Trampota sowie, in abgeschwächter Form, Arrington und Krämer) eine zweifache Funktion zum einen als apriorisch-axiologische Handlungsbedingung und zum anderen als vernunftnotwendiger, anzustrebender Handlungszweck zugeschrieben wird, 256 und 3. die Selbstzweckidee im Rahmen der SKOM-These zugleich als diejenige Struktur interpretiert wird, welche die konstatierte typologische Transkategorialität der kantischen Ethik begründet. Eine typologische Analyse sowohl der Originaltexte Kants als auch der verschiedenen Thesen der Diskussion muss sich demnach intensiv mit diesem Element und seinen systematischen Funktionen befassen, um diesem Befund gerecht zu werden. Zu prüfen ist diesbezüglich vor allem, inwiefern sich die beiden unterschiedlichen Funktionen des Selbstzwecks in besagter Form bei Kant wiederfinden lassen und was das entsprechende Untersuchungsresultat für die ethiktypologische Klassifikationsfrage genau bedeutet. Ad 2: Wenn man nach einer allen Hauptpositionen gemeinsamen Teilthese fragt, so ist als erstes Ergebnis zu konstatieren, dass es eine solche trotz der teilweise recht großen strukturellen Ähnlichkeit vor 256 Allerdings wird dieser Gesichtspunkt nicht unter expliziter Berücksichtigung der Differenz von Ethik und Metaethik und somit der Möglichkeit einer typologischen Irrelevanz des Selbstzwecks als Begründung des KI beachtet.

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allem der SD- und der ST-These nicht gibt. Das Phänomen der transtypologischen Gültigkeit einer Unterthese trifft nur auf jeweils zwei typologisch unterschiedlich kontextualisierte Teilthesen zu, wobei im Rahmen jeweils einer Hauptthese beim deontologischen Ansatz eine (D bzw. SD5), im Falle der teleologischen Interpretationen zwei solcher Thesen existieren (T bzw. ST3 und 4). Das zweite für uns relevante Resultat besteht in dem Befund, dass hinsichtlich des teleologischen Charakters des Selbstzwecks der Menschheit aufgrund der Identität von T4, ST4 und K4 vollkommene Übereinstimmung zwischen der starken und der schwachen Teleologie- sowie der starken Konsequentialismus-These herrscht. Dieser Sachverhalt impliziert vor dem Hintergrund der transtypologischen Relevanz dieses Elements, dass sich die drei Formen in einem entscheidenden Aspekt nicht voneinander unterscheiden, sich zugleich jedoch in dieser Hinsicht gemeinsam von alternativen Positionen entfernen. Letzteres wird in einem vergleichsweise schwächeren Maße von der ebenso bestehenden Identität von T3 und ST3 angezeigt, denn eine instrumentelle Auffassung des Sittengesetzes ist zwar nicht mit deontologischen Teilthesen, wohl jedoch zumindest insofern mit der SKOM-These (spezifischer: SKOM3) von Baumanns kompatibel, als nach ihr – im direkten Gegensatz vor allem zu Guyers Interpretation des Verhältnisses von Sittengesetz und Selbstzweck – in der Selbstzweckidee deontische und konsequentialistische bzw. teleologische Prädikationen ununterscheidbar werden und daher auch das Sittengesetz in seiner Auffassung als Teilgehalt der Menschheitskonzeption 257 als Mittel zum Zweck der Verwirklichung von Moralität gedacht werden kann. Die Gemeinsamkeit der beiden Formen der Deontologie-These beschränkt sich dagegen auf die Behauptung der Irrelevanz der Handlungsfolgen für den moralischen Handlungswert, während sich alle anderen Teilthesen hinsichtlich bestimmter modaler Modifikationen unterscheiden. Die SD-These weicht demnach insofern signifikanter von ihrer starken Parallelthese ab als die ST-These, da keine vergleichbare Übereinstimmung in Bezug auf ein strukturell zentrales Element existiert. Selbst die Beziehung der beiden übereinstimmenden Teilthesen D5 und SD5 ist differenzierter, als es auf den ersten Blick scheinen 257 Freilich ist eine derartig verfasste und keinesfalls selbstverständliche Interpretation der Relation von Sittengesetz und Menschheit die notwendige Bedingung für die oben skizzierte Lesart.

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mag, denn die in der D-These vorausgesetzte Prämisse der formalen Widerspruchsfreiheit wird bei SD5 als nur notwendige, jedoch keineswegs hinreichende Bedingung für die moralische Zulässigkeit einer Maxime interpretiert. Zusätzlich kommt es in letzterem Zusammenhang auf den Grad des durch die Maxime möglichen Wertausdrucks an, wobei dieser Aspekt vor allem bei Woods Behandlung der Formen des Kategorischen Imperativs zum Tragen kommt: Im Gegensatz zu dem im Zusammenhang mit der Naturgesetzformel virulenten, rein formalen Zugang zur Wertdimension seien die Menschheits- und Autonomieformel durch die auch material spezifizierte Wertidee der rationalen Natur der Person charakterisiert und stellten daher einen vollkommeneren Ausdruck des moralischen Selbstverhältnisses des Akteurs dar. Zugleich besteht mit der SKOM4-These ein partieller Anschlusspunkt für die D4- bzw. SD4-These, insofern erstere bis zu einem gewissen (nicht präzise bestimmbaren) Grad eine nicht-teleologische Auffassung des Selbstzwecks der Menschheit erlaubt. Allerdings beschränkt sich diese Relation auf eine eher lose Kompatibilität und rückt die deontologischen Interpretationen in keine wirkliche Nähe zur schwachen Komplexitätsthese. Bemerkenswert ist schließlich die Tatsache, dass SD3, T/ST3 und K3 letztlich dasselbe besagen, wenn sie konstatieren, dass das Sittengesetz als Mittel zum Zweck der Verwirklichung des Werts der rationalen Natur rekonstruiert werden könne. Sicherlich wird dieser Punkt in genuin teleologischen und konsequentialistischen Kontexten ungleich stärker und eindeutiger geltend gemacht als in deontologischen, doch muss dieser Befund als starkes Indiz für eine große Nähe der SD-These zum teleologischen Rekonstruktionsansatz gedeutet werden. Zusammengefasst sind die Hauptthesen der ethiktypologischen Diskussion einerseits nicht nur oberflächlich voneinander abzugrenzen, da sich keine einzige in allen vier Positionen übergreifend vorhandene Teilthese finden lässt. Andererseits ist jedoch festzuhalten, dass die T- und ST-These hinsichtlich der teleologischen Klassifikation des Selbstzwecks der Menschheit sowie der instrumentellen Auffassung des Sittengesetzes übereinstimmen und zudem beide eine grundsätzlich mit der SKOM-These vereinbare Auffassung des Sittengesetzes befürworten. Die starke und schwache Deontologie-These können zwar ebenfalls als mit der SKOM-These kompatibel interpretiert werden, doch steht letztere trotz besagter Berührungspunkte dennoch von ihrem Gesamtprofil her eindeutig jenseits aller einseitigen Klassifika170

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tionen. Die SD-These hat sich zudem in systematischer Hinsicht im Vergleich zur ST-These als von ihrer starken Hauptthese weiter entfernt dargestellt, was u. a. die Konsequenz hat, dass sie nicht nur in einer großen Nähe zur ST-, sondern darüber hinaus ebenfalls in zumindest nicht allzu entfernter Nachbarschaft zur T-These gesehen werden muss. Umgekehrt jedoch existieren keine nennenswerten Beziehungen zwischen der D- und der ST-These. Dagegen zeigt die inhaltliche Übereinstimmung von SD3 und T/ST3 an, dass sich eine schwach-deontologische Interpretation der kantischen Ethik auf signifikante Art und Weise teleologischen Grundüberzeugungen annähert. Die größten Assonanzen bestehen zwischen der T- und K-These, da sich die K-These streng genommen nur durch die Behauptung der vorrangigen moralischen Relevanz der Handlungsfolgen auszeichnet. Ad 3: Vor dem Hintergrund der Differenzierung zwischen substantiellen und modalen Modifikationen einer (Teil-)These sowie innerhalb der modalen Modifikationen zwischen geltungs- und gegebenheitsmodalen Abweichungen ist zu konstatieren, dass in der gesamten hier untersuchten Diskussion keinerlei substantielle, also auf den Inhalt des Sittengesetzes oder Selbstzwecks bezogene Abweichungen der Formen der T-/ST-, K-, SKOM- und SD-These von der als Ausgangspunkt betrachteten D-These existieren. Zwar differieren vor allem die D- und T- bzw. K-These hinsichtlich der spezifischen Funktionen der beiden genannten Elemente, doch führt die unterschiedliche funktionale Bestimmung nicht zu einem entsprechenden Dissens bezüglich der jeweils konstatierten Gehalte und somit zu keinerlei Form der substantiellen Modifikation. Bemerkenswert ist des Weiteren, dass nicht nur die schwache, sondern auch die starke Teleologie-These bei jedem ihrer hier behandelten Vertreter primär nur eine gegebenheits-, niemals jedoch eine strikt geltungsmodale Modifikation der kantischen Moralitätsidee behaupten, welcher Befund dem nicht selten anzutreffenden Vorurteil 258 widerspricht, dass eine teleologische Interpretation der kantischen Ethik allein aufgrund ihrer ethiktypologischen Grundausrichtung insofern nicht angemessen sein könnte, als sie notwendigerweise einen auf das Sittengesetz und/oder die Selbstzweckidee bezogenen, praktisch-geltungstheoretischen Relativismus bedeuten würde. Zumindest kann den teleologischen Positionen an dieser Stelle der Un258 Dieses Vorurteil lässt sich auch unabhängig von der kantischen Ethik hinsichtlich des Konsequentialismus als solchem konstatieren; vgl.: Birnbacher 2003, S. 128.

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Hauptpositionen der ethiktypologischen Diskussion

tersuchung weder eine strukturell begründete Verkennung der apriorischen Geltung des Sittengesetzes noch der Vernunftnotwendigkeit des Selbstzwecks der Menschheit attestiert bzw. vorgeworfen werden. Komplizierter sieht die Situation im Falle der konsequentialistischen Auffassung Cummiskeys aus, da sie zum einen gegenüber der D-These keine geltungsmodale Modifikation der Selbstzweckidee, wohl jedoch des Sittengesetzes beinhaltet, denn dessen kategorische Geltung wird im Kontext der K-These im Zweifelsfall dem absolut verbindlichen Zweck der Beförderung und Erhaltung der rationalen Natur subordiniert. Dies impliziert notwendigerweise die Unterstellung, dass das Sittengesetz und der Selbstzweck/der absolute Wert der rationalen Natur nicht nur nicht strukturell identisch sind, sondern sich auch hinsichtlich ihrer geltungstheoretischen Eigenschaften unterscheiden. Cummiskey hält demnach zwar an der absoluten Verbindlichkeit der Moralitätsidee sowie des Selbstzwecks fest, nicht aber an den im Rahmen der D-These fundamentalen Aspekten der Kategorizität des Sittengesetzes, des Kategorischen Imperativs und der Pflichten. Neben den rein gegebenheitsmodalen Modifikation (z. B. von D2 zu SD2, D3 zu SD3) bestehen weitere und zum Teil nur annäherungsweise spezifizierbare Formen der Abweichung von Teilaspekten der D-These, welche nicht zuletzt auf die bereits konstatierte Nähe der SDThese zu teleologischen Ansätzen verweisen. Ein solcher Fall liegt bei Woods Variante der Teilthese SD3 vor: Einerseits sei klar, dass die Geltung des Sittengesetzes nicht durch ein kontingentes natürliches Bedürfnis bedingt sei, andererseits könne man sittengesetzlich bestimmtes Handeln durchaus als Mittel zur Verwirklichung des Werts der rationalen Natur und insofern als instrumentell fungierendes Element verstehen. In dieser Perspektive wird das Sittengesetz zwar nicht (wie z. B. bei Guyer) explizit als Mittel skizziert, wohl jedoch als Element einer übergeordneten Zweckstruktur verstanden. Die durch die spezifische Kontextualisierung resultierende gegebenheitsmodale Modifikation von D3 führt somit zu einer zumindest Teleologie-affinen Bestimmung.

III.4 Ausblick Mit der mikro- und makrostrukturellen Analyse und Klassifikation der ethiktypologischen Hauptpositionen ist nun das Feld der Hauptthesen, 172

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Ausblick

Teil- bzw. Unterthesen und der in typologischer Hinsicht für relevant befundenen Strukturelemente der kantischen Ethik sondiert worden. Die differenzierten und verschiedenartigen Resultate dieses primär darstellenden Analyseschritts werden erst im IX. Kapitel auf ihre Rechtmäßigkeit hin geprüft. Dieser spätere Abschnitt unserer Untersuchung setzt eine zuvor unternommene Rekonstruktion zum einen der in der aktuellen Diskussion nachgewiesenermaßen zentralen Elemente und Strukturen, zum anderen von dort vernachlässigten oder ignorierten Aspekten der kantischen Ethik voraus, was eine Hinwendung zum kantischen Originaltext erforderlich macht. Mit der ethiktypologisch ausgerichteten Kant-Lektüre sind zusätzlich zu den allgemeinen hermeneutischen Fallgruben zum Teil ganz eigene methodische Probleme verbunden, und die Tatsache, dass mittlerweile ganze Bücher von dem Thema der Schwierigkeit der Kant-Rekonstruktionen leben können, 259 ermutigt nicht unmittelbar zu einer solchen. Aber auch wenn eine typologisch ausgerichtete Rekonstruktion von bestimmten Teilen der kantischen Philosophie (nicht unbedingt nur, jedoch primär der Ethik) sicherlich keine umfassende und z. B. entwicklungsgeschichtlich hinreichende Gesamtinterpretation darstellen will, kann sich ein solches, explizit begrenztes Unternehmen insofern als fruchtbar erweisen, als ihm eine nur über die GMS und KpV hinausgehende Textbasis zugrunde liegt 260 und die jeweiligen Analyseresultate aus typologisch unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden. Letzteres darf zwar keinesfalls zu einem lax aufgefassten, Gadamers Grundgedanken simplifizierenden Konzept des Anders-Verstehens ohne jede weiterführende kritische Evaluation führen, doch kann man schon jetzt – vor einer sorgfältigeren Kritik der Angemessenheit der verschiedenen typologischen Thesen – konstatieren, dass angesichts zumindest der Nähe z. B. der SD- zur ST- und damit indirekt auch zur T-These eine gewisse Gefahr besteht, abstrakte Grabenkämpfe zwischen verhärteten und hermetisch voneinander abgeschlossenen ›Gegnern‹ auszurufen, wo es sich in Wirklichkeit eher um zwar durchaus signifikante, letztlich jedoch zumindest partiell miteinander vermittelbare Gewichtungsdifferenzen und Schwerpunktsetzungen handelt. Vgl.: Schönecker/Zwenger 2004. Die starke (wenn auch begründete) Fokussierung Atwells auf die GMS stellt m. E. eine Schwäche seiner im Übrigen lesenswerten Untersuchung dar; vgl.: Atwell 1986, S. XII. 259 260

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Hauptpositionen der ethiktypologischen Diskussion

Diese Falle gilt es zugunsten der Diskussion sachlicher Argumente zu vermeiden, doch auch vor dem Hintergrund der Nähe bestimmter Thesen zueinander wird sich zeigen, dass die genauere Untersuchung der kantischen Ethik hinreichende Gründe liefert, um bestimmte der hier dargestellten Klassifikationsansätze als inadäquat zu erweisen.

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IV. Kants Kritik an der teleologischen Ethik

Im Kontext der ethiktypologischen Diskussion um den Status der kantischen Ethik ist eine systematische Rekonstruktion der kantischen Teleologiekritik insofern von Relevanz, als einige namhafte Philosophen der Ansicht sind, dass Kant eine teleologische/konsequentialistische Ethik vertreten habe. Falls dies zutreffen sollte, müsste man Kant in Bezug auf seine Moralphilosophie entweder ein nicht geringes Maß an Widersprüchlichkeit unterstellen 1 oder zeigen können, dass seine Ethik nicht von den eigenen Kritikpunkten an einer teleologischen Ethik betroffen ist und er somit konsistent argumentiert. Zudem lassen sich angesichts der Tatsache, dass Kants Bemerkungen zu teleologischen Ethiken 2 grundsätzlich kritischen Charakters sind, bestimmte kantische Argumente und systematische Stellungnahmen herausarbeiten, die eine inhaltliche Bereicherung unserer Diskussion darstellen: Die an den vor allem antiken Ethikmodellen geübte Kritik impliziert zum Teil deutliche Vorstellungen darüber, wie eine ideale Ethik strukturiert sein müsse. 3 Dabei werden wir zuerst auf eine frühe Form der kantischen Kritik an teleologischen Ethiken eingehen (IV.1 »Verbindlichkeit, Zweckvorstellung und Teleologiekritik beim frühen Kant«), während wir in einem zweiten Schritt auch auf seine Kritik an konkreten Ethiken der Antike zu sprechen kommen (IV.2 »Die antike Ethik in der ›Vorlesung über Ethik‹«). Im dritten Unterkapitel (IV.3 »Kants Teleologiekritik in der kritischen Periode«) wird vor allem anhand der Vgl. dazu: MacIntyre 1997, S. 81. Dies trifft wohlgemerkt nicht auf die Benutzung teleologischer Strukturen innerhalb der Philosophie überhaupt zu. Insbesondere in der »Kritik der Urteilskraft« operiert Kant bekanntlich an entscheidenden Stellen (so z. B. im Rahmen seiner Erörterungen zum natürlichen Organismus) mit Zweckbestimmungen. 3 Natürlich können die so gewonnenen Einsichten über Kants normative Vorstellungen nicht einfach mit denjenigen über die Struktur der tatsächlich entwickelten Ethik Kants identifiziert werden. 1 2

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Kants Kritik an der teleologischen Ethik

Untersuchung des ›Paradoxons der Methode‹ auf die methodisch ausgearbeitete Explikation der kantischen Moralitätsidee reflektiert. Das abschließende Fazit (IV.4 »Fazit: Das Verbindlichkeitsproblem der teleologischen Ethik«) fasst die wichtigsten Resultate zusammen und stellt die werkübergreifenden Thesen Kants zur praktischen Teleologiefrage heraus.

IV.1 Verbindlichkeit, Zweckvorstellung und Teleologiekritik beim frühen Kant Eine klare und prägnante Form der vorkritischen Einschätzung der Struktur teleologischer Ethiken sowie aufschlussreiche Bemerkungen zur eigenen frühen Position Kants findet man in seiner Schrift »Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral«. 4 Erst am Ende des kurzen Werks kommt Kant konkret auf die im Titel angezeigte Problematik zu sprechen, wobei seine Ausführungen abgesehen von ihrer Überschaubarkeit von einiger Bedeutsamkeit für ein Verständnis seiner frühen Perspektive auf die Struktur und Probleme der praktischen Philosophie sind. 5 Nach Kant stellt der Begriff der ›Verbindlichkeit‹ den nicht weiter analysierbaren Zit.: Preisschrift AA II. Angesichts der tendenziell zu konstatierenden Unterbewertung der vorkritischen Periode ist es m. E. wichtig, mit Recki auf den Wert zumindest einiger philosophischer Einsichten Kants aus den frühen 60er Jahren hinzuweisen: »Es ist nur eine Stilisierung der Rezeptionsgeschichte, wenn wir Kants Moralphilosophie mit den Jahren 1785, 1788 und 1797 datieren. Kant denkt seit den 60er Jahren über das Problem der Moral nach. Und schon in den 60er Jahren fördert seine Bemühung Einsichten zutage, die für die kritische Ethik bestimmend bleiben sollen.« S.: Recki 1999, S. 57. Freilich darf eine solche Höherbewertung der Preisschrift nicht dazu führen, den klaren methodischen Bruch zwischen der ontologisch orientierten Moralphilosophie der Preisschrift und der Dissertation von 1770 zu verkennen; vgl. dazu: Reich 1935, S. 9 f. Zudem ist es notwendig, mit Riedel auf den Umstand hinzuweisen, dass die dortigen Reflexionen Kants zwar die systematische Differenz von hypothetischen (»problematischen«) und kategorischen (»gesetzlichen«) Imperativen vorweg nehmen, zugleich jedoch vor dem Hintergrund einer noch auf den Ideen des Leibniz-Wolffschen Rationalismus beruhenden Urteilstheorie zu verstehen sind; vgl.: Riedel 1989, S. 65. Schmucker vertritt dagegen die Position, dass die Preisschrift eine herausragende Stellung innerhalb der vorkritischen Schriften Kants einnehme, da sie wie kein anderes Werk die kantische Gedankenentwicklung seit 1755 widerspiegele und dokumentiere; vgl.: Schmucker 1961, S. 56; vgl. dazu: Sala 2004, S. 32. 5 Vgl.: Himmelmann 2003, S. 57. 4

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Verbindlichkeit, Zweckvorstellung und Teleologiekritik beim frühen Kant

Grundbegriff der praktischen Philosophie dar, wobei man die Formel, unter welcher jegliche Verbindlichkeit artikuliert wird, folgendermaßen bestimmen könne: »Man soll dieses oder jenes thun und das andre lassen; […]«. 6 Innerhalb dieser Verbindlichkeitsformel fokussiert Kant den Begriff des ›Sollens‹, wobei er insbesondere zwei diesbezügliche Aspekte hervorhebt: Einerseits drücke jedes Sollen eine »Nothwendigkeit der Handlung« 7 aus, andererseits zeichne sich dieser Begriff durch eine zumindest potentielle Zweideutigkeit aus: Ich soll nämlich entweder etwas thun (als ein Mittel), wenn ich etwas anders (als einen Zweck) will, oder ich soll unmittelbar etwas anders (als einen Zweck) thun und wirklich machen. Das erstere könnte man die Nothwendigkeit der Mittel (necessitatem problematicam), das zweite die Nothwendigkeit der Zwecke (necessitatem legalem) nennen. 8

Kant entwirft in Kurzform zwei mögliche Szenarien, die zwei unterschiedliche Notwendigkeitsbegriffe ins Spiel bringen: Im ersten Fall gehe man von der Gegebenheit eines Zwecks aus und sei dementsprechend in der Wahl der Mittel zur Erreichung des Zwecks notwendig festgelegt (nach Kant »necessitatem problematicam«). 9 Allenfalls, wenn Handlungen unter der Maßgabe eines an sich notwendigen Zwecks geschehen, könne man von einer echten (strengen) Verbindlichkeit sprechen. Doch selbst die in der westlichen Tradition verankerten, ehrwürdigen Zwecksetzungen erfüllen nach Kant dieses Kriterium nicht: Weder die Beförderung der insgesamt größten Vollkommenheit, noch ein dem Willen Gottes gemäßes Handeln seien an sich notwendige Zwecke, da nicht einzusehen sei, warum sie unmittelbar geboten seien. Aus dieser Argumentation heraus lässt sich die genauere Bestimmung des kantischen Kriteriums der Notwendigkeit hinsichtlich Zwecksetzungen ableiten: Ein notwendiger Zweck muss für ein ratioS.: Preisschrift AA II, S. 298. S.: Preisschrift AA II, S. 298. 8 S.: Preisschrift AA II, S. 298. 9 Zwar sei es in dieser Perspektive gerechtfertigt, von einer gewissen Notwendigkeit der Mittel zu sprechen, da man durch die Wahl des Zwecks auch hinsichtlich der Wahl der Mittel festgelegt sei, doch sei natürlich auch der Fall denkbar, dass es nicht nur ein einziges Mittel zur Erreichung der jeweiligen Zielsetzung gebe und man somit nicht von einer strengen, sondern nur von einer bedingten Notwendigkeit bzw. Verbindlichkeit sprechen könne. Darüber hinaus wäre auch bei nur einem einzigen möglichen und somit unbedingt notwendigen Mittel diese Notwendigkeit nur eine solche, die relativ zum gesetzten Zweck bestünde. 6 7

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Kants Kritik an der teleologischen Ethik

nales Subjekt als rational begründeter und in dieser Weise direkt vernunftnotwendiger Zweck einsehbar sein. Somit kann man in Kants früher Perspektive auf die durch Zwecke vermittelte Notwendigkeit keinerlei strenge Verbindlichkeit ausmachen. Die von Kant erwähnte Alternative zu einer auf Zwecke hingeordneten (instrumentellen) Handlung macht dagegen deutlich, was genau er unter diesem strengen Verbindlichkeitsbegriff versteht: Eine Handlung sei nur dann verbindlich, wenn sie mit einem unmittelbaren, nicht durch einen Zweck vermittelten Sollensanspruch verbunden ist. Nur eine zweckunabhängige Sollensforderung könne dementsprechend absolute und unbedingte Geltung für sich beanspruchen. Doch ist man nach Kant durch diese Einsicht der Lösung des grundsätzlichen Problems einer rationalen Aufklärung von praktischer Geltung in Form einer obersten Regel der Verbindlichkeit keineswegs näher gerückt. 10 Dabei belässt er es nicht bei einer dogmatischen These, sondern skizziert ein dieser Aussage zugrundeliegendes und sie begründendes Dilemma: Entweder gehe man von einem nur instrumentellen Handlungsverständnis sowie einer vorgegebenen Zwecksetzung aus und gelange somit zu einer nur bedingten und daher uneigentlichen Verbindlichkeit, oder man negiere jede normative Zwecksetzung und gehe damit auch jeder konkreten Handlungsbestimmung verlustig. Damit bringt Kant nicht nur die Problematik einer rationalen Ethikbegründung, sondern auch die fundamentale Struktur einer systematischen Kritik an teleologischen Handlungstheorien und somit auch Moralphilosophien auf den Punkt: Jede teleologische Theorie arbeite notgedrungen mit einem Begriff von relativer Handlungsnotwendigkeit und könne keine echte Verbindlichkeit etablieren, da es keine notwendigen Zwecke gebe.

»Ich soll z. E. die gesammte größte Vollkommenheit befördern, oder ich soll dem Willen Gottes gemäß handeln; welchem auch von diesen beiden Sätzen die ganze praktische Weltweisheit untergeordnet würde, so muß dieser Satz, wenn er eine Regel und Grund der Verbindlichkeit sein soll, die Handlung als unmittelbar nothwendig und nicht unter der Bedingung eines gewissen Zwecks gebieten. Und hier finden wir, daß eine solche unmittelbare oberste Regel aller Verbindlichkeit schlechterdings unerweislich sein müsse. Denn es ist aus keiner Betrachtung eines Dinges oder Begriffes, welche es auch sei, möglich zu erkennen und zu schließen, was man thun solle, wenn dasjenige was vorausgesetzt ist, nicht ein Zweck und die Handlung ein Mittel ist. Dieses aber muß es nicht sein, weil es alsdann keine Formel der Verbindlichkeit, sondern der problematischen Geschicklichkeit sein würde.« S.: Preisschrift AA II, S. 298 f.

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Verbindlichkeit, Zweckvorstellung und Teleologiekritik beim frühen Kant

Obwohl Kant in der Preisschrift die rationale Instanziierung einer obersten Regel von moralischer Verbindlichkeit als unmöglich ansieht, zieht er sich nicht vollständig auf eine skeptische Position zurück, sondern stellt zwei formale »Regeln des Guten« 11 auf: »[…] Thue das Vollkommenste, was durch dich möglich ist, […]: Unterlasse das, wodurch die durch dich größtmögliche Vollkommenheit verhindert wird,[…]«. 12 In Analogie zur inhaltlichen Unbestimmtheit der ersten Grundsätze wahrer theoretischer Urteile sei man auch auf dem Gebiet der Moralphilosophie auf »unerweisliche materiale Grundsätze der praktischen Erkenntniß«13 angewiesen, um aus den beiden Regeln des Guten konkrete, handlungsanweisende Verbindlichkeiten generieren zu können. Dementsprechend stellt er neben den beiden formalen Regeln des Guten auch einen materialen Grundsatz der praktischen Verbindlichkeit auf, indem er sich auf ein »unauflösliches Gefühl des Guten« 14 beruft. Kant stellt die Moralphilosophie in der Preisschrift mit der Vorstellung der Beförderung des Vollkommensten und des Gefühls des Guten demnach auf zwei verschiedene, aufeinander verweisende, jedoch logisch nicht weiter verbundene Grundlagen. 15 Für unsere spezifischen Zwecke bleibt festzuhalten, dass der Kant der frühen sechziger Jahre von der grundsätzlichen Relativität aller nicht-unmittelbaren, also nicht-vernunftnotwendigen Zwecksetzungen sowie der daraus resultierenden Unfähigkeit teleologischer Theorien zur Etablierung strenger Verbindlichkeit überzeugt ist. Moralische Verbindlichkeit zeichne sich dagegen dadurch aus, dass eine Handlung unmittelbar und somit unabhängig von jedweden Bedingungen wie Zielsetzungen etc. geboten werde. Die Artikulation der beiden formalen Regeln des Guten wird dabei anhand der für deontologische Theorien charakteristischen Termini des ›Tuns‹ und ›Unterlassens‹ vollzogen, wobei der beiden Tätigkeiten zugeordnete Gegenstandsbereich mit der Verwirklichung der größtmöglichen Vollkommenheit in begrifflicher Anlehnung an teleologisch-perfektionistische Modelle 16 bestimmt wird. S.: Preisschrift AA II, S. 299. S.: Preisschrift AA II, S. 299. 13 S.: Preisschrift AA II, S. 299. 14 S.: Preisschrift AA II, S. 299. 15 Vgl. dazu die treffende Kritik Himmelmanns, in: Himmelmann 2003, S. 59 (auch Anm. 151); vgl. ebenfalls dazu: Sala 2004, S. 34. 16 Gotz macht diesbezüglich auf den Umstand aufmerksam, dass Kant mit seiner Benut11 12

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Hinsichtlich der Zweckproblematik ist entscheidend, dass Kant explizit von der Unmöglichkeit spricht, sowohl allein aus der Betrachtung der Empirie als auch aus der Untersuchung von Begriffen zur Einsicht in Handlungsnotwendigkeiten zu gelangen. Dazu bedürfe es stets einer vorhergehenden Zweckbestimmung, welche dann ihrerseits den Kriterien der Unmittelbarkeit und Unbedingtheit des Sollens nicht genügen würde. Kants Denken der frühen sechziger Jahre ist dementsprechend noch nicht explizit mit der späteren Idee der Möglichkeit einer Ableitung von vernunftnotwendigen Zwecken aus einem unbedingten Sollen beschäftigt, 17 sondern konstatiert trotz der Erwähnung der Idee unbedingt notwendiger Zwecksetzungen vielmehr eine dichotomische Sichtweise bezüglich teleologischer Ethiken und unmittelbarer Verbindlichkeit. Dies ist vor allem durch seine Orientierung an den Modellen der traditionellen Moralphilosophie bzw. –theologie, die keine vernunftnotwendigen Zwecksetzungen bereitstellen können, begründet. In unserem Kontext ist darüber hinaus zu beachten, dass der frühe Kant offenbar fest davon überzeugt war, dass eine rein formal-deontologische Herangehensweise insofern als unzureichend betrachtet werden muss, als er auf die Notwendigkeit der Ergänzung der zwei formalen Regeln des Guten durch einen materialen praktischen Grundsatz 18 verweist und diesen trotz seiner Unzugänglichkeit als unverzichtbar zung von Superlativen (nicht ›das Vollkommene‹, sondern ›das Vollkommenste‹) einen gewissen Bruch mit der Wolff-Schule vollzieht; vgl.: Gotz 1993, S. 95 f. Damit ist zwar ein terminologischer, nicht aber schon ein eindeutig systematischer Anschluss an moralphilosophische Maximierungskonzepte vollzogen. 17 Insofern ist es durchaus fraglich, ob man mit Wood eine starke Kontinuität zwischen dem in der Preisschrift und demjenigen in der GMS exponierten Problembewusstsein bezüglich formaler Verpflichtungsgründe und materialer Willensausrichtung konstatieren sollte; vgl.: Wood 1999, S. 114; vgl. kritisch (um nicht zu sagen: vernichtend) dazu: Geismann 2002, S. 387 Anm. 11. 18 Guyer liest aus dem Ende der Preisschrift die These heraus, dass die philosophische Ethik eine Form materialer Werthaftigkeit benötige; vgl.: Guyer 2000, S. 8. Angesichts sowohl der Materialität als auch der theoretischen Unbegründbarkeit der für die späteren Konzeption zentralen Idee des Selbstzwecks der Menschheit und der Person ist es in der Tat naheliegend, letztere als begrifflich schärfere und zudem komplexer in das übrige Ethiksystem eingebundene Formulierung dieser frühen Einsicht in die Unverzichtbarkeit auch inhaltlich bestimmter Grundlagen für die ethische Reflexion aufzufassen. Auch das kantische Argument der Notwendigkeit einer materialen Grundlegung konkreter moralischer Handlungen kann insofern zu späteren Strukturen in Verbindung gesetzt werden, als viele Pflichten nur unter Bezug auf die Idee der Menschheit abgeleitet werden können. Diese Gemeinsamkeiten des frühen und des kritischen kantischen

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Die antike Ethik in der »Vorlesung über Ethik«

für das rein rationale Denken hinsichtlich konkreter moralischer Handlungen ansieht. Mit der Behauptung der Unmöglichkeit notwendiger Zwecksetzungen und der daraus resultierenden Relativität aller teleologisch fundierten Verbindlichkeit findet man m. E. bereits in der frühen Preisschrift den systematischen Nukleus der kantischen Kritik an teleologischen Ethiken. 19

IV.2 Die antike Ethik in der »Vorlesung über Ethik« Das Schriftstück »Eine Vorlesung über Moralphilosophie« 20 enthält allgemein für authentisch befundenes Vorlesungsmaterial zur Moralphilosophie, das Kant höchstwahrscheinlich in den Jahren 1775–1785 seinen Ethikvorlesungen zugrundegelegt hat. Vor allem in den ersten Abschnitten dieser Schrift finden sich aufschlussreiche Bemerkungen zur Relation von Tugend und Glückseligkeit in Bezug auf die Zweck/ Mittel-Problematik. Dort vollzieht Kant eine grundsätzliche Charakterisierung der Struktur der antiken Ethik, indem er auf den Umstand verweist, dass allen entsprechenden Moralphilosophien die Frage nach der Bestimmung des höchsten Guts zugrunde gelegen habe. Kant bezeichnet dieses höchste Gut als ein Ideal, ein »Urbild aller unsrer Be-

Denkens sind allerdings recht allgemein und besitzen daher noch kein ausgeprägtes Thesenprofil. 19 Angesichts der durch diesen Sachverhalt konstituierten Bedeutsamkeit der Preisschrift und somit der vorkritischen Werke kann ich deren Beurteilung bei Windelband und Heimsoeth als »liebenswürdige Gelegenheitsschriften« nur partiell nachvollziehen; s.: Windelband/Heimsoeth 1957, S. 459 Anm. 2. Im Unterschied dazu verweist Riedel auf das in der Tat virulente Problem der Unterbestimmtheit des Guten als Verknüpfungskonzeption von formaler und materialer Verbindlichkeit; s.: Riedel 1989, S. 65. 20 Vgl.: Kant 2004; zit.: Vorlesung. Mittlerweile ist durch die Erschließung der Mitschrift Kaehler durch Stark eine neue Grundlage für Interpretationen der frühen Moralvorlesungen gegeben, welche zuvor in der sogenannten »Menzer-Ethik« bestand, weshalb im Folgenden primär auf diesen Text Bezug genommen wird. Auch wenn Stark durchaus den Wert der Ausgabe Menzers anerkennt, beansprucht er mit der neuen Herausgabe der »Vorlesung zur Moralphilosophie« im Ausgang von den 1997 wiedergefundenen Mitschriften von J. F. Kaehler, diese sowie die in den siebziger Jahren von G. Lehmann besorgte Ausgabe in Bd. 27 der Akademie-Ausgabe als Forschungsgrundlage abzulösen; vgl.: Stark 2004, S. 392. Schon zwei Jahre nach der Entdeckung der bis dahin verschollenen Handschriften Kaehlers veröffentlichte Stark einen Aufsatz, der die Bedeutung dieser Quelle betont; vgl.: Stark 1999. A

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griffen vom Guten«. 21 Dieses Ideal umfasse als Vorstellung von der vollkommensten Welt nicht nur die Glückseligkeit, sondern auch die Glückswürdigkeit der vernünftigen Geschöpfe. 22 Die antiken Ethiker hätten darüber hinaus schon gewusst, dass die wahre Glückseligkeit nicht auf blindem und selbstsüchtigem Genuss, sondern auf der Gutheit des freien Willens beruhe, sodass moralische Vollkommenheit an die Beschaffenheit des freien Willens als Grund der Glückswürdigkeit gebunden sei. Dabei sei das höchste Gut von den Kynikern, den Epikureern und den Stoikern jeweils unterschiedlich bestimmt worden: 23 Während die Kyniker das Ideal der Einfalt, also der weitgehenden Bedürfnislosigkeit für sich in Anspruch genommen hätten, sei das Ideal der Epikureer dasjenige der Klugheit, da Epikur die Glückseligkeit als Zweck und das moralische Verhalten als adäquates Mittel zur Erreichung dieses Zwecks angesehen habe. 24 Das höchste Gut der Stoiker sei dagegen die genaue Umkehrung des epikureischen Konzepts: Nicht die Glückseligkeit sei das Ziel, sondern die Tugend, wobei sich Glückseligkeit als Folge der Tugend einstellen würde. Kant sieht nun insbesondere bei Epikur und Zenon den Versuch, physisches Wohlergehen und Tugend als die beiden Elemente des höchsten Guts zu vereinen, da alle Philosophie letztlich von der heuristischen Idee eines Prinzipienminimalismus geleitet sei. 25 Allerdings seien beide Versuche als gescheitert anzusehen, da sie aufgrund ihrer Einseitigkeit keine synthetische Bestimmung des höchsten Guts leisten könnten: Epicur und Zeno fehlten darinn, daß Epicur der Tugend Triebfeder geben wollte, und keinen Werth. Die Triebfeder war die Glükseligkeit und der Werth die Würdigkeit. Zeno erhob den inneren Werth der Tugend, und setzte darin das höchste Guth und benahm der Tugend die Triebfeder. 26

Die beiden im Kontext der Diskussion um das höchste Gut maßgeblichen Begriffe sind an dieser Stelle diejenigen der ›Triebfeder‹ und S.: Vorlesung, S. 11. Vgl.: Vorlesung, S. 16. 23 Kant erwähnt darüber hinaus auch das »fanatische« Ideal des Platonismus und die Heiligkeit als Ideal des Christentums; vgl.: Vorlesung, S. 17 f. Kant versteht unter ›fanatisch‹ allgemein den Umgang bzw. die Gemeinschaft mit höheren Geistern, wie man u. a. im Rekurs auf den kantischen Wortgebrauch in seinen Anthropologie-Vorlesungen erschließen kann; vgl.: Stark 2004, S. 17 Anm. 12. 24 Vgl.: Vorlesung, S. 17. 25 Vgl.: Vorlesung, S. 17. 26 S.: Vorlesung, S. 18. 21 22

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Die antike Ethik in der »Vorlesung über Ethik«

des ›Werts‹, wobei der Wertbegriff stellvertretend für die Vernunftidee der Moralität und somit für unbedingte moralische Verbindlichkeit steht, während die Triebfederfunktion in unmittelbarer Verbindung 27 zur Glückseligkeit erläutert wird. Dies zeigt sich daran, dass Kant offenbar von einer begrifflichen Disjunktion von Triebfeder und Wert ausgeht, welche weder bei Epikur noch bei Zenon durch eine Verbindung beider überbrückt werde. Als Grundkritik an der antiken Ethik äußert Kant, dass sich die griechischen Philosophen in der Ausarbeitung ihrer moralischen Lehren zu sehr an der unzulänglichen Natur des Menschen orientiert hätten. Damit ist die Tendenz der Griechen bezeichnet, ihre Tugendvorstellungen an kontingente Bedürfnisse bzw. subjektive Zwecke anzupassen. In der »Vorlesung« stellt der Glaube an Gott keine Folge, sondern den primären Beweggrund echter Moralität dar, sodass man hier eher die Triebfederfunktion des höchsten Guts in der »Kritik der reinen Vernunft« als die ausgereifte kritische Ethik der »Kritik der praktischen Vernunft« antizipiert sehen kann. 28 Hinsichtlich der Überlegungen am Ende der »Vorlesung« ist zu konstatieren, dass Kant nicht die Geltung des Moralgesetzes, sondern nur die Möglichkeit seiner konkreten Ausübung durch endliche Vernunftwesen an das moralische Gefühl bindet. 29 Die grundsätzliche Kritik an der antiken Ethik in der »Vorlesung« lässt sich dergestalt auf den Punkt bringen, dass Kant den griechischen Philosophen (insbesondere Epikur und Zenon) den Vorwurf macht, keinen adäquaten, also Tugend und Glückseligkeit vernünftig vereinenden Begriff des höchsten Guts entwickelt und statt dessen entweder den Glückseligkeits- oder Tugendbegriff über Gebühr fokussiert zu haben. Zudem sei es ein fehlerhafter Grundzug der antiken Ethik, die moralischen Vorstellungen an die Bedürfnisse des Menschen anzupasWie man auch unter Bezug auf die spätere Achtungslehre zeigen kann, liegt bei Kant nicht eine strikte Identifizierung von Triebfederfunktion und Glücksstreben vor, da der Triebfederbegriff als Bezeichnung der handlungsinitiierenden motivierenden Kraft allgemeiner auf die Gefühlsdimension verweist. 28 Vgl.: Vorlesung, S. 62. Insofern ist die These Schmuckers, dass schon in der Vorlesung die Substanz der kritischen Ethik zu finden sei, nur bedingt gültig; vgl.: Schmucker 1955, S. 157. 29 »Ein Gefühl kann ich nicht für was ideales halten, es kann nicht etwas intellectual und sinnlich seyn. Und wenn es auch möglich wäre, daß wir eine Empfindung für der Moralitaet hätten, so könnten doch keine Regel auf dieses principium etablirt werden; denn ein moralisches Gesetz sagt categorisch was geschehen soll, es mag gefallen oder nicht, es ist also keine Befriedigung unserer Neigung«, s.: Vorlesung, S. 58. 27

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sen. Die bloße Tatsache als solche, dass die antike Ethik wesentlich auf Zwecke bezogen ist, wird von Kant in der »Vorlesung« wohlgemerkt nirgendwo kritisiert. Allerdings steht für Kant fest, dass nur die reine Vernunft und kein pathologischer (sinnlicher) oder pragmatischer (sinnlich-verstandesmäßiger) Grund das Fundament der Moral ausmachen kann und lehnt daher jede Orientierung am eigenen Glücksempfinden als Zweck ab. Festzuhalten bleibt vor allem, dass Kant grundsätzlich denselben Kritikpunkt an einer an Glückseligkeit orientierten Ethik formuliert wie schon in der Preisschrift: Da das oberste Moralprinzip apriori und allgemeingültig sein müsse, könne Glückseligkeit aufgrund ihrer individuellen Beschaffenheit und ihres wesentlichen Empiriebezugs weder ein ausschlaggebendes begründungstheoretisches Element, noch eine moralisch primäre Zwecksetzung darstellen. Wir werden nun in der gebotenen Kürze prüfen, inwiefern sich diese Argumentationsfigur in den kritischen Schriften zur Ethik finden lässt und welche Modifikationen sich hinsichtlich seiner Triebfederlehre feststellen lassen.

IV.3 Kants Teleologiekritik in der kritischen Periode Kant äußert sich insbesondere in der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« und der »Kritik der praktischen Vernunft«, indirekter in der »Metaphysik der Sitten« zur teleologischen Ethik. Dies ist insofern nicht zufällig, als die beiden erstgenannten Werke (primär die GMS) u. a. das Problem der Ethikbegründung behandeln, letzteres dagegen vielmehr ein stärker auf die empirische Realität bezogenes Werk darstellt. Im Folgenden wird nach einer kurzen Darstellung wichtiger teleologiekritischer Aussagen aus der GMS exemplarisch die Essenz der systematischen Teleologie-Kritik aus der KpV zur Darstellung kommen, da Kant diese Thematik dort am ausführlichsten und klarsten behandelt. In der GMS trifft Kant wie schon in der Preisschrift dezidierte Aussagen zu den Problemen einer Fundierung der Moralphilosophie mittels vorgängiger Zweckbestimmungen. Im zweiten Abschnitt finden sich kritische Bemerkungen zur teleologischen Vorgangsweise, ein bestimmtes Objekt des Willens vorauszusetzen und diesem gemäß eine Bestimmung des moralisch Anzustrebenden bzw. des moralisch Guten vorzunehmen. Das grundlegende Problem sieht Kant darin, 184

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mittels einer solchen Methode niemals zur Begründung einer unbedingten moralischen Verpflichtung kommen zu können, da diese nur durch Autonomie entstehen, eine teleologische Begründung der Ethik jedoch immer nur Heteronomie bedeuten könne: Wenn der Wille irgend worin anders, als in der Tauglichkeit seiner Maximen zu seiner eigenen allgemeinen Gesetzgebung, mithin, wenn er, indem er über sich selbst hinausgeht, in der Beschaffenheit irgend eines seiner Objecte das Gesetz sucht, das ihn bestimmen soll, so kommt jederzeit Heteronomie heraus. 30

Es ist hierbei zu beachten, dass Kant nicht nur von der notwendigen Vermeidung eines vorausgesetzten empirischen Objekts 31 als einem handlungsbestimmenden Faktor spricht, sondern darüber hinaus auch durch die Vernunft vorgegebene Vorstellungen unter die problematischen moralischen Zwecke zählt, insofern sie eine Fundierungsfunktion besitzen sollen. Wenig später reformuliert Kant diesen Punkt mit ähnlicher Deutlichkeit: Allenthalben, wo ein Object des Willens zum Grunde gelegt werden muß, um diesem die Regel vorzuschreiben, die ihn bestimme, da ist die Regel nichts als Heteronomie; der Imperativ ist bedingt, nämlich: wenn oder weil man dieses Object will, soll man so oder so handeln; mithin kann er niemals moralisch, d. i. kategorisch, gebieten. 32

In diesem Kontext erörtert er das empirische Ziel der Glückseligkeit und die rationale Zielvorstellung der Vollkommenheit, wobei er die Glückseligkeit 33 aufgrund ihres die Sittlichkeit der Triebfedern untergrabenden und suggestiven Charakters als besonders gefährlich für die S.: GMS AA IV, S. 441. Allerdings hebt Kant in der GMS die mangelnde Eignung empirischer Elemente zur Moralbegründung mit besonderer Schärfe hervor; vgl.: GMS AA IV, S. 442. Darüber hinaus bezieht sich Kants Ablehnung des Empirischen nicht nur auf die ethische Begründungsfrage: »Alles also, was empirisch ist, ist als Zuthat zum Princip der Sittlichkeit nicht allein dazu ganz untauglich, sondern der Lauterkeit der Sitten selbst höchst nachtheilig, […].«. S. GMS AA IV, S. 426. Empirisches Wissen dürfe dem Sittenprinzip demnach auch nicht beigeordnet werden. 32 S.: GMS AA IV, S. 444. 33 Zur Glückseligkeit zählt Kant auch das moralische Gefühl im Sinne Hutchesons. Anders noch als in der vorkritischen Preisschrift distanziert sich Kant von dieser Konzeption, schreibt ihr aber dennoch aufgrund des ihr inhärierenden Elementes der unmittelbaren, nicht-instrumentellen Schätzung der Tugend eine größere Nähe zum Moralischen zu als einem bloßen Nutzdenken; vgl.: GMS AA IV, S. 442 f. 30 31

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moralische Selbstbestimmung darstellt. 34 Kants Reflexionen über eine mögliche Begründung der Ethik durch Zwecke jedweder Art in der GMS sind grundsätzlich einheitlich in der Argumentationsrichtung und dementsprechend einhellig in ihrem negativen Resultat. Die GMS gibt zudem allerdings darüber Aufschluss, was das oft missverstandene kantische Diktum von der Notwendigkeit der Formalität praktischer Prinzipien eigentlich bedeutet: Praktische Prinzipien seien formal, wenn in ihnen von allen subjektiven Zwecken abstrahiert werde, während sie als Grundlage materialer Prinzipien fungierten. 35 Der praktische prinzipientheoretische Formalismus Kants bedeutet demnach keineswegs apriorische materiale Un- oder Unterbestimmtheit, sondern allein den strikten Ausschluss von strenge moralische Geltung unterminierenden Handlungsgründen und Motiven. Das wichtigste Kernkapitel hinsichtlich der praktischen Zweckproblematik in der KpV ist das 2. Hauptstück der »Analytik der praktischen Vernunft«, in dem »Von dem Begriffe eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft« gehandelt wird. Dort bestimmt Kant den Begriff der ›(reinen) praktischen Vernunft‹ und erörtert in diesem Kontext zugleich den Begriff des ›Guten‹ sowie die Relation des Guten zur praktischen Vernunft und somit zur rationalen moralischen Gesetzlichkeit. Der Begriff der ›praktischen Vernunft‹ bezeichne »die Vorstellung eines Objects als einer möglichen Wirkung durch Freiheit«. 36 Der Ausdruck ›Objekt des praktischen Erkennens‹ bezieht sich auf die Struktur der Relation des Willen zur Handlung, wobei Kant zwei Möglichkeiten der Behandlung eines Gegenstandes durch das Subjekt skizziert: Einerseits könne er als Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens angenommen werden, wobei man in diesem Fall nicht zuerst über die Frage der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit des Objekts zur praktischen Vernunft befinden, sondern nur dessen empirische Möglichkeit gegeben sein müsse. Andererseits, insofern der fragliche Gegenstand in dem »Gesetz a priori als der Bestimmungsgrund der Handlung« 37 besteht, also die entsprechende Handlung durch reine Der Vernunftbegriff der ontologischen Vollkommenheit sei dagegen trotz seiner inhaltlichen Unbestimmtheit zumindest dem theologischen Begriff des vollkommenen Willens Gottes vorzuziehen, da er u. a. »[…] die unbestimmte Idee (eines an sich guten Willens) zur nähern Bestimmung unverfälscht aufbehält«; s.: GMS AA IV, S. 443. 35 Vgl.: GMS AA IV, S. 427. 36 S.: KpV AA V, S. 57; vgl.: Pieper 2002, S. 115. 37 S.: KpV AA V, S. 57 34

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praktische Vernunft selbst bestimmt wird, seien die jeweiligen empirischen Bedingtheiten vollkommen irrelevant, und der einzige zu klärende Punkt sei die Frage, ob man nach der normativen Maßgabe des moralischen Gesetzes eine auf die Verwirklichung des Objekts gerichtete Handlung wollen dürfe. In moralischen Fragen geht es nach Kant also nicht um die physische, sondern um die moralische Möglichkeit der Handlung, wobei die Sphäre des moralisch Möglichen durch die Gebote und Verbote des moralischen Gesetzes bestimmt wird. Aus diesen Ausführungen folgt, dass es die praktische Vernunft nur mit zwei Gegenständen zu tun hat: dem moralisch Guten und dem moralisch Bösen. Das Gute sei ein notwendiges Objekt des Begehrungsvermögens, während das Böse notwendig den Gegenstand des Vermögens zur moralischen Verabscheuung darstelle. Entscheidend im Kontext der Teleologie-Kritik sind nun die folgenden Reflexionen: Wenn der Begriff des Guten nicht von einem vorhergehenden praktischen Gesetze abgeleitet werden, sondern diesem vielmehr zum Grunde dienen soll, so kann er nur der Begriff von etwas sein, dessen Existenz Lust verheißt und so die Causalität des Subjects zur Hervorbringung desselben, d. i. das Begehrungsvermögen, bestimmt. 38

Nach Kant kann der Begriff des Guten (bonum), der traditionell einerseits sinnlich als Wohl sowie andererseits moralisch als Gutes verstanden werden kann, 39 nur über die Relation des zu bewertenden Gegenstandes zum sinnlichen Empfindungsvermögen bestimmt werden, insofern er nicht von einem vernünftigen praktischen Gesetz abgeleitet wird. Das moralphilosophische Problem bestehe darin, dass das Gute nicht in seiner ursprünglich intendierten Verwendungsweise, sondern allein in Relation zur Frage der praktischen Nützlichkeit im Sinne angenehmer Empfindungen verstanden werde. 40 Die moralische WillensS.: KpV AA V, S. 58. Die kantischen Ausführungen zum ethischen Apriori stellen dabei nicht nur eine Kritik an empirischen, sondern auch an metaphysischen Ethikbegründungen dar; vgl.: Pieper 2002, S. 117 f. Auch Rawls hebt dementsprechend hervor, dass Kants Ethik nicht nur mit dem Utilitarismus humescher Prägung, sondern ebenfalls mit einem rationalen Intuitionismus eines Leibniz inkompatibel sei, da auch bei letzterem Heteronomie vorläge; vgl. Rawls 2002, S. 302 u. S. 305. 39 Vgl. zur Differenz von Empfindungs- und Vernunftbegriff des Guten als Herzstück der kantischen Teleologie-Kritik: Trampota 2003, S. 123. 40 Eigentlich bezögen sich die Begriffe des Guten und Bösen auf Handlungen bzw. auf die Maximen des den jeweiligen Handlungen zugrundeliegenden, durch Vernunftgesetze bestimmten Willens, doch werde dieser Umstand im skizzierten Falle ignoriert und 38

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bestimmung zeichne sich im Gegensatz zur Orientierung an durch die natürlichen Begehrungen vorgegebenen Zwecken durch die Unmittelbarkeit der Willensausrichtung, d. h. durch die apriorische Bestimmtheit des Willens durch reine Vernunft aus, welchen Sachverhalt Kant als »Paradoxon der Methode in einer Kritik der praktischen Vernunft« 41 bezeichnet. In diesem Lehrstück, welches wir im Argumentationskapitel (Kap. VI) näher analysieren werden, vertritt Kant die These, dass die Bestimmung des moralisch Gebotenen derjenigen des Guten vorangeht und das Gute dementsprechend vom bereits feststehenden Sittlichen abzuleiten sei. 42 Er beansprucht mit der Entdeckung der adäquaten Methode in der praktischen Philosophie hinsichtlich der Bestimmung des Guten nichts weniger, als den »Grund aller Verirrungen der Philosophen in Ansehung des obersten Princips der Moral« 43 ausfindig gemacht zu haben. Die Philosophen der antiken Tradition hätten strukturell-methodisch gesehen alle denselben Fehler gemacht, indem sie zuerst eine materiale Bestimmung des Guten als Gegenstand des Willens festsetzten, um diesen als gut qualifizierten Gegenstand dann als Grund eines Gesetzes anzusehen. Dementsprechend sei es unvermeidlich gewesen, auf dieser Grundlage zu einer empirischen Bedingtheit des Moralgesetzes zu gelangen, was wiederum eine in kantischer Sicht fatale Heteronomie in moralischen Dingen zur Folge habe, da die Moral von etwas Nicht-Moralischem abhinge. 44 In der »Metaphysik der Sitten« findet man weitaus weniger konkrete Aussagen zur Problematik einer teleologischen Grundlegung der Ethik. Im zweiten Abschnitt der Einleitung wird betont, dass der Verdas Gute bzw. Böse unabhängig vom Willen allein hinsichtlich der mit einem Objekt verbundenen Gefühle der Lust oder Unlust betrachtet; vgl.: KpV AA V, S. 59. 41 S.: KpV AA V, S. 63. 42 Vgl.: KpV AA V, S. 64 f. 43 S.: KpV AA V, S. 64. 44 Dabei hätten die griechischen Philosophen (die »Alten«) den Kernpunkt der nichtmoralischen Bedingtheit des Moralischen mit dem Begriff des höchsten Guts bezeichnet, der den entscheidenden Bestimmungsgrund des Willens ausmachen sollte, während die unmittelbaren philosophischen Vorgänger oder Zeitgenossen Kants ihre methodischen Fehler hinter unklaren Begriffen verstecken würden; vgl.: KpV AA V, S. 64. Kant kennt zwar mit dem Begriff des ›physischen Guts‹ auch einen Begriff des Guten, der sich auf nicht-moralische Sachverhalte und Entitäten bezieht, doch nach Maßgabe seiner Vorstellung vom obersten Moralgesetz als einem unmittelbar durch Vernunft gebietenden Prinzip muss das moralisch Gute nicht nur gut, sondern an bzw. in sich, d. h. unabhängig von allen denkbaren Faktoren gut sein.

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Kants Teleologiekritik in der kritischen Periode

such der Beantwortung moralphilosophischer Fragen rein mittels des vernünftigen Denkens sinnlos wäre, wenn »die Sittenlehre nichts als Glückseligkeitslehre wäre« 45 , da in diesem Falle nicht die Vernunft, sondern allein die bloße Erfahrung aufweisen müsste, was Freude bringen könne und somit moralisch adäquat sei. Die Sittenlehre könne jedoch nicht auf Erfahrung beruhen, denn die moralischen Gebote müssten, wie schon in den vorgängigen Grundlegungswerken zur Moralphilosophie dargelegt, universell gelten und dementsprechend in der überindividuell maßgeblichen Vernunft fundiert sein. Etwas später, in der Vorrede zur Tugendlehre, diskutiert Kant die Bedingungen der Möglichkeit der metaphysischen Anfangsgründe der Moralphilosophie und lehnt in systematischer Anknüpfung an frühere Analysen alle materiale Ethikbegründung ab: Verlässt man den Grundsatz der vernünftig-formalen Ethikbegründung und […] fängt vom pathologischen, oder dem rein=ästhetischen, oder auch dem moralischen Gefühl (dem subjectivpraktischen statt des objectiven), d. i. von der Materie des Willens, dem Zweck, nicht von der Form desselben, d. i. dem Gesetz an, um von da aus die Pflichten zu bestimmen: so finden freilich keine metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre statt – denn Gefühl, wodurch es auch immer erregt werden mag, ist jederzeit physisch.46

In diesem Kontext kritisiert Kant den eudaimonistischen Ethikansatz der Verfolgung des Ziels der Glückseligkeit über den Weg der Tugend nicht nur in der bereits bekannten Manier der Ablehnung teleologisch fundierter Ethiken, sondern vermeint zudem, dort einen ›ätiologischen Zirkel‹, also eine zirkuläre Begründung vorzufinden: Einerseits sei der Vertreter einer eudaimonistischen Ethik der Ansicht, unmittelbar durch sein Verlangen nach Glück und nicht durch die Tugend selbst zur tugendhaften Handlung motiviert zu sein, könne sich andererseits jedoch nur durch die primäre Beobachtung seiner moralischen Pflichten die berechtigte Hoffnung auf die Erreichung dieses Ziels machen. Da die vorrangige Beobachtung der Pflichten jedoch wiederum vom Glückseligkeitsstreben abhinge, ergebe sich ein manifester Widerspruch.47 S.: MS AA VI, S. 215. S.: MS AA VI, S. 376 f. 47 Dagegen verweist Kant auf den 1796 in der Berliner Monatsschrift veröffentlichten Aufsatz »Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie«, in dem er zwischen der pathologischen und der moralischen Lust unterscheidet: Während die 45 46

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Kants Kritik an der teleologischen Ethik

Kants reife moralphilosophische Teleologiekritik führt inhaltlich die Linie der vorkritischen Ausführungen weiter und präzisiert sie in Form des ›Paradoxons der Methode‹ in der KpV mit besonderer Prägnanz. Von diesbezüglich entscheidender Bedeutung ist die genaue Auslegung der These der auch in der GMS konstatierten Unzulässigkeit, dem Willen ein Objekt zur Handlungsorientierung vorzugeben. Kant behandelt in diesem Kontext zwar nur die Glückseligkeit und die Idee der Vollkommenheit, doch muss als weiterführende und von Kant nicht mit hinreichender Deutlichkeit beantwortete Frage im Hinterkopf behalten werden, wie der Gegenstandsbereich der unzulässigen Objekte des Willens beschaffen ist und damit letztlich auch, was Kant überhaupt genau unter dem Begriff eines moralphilosophisch relevanten ›Gegenstands‹ begreift.

IV.4 Fazit: Das Verbindlichkeitsproblem der teleologischen Ethik Auch wenn die kantische Ethik von der vorkritischen Preisschrift bis zur ausgereiften MS einen in vielen Aspekten signifikanten Veränderungsprozess durchlaufen hat, erweisen sich die kantischen Kritikpunkte an teleologischen Ethikmodellen in ihren Kernaspekten als über die verschiedenen Schaffensperioden konstant. Bei allen latent unterschiedlichen Varianten der antiteleologischen Argumentation setzt Kant die Idee unbedingter, da in der Vernunft gründender moralischer Verbindlichkeit voraus und versichert in immer wieder neuen Anläufen, dass teleologische Ethiken zur Etablierung und Rechtfertigung einer solchen Verbindlichkeit nicht in der Lage seien, da diese pathologische Lust als Beweggrund zur Tugend dem moralischen Gesetz voranginge und die praktische Ausübung des Sittengesetzes somit stets von den natürlichen Neigungen bzw. der Naturordnung abhinge, sei die moralische Lust vielmehr eine Konsequenz der Befolgung dieser Gesetzlichkeit und die moralische Willensbestimmung daher niemals von natürlich-instinktiven Antrieben unterminiert, sondern im Gegenteil allein von der sittlichen Ordnung bestimmt. Kant fasst die aus der Unkenntnis oder Ignorierung der moralphilosophischen Relevanz der Differenzierung dieser beiden Arten von Lust resultierende Problematik schließlich in der wenig später verfassten MS pointiert zusammen: »Wenn dieser Unterschied nicht beobachtet wird: wenn Eudämonie (das Glückseligkeitsprincip) statt der Eleutheronomie (des Freiheitsprincips der inneren Gesetzgebung) zum Grundsatze aufgestellt wird, so ist die Folge davon Euthanasie (der sanfte Tod) aller Moral«; s. MS AA VI, S. 378.

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stets ein nicht-vernünftiges Gutes zum Maßstab des Moralischen machten und somit von falschen Voraussetzungen ausgingen. In der Preisschrift lehnt er daher sowohl die Beförderung der größtmöglichen Vollkommenheit (Wolff) als auch die Erfüllung des göttlichen Willens (Crusius) als unbedingt notwendige Zwecke ab, in der »Vorlesung« kritisiert er trotz der partiellen Anerkennung der stoischen Ethik die Anpassung der antiken Ethik an die menschliche Schwäche in Form der Priorität der Verfolgung subjektiver Zwecke, und in den kritischen Hauptwerken (vor allem in der KpV) stellt er unmissverständlich heraus, dass eine unabhängig vom Moralgesetz und somit letztlich unabhängig von der Vernunftidee der Moralität vollzogene Bestimmung des anzustrebenden Guten der Idee moralischer Verbindlichkeit nicht gerecht werden könne. Der in der GMS grundgelegte Formalismus besteht dabei wohlgemerkt in einer praktischen Auszeichnung genuin vernünftiger und damit objektiv verbindlicher Zwecke und nicht in einer abstrakten Negation der Relevanz jeglicher materialer Gesichtspunkte. 48 Die in der Vorlesung ausgeführte Kritik an der Bestimmung des höchsten Guts wird anhand der beiden Begriffe des ›Werts‹ und der ›Triebfeder‹ entwickelt, wobei die Kritik an der stoischen Ethik darauf hinausläuft, dass zwar der moralische Wert der Tugend begriffen, dieser Tugend aber keine handlungsleitende Motivationskraft zur Seite gestellt wurde. Der Wert der Idee der Moralität sei in der antiken Ethik entweder nicht (Stoizismus) oder auf die falsche Art und Weise (Epikureismus) mit dem Motiv der Verwirklichung dieses erkannten Werts verbunden worden, sodass das erste Modell die durch ein Motivationsdefizit bedingte Unfähigkeit zur moralischen Handlung, das zweite die schon methodisch grundgelegte Unmöglichkeit der letzteren impliziere. Diese Kritik greift implizit das schon in der Preisschrift diagnostizierte Problem auf, dass es eines unbedingten praktischen Zwecks bedürfe, um moralisches Handeln zu ermöglichen, ein solcher allerdings nicht aufzufinden sei. Diese Position ist nach dem Kant der Preisschrift dahingehend zu präzisieren, dass nicht nur der Bezug auf empirische

Daher weist Wimmer mit guten Gründen auf die Verfehltheit vieler Kritikpunkte am kantischen Formalismus hin, welche den prinzipiellen Ausschluss von Zwecken aus der kantischen Ethik monieren; vgl.: Wimmer 1980, S. 206. Vgl. zudem Schmuckers Aussage, dass Kant in der GMS nur empirische Zwecke aus der Moralphilosophie habe ausschließen können: Schmucker 1955, S. 192 f.

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Erfahrung, sondern ebenso die Berufung auf theoretische Begriffsexplikation keine Grundlage für die Rechtfertigung einer praktisch überzeugenden Handlungsnotwendigkeit darstellen kann. Kant behauptet jedoch weder in den vorkritischen noch den kritischen Werken explizit, dass die moralphilosophische Konstitutivität von Zwecken überhaupt (d. h. jeglicher denkbaren Art) zur Negation der Vernunftidee von Moralität führen müsse, sondern spezifiziert die jeweils zurückgewiesenen Zwecke stets als empirisch oder theoretisch und im praktischen Kontext grundsätzlich als nur subjektiv verbindlich. Dies bedeutet zusammengefasst, dass sich die kantische Kritik an teleologischen Ethiken zum einen an alle Formen der Naturteleologie, zum anderen an eine nur subjektiv verbindliche Vernunftteleologie richtet. 49 Darüber hinaus geht aus der Struktur der antiteleologischen Argumentationslinie Kants hervor, dass auch intuitionistisch fundierte und gefühlsbasierte Formen der deontologischen Ethik dem angelegten Verbindlichkeitsmaßstab nicht genügen können. Kants moralphilosophische Teleologiekritik erweist sich somit als eine Ablehnung aller nicht-universalistischen Ethikmodelle und nicht als nur auf zweckorientierte Ethiken bezogene Defizienzthese. De facto greift Kant in den verschiedenen Ausarbeitungen seiner Kritik unterschiedliche Unterminierungsquellen der strengen praktischen Verbindlichkeit auf: Während die Kritik am Epikureismus auf das Problem der unzulässigen Höchstschätzung nur subjektiv-sinnlicher Bedürfnisse abzielt, trägt die Ablehnung der Primärrelevanz von theoretisch erkennbaren Naturzwecken u. a. dem Umstand Rechnung, dass auch in der Natur liegende Zwecke immer naturgesetzlich determiniert sind und somit zwar transsubjektiv geltenden Gesetzen unterstehen, diese Gesetzmäßigkeiten jedoch keine moralischen sind und daher ebenso wenig aus praktischen Vernunftgründen notwendig sein können. Die in Kapitel II erwähnte These Kutscheras, dass Kant jegliche Wertethik als verfehlt ansah, ist vor dem Hintergrund der Resultate dieses Kapitels in dieser radikalen Form nicht einfach nur ergänzungsbedürftig, sondern unplausibel, da Kant an keiner Stelle der diesbezüglich einschlägigen Passagen seines Werks eine solche Behauptung aufstellt und sie zudem keine logische Implikation seiner Teleologiekritik darstellt. Die Undifferenziertheit der These Kutscheras mag dabei nicht Vgl. zur Kritik, dass Kant in seiner Teleologiekritik nicht hinreichend zwischen Eudaimonismus, Hedonismus und Utilitarismus unterscheide: Schrey 1972, S. 53.

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zuletzt darin begründet sein, dass er von einem traditionell-ontologischen Wertkonzept ausgeht, welches nach Kant in praktischer Hinsicht in der Tat nicht als Maßstab des Moralischen dienen kann, während transzendental-handlungstheoretische Axiologien nicht berücksichtigt werden. 50 Entgegen dieser Betrachtungsweise handelt es sich bei den antiteleologischen Argumentationen Kants nicht um die Demontierung teleologischer Ethiken oder axiologischer Grundlagenreflexionen überhaupt, sondern allein um die Auslegung der systematischen Implikationen der kantischen Vernunftidee von Moralität und strenger moralischer Verbindlichkeit, die als solches noch nicht den Ausschluss irgendeines Ethiktyps, sondern allein derjenigen konkreten Ansätze impliziert, welche zur Etablierung unbedingter Verbindlichkeit unfähig sind. Damit eröffnen sich in begrifflicher Hinsicht verschiedene Möglichkeitsräume der systematischen Rekonstruktion dieser praktischen Verbindlichkeit, und wir werden im folgenden Kapitel anhand der Darstellung der kantischen Hauptbegriffe sehen, dass dieser Spielraum von Kant selbst auf unterschiedliche Art und Weise genutzt wird.

Freilich stellt sich die Situation z. B. in GMS II/III komplizierter dar, da Kant dort ein ontologisch anmutendes Wertkonzept entwickelt, wie im folgenden Kapitel dargelegt wird.

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V. Grundbegriffe der kantischen Ethik

Ein erster Schritt zur systematischen Analyse ethiktypologischer Strukturen in der kantischen Ethik ist die Darstellung des Inhalts und der Funktion deontischer, teleologischer und axiologischer Grundbegriffe. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, auf welcher Reflexionsstufe der Ethiktheorie die jeweiligen Begriffe angesiedelt sind, da eine möglichst genaue Bestimmung ihrer systemarchitektonischen Position über die bestehenden Begründungsrelationen und Geltungsansprüche Aufschluss geben kann. Natürlich ist das Unternehmen insofern nicht voraussetzungslos, als ihm eine Entscheidung vorausgeht, welche Begriffe als Grundbegriffe gelten und wie ihre typologisch adäquate Klassifikation auszusehen hat. In Bezug auf Letzteres orientiere ich mich zuerst an der verbreiteten Perspektive auf die jeweiligen Begriffe, 1 um diese populäre Sicht in einem zweiten Schritt kritisch zu reflektieren und auf ihre uneingeschränkte Berechtigung hin zu befragen. Insgesamt werde ich im Folgenden zwei deontisch, zwei teleologisch und insgesamt sechs axiologisch anmutende Konzepte behandeln, die m. E. bei Kant jeweils eine spezifische und unersetzliche Rolle spielen. Es handelt sich bei den deontischen Termini um diejenigen der ›Pflicht‹ und des ›Kategorischen Imperativs‹. Während die deontologische Klassifikation des ersten Terminus zumindest auf den ersten Blick unbedenklich zu sein scheint, verhält es sich beim Kategorischen Imperativ insofern anders, als der ethiktypologische Status dieser zentralen Struktur in der Forschung keinesfalls unumstritten ist. 2 Dies verdankt sich nicht zuletzt den verschiedenen Formulierungen, die Kant nach eigener Aussage zur besseren Veranschaulichung des Inhalts des KI entwickelt hat. Insbesondere die Selbstzweck- bzw. Menschheitsformel 1 2

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S. dazu Kapitel II (insbesondere Broad und Kutschera). Vgl.: Horn 1998, S. 241.

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ist von Autoren wie Herman und Korsgaard hinsichtlich der materialaxiologischen Komponenten hervorgehoben worden und steht auch z. B. bei Wood im Zentrum des Interesses. Vor dem Hintergrund dieser Reflexionen werde ich den Kategorischen Imperativ an dieser Stelle dennoch in einem ersten Schritt als deontische Struktur vorstellen, da er nach Kant als Prinzip der Pflichten und somit als Superstruktur für traditionell als deontisch klassifizierte Elemente fungiert. Inwiefern zumindest bestimmte seiner Formulierungen nicht eindeutig unter diese Klassifikation gezählt werden können, wird dementsprechend zu untersuchen sein. Auf der anderen Seite stehen die teleologischen Konzepte ›Wille‹ und ›Zweck‹. Beide Begriffe können zwar auch in konsequentialistischen Ethiken eine wichtige Rolle einnehmen, doch sind sie in erster Linie – ohne Zusatzqualifizierung – nur zweck- und nicht konsequenzbezogen. Der Begriff ›Wert‹ kann zwar ein teleologisches Element darstellen, ist dies jedoch nicht per definitionem. Ein nicht per definitionem teleologisches Konzept von Wert ist z. B. dasjenige einer transzendentalen Axiologie, in der ein bestimmter Wert nicht als Zweck intendiert oder angestrebt wird, sondern als Präsupposition für andere ethiktheoretische Elemente auf eine Weise fungiert, dass diese ermöglicht bzw. hinsichtlich der Annahme ihrer Geltung gerechtfertigt werden. Zumindest ist es jedoch m. E. zulässig, ihn mit Schönecker und Wood grundsätzlich als nicht-deontologisch zu bezeichnen, 3 wobei Wertkonzepte darüber hinaus traditionell eher in teleologischen Ethiken ihren Platz haben. Von besonderer Komplexität erweist sich dabei das Konzept des ›Selbstzwecks‹, welches zum einen zwar teleologische Aspekte aufweist, letztlich jedoch durch axiologische Implikationen sowie eine primär werttheoretische (und auch metaethisch bedeutsame) Funktionalität besticht. 4 Der Wertbegriff ist eindeutig der Grund- und Oberbegriff der Klasse der axiologischen Termini. Im Kontext der Betrachtung der primär wertexpressiven Begriffe werden vor allem ›Person‹, ›Handlung‹, ›Menschheit‹, ›Sittengesetz‹ und ›Freiheit‹ behandelt und auf ihre

Vgl.: Schönecker/Wood 2002, S. 140 f. Wie auch im Falle des Kategorischen Imperativs wird jedoch in einem späteren Reflexionsschritt zu prüfen sein, inwiefern Kants Wertkonzeption tatsächlich ein schlagkräftiges Argument für eine teleologische bzw. gegen eine deontologische Klassifikation seiner Ethik darstellt.

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ihnen inhärenten Wertbezüge hin analysiert. Da sich die Wertthematik explizit oder implizit auf vielen unterschiedlichen Reflexionsebenen der kantischen Ethik wiederfinden lässt, handelt es sich bei den genannten Begriffen nur um eine gezielte Auswahl der diesbezüglich signifikantesten Konzepte. Um die jeweiligen Begriffe nicht nur hinsichtlich ihrer bloßen Einzelbestimmung und der unmittelbaren Relationen zu anderen Konzepten zu erfassen, werde ich sie neben ihrer direkten Beschreibung durch Kant auch mittels einer Reflexion auf ihre inhaltlichen und strukturellen Voraussetzungen zumindest ansatzweise in die allgemeine Systemarchitektonik einordnen, was natürlich wieder mit der für uns zentralen Bestimmung des jeweiligen Geltungsanspruchs und somit in letzter Konsequenz mit der Beantwortung ethiktypologischer Teilfragen in Verbindung steht. 5 Die in diesem Kapitel leitenden Untersuchungshinsichten bestehen daher zusammengefasst darin, sowohl die konkreten Begriffsbestimmungen als auch die jeweiligen funktionalen Kontexte und allgemeinen Dependenz- und Präsuppositionsstrukturen zu erfassen bzw. anzuzeigen, um auf diese Weise die Frage nach den bestehenden Relationen zwischen deontischen, teleologischen/konsequentialistischen und axiologischen Elementen zumindest grundsätzlich zu beantworten.

V.1 Deontische Grundbegriffe Unter den Grundbegriffen ist in ethiktypologischer Perspektive derjenige der ›Pflicht‹ von besonderer Bedeutung. Kant widmet sich seiner Ausarbeitung vor allem in der GMS, der KpV und in größter inhaltlicher Differenzierung in der MS, weshalb diese drei Werke mit Primat der MS den Ausgangspunkt unserer diesbezüglichen Ausführungen darstellen werden. Im letztgenannten Werk findet sich über die Erörterung des bloßen Pflichtbegriffs hinaus auch Kants Lehre der Tugendpflichten, welche die Notwendigkeit einer sorgfältig zu rekonstruieren-

Es versteht sich dabei von selbst, dass schon die Begriffsbeschreibung Vorgriffe auf die Explikation des Inhalts anderer Konzepte mit sich führt, da oftmals komplexe Wechselbeziehungen auch zwischen deontischen, teleologischen und axiologischen Elementen bestehen, wie man exemplarisch an den Termini der ›Pflicht‹ und des ›guten Willens‹ aufzeigen kann.

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den Relation von deontisch und teleologisch anmutenden Aspekten impliziert. Deshalb soll den Tugendpflichten als ethiktypologisch aussagekräftiges Element der kantischen Ethik auch eine besondere Beachtung geschenkt werden. Es geht dabei wohlgemerkt nicht um eine adäquate Aufarbeitung der vielschichtigen Taxonomie der Pflichten, sondern um die fundamentale und strukturell aussagekräftige Bestimmung dieses Begriffs als allgemeines praktisches Konzept.

V.1.1 Die Pflicht Zu Beginn werde ich den Pflichtbegriff und seine Relation zum guten Willen darstellen, gefolgt von einer Analyse der Tugendpflicht-Konzeption, worauf nach dem Ursprung der Pflichten, d. h. ihrem sie bedingenden Fundament gefragt wird. Dabei wird zum einen der systematisch grundlegend virulente, jedoch oft implizite strukturelle Bezug des Pflichtbegriffs zur Zweckkonzeption sowie die Gründung der Pflicht in der umfassenden Wertstruktur der Persönlichkeit im Mittelpunkt stehen. Der Pflichtbegriff der kritischen Philosophie Kants 6 wird zuerst in der ›Grundlegung‹, eingeführt. Herman hat diesbezüglich schon im Kontext der Begründung ihrer antideontologischen Kant-Interpretation darauf aufmerksam gemacht, dass der Pflichtbegriff nicht für sich und sozusagen isoliert, sondern zumindest auch in instrumenteller Verwendungsweise zur Sprache kommt: Zwar wird die Idee der »gemeinen Pflicht« 7 schon in der Vorrede der GMS herangezogen, um von ihr aus die Notwendigkeit einer von allen empirischen Anteilen reinen Morallehre zu verdeutlichen und zudem als legitim zu erweisen, und darüber hinaus wird der Pflichtbegriff durchaus an anderen

Mit Kersting muss man zwischen materialer und formaler ethischer Nomothetik differenzieren, wobei letztere als auf das allgemeine Motiv der Pflichtbefolgung bezogene Gesetzgebung primär in der GMS, die inhaltlich spezifizierte Form der Tugendpflichten erst in der MS zu finden ist; vgl.: Kersting 2004, S. 221 Anm. 186. Kersting sieht darüber hinaus die MS von der GMS dadurch getrennt, dass Kant in der MS nicht mehr von der Allgemeingültigkeit des Kategorischen Imperativs als des alle Pflichten fundierenden Erkenntnisprinzips ausgehe und sich in ihr nicht mehr das in der GMS vorhandene Pflichtkonzept finden lasse; vgl.: Kersting 2004, S. 201. 7 S.: GMS AA IV, S. 389. 6

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vereinzelten Stellen der Vorrede erwähnt, 8 doch Herman hat mit ihrer Behauptung grundsätzlich insofern Recht, als Kant die Idee der Pflicht erst im Rahmen der Erläuterung des Begriffs des ›guten Willens‹ im der Vorrede folgenden 1. Abschnitt näher bestimmt: Um aber den Begriff eines an sich selbst hochzuschätzenden und ohne weitere Absicht guten Willens, […], zu entwickeln: wollen wir den Begriff der Pflicht vor uns nehmen, der den eines guten Willens, obzwar unter gewissen subjectiven Einschränkungen und Hindernissen, enthält, die aber doch, weit gefehlt, daß sie ihn verstecken und unkenntlich machen sollten, ihn vielmehr durch Abstechung heben und desto heller hervorscheinen lassen. 9

Dieses Zitat markiert auf den ersten Blick einen recht unmittelbaren und einfach zugänglichen Übergang vom Willensbegriff zum Konzept der Pflicht, doch enthält dieser Satz einen verdeckten Anlass zu einem handfesten Missverständnis: Die erwähnten subjektiven Einschränkungen und Hindernisse beziehen sich nicht auf die Art und Weise des Enthaltenseins des guten Willens im Pflichtbegriff, sondern auf die faktisch vorfindbare Charakterisierung des guten Willens selbst. 10 Unter dem guten Willen versteht Kant dabei allgemein einen Willen, dessen Maximen stets dem Sittengesetz gemäß sind und der in diesem Sinne ohne Ausnahme moralisch gut ist. Der gute Wille einer empirischen Person ist dabei nicht zu verwechseln mit einem heiligen, d. h. apriori moralisch vollkommenen Willen, da jedes endliche Vernunftwesen mit der praktischen Vernunft entgegengesetzten Neigungen, mit Hindernissen für die Umsetzung des rein moralisch Gebotenen zu ringen hat. 11 Ohne nun zu sehr auf die Analyse teleologisch anmutender Elemente vorgreifen zu wollen, ist auf den genaueren Sinn der Aussage Kants einzugehen, dass der Pflichtbegriff denjenigen des guten Willens enthalte, um einer ethiktypologisch voreiligen Vereinnahmung teleologischer Elemente durch deontische entgegenzuwirken. Zu

Wenn Baumanns schreibt, dass in der GMS »der Ausgangspunkt der Untersuchung der allgemein akzeptierte Begriff des sittlichen Sollens bzw. der Pflicht« sei, so ist dies für die Vorrede zwar zutreffend, vernachlässigt jedoch zugleich die inhaltlichen Erwägungen des ersten Abschnitts, in dem Kant den Begriff des guten Willens und nicht denjenigen der Pflicht zum Ausgangspunkt nimmt; s.: Baumanns 2000, S. 48. 9 S.: GMS AA IV, S. 397. 10 Diese Deutung scheint mir mit Schönecker und Wood die einzig plausible zu sein; vgl.: Schönecker/Wood 2002, S. 55 f. 11 Vgl. auch: MS AA VI, S. 380. 8

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diesem Zweck soll vorher in der gebotenen Kürze auf die Kerndefinition dieses Begriffs in der GMS eingegangen werden. Im selben Abschnitt trifft Kant eine prägnante und für dessen grundsätzliches Profil in der kritischen Ethik maßgebliche Bestimmung des Pflichtbegriffs: »Pflicht ist die Nothwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz.« 12 Pflicht in diesem Sinne wird dabei von Kant der menschlichen Neigung gegenübergestellt, welche nicht mit der Achtung für das oberste Moralgesetz und somit mit Inhalten der reinen praktischen Vernunft, sondern mit natürlichen und daher kontingenten Antrieben und Handlungsmotiven verbunden sei. Kants Moralphilosophie liegt eine implikationsreiche, transzendental-anthropologische Prämisse zugrunde: Der Mensch sei weder nur Sinnenwesen, noch – wie z. B. für die traditionelle Idee des göttlichen Wesens vorausgesetzt wird – reines Vernunftwesen, sondern erfahre sich selbst sowohl als ›homo phainomenon‹ als auch als ›homo noumenon‹. Zwar könnten Pflicht und Neigung grundsätzlich auch übereinstimmen, doch besitze eine Handlung nur dann moralischen Wert, wenn sie aus der alleinigen Betrachtung der Pflicht geschehe. 13 Warum und wie enthält also der Pflichtbegriff denjenigen des guten Willens und warum besteht diese Implikationsrelation nicht auch in umgekehrter Richtung? Wenn der Begriff des ›guten Willens‹ denjenigen der ›Pflicht‹ umfasste, würde dies streng genommen implizieren, dass jede Handlung eines guten Willens eine Handlung aus Pflicht wäre. Kant differenziert jedoch zwischen einer objektiven und einer subjektiven Seite des guten Willens, 14 wobei der objektive Aspekt des guten Willens in der ausschließlichen Übereinstimmung des rein intelligibel betrachteten Willens mit dem Sittengesetz besteht und nur der subjektive Aspekt über das Gefühl der Achtung und damit auch über den Pflichtbegriff vermittelt ist. Der intelligible Aspekt des guten WilS.: GMS AA IV, S. 400. Dieser Satz wird von Kant als Schlussfolgerung aus zwei vorhergehenden Sätzen bezeichnet, wobei sich ein explizit identifizierter ›erster Satz‹ an dieser Stelle der GMS nicht finden lässt; vgl. zu den verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten dieses Sachverhalts: Schönecker/Wood 2002, S. 58 ff. Die oben genannte Definition der Pflicht wird von Schönecker/Wood darüber hinaus als zentrale Aussage von GMS I bezeichnet; vgl.: Schönecker/Wood 2002, S. 90. 13 Mit Baron ist diesbezüglich darauf hinzuweisen, dass Kant klar zwischen Handlungen aus und Handlungen mit Neigung unterscheidet; vgl.: Baron 2006, S. 75 Anm. 6. 14 Vgl. GMS AA IV, S. 400. Der objektive Aspekt des guten Willens bestehe in seiner Bestimmtheit durchs Sittengesetz, der subjektive im ihm entgegengebrachten Gefühl der Achtung. 12

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lens ist demnach nicht auf die Handlung aus Pflicht ausgerichtet, sondern der Begriff des ›guten Willens‹ impliziert denjenigen der ›Pflicht‹ allein als subjektiv verstandenes Ideal eines neigungsaffizierten Vernunftwesens. 15 Umgekehrt ist allerdings jede moralische (gute) Handlung eines endlichen Vernunftwesens eine Handlung aus Pflicht, und in diesem Sinne muss man Kants Diktum vom Enthaltensein des durch subjektive Bedingungen eingeschränkten guten Willens im Pflichtbegriff verstehen. 16 Der Pflichtbegriff ist demnach untrennbar mit der Voraussetzung eines nicht-vollkommenen Wesens verbunden, das nicht nur von der Vernunft, sondern grundsätzlich auch von seinen Neigungen bestimmt wird. 17 Eine allgemeine Einteilung der Pflichtformen in »Pflichten gegen uns selbst und gegen andere Menschen, in vollkommene und unvollkommene Pflichten« 18 lässt sich bereits in der GMS finden. Kant unterscheidet beide Pflichtklassen im Anschluss an die dort angeführte Definition von Pflicht als Form einer bestimmten Art von Handlungsnotwendigkeit, genauer anhand der Unterscheidung zweier Formen Vgl.: KpV AA V, S. 82. »Der Begriff des an sich guten Willens ist Kants einleitende Antwort auf die Frage, was allein moralischen Wert haben kann […]. Der Begriff der Pflicht ist die Antwort auf dieselbe Frage, aber in Hinsicht darauf, daß das Wollen, das moralischen Wert hat, das Wollen eines unvollkommenen Wesens ist.« S.: Schönecker/Wood 2002, S. 58. 17 In der KpV hebt Kant darüber hinaus hervor, dass die Neigungen ein nur unzuverlässiger Ratgeber seien, jedes Vernunftwesen dagegen verbindlich und unmissverständlich erkennen könne, was die eigene Pflicht sei; vgl.: KpV AA V, S. 36 f. Die Eigenschaft der Unmissverständlichkeit kommt nicht nur dem Inhalt der Pflichten, sondern auch ihrem jeweiligen Verpflichtungsgrund zu, wie Kant in den allgemeinen ›Grundsätzen der Metaphysik der Sitten in Behandlung einer reinen Tugendlehre‹ der MS festsetzt: »Für Eine Pflicht kann auch nur ein einziger Grund der Verpflichtung gefunden werden, und, werden zwei oder mehrere Beweise darüber geführt, so ist es ein sicheres Kennzeichen, daß man entweder noch gar keinen gültigen Beweis habe, oder es auch mehrere und verschiedne Pflichten sind, die man für Eine gehalten hat.« S.: MS AA VI, S. 403. Diese Aussage lässt zwar grundsätzlich auch einen gewissen Spielraum für die auxiliatorische Funktion moralisch förderlicher Emotionen etc. zu, doch wird m. E. zugleich deutlich, dass die derzeit geführte Diskussion über die Relevanz supererogatorischer Akte in der kantischen Ethik weniger direkt aus den systematischen Weichenstellungen Kants selbst, sondern zumindest auch aus einer bestimmten Bestrebung der Harmonisierung von Vernunft und Gefühl resultiert, die von außen an Kants Moralphilosophie herangetragen wird. 18 S.: GMS AA IV, S. 421. Kants Bestimmung der vollkommenen Pflichten weicht dabei insofern vom naturrechtlichen Kriterium der Erzwingbarkeit ab, als es Kant primär um ausnahmslose Gültigkeit geht; vgl.: Kersting 1997, S. 76. 15 16

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von Nötigung: Rechtspflichten implizierten einen von außen kommenden Zwang, während es sich beim ethischen Pflichtbegriff um ein Konzept des Selbstzwanges handele. 19 Die Idee des Selbstzwangs und somit auch die Annahme von Pflichten gegen sich selbst ist nach Kant insofern für alle weiteren inneren und äußeren Pflichten als Ausübung der inneren und äußeren Freiheit notwendig, als sich die subjektive Anerkennung von moralischer Verbindlichkeit dadurch überhaupt konstituiert: Wenn ich mich noch nicht einmal mir selber verpflichtet fühle, existiert keinerlei Basis für einen verantwortungsvollen Umgang mit anderen Vernunftwesen, »weil das Gesetz, kraft dessen ich mich für verbunden achte, in allen Fällen aus meiner eigenen praktischen Vernunft hervorgeht, durch welche ich genöthigt werde, indem ich zugleich der Nöthigende in Ansehung meiner selbst bin.« 20 Das vernünftige Anerkennen von Pflichten gegenüber sich selbst bedeutet letztlich nichts weniger als die praktische Einsicht in das Prinzip von moralischer Gültigkeit und daher von persönlich aufgefasster moralischer Verbindlichkeit und Verantwortung als solcher. 21 Dabei nimmt Kant nicht nur auf den Unterschied von äußerer und innerer Freiheit Bezug, sondern darüber hinaus auf das Verhältnis von Formalität und Materialität: Die Rechtslehre hatte es blos mit der formalen Bedingung der äußeren Freiheit (durch die Zusammenstimmung mit sich selbst, wenn ihre Maxime zum allgemeinen Gesetz gemacht wurde), d. i. mit dem Recht zu tun. Die Ethik dagegen giebt noch eine Materie (einen Gegenstand der freien Willkür), einen Zweck der reinen Vernunft, der zugleich als objectiv-nothwendiger Zweck, d. i. für den Menschen als Pflicht, vorgestellt wird, an die Hand. 22

Das Phänomen des Selbstzwanges ist wieder nur vor dem Hintergrund der kantischen Annahme der sinnlich-vernünftigen Doppelaspektivität des Menschen plausibel, da sich andernfalls – bei einer Identifikation des verpflichtenden und des verpflichteten Ichs – ein Widerspruch ergeben würde; vgl.: MS AA VI, S. 417. 20 S.: MS AA VI, S. 417 f. 21 In diesem Sinne macht auch Casas in seiner Studie zu den Pflichten gegenüber sich selbst in der Tugendlehre darauf aufmerksam, »daß alle Pflichten gegen sich selbst direkt mit dem Begriff Menschheit in meiner eigenen Person zu tun haben«; s.: Casas 1996, S. 131. Die Idee der Selbstverpflichtung ist zum einen eine objektive Bedingung einer auf rationaler Selbstgesetzgebung basierenden Ethik, zum anderen jedoch auch eine subjektive Voraussetzung der individuellen Verwirklichung des Sittengesetzes in der empirischen Welt; vgl. dazu: Baranzke 2004, S. 221 ff. 22 S.: MS AA VI, S. 380. 19

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Das deontische Konzept der Pflicht wird an dieser Stelle explizit als eine auf den fehlbaren Menschen zugeschnittene Vorstellung eines objektiv gültigen Vernunftzwecks 23 und somit eines teleologischen Grundbegriffs bestimmt. Der Zweck bzw. das eigenständige Haben und Setzen eines Zwecks steht nach Kant insofern zur Freiheit des endlichen Vernunftwesens in enger Beziehung, als man zwar zu Handlungen, nicht aber zu Zwecksetzungen gezwungen werden kann – letzteres ist notwendigerweise ein Akt der freien Selbstbestimmung. 24 Wenn Kant im Kontext der Rechtslehre von den formalen Bedingungen der äußeren Freiheit spricht, muss man im Falle der Ethik in einem ersten Reflexionsschritt von den formalen Bedingungen der inneren Freiheit sprechen, wobei in einer zweiten Analysephase das Besondere dieser Bestimmung der inneren Freiheit darin zu sehen ist, dass sie aufgrund ihres strukturell notwendigen Bezugs zum Willen keineswegs die Absenz jeglicher materialen Bestimmung bedeutet. Während der Pflichtbegriff in der GMS noch im Rahmen der Erläuterung des guten Willens zur Sprache kam, wird er in der MS in unmittelbarer Verbindung zum Zweckbegriff entwickelt, da Kant erst dort explizit eine allgemeine Pflichtenlehre zumindest partiell mit einer Tugendlehre identifiziert. 25 Selbst wenn man also allein bei einer Rekonstruktion des kantischen Pflichtbegriffs als eines allgemein deontisch klassifizierten Terminus ansetzt, muss man sich unweigerlich mit teleologischen Elementen befassen und deren Verhältnis zu den nicht-teleologischen Aspekten thematisieren, wenn man eine unzulässig verkürzte Darstellung vermeiden will. V.1.1.1 Tugendpflichten Diese Einsicht findet ihre weiterführende Bestätigung, wenn man dem Fortgang der Erörterung des Begriffs der ›Tugendlehre‹ 26 in der MS folgt, da Kant schon recht bald auf diejenigen fundamentalen Zwecke reflektiert, die aufgrund ihrer praktischen Vernunftnotwendigkeit zuVgl.: MS AA VI, S. 380 f. Vgl.: MS AA VI, S. 381. 25 Vgl.: MS AA VI, S. 380. 26 Unter ›Tugend‹ versteht Kant in der MS die moralische Stärke und Festigkeit, seine Pflicht aus Achtung vor dem Sittengesetz entgegen allen Widerständen mit froher moralischer Gesinnung zu tun; vgl.: MS AA VI, S. 405 f.; vgl. dazu: Engstrom 2002, S. 289 und S. 308. Vgl. zudem zur frohen tugendhaften Gesinnung Kants Replik auf die berühmte Kritik Schillers: RGV AA VI, S. 23 Anm. 23 24

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gleich Pflichten seien: die Tugendpflichten 27 der Förderung der eigenen Vollkommenheit und der fremden Glückseligkeit. 28 Wegen der wesentlichen Freiheitsbezogenheit der Zwecksetzung im Gegensatz zur nur äußerlichen Pflichtgemäßheit von Handlungen könne die Ethik auch »als das System der Zwecke der reinen praktischen Vernunft definirt werden.« 29 Übereinstimmend formuliert Kant in der Einleitung zur Tugendlehre das oberste Prinzip der Tugendlehre als Imperativ, der die Handlung nach einer »Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann« 30 , gebiete. Die kantische Rede von ›Pflichten als normative Vorstellungen von vernunftnotwendigen Zwecken‹ könnte auf den ersten Blick die Annahme nahe legen, dass Pflichten grundsätzlich von Zwecken abgeleitet würden, was wiederum die Rechtmäßigkeit einer teleologischen Das Charakteristikum der Tugendpflichten gegenüber dem abstrakteren Konzept der Pflicht ist ihre differenzierte materiale Komponente; vgl. dazu: Esser 2004, S. 320 f. 28 Vgl.: MS AA VI, S. 386 ff. Glückseligkeit sei ein Zweck, den jeder Mensch von Natur aus notwendig habe; vgl.: GMS AA IV, S. 399 f. 29 S.: MS AA VI, S. 381. 30 S.: MS AA VI, S. 395. Während Kant in der GMS und KpV stets um einen expliziten Ausschluss jeglicher Zwecke zumindest auf der obersten Prinzipienebene bemüht war, um die Reinheit moralischer Verbindlichkeit sichern zu können, scheint schon sein grundsätzliches Ethikverständnis in der MS explizit davon abzuweichen, wenn er im Ausgang von der Betonung der notwendigen Verwiesenheit der Zwecksetzungen auf das Fundament der Freiheit die Voraussetzung des Kategorischen Imperativs an die Möglichkeit moralischer Zwecksetzungen bindet. Wenn es keine genuin moralischen Zwecke gebe, dann wäre nach Kant auch die Möglichkeit eines Kategorischen Imperativs negiert, da alle Zwecksetzungen als praktische Ausübung der Freiheit nur Mittel zu anderen Zwecken sein könnten und Freiheit (und somit der praktische Ermöglichungsgrund des KI) eine nur instrumentelle Funktion besäße. Der Grund für den expliziten Einbezug von Zwecken sowohl auf Prinzipienebene als auch auf der Ebene der konkreten Pflichten ist sicherlich zumindest auch in dem Sachverhalt zu sehen, dass die MS im Unterschied vor allem zur GMS und auch partiell zur KpV einen Versuch darstellt, das vorher in seiner Reinheit mit Rücksicht auf alle möglichen Vernunftwesen entwickelte Konzept des moralischen Gesetzes und des für endliche Vernunftwesen gültigen Kategorischen Imperativs auf die gegebenen anthropologischen Bedingungen zu beziehen und auf diese Weise zu tatsächlich speziell für den Menschen verbindlichen Pflichten gelangen zu können. Während in GMS und KpV in einschlägigen Passagen Kernkonzeptionen wie diejenige des guten Willens (GMS) und des Paradoxons der Methode (KpV) die Unterminierung strenger vernunftmoralischer Verbindlichkeit durch natürlich basierte Zwecke und Begehrungen ausschließen sollten, stellt die MS keinen alternativen Ansatz zu diesen Entwürfen dar, sondern vielmehr deren Vollendung durch die Anwendung der Inhalte und methodischen Implikationen beider genannten Werke auf die menschliche Existenzform. 27

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(oder gar konsequentialistischen) Interpretation schon der Pflichten selbst als möglich erscheinen lassen könnte. Diese Deutung wäre nach Kant jedoch einem Missverständnis geschuldet, insofern unter den hier thematischen Zwecken empirisch-kontingente Zwecksetzungen verstanden würden, denn die Ethik kann nicht von den Zwecken ausgehen, die der Mensch sich setzen mag und darnach über seine zu nehmende Maximen, d. i. über seine Pflicht, verfügen; denn das wären empirische Gründe der Maximen, die keinen Pflichtbegriff abgeben, als welcher (das kategorische Sollen) in der reinen Vernunft allein seine Wurzel hat; wie denn auch, wenn die Maximen nach jenen Zwecken (welche alle selbstsüchtig sind) genommen werden sollten, vom Pflichtbegriff eigentlich gar nicht die Rede sein könnte. – Also wird in der Ethik der Pflichtbegriff auf Zwecke leiten und die Maximen, in Ansehung der Zwecke, die wir uns setzen sollen, nach moralischen Grundsätzen begründen müssen. 31

Wohlgemerkt spricht Kant in diesem Zitat nur davon, dass die moralischen Pflichten nicht von Zwecken abgeleitet werden dürfen, die der Mensch sich eigenmächtig im Sinne der Befolgung seiner zufälligen Neigungen setzt und die damit, wie Kant dezidiert behauptet, selbstsüchtig sind. Vor dem Hintergrund der ethiktypologischen Klassifikationstermini könnte man demnach für die MS schon auf der Ebene der Pflichtkonstitution eine Form der Vernunftteleologie diagnostizieren, denn Kant spricht ausdrücklich von Zwecken der reinen Vernunft. Die soeben in Ansätzen angedeutete Interpretation trägt dabei einem wichtigen Punkt Rechnung, den Kant auch im folgenden Zitat anspricht: »Hier ist […] nicht von Zwecken, die der Mensch sich nach sinnlichen Antrieben seiner Natur macht, sondern von Gegenständen der freien Willkür unter ihren Gesetzen die Rede, welche er sich zum Zweck machen soll.« 32 Die moralisch notwendigen Zwecke sind nach Kant allerdings immer schon konkrete Sollensforderungen und können somit nicht eine den Sollensforderungen bzw. Pflichten im strengen Sinne vorgeordnete und von jenen unabhängige, da sie fundierende Struktur S.: MS AA VI, S. 382. Der letzte Satz dieses Zitats legt wenn nicht die Identität, so doch zumindest eine große Nähe von Maximen und Zwecken nahe, wobei man die Maximen allerdings als höherstufige handlungsteleologische Grundsätze auffassen muss, die eine größere Reichweite als herkömmliche Einzelzwecke und eine kleinere als der Selbstzweck der Menschheit besitzen; vgl. zu Maximen als den tatsächlich vorliegenden Zwecksetzungen jedes Akteurs: Steigleder 2002, S. 101. 32 S.: MS AA VI, S. 385. Gegenstände der freien Willkür unter den Gesetzen dieser Willkür sind wohlgemerkt nichts anderes als praktisch notwendige Zwecke. 31

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darstellen. Der Mensch in seiner Identität als endliches Vernunftwesen habe sich die vernunftnotwendigen Zwecke nicht immer schon gesetzt, nur weil er ein ›animal rationabile‹ sei, sondern als Adressat moralischer Gebote soll er sie sich selber setzen. 33 Allerdings wird sich im Kontext der Behandlung der Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs erweisen, dass es nach Kant zumindest einen apriorischen Vernunftzweck gibt, den sich der Mensch nicht erst im Ausgang von bzw. Zusammenhang mit spezifischen Pflichten setzen muss, welcher jedoch immer schon seine Handlungsfreiheit in moralischer Perspektive strukturiert und somit jeglichen einzelnen Zwecksetzungen vorausgeht: die Menschheit als Selbstzweck. Die in der MS vorhandene Konstatierung objektiver materialer Zwecke ist mit diesem noch grundlegenderen Konzept zwar verbunden, nicht jedoch mit ihm identisch. Bevor wir in unserer Darstellung der deontischen Grundbegriffe weiter fortfahren, soll in gebotener Kürze auf die erwähnte Tugendpflicht der Beförderung der eigenen Vollkommenheit eingegangen werden, da der Vollkommenheitsbegriff zumindest bestimmte Assoziationen zu perfektionistischen und somit im weitesten Sinne teleologischen Ethiken nahe legen kann. Dieser Umstand ist Kant sehr wohl bewusst gewesen: Das Wort Vollkommenheit ist mancher Mißdeutung ausgesetzt. Es wird bisweilen als ein zur Transscendentalphilosophie gehörender Begriff der Allheit des Mannigfaltigen, was zusammengenommen ein Ding ausmacht, – dann aber auch, als zur Teleologie gehörend, so verstanden, daß es die Zusammenstimmung der Beschaffenheiten eines Dinges zu einem Zwecke bedeutet. 34

Kant erläutert diesen Aspekt im Kontext der Absetzung der Tugend- von den Rechtspflichten: »Im moralischen Imperativ, und der nothwendigen Voraussetzung der Freiheit zum Behuf desselben machen das Gesetz, das Vermögen (es zu erfüllen) und der die Maxime bestimmende Wille alle Elemente aus, welche den Begriff der Rechtspflicht bilden. Aber in demjenigen, welcher die Tugendpflicht gebietet, kommt noch über den Begriff eines Selbstzwanges der eines Zweckes dazu, nicht den wir haben, sondern haben sollen, den also die reine praktische Vernunft in sich hat, deren höchster, unbedingter Zweck (der aber doch immer noch Pflicht ist) darin gesetzt wird: daß die Tugend ihr eigener Zweck und bei dem Verdienst, das sie um die Menschen hat, auch ihr eigener Lohn sei.« S.: MS AA VI, S. 396. 34 S.: MS AA VI, S. 386. Der transzendentalphilosophische Begriff der ›Vollkommenheit‹ wird von Kant als quantitative (materiale), der teleologische dagegen als qualitative (formale) Form der Vollkommenheit verstanden; vgl. dazu: Casas 1996, S. 91. 33

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Da Kant explizit von den Eigenschaften eines Dings und nicht einer Handlung spricht, 35 könnte man meinen, er reflektiere eher über die theoretische als die praktische Teleologie-Problematik, doch zeigt der weitere Gedankengang, dass dies ein vorschnelles (Fehl-)Urteil wäre. In den auf das Zitat folgenden Passagen macht er nicht nur deutlich, dass es ihm um die letzte der beiden Verständnisweisen von Vollkommenheit geht, sondern führt diesen Punkt dahingehend noch weiter aus, dass er zwei konkrete Pflichten benennt, die die intendierte Vollkommenheitsidee genauer bestimmen sollen: Zum einen sei es Pflicht, dass sich der Mensch aus seinem ursprünglich rohen (unmoralischen) Naturzustande der Tierheit erhebe und seine Fähigkeit zur freien Zwecksetzung immer weiterentwickle, »um der Menschheit, die in ihm wohnt, würdig zu sein.« 36 Kant formuliert diese Pflicht der Selbstentwicklung zum Vernunftwesen demnach unter Benutzung einer teleologischen Argumentationsstruktur, nämlich der Zielvorstellung, dass der Mensch seine Vernunftanlagen fördern solle, um dem Wert seiner ihm immanenten wahren Vernunftnatur Rechnung zu tragen. 37 Zum anderen sei es die Pflicht des Menschen, die »Cultur seines Willens bis zur reinsten Tugendgesinnung« 38 zu erheben und seinen Willen zunehmend dem Sittengesetz gemäß zu bestimmen, »welches innere moralisch-praktische Vollkommenheit ist«. 39 An der gleichen Stelle bezeichnet Kant zudem das moralische Gefühl als sittliche Vollkommenheit, da es den Menschen in die Lage versetzt, »jeden besonderen Zweck, der zugleich Pflicht ist, sich zum Gegenstande zu machen.« 40 Angesichts der Wortwahl nicht zuletzt im Falle der Pflicht der Beförderung der eigenen Vollkommenheit ist demnach durchaus die Existenz teleologischer Redewendungen zuzugeben, und es erscheint plausibel, die Tugendlehre mit Wood als »overwhelmingly teleological« 41 aufzufassen. Zugleich muss jedoch gefragt werden, inwiefern diese Dieser Punkt bleibt in der Studie von Casas unkommentiert; vgl.: Casas 1996, S. 91. S.: MS AA VI, S. 387. 37 Dieses Argument wird von Kant im Rahmen der kritischen Hauptwerke zuerst in der GMS angeführt und an späterer Stelle in der vorliegenden Untersuchung zum Gegenstand ethiktypologischer Reflexionen werden. 38 S.: MS AA VI, S. 387. 39 S.: MS AA VI, S. 387. 40 S.: MS AA VI, S. 387. 41 S.: Wood 1999, S. 327. 35 36

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Einschätzung tatsächlich zutrifft, da sich bei genauerer Reflexion einige Zweifel an einer teleologischen Klassifikation ergeben. Woods Argument, dass Kant in der Tugendlehre nicht mit einer Maximierungsvorstellung arbeite und damit auf keine klassisch-konsequentialistische Struktur zurückgreife, ist insofern relativierbar, als ein Maximierungsprinzip kein unbedingt notwendiges Element einer teleologischen oder konsequentialistischen Theorie darstellt. Dagegen scheint mir ein anderer Punkt von größerer Bedeutung zu sein: Die prinzipielle und nicht zuletzt erkenntnistheoretisch bedingte Unterbestimmtheit des kantischen Begriffs von ›sittlicher Vollkommenheit‹. Neben den bereits genannten Bestimmungen von sittlicher Vollkommenheit findet sich in der Tugendlehre der MS noch eine komparative Formulierung dieses Begriffs: »Die größte moralische Vollkommenheit des Menschen ist: seine Pflicht zu thun und zwar aus Pflicht (daß das Gesetz nicht blos die Regel sondern auch die Triebfeder der Handlungen sei).« 42 Man könnte nun folgendermaßen argumentieren: Damit die in der Tugendlehre mehrfach artikulierte Idee der sittlichen oder moralisch-praktischen Vollkommenheit überhaupt ein zulässiges bzw. lebenspraktisch sinnvolles Ziel menschlicher Strebensaktivitäten darstellen kann, müsste streng genommen die Möglichkeit gewährleistet sein, dass der moralische Akteur den möglicherweise realisierbaren Zustand eigener sittlicher Vollkommenheit als solchen erkennen bzw. den Fall seines tatsächlichen Bestehens verifizieren könnte. Nun hat Kant in aller Deutlichkeit u. a. auch in einschlägigen Passagen der Religionsschrift 43 festgesetzt, dass es generell und daher nicht nur in Fällen subjektiver Defizienz unmöglich sei, den Grund der eigenen (oder auch fremden) Maximen erkennen zu können, da dies bedeuten würde, den Grund der Freiheit zu bestimmen, was widersinnig sei. 44 Dementsprechend ist es S.: MS AA VI, S. 392. Vgl.: RGV AA VI, S. 32. 44 »Daß der erste subjective Grund der Annehmung moralischer Maximen unerforschlich sei, ist daraus schon vorläufig zu ersehen: daß, da diese Annehmung frei ist, der Grund derselben (warum ich z. B. eine böse und nicht vielmehr eine gute Maxime angenommen habe) in keiner Triebfeder der Natur, sondern immer wiederum in einer Maxime gesucht werden muß; und, da auch diese eben so wohl ihren Grund haben muß, außer der Maxime aber kein Bestimmungsgrund der freien Willkür angeführt werden soll und kann, man in der Reihe der subjectiven Bestimmungsgründe ins Unendliche immer weiter zurück gewiesen wird, ohne auf den ersten Grund kommen zu können.« S.: RGV AA VI, S. 21 Anm. In der MS zieht Kant aus diesem Sachverhalt den Schluss, dass das moralische Gesetz nur gebieten kann, die Maxime einer Handlung möglichst in 42 43

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nach Kant für endliche Vernunftwesen unmöglich zu wissen, wann man die Kultur seines Willens bis zur reinsten Tugendgesinnung erhoben hat 45 – abgesehen davon, dass endliche (auch phänomenal verfasste) Wesen nicht über einen heiligen Willen verfügen könnten. 46 Die Idee der sittlichen Vollkommenheit kann hier demnach schon insofern nicht als wohlbestimmte Zweckvorstellung dienen, als die moralisch wertvolle, da willentlich intendierte Verwirklichung eines solchen Zwecks unmöglich ist. In Übereinstimmung damit muss man die Pflicht zur Kultivierung der moralischen Anlage des Menschen zwar nicht als klassisch-teleologische Struktur verstehen, doch bleibt festzuhalten, dass diese Kultivierung letztlich dem Zweck dienen soll, sich nach Kräften der Menschheit in der eigenen Person als würdig zu erweisen. Somit stellt die moralische Vollkommenheit als Beförderungsbestrebung moralischer Fähigkeiten kein traditionell zu deutendes Ziel menschlichen Strebens dar, doch soll der moralische Akteur ein unbedingtes Interesse an deren bestmöglicher Beförderung nehmen, um sich berechtigterweise moralische Dignität zuschreiben zu können. Offenbar fungiert die Idee der Pflicht der moralischen Perfektion als eine Art anderen Pflichten übergeordnetes Regulativum, 47 welches aufgrund seines dennoch konstatierbaren Zweckcharakters zwar nicht natur-, wohl jedoch vernunftteleologisch aufzufassen ist. 48 diesem Moralgesetz zu suchen, nicht aber die Moralität der Handlung selbst; vgl.: MS AA VI, S. 392. 45 Dieses Argument wird von Horn zu Recht gegen eine Deutung des Menschheitsbegriffs in der Selbstzweckformel des KI angeführt, die nur eine verwirklichte Form dieser Idee als werthaft gelten lässt; vgl.: Horn 2004, S. 195 und S. 212. 46 Mit dem heiligen Willen ist an dieser Stelle moralische Perfektion im konkreten Lebenswandel gemeint. 47 Daher wird die Idee moralischer Vollkommenheit von Casas als Aufgabe und Herausforderung bezeichnet; vgl.: Casas 1996, S. 92; vgl.: MS AA VI, S. 446. 48 Es wäre im Rahmen einer praktisch orientierten Kant-Deutung inkonsequent, einerseits von einem unabweisbaren praktischen Interesse der Vernunft und der unbedingt werthaften moralischen Natur zu sprechen und andererseits die diesen Konzepten zumindest implizite moralische Zweckbestimmung zu negieren, da die Anerkennung moralischer Zweckorientierung Kants Interesse an der Etablierung unbedingter moralischer Verbindlichkeit nicht nur nicht widerspricht, sondern diesem sogar insofern dienlich ist, als Kant vor allem in der MS die Notwendigkeit moralischer Zwecke als Gegengewicht zu auf Neigung basierten Zielen betont. Die Rolle der Pflicht zur Beförderung der moralischen Vollkommenheit bzw. vielmehr die Idee moralischer Perfektion wird vor allem von Potter in eine enge systematische Beziehung zum Kern der kantischen Moralphilosophie gerückt: »[…], it is true that actions in accord with duty and

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Zwischenfazit Kants Pflichtbegriff ist insofern eng mit dem Zweckbegriff verbunden, als er in der MS als für den Menschen verbindliche Vorstellung eines Zwecks der reinen Vernunft charakterisiert wird. Zugleich betont Kant den Umstand, dass Pflichten niemals von Zwecken, sondern Zwecke grundsätzlich von Pflichten abgeleitet werden dürften. Dies verhalte sich so, da speziell die Tugendpflichten nicht Zwecke seien, die aufgrund ihrer vernünftigen Zweckhaftigkeit zu Pflichten werden müssten, sondern umgekehrt seien die jeweiligen Zwecke vernunftnotwendig, weil sie im Ausgang von der praktischen Vernunft unbedingt sein sollten, also Pflichten seien. 49 Trotz des teleologisch anmutenden Vokabulars der Tugendlehre und der diesbezüglichen Rolle des Zweckbegriffs scheint eine streng teleologische Deutung der Pflichtkonzeption keine Berechtigung zu besitzen. Allerdings kann sich eine deontologische Kant-Deutung nicht ohne Weiteres auf den Pflichtbegriff berufen, insofern sie die These befürwortet, dass Zwecke keine relevante Rolle spielen, da Kant selbst schon bei der Erläuterung des einfachen Pflichtbegriffs in verschiedener Weise auf die Verbindung von Pflicht- und Zweckstrukturen zu sprechen kommt. Dies ist m. E. kein Argument für eine nicht-deontologische, wohl jedoch gegen eine starkdeontologische Interpretation. Bisher haben wir uns ausschließlich auf die grundsätzliche strukturelle Beschreibung des Pflichtbegriffs und seiner Relation zu Zwecken beschränkt. Doch haben wir auch an einer früheren Stelle unserer Untersuchung feststellen können, dass zumindest bestimmte Vertreter der starken Deontologie-These von einer deontologischen Begründung der kantischen Ethik sprechen. Es wurden bereits massive Zweifel an dieser Redewendung angemeldet, da diese These neben einer fragwürdigen Verhältnisbestimmung von ethischen und metaethischen Aussagen impliziert, dass deontische Strukturen das unhintergehbare Fundament von Kants Ethik ausmachen. Im Folgenden werden wir der Frage nachgehen, worin die Pflichten ihren Grund haben, um sie auf done from the motive of duty are expressive of the moral perfection of the agent; it is for this reason that the basic moral principle can be discovered by an analysis of the nature of morally good action, […]. Also, the concept of moral perfection, as an end or goal which is morally obligatory to pursue, comes to occupy an important part of Kant’s moral philosophy in The doctrine of virtue, […].« S.: Potter 1998, S. 43 f. 49 Mit diesen von Pflichten abgeleiteten Zwecken sind wohlgemerkt nicht alle Zwecke, sondern speziell die Maximen gemeint; vgl.: MS AA VI, S. 382. A

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systematische Abhängigkeiten von anderen Elementen zu prüfen. Diesbezüglich ist zwischen zwei Verständnisweisen des Pflichtursprungs zu differenzieren: einerseits kann man unter dem Grund der Pflichten ihr Prinzip auf der jeweils höheren Reflexionsebene und somit gewissermaßen ihre direkte Bestimmtheit, andererseits auch den Letztgrund moralischer Gebote 50 begreifen. Im Rahmen systemarchitektonischer Überlegungen in ethiktypologischer Absicht sind letztlich beide Aspekte relevant, wobei wir allerdings zuerst auf den letzten, unhintergehbaren und von anderen Elementen unabhängigen Vernunftursprung der Pflichten zu sprechen kommen werden, da die Prinzipienproblematik weiterführende Reflexionen erfordert, die uns mit dem Kategorischen Imperativ auf ein anderes, oft als deontologisch klassifiziertes Konzept verweisen, welches in Kap. V.1.2 dieser Untersuchung noch eigens betrachtet wird. V.1.1.2 Der Ursprung der Pflichten Wenn man dem philosophischen Fundament der Pflichten nachspürt, folgt man letztlich dem Gedankengang, der mit besonderer Emphase in der KpV entwickelt wird: Pflicht! du erhabener großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, doch auch nichts drohest, was natürliche Abneigung im Gemüthe erregte und schreckte, um den Willen zu bewegen, sondern blos ein Gesetz aufstellst, welches von selbst im Gemüthe Eingang findet, und doch sich selbst wider Willen Verehrung (wenn gleich nicht immer Befolgung) erwirbt, vor dem alle Neigungen verstummen, wenn sie gleich ingeheim ihm entgegen wirken: welches ist der deiner würdige Ursprung, und wo findet man die Wurzel deiner edlen Abkunft, welche alle Verwandtschaft mit Neigungen stolz ausschlägt, und von welcher Wurzel abstammen die unnachlaßliche Bedingung desjenigen Werths ist, den sich Menschen allein selbst geben können? 51

In dieser Passage spricht Kant davon, dass die Pflicht nicht die menschlichen Neigungen anspricht, sondern ein Gesetz aufstellt, das unbedingte Verehrung verlangt und dem Akteur zur Not sogar wider Willen abringt. Dabei ist die Rede von der ein moralisches Gesetz aufstellenDieser absolute bzw. unhintergehbare Grund moralischer Verpflichtung muss dabei nicht auf der nächsthöheren Strukturebene ausweisbar, sondern kann – reflexionssequentiell betrachtet – auch über eine indirektere Relation zum fraglichen Element vermittelt sein. 51 S.: KpV AA V, S. 86. 50

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den Pflicht insofern irreführend, als man bei alleiniger Betrachtung dieser Aussage und gleichzeitiger Ignorierung vieler anderslautender Ausführungen Kants dazu verführt werden könnte, die Pflicht als Grund des Sittengesetzes zu interpretieren. Dass sich dies nicht so verhält, wird allerdings nicht zuletzt in der weiteren Erläuterung des Kontextes dieser Stelle deutlich. Während die soeben betrachtete Stelle vom Wortlaut her eine gewisse Unklarheit aufweist, lässt Kant an anderer Stelle keinen Zweifel an dem Ursprung der Pflicht: Es ist nichts anders als die Persönlichkeit, d. i. die Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanism der ganzen Natur, doch zugleich als ein Vermögen eines Wesens betrachtet, welches eigenthümlichen, nämlich von seiner eigenen Vernunft gegebenen reinen praktischen Gesetzen, die Person also, als zur Sinnenwelt gehörig, ihrer eigenen Persönlichkeit unterworfen ist, so fern sie zugleich zur intelligibelen Welt gehört; […]. 52

Die letzte Wurzel bzw. der erste Ursprung der Pflichten ist demnach nichts Geringeres als das moralische Wesen, die menschliche Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung. Unter dem Begriff der ›Persönlichkeit‹ versteht Kant dabei nicht instrumentelle Rationalität, sondern die genuin praktisch-moralische Form rationaler Reflexion bzw. Handlung. 53 Das hier in Anschlag gebrachte Konzept der Persönlichkeit besitzt dabei spezifisch axiologische Implikationen: »Auf diesen Ursprung gründen sich nun manche Ausdrücke, welche den Werth der Gegenstände nach moralischen Ideen bezeichnen.« 54 Nicht nur die Pflichtstrukturen, sondern auch grundlegende Wertbegriffe wie z. B. derjenige der dem Sittengesetz zugeschriebenen ›Heiligkeit‹ 55 haben demnach ihre Quelle S.: KpV AA V, S. 87. Vgl. zur Unterscheidung von Tierheit, Menschheit und Persönlichkeit: RGV AA VI, S. 26 ff. In der Rede von der der Persönlichkeit unterworfenen Person rekurriert Kant auf die Doppelaspektivität des Menschen: Als Mitglied der intelligiblen Welt ist das endliche Vernunftwesen frei vom Naturdeterminismus und gibt sich mittels reiner Vernunft eigene praktisch-moralische Gesetze, während es sich als empirische und somit durch natürliche Neigungen affizierte Person dieser Gesetze nicht unmittelbar als Gesetzgeber bewusst ist, sondern sich als ihnen unterstellt erfährt. 54 S.: KpV AA V, S. 87. 55 Wenn Kant dem moralischen Gesetz Heiligkeit zuschreibt, meint er damit eine moralische Unantastbarkeit und Unverletzbarkeit; vgl.: KpV AA V, S. 87. An gleicher Stelle findet sich die Aussage, dass zwar nicht der einzelne Mensch mit all seinen Unvollkommenheiten, wohl jedoch die Menschheit als solche in seiner (des Menschen) Person heilig sein müsse, da der Mensch aufgrund dieses Vernunftvermögens Zweck an sich 52 53

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im Konzept der Persönlichkeit. Die spezifische Funktion der Idee der Persönlichkeit unter der Perspektive der menschlichen Doppelaspektivität bestehe genauer darin, im endlichen Vernunftwesen die Achtung vor dem eigenen moralischen Wesen zu erwecken 56 und damit dem naturhaft verankerten Egoismus entgegenzuwirken. In der Religionsschrift kann man im Rahmen der Erläuterung der drei menschlichen Anlagen der Tierheit, Menschheit und Persönlichkeit die m. E. klarste Bestimmung des letzteren Begriffs finden: »Die Idee des moralischen Gesetzes allein mit der davon unzertrennlichen Achtung kann man nicht füglich eine Anlage für die Persönlichkeit nennen; sie ist die Persönlichkeit selbst (die Idee der Menschheit ganz intellectuell betrachtet).« 57 Indem die Pflichten nach Kant ihren Grund in der Persönlichkeit haben, ist ihr eigentlicher Ursprung im strengen Sinne nichts anderes als die Idee des Sittengesetzes selbst. Umgekehrt resultiert aus dieser Identifizierung der Ideen von Persönlichkeit und Sittengesetz die Annahme einer fundamentalen Wertkonstitutionsfunktion des Moralgesetzes. Dies scheint zum einen eine der deontologischen Begriffssystematik affine Rekonstruktionsperspektive zu begünstigen, da axiologische Strukturmomente von einem unbedingt verbindlichen Gesetz abgeleitet werden sollen; zum anderen offenbart eben dieselbe Wertkonstitutivität des Sittengesetzes und dessen Identifikation mit der Idee der Persönlichkeit jedoch eine axiologische Tiefendimension der moralphilosophischen Gesetzesstruktur, welche das zuvor genannte prodeontologische Argument zu relativieren droht. selbst sei. Menschheit bezeichnet insofern das »reine Wesen des Menschen, gegenüber der ›Tierheit‹ in ihm.« S.: Eisler 1994, S. 352. 56 Vgl.: KpV AA V, S. 87. Da das Sittengesetz bei Kant letztlich als das Innerste des Menschen gedacht wird, bleibt mir unklar, warum es bei Sommerfeld-Lethen durchgehend als ein der Person äußerlicher Handlungsgrund skizziert wird; vgl.: Sommerfeld-Lethen 2005, S. 93. Zwar scheint bei ihr mit ›Person‹ (unkantisch) nur die empirische Dimension des Menschen bezeichnet zu sein, gegenüber welcher das Sittengesetz in subjektiv-phänomenologischer Perspektive als Anspruch ›an mich‹ und nicht primär ›von mir an mich‹ in Erscheinung treten kann, doch scheint es mir trotz der kategorialen Differenz beider Aspekte des endlichen Selbst keineswegs prinzipiell in der kantischen Ethik angelegt zu sein, dass das empirische Selbst von seinem eigentlichen, intelligiblen Wesenskern derart entfremdet sein bzw. bleiben muss. 57 S.: RGV AA VI, S. 28. Die Anlage zur Persönlichkeit zeichne sich zusätzlich zur Idee des Sittengesetzes dadurch aus, dass der Mensch offenbar die Fähigkeit besitze, das Moralgesetz in seine Maximen aufnehmen und somit sich zur Triebfeder machen zu können.

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Zwischenfazit Vor diesem Hintergrund erweisen sich die Thesen sowohl einer deontologischen Begründung der kantischen Ethik als auch eines eindeutigen Primats von Pflichtstrukturen zumindest in zwei Hinsichten in ihrer uneingeschränkten Geltung als zweifelhaft. Einerseits konnte die enge Verbindung der Pflichtkonzeption mit dem Zweckbegriff anhand bestimmter Aussagen vor allem aus der MS gezeigt werden; 58 andererseits verweist die Gründung des Pflichtbegriffs in der Persönlichkeit als der axiologisch konnotierten Idee des Sittengesetzes auf eine spezifisch begründungstheoretische Abhängigkeit der Pflichtvorstellung von Strukturen, deren deontologischer Status keineswegs als evident, sondern aufgrund des nach Kant konstitutiven Wertbezugs sowie Wertcharakters des Sittengesetzes vielmehr als differenzierungsbedürftig bezeichnet werden kann. 59 Neben dieser begründungstheoretischen Dimension der Dependenzrelation des Pflichtkonzepts bleibt noch die Frage nach der Gründung der Pflichten im Sinne ihrer unmittelbaren Bestimmtheit zu erläutern. In dieser Hinsicht wurzeln die Pflichtbestimmungen nicht direkt in der Persönlichkeit bzw. im heiligen Moralgesetz, sondern in derjenigen Form des Sittengesetzes, die sie bezüglich endlicher und somit moralisch fehlerhafter Wesen annimmt: dem Kategorische Imperativ. Wenn das Prinzip der Pflichten zur Debatte steht, muss man sich demnach der Struktur des Kategorischen Imperativs und seinen Formulierungen zuwenden. 60

Wohlgemerkt gibt diese Verhältnisbestimmung keinen Anlass zur These etwa einer teleologischen Unterminierung des Pflichtbegriffs, erweist sich jedoch als aufschlussreich, da von Kant aus gezeigt werden kann, dass eine kategorische Trennung von Pflicht- und Zweckbegriff schon mit der basalen Definition des Pflichtbegriffs inkompatibel ist. 59 Die Rede von einer ›Wurzel der edlen Abkunft‹ der Pflicht, welche zugleich den Ursprung fundamentaler moralischer Wertbegriffe darstellen soll, wurde hier nur verhältnismäßig kurz betrachtet und erläutert. Dies resultiert primär daraus, dass ich diese Passage aus der KpV in Kapitel VIII zur Achtungstheorie wieder aufgreifen werde, um deren konstitutiven Wertbezug in Form ihrer Rekonstruktion als Wertstiftungs- und -anerkennungstheorie herauszustellen. 60 Vgl. dazu auch: GMS AA IV, S. 421. 58

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V.1.2 Der Kategorische Imperativ Im Folgenden werde ich mich zuerst den verschiedenen Formulierungen des Kategorischen Imperativs widmen, um daraufhin ihre allgemeinen systematischen Relationen untereinander herauszuarbeiten. Dabei werde ich sie vor allem unter den Gesichtspunkten der Formalität/Materialität, ihres funktionalen Profils und ihres Bezugs zur Wertdimension rekonstruieren. In einem weiteren Schritt werden Kants Aussagen zum Grund dieses Imperativs analysiert, da die Klärung der Frage nach einem dem KI zugrundeliegenden Geltungsfundament auf die unhintergehbaren Fundamente der kantischen Ethik und somit auf ein in der aktuellen Typologiediskussion präsentes Thema abzielt. Im Kontext der Analyse der verschiedenen KI-Formulierungen argumentiere ich zum einen für eine systematische Vorrangstellung der Selbstzweckformel und vertrete zum anderen die These, dass die Selbstzweckkonzeption sowohl als apriorischer, werttheoretisch qualifizierter Handlungsgrund61 als auch als anzustrebender Vernunftzweck fungiert. Im Unterkapitel zum Grund des KI stelle ich seine Fundiertheit in der Selbstzweckidee als präsuppositionslogisch zentrale Wertkonzeption heraus, was zudem der Rechtfertigung meiner Herausstellung der SZF dient. Der Selbstzweck der Menschheit/der rationalen Natur tritt somit auf der einen Seite in Gestalt eines in funktionaler Hinsicht metaethisch-begründungstheoretisch qualifizierten Elements, auf der anderen Seite – als substantielles Strukturmoment des Kategorischen Imperativs – in Form eines Elements der ethischen Theorie in Erscheinung.62 V.1.2.1 Die Formulierungen des Kategorischen Imperativs Kant war offenbar der Überzeugung, dass es streng genommen nur einen einzigen Kategorischen Imperativ gebe, 63 wobei dieser nicht nur in verschiedenen Formulierungen existiere, sondern darüber hinaus auch eine allgemeine Form besitze. Die Anzahl der sinnvoll individuierbaren KI-Formulierungen und deren jeweilige Gewichtung ist in der Damit meine ich hier sowohl die vernunftaxiologische Begründung der praktischen Geltung des KI in der GMS als auch allgemeiner die z. B. von Korsgaard betonte motivatorische Funktion des Selbstzwecks. 62 Daher kann man höchstens im Falle von SZF von einer praktischen Selbstbegründung des KI sprechen. 63 Vgl.: GMS AA IV, S. 421; vgl. dazu: Wimmer 1980, S. 174. 61

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Forschung umstritten, 64 wobei diese Frage hier nicht hinreichend diskutiert werden kann. Im Folgenden werde ich dafür argumentieren, dass zumindest fünf Formulierungen gerechtfertigterweise voneinander unterscheidbar sind und die Selbstzweckformel von primärer Relevanz für die Gestalt der kantischen Ethik ist. Insofern besitzt die auffällige Beachtung, welche dem Selbstzweckkonzept in der typologischen Diskussion geschenkt wird, m. E. durchaus einen handfesten Anhaltspunkt in Kants Systematik. Die erste Formulierung 65 des Kategorischen Imperativs wird im 1. Abschnitt der GMS im Kontext der Frage eingeführt, durch welches Gesetz der Wille derart bestimmt werden könne, dass er unbedingt bzw. uneingeschränkt gut zu nennen sei. Da Kant zuvor alle materialen Bestimmungsgründe des Willens bzw. Zielsetzungen als nicht-moralisch, da nicht streng vernunftbezogen ausgeschlossen hat, »bleibt nichts als die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlungen überhaupt übrig, welche allein dem Willen zum Princip dienen soll, d. i. ich soll niemals anders verfahren als so, dass ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden.« 66 Diese erste Version des KI – ich nenne sie der Übersicht halber mit Schönecker und Wood 67 die Universalisierungsformel (UF) – hat demnach zum Inhalt, dass Gesetzmäßigkeit als solche das willensbestimmende Prinzip sein muss, wenn die »Pflicht nicht überall ein leerer Wahn und chimärischer Begriff sein soll; […].« 68 Zudem betont Kant in diesem Zusammenhang, In einem ersten Sichtungsschritt der entsprechenden Literatur lassen sich drei Gruppen differenzieren: Die erste Gruppe nimmt – gegen Kant – fünf Formulierungen an; vgl.: Ross 1954, S. 43 f. und S. 60 f.; Wolff 1973, S. 156; Williams 1986, S. 22 ff. Die zweite Gruppe orientiert sich zumindest hinsichtlich der Anzahl der KI-Formulierungen am kantischen Wortlaut und geht allgemein von einer Vierzahl aus, wobei sich, wie auch in den anderen Gruppen, in der Frage der Gewichtung der Versionen partiell weitreichende Unterschiede feststellen lassen; vgl.: Schmucker 1955, S. 170; Duncan 1957, S. 173; Schwemmer 1971, S. 132; Höffe 1977, S. 355 f.; Guyer 2000, S. 185. Die These von drei Formulierungen findet man z. B. in: Craig 1969, S. 207; Fleischer 1964, S. 207; Broad 1934, S. 43 f. 65 Bei Kant findet sich die Unterscheidung von ›Begriff‹, ›Formel‹ und ›Satz‹ des Kategorischen Imperativs, wobei die genauere Differenz zwischen diesen drei Ausdrücken nicht erläutert wird; vgl.: GMS AA IV, S. 420. 66 S.: GMS AA IV, S. 402. Kant verwendet die Universalisierungsfigur an mehreren anderen Stellen der GMS, auf die hier nur verwiesen werden soll; vgl.: Schönecker/ Wood 2002, S. 127 f. 67 Vgl.: Schönecker/Wood 2002, S. 124. 68 S.: GMS AA IV, S. 402. 64

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dass die Betrachtung der bloßen Gesetzmäßigkeit die Unabhängigkeit von spezifischen, auf konkrete Handlungen bezogenen Gesetzen impliziere. 69 Der hier angesetzte Begriff der Gesetzmäßigkeit bedeutet zumindest auch eine bestimmte Art von Konsistenz im Sinne von Widerspruchsfreiheit. Genauer ist diese Art von Konsistenz als genuin praktische Widerspruchsfreiheit zu verstehen, welche zwar theoretisch-propositionale Widerspruchsfreiheit impliziert, sich jedoch nicht in ihr allein erschöpft.70 Entscheidend für ein Verständnis der Struktur der UF ist dabei, dass sich der dort intendierte Begriff von ›Universalisierbarkeit‹ einzig und allein durch die theoretische und praktische Widerspruchsfreiheit auszeichnet. Eine kritisch weiterfragende Bedingungsanalyse muss jedoch mit Wood darauf aufmerksam machen, dass schon die nüchtern bzw. ›wertfrei‹ anmutende Universalisierungsformel nicht ganz ohne impliziten Bezug zu axiologischen Grundkonzepten Kants rekonstruierbar ist: Zwar liefert die Oberflächenstruktur der UF in erster Linie nur das Kriterium der praktisch verstandenen Widerspruchsfreiheit (Maximen dürfen sich nicht selbst aufheben), doch ›funktioniert‹ UF nur unter der Bedingung des unbedingten Werts des guten Willens, 71 da dieser – subjektiv betrachtet – den Gedanken der Pflicht als Achtung vor dem Sittengesetz und somit als vernunftbasierten Akt der Wertschätzung impliziert. Die Bedingung des Wollenkönnens einer Maxime besteht daher in der unbedingten Anerkennung des Werts von praktischer Gesetzmäßigkeit, wobei auf Kants genauere Aussagen zu diesen keineswegs simpel rekonstruierbaren Bedingungsrelationen im weiteren Verlauf unserer Untersuchung einzugehen ist.

In Anbetracht der obigen Aussage Kants erscheint die Tendenz Hoersters, den Kategorischen Imperativ unmittelbar auf Handlungen bezogen zu verstehen, als unplausibel; vgl.: Hoerster 1974, S. 455 und S. 469; vgl. kritisch dazu: Löhrer 1995, S. 77 Anm. 86. Löhrer rechtfertigt allerdings zum Teil die handlungsbezogene Interpretation des KI mit Verweis auf GMS AA IV, S. 439, wo Kant Moralität als »Verhältniß der Handlungen zur Autonomie des Willens, das ist zur möglichen allgemeinen Gesetzgebung durch die Maximen desselben« bestimmt; s.: GMS AA IV, S. 439. 70 Genauer bedeutet dies die von Kant konstatierte Notwendigkeit der Vermeidung von Widersprüchen sowohl im Denken (theoretisch-propositional) als auch im Wollen (praktisch). 71 Die diesbezüglich virulente Frage, ob es sich dabei um eine zusätzliche Bedingung handelt oder ob diese Annahme eine Verkennung des kantischen Grundgedankens bedeutete, muss an dieser Stelle noch unbeantwortet bleiben. 69

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UF kann als in mehreren Hinsichten unbefriedigend 72 und speziell in ethiktypologischer Perspektive als mehrdeutig bezeichnet werden: Weder ist klar, worin die genannte Gesetzmäßigkeit über bloße Widerspruchsfreiheit hinaus bestehen soll, noch geben die kantischen Ausführungen berechtigten Anlass zu einer eindeutig deontologischen oder teleologischen Klassifikation. Zwar wird hinreichend deutlich, dass die Beurteilung der Moralität von durch die UF gebotenen Maximen unabhängig von Folgeüberlegungen stattfinden soll, doch kann sowohl die allgemeine philosophische als auch die spezifisch ethiktypologische Problematik dieser Formulierung des KI am Begriff der ›Gesetzmäßigkeit‹ bzw. des damit mitintendierten Gesetzes festgemacht werden: Aufgrund des Fehlens jeglicher weiterer Bestimmungen dieses Begriffs ist die UF durchaus mit einer z. B. von Gott ausgehenden Gesetzmäßigkeit kompatibel, sodass Moralität in letzter Konsequenz auch als traditioneller, möglicherweise als theologisch fundiert rekonstruierbarer Gottgehorsam verstanden werden könnte. Zudem gibt UF keine hinreichenden Mittel an die Hand, um neben der Beförderung fremder Glückseligkeit 73 konkrete Pflichten aus ihr abzuleiten und lässt darüber hinaus Maximen mit unmoralischen Inhalten 74 zu, wenn sie spezifisch genug formuliert werden. Auch erfüllen bestimmte, an sich moralisch unbedenkliche Maximen die von der UF aufgestellte Verallgemeinerungsanforderung nicht, was die Position, dass UF die wichtigste oder entscheidende Formulierung der Idee des Kategorischen Imperativs sei, als äußerst problematisch und in Bezug auf eine konstruktive Kant-Interpretation defizient erscheinen lässt. 75 »Die Kritik an UF wäre vernichtend, wenn das die einzige Formel wäre, die Kant anbietet, und sie wäre auch vernichtend, wenn diese Formel von allen Formeln wirklich die entscheidende wäre.« S.: Schönecker/Wood 2002, S. 125. Die spezifische Leistungsfähigkeit von UF kann hier jedoch nicht thematisch werden. 73 Vgl.: KpV AA V, S. 34 f.; MS AA VI, S. 393. 74 Vgl.: Leist 2000, S. 339. Allerdings hebe ich hier nicht auf den Punkt ab, dass z. B. auch das tägliche Singen eines Liedes von der UF her zulässig wäre. Der Vorsatz des täglichen Singens eines Liedes stellt noch keine Maxime, d. h. auf die grundsätzliche Willensbestimmung und somit höherstufige Zwecksetzung ausgerichtete Vorschrift, sondern allein eine schon auf eine spezielle Situation bezogene praktische Handlungsregel dar, welche nur indirekt mit dem Willen verbunden ist; vgl. zur Differenz von Handlungsregel und Maxime: Höffe 2004, S. 254 f. 75 An diesem Punkt ist auf Wood zu verweisen, der zu Recht betont, dass Kant selbst in der MS mit der UF bzw. der Naturgesetzformel (NF) nur eine, mit der Selbstzweckformel (SZF) jedoch weitaus mehr Pflichten ableite; vgl.: Wood 1999, S. 140; vgl. zudem: 72

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Über die Idee der Allgemeinheit bzw. der Allgemeinheit des Gesetzes geht Kant von der UF zur Darstellung der Naturgesetzformel (NF) über, da Natur der Form nach gleichbedeutend sei mit dem durch allgemeine Gesetze bestimmten Dasein der Dinge. Dementsprechend formuliert er die Naturgesetzformel des KI: »handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte.« 76 NF leistet grundsätzlich zweierlei: Zum einen veranschaulicht Kant den universalen Anspruch der UF, zum anderen konkretisiert er den bei der UF noch eher implizit bleibenden Charakter dieser Universalität, indem er universalisierbare Maximen mit Naturgesetzen vergleicht, da man Naturgesetzen kausal nicht zuwider handeln kann. Die Tatsache, dass die NF eine nur durch eine Analogie erweiterte Version der UF darstellt, erweist sie als in ethiktypologischer Hinsicht 77 ebenso wenig aufschlussreich und genau so problematisch wie die UF, da der Vergleich der moralischen Maximen mit der

Schönecker/Wood 2002, S. 125. Wenn Schmucker die Identität der UF und SZF damit begründet, dass in der Allgemeinheit der UF das vernünftige Wollen impliziert sei, ist dies zwar insofern berechtigt, als die allgemeine Gültigkeit der Vernunftgesetze ein unverzichtbares Merkmal praktischer Vernünftigkeit darstellt, doch scheint erst die SZF das spezifisch ethisch relevante, da axiologische Kriterium zu beinhalten, welches als notwendige Bedingung für den Ausschluss unmoralischer Maximen fungiert; vgl. zu Schmucker: Schmucker 1955, S. 173. In impliziter Übereinstimmung mit diesem Einwand sieht Leist die UF eher als eine regelutilitaristische Formel an, die nicht als Basis der Ableitung von Pflichten dienen könne; vgl.: Leist 2000, S. 338. Die Einsicht in die Tatsache, dass der Mensch als Vernunftwesen immer schon die allgemein-vernünftige und somit auf den Menschen zugeschnittene Perspektive einnehme, liegt nach Sala darüber hinaus schon der ›Goldenen Regel‹ zugrunde; vgl.: Sala 2004, S. 107. Diese Relationsstiftung ist jedoch irreführend, da benannte Regel nichts mit Vernunftuniversalismus zu tun hat. In diesem Zusammenhang weist Wimmer auf die Wurzel der Goldenen Regel im alttestamentarischen und christlichen Denken hin; vgl.: Wimmer 1980, S. 254 ff.; vgl. darüber hinaus zur historischen Dimension der Diskussion der Relation von KI und Goldener Regel im juristischen Bereich: Hruschka 1987, S. 941–952. Vgl. jedoch zu einem Versuch der Annäherung von Goldener Regel und KI: Nisters 1989, S. 31 ff. Auch Spaemann versteht den KI nur als eine Verfeinerung der Goldenen Regel; vgl.: Spaemann 1999, S. 89. 76 S.: GMS AA IV, S. 421. Vgl. zu den verschiedenen Stellen, an denen Kant NF wieder aufgreift: Schönecker/Wood 2002, S. 129. 77 Unter dem Gesichtspunkt, dass der KI nach dem Typus von Naturgesetzen zu denken ist, besitzt die NF natürlich keinen redundanten Status, doch dieser Umstand ist typologisch nicht aussagekräftig.

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Vorstellung des Naturgesetzes weder einen grundsätzlichen inhaltlichen noch strukturellen Zuwachs mit sich bringt. 78 Sowohl in systematischer als auch ethiktypologischer Perspektive komplexer ist dagegen die dritte Formulierung, die nicht ohne Grund zunehmend im Mittelpunkt neuerer Analysen der kantischen Ethik steht: 79 »Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.« 80 Diese Selbstzweckformel (SZF) beinhaltet explizit neben dem Zweckkonzept insbesondere die beiden Begriffe der ›Menschheit‹ 81 und der ›Person‹, die beide weder in der UF noch der NF genannt werden und daher zumindest rein begrifflich eine Erweiterung der bisherigen Aussagen darstellen. Auch der inhaltliche Vorlauf zur Formulierung der SZF unterscheidet sich grundlegend von demjenigen der UF/NF: Kant reflektiert z. B. nicht wie in den zur UF In seiner Auseinandersetzung mit den Formulierungen des KI hat Ebbinghaus versucht zu zeigen, dass sich anhand der NF dieselben Pflichten ableiten lassen wie aus der SZF. Dabei unterschlägt er nicht den Sachverhalt, dass die NF in dieser Funktion einzig unter der Annahme einer recht starken Naturteleologie Sinn macht, welche grundsätzlich bezweifelbar ist; vgl.: Ebbinghaus 1988, S. 215. In Anlehnung an Reich (1935) und an diesbezügliche Aussagen Kants diene die NF und damit auch die präsupponierte Naturteleologie primär dem Zweck der Veranschaulichung und nicht der strengeren Begründung, weshalb man die naturteleologischen Prämissen bestreiten könne, ohne dass das Prinzip der Pflichtbestimmung in seinem Gehalt angegriffen würde. Das in der NF zur Geltung kommende Ideal des naturgemäßen Lebens sei dabei eine Reminiszenz an die Stoiker; vgl.: Ebbinghaus 1988, S. 216. 79 Vgl.: Horn 2004, S. 195. 80 S.: GMS AA IV, S. 429. 81 Der Begriff der ›Menschheit‹ steht in der Religionsschrift für die allgemeine und nicht spezifisch moralische Vernunftfähigkeit des endlichen Vernunftwesens; vgl. RGV AA VI, S. 27; vgl. dazu die These Wimmers, dass die Idee der Menschheit den homo noumenon bezeichne: Wimmer 1990, S. 125; vgl.: MS AA VI, S. 239. Allerdings ist auch schon das allgemeine Zwecksetzungsvermögen und damit die Idee der Menschheit Ausdruck der Freiheit, welche ihrerseits nach Kant als wertvoll qualifiziert ist (was freilich noch näher aufgewiesen werden muss). Implizit wird dieser Punkt von Baranzke aufgegriffen, wenn sie auf die zweifache Binnenstruktur des Menschheitsbegriffs in der SZF verweist. Sie sieht die Menschheitsformel vor allem als Hervorhebung der Allgemeinheit des KI: »Die Allgemeinheit und allgemeine Verbindlichkeit des Kategorischen Imperativs wird in der Menschheitsformulierung mit der Idee der Menschheit verdeutlicht, da ›Menschheit‹ sowohl die physische Gattung als auch den homo noumenon in jeder individuellen Person, also die universale Wertidee, bezeichnet. Die Menschheitsidee gewährleistet als Ideal eines jeden sittlichen Individuums die Verbundenheit aller Menschen in einem Reich der Zwecke durch den inneren Dialog eines sittlichen Subjekts.« S.: Baranzke 2004, S. 224. 78

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führenden Passagen über die moralische Unzulässigkeit materialer Bestimmungsgründe des Willens vor dem Hintergrund der Idee unbedingter praktischer Verbindlichkeit, sondern widmet sich ganz dezidiert material-axiologischen Fragen, welche im Rahmen der UF/NF nicht zur Sprache kamen. Welcher Art ist nun genau dieser besondere Zweck, von dem Kant in der SZF spricht? Legt diese Formulierung nicht eindeutig eine Form teleologischer Interpretation nahe, wenn davon die Rede ist, dass der Mensch die Menschheit bzw. die moralische Natur in seinen Handlungen immer auch als Zweck behandeln soll? Auch wenn eine genauere Begriffsbestimmung dem Unterkapitel V.2.2.2 vorbehalten bleiben soll, muss in unserem hier relevanten Diskussionskontext allgemein auf das Profil des Selbstzweckkonzepts hingewiesen werden. Unter ›Zweck‹ darf im Rahmen der SZF offenbar zumindest nicht primär ein noch zu verwirklichender Zustand etc. verstanden werden, sondern dieses Konzept umfasst für Kant vorrangig die Konnotation eines spezifischen Handlungsgrundes, der demnach nicht fluchtpunktartig am Ende, sondern, in der Funktion eines Initiationsmoments, am Beginn einer Reflexions- bzw. Handlungskette steht. 82 Zweck in dieser Bedeutung als Selbstweck ist demnach insofern kein herkömmlich anvisierbares Handlungsziel, als er zwar ebenso wie ein angestrebter Zweck als Handlungsmotiv dienen kann, dieses Motiv jedoch nicht noch auf etwas anderes als sich selbst verweist, sondern mit der Adaption des Handlungsgrundes ist der Selbstzweck bereits immer schon auf gewisse Art und Weise verwirklicht. 83 Die Implika»Man ist versucht, darunter [unter dem Zweckbegriff, Einfügung C. B.] nichts anders zu verstehen als irgendeinen Zustand oder Gegenstand, der noch nicht existiert, dessen Existenz wir aber wünschen und anstreben. Demnach wäre ein Zweck immer ein Zweck für jemanden, und wenn das wirklich die ausschließliche Bedeutung des Zweckbegriffs wäre, würde der Begriff eines Zwecks an sich selbst bedeutungslos. Doch man kann unter einem Zweck allgemein das verstehen, um deswillen etwas geschieht, und so versteht Kant den Zweckbegriff hier auch: […].« S.: Schönecker/Wood 2002, S. 141. Diese Aussage rekonstruiert zwar zu Recht die Funktion des Selbstzwecks als Handlungsgrund, doch bleibt die Frage im Raum stehen, inwiefern der von Schönecker und Wood hervorgehobene Aspekt der Akteurzentriertheit den entscheidenden Unterschied zwischen einem angestrebten Zweck und dem selbstständigen Zweck markiert, denn auch ein Handlungsgrund kann, genau wie ein herkömmlicher Zweck, entweder akteurzentriert oder akteurneutral aufgefasst werden. 83 Dieser tiefenstrukturelle Aspekt des Selbstzwecks bereitet nicht zuletzt deswegen gewisse interpretatorische Schwierigkeiten, als man z. B. von Guyers Position aus fragen kann, welcher Unterschied zwischen dieser Funktion des Selbstzwecks und derjenigen der praktischen Freiheit als unhintergehbarem Wertgrund besteht. 82

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tionen dieser speziellen Form des Handlungsgrundes weisen die in der SZF vorhandene Selbstzweckkonzeption genauer als transzendentalapriorischen Ermöglichungsgrund moralischer Handlungen aus, welcher seinerseits in unterschiedlichen Explikationsgraden axiologisch qualifiziert ist. Hier sind wir nun an einem Punkt der Analyse der SZF 84 angelangt, der eine entscheidende argumentative Rolle einerseits in Trampotas Version der D-These, andererseits jedoch auch in den Deutungen Woods (SD-These) und Hermans (T-These) spielt: Die Menschheitsidee bzw. das Prinzip der Menschheit ist nach Kant kein subjektiver Zweck, was nichts anderes bedeutet, als dass die vernünftige Natur als solche kein kontingentes Objekt menschlicher Bestrebungen sein kann. Die Menschheit als Selbstzweck sei in funktionaler Hinsicht vielmehr als die Wahl möglicher subjektiver und somit gegenständlicher Zwecksetzungen restringierende Hintergrundidee zu verstehen; Menschheit in diesem Sinne fungiert nicht als möglicher oder notwendiger Gegenstand menschlicher Willensbestimmung, sondern als Gesetz, welches über Notwendigkeit, Zulässigkeit oder Unzulässigkeit jeglicher möglicher Gegenstände menschlichen Strebens Aufschluss gibt. Die Tatsache, dass Kant offenbar – zumindest im Rahmen der SZF – von der Möglichkeit ausging, dass ein Zweck als genuin teleologisches Strukturelement nicht in abstrakter Entgegensetzung zumindest zur FunkKant nennt drei miteinander verbundene Eigenschaften der SZF: »Dieses Princip der Menschheit und jeder vernünftigen Natur überhaupt, als Zwecks an sich selbst (welche die oberste einschränkende Bedingung der Freiheit der Handlungen eines jeden Menschen ist), ist nicht aus der Erfahrung entlehnt: erstlich, wegen seiner Allgemeinheit, da es auf alle vernünftige Wesen überhaupt geht, worüber etwas zu bestimmen keine Erfahrung zureicht; zweitens, weil darin die Menschheit nicht als Zweck der Menschen (subjectiv), d. i. als Gegenstand, den man sich von selbst wirklich zum Zwecke macht, sondern als objectiver Zweck, der, wir mögen Zwecke haben, welche wir wollen, als Gesetz die oberste einschränkende Bedingung aller subjectiven Zwecke ausmachen soll, vorgestellt wird, mithin es aus reiner Vernunft entspringen muß.« S.: GMS AA IV, S. 430 f. Die erste von Kant genannte Eigenschaft bezieht sich auf den epistemologischen Ursprung und somit auch auf die praktische Geltungsdimension der Menschheitsidee: Die vernünftige Natur als Zweck an sich selbst sei nicht aus der Erfahrung, demnach auch nicht durch eine spezielle Werterfahrung zu gewinnen. Die beiden anderen genannten Eigenschaften werden als Gründe für die erste Eigenschaft herangezogen: Der Selbstzweck der Menschheit kann keiner Erfahrung entstammen bzw. durch keinen empirisch basierten Kognitionsakt bewusst werden, da er zum einen allgemeine Gültigkeit beansprucht und zum anderen nicht als möglicher reifizierter Zweck nur eines Einzelmenschen oder einer Gruppe gedacht werden kann.

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tion eines Gesetzes stehen muss (Kant spricht von der Menschheit als Gesetz nicht in ontologischer, sondern funktionaler Bestimmungsabsicht), sondern im Gegenteil diese Rolle mit allen systematischen Konsequenzen innehaben kann, deutet auf eine gewisse Berechtigung der SKOM-These Baumanns’ hin, welche die Ununterscheidbarkeit des konsequentiell bzw. teleologisch und gesetzmäßig Wertvollen im Kontext der Selbstzweckkonzeption betont. Die moralisch-praktische Vernunft zeigt sich hier allerdings primär in ihrer bereits vorhandene Strebensakte limitierenden (die jeweils subjektiven Zwecke einschränkenden) und nicht in ihrer positiv-originär zweckkonstituierenden Funktion. Doch auch wenn deutlich geworden sein sollte, dass das moralische Wesen des Menschen nicht als herkömmliches, zu bewirkendes Ziel menschlicher Strebensakte aufzufassen ist, bleibt zu analysieren, was die Selbstzweckformel für eine ethiktypologische Klassifikation der kantischen Ethik genauer bedeuten könnte. Mit der Ablehnung einer rein teleologischen Auffassung der SZF sind nicht alle Möglichkeiten einer Bestreitung ihres klassisch-deontologischen Charakters ausgelotet, wie z. B. Schönecker und Wood zeigen. Sie interpretieren die Selbstzweckformel zwar nicht als teleologische/konsequentialistische Konzeption, verweisen jedoch darauf, dass die Existenz der SZF als vollwertige Formulierung des meist als deontologisch geltenden Kategorischen Imperativs ein manifestes Argument gegen eine einseitige, Werte und Zwecke deontischen Strukturen subordinierende Kant-Deutung darstellt. 85 Auch wenn Schönecker und Wood bezüglich der SZF einerseits eine der Deutung Trampotas diametral entgegengesetzte Position beziehen, scheinen sie andererseits ebenso wie er davon auszugehen, dass die These der Begründung der kantischen Ethik durch ein eigenständiges 86 axiologisches Konzept im »Bis zum heutigen Tag wird Kants Ethik als deontologische Ethik charakterisiert. Wenn es wesentlich für eine solche Ethik ist, daß in ihr substantielle (an sich existierende) Werte oder Zwecke keine oder bestenfalls nur eine untergeordnete Rolle spielen, dann ist Kants Ethik aber nicht nur nicht deontologisch, sondern dezidiert antideontologisch. Denn sowohl die inhaltliche Bestimmung moralischer Pflichten wie auch die Begründung ihrer Gültigkeit hält Kant ohne einen substantiellen Wertbegriff für unmöglich. Vernünftige Wesen als zwecksetzende und autonomiebegabte Wesen haben einen absoluten Wert (Würde); das und nicht etwa der Gedanke einer formalen Maximenuniversalisierung ist die zentrale These in Kants Ethik.« S.: Schönecker/Wood 2002, S. 140; vgl. zudem: Schönecker 1999, S. 56. 86 Die hier von mir intendierte Bedeutung von ›eigenständig‹ bezeichnet ein genuines Normativitätspotential. 85

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Widerspruch zu ihrer deontologischen Klassifikation steht. 87 Ich habe diese Problematik bereits an früherer Stelle der vorliegenden Untersuchung diskutiert und mich für ein epistemologisch/begründungstheoretisch neutrales Verständnis ethiktypologischer Klassifikationsbegriffe ausgesprochen. 88 Es muss nun im Folgenden darum gehen, der Selbstzweckformel einen Sinn abzugewinnen, der einerseits eine allzu schnelle Konstatierung von Inkonsistenzen bei Kant vermeidet und andererseits selbst nicht in unmittelbarem Widerspruch zu kantischen Fundamentalaussagen steht. 89 In seiner Analyse der Selbstzweckformel unterscheidet Horn zwei für ein adäquates Verständnis virulente Problemkomplexe: Zum einen untersucht er die Frage, ob Kants Dichotomie von pflichtbasierten und teleologischen Ethiken als deckungsgleich mit der Differenzierung von Formalität und Materialität einzustufen sei, 90 zum anderen eruiert er die grundsätzliche Verträglichkeit des formalen Ansatzes Kants mit einer materialen Ethik. Horns diesbezügliche Resultate sind eindeutig und stichhaltig: Weder impliziere Kants Bevorzugung einer deontologischen Ethik zwingend einen formalistischen Ansatz, noch schließe Kants formalistische Vorgehensweise jegliche materialen Aspekte der Ethik aus. Ausgangspunkt seiner Rekonstruktion ist die kantische These, dass sich die imperativische Form des Sittengesetzes aus dem Umstand der moralischen Unvollkommenheit des endlichen Vernunftwesens herleitet und derselbe Inhalt für ein vollkommenes (von sinnlichen Neigungen nicht affiziertes) Wesen kein apriori gesollter, sondern apriori gewollter ist. 91 Der Primat der Pflichtbestimmungen ergibt sich nach Horn im impliziten Anschluss an Niquet und Krämer demnach einzig und allein aus bestimmten anthropologisch begründeEine andere Wendung dieses Gedankens findet sich – wie in Kapitel II erwähnt – bei Kutschera, der die These vertritt, dass Kant jegliche Wertethik abgelehnt habe; vgl.: Kutschera 1982, S. 74 f. 88 Vgl. Kap. II. 89 Grundsätzlich muss man mit Horn – abgesehen von allen konkret-inhaltlichen Aspekten einer Ablehnung der Kant immanenten Konsistenz der SZF – auf die Beweislast hinweisen, die sich eine einseitig pejorative Auslegung dieser KI-Formulierung auf ihre Schultern lädt; vgl.: Horn 2004, S. 197. 90 Auch wenn Atwell die These vertritt, dass Kants Ethik formalistisch sei und diese nur unter der Annahme einer bestimmten Teleologie entwickelt werden konnte, gebraucht er die Termini des ›Formalismus‹ und ›Deontologismus‹ weitgehend synonym; vgl.: Atwell 1986, S. 1 und S. 89. 91 Vgl.: GMS AA IV, S. 455. 87

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ten Defiziten des endlichen Vernunftwesens und sei in dieser Form nicht charakteristisch für den Gehalt des obersten Moralgesetzes selbst. Unter diesem Gesichtspunkt stellt das moralische Sollen zum entsprechenden Wollen weder eine substantielle noch geltungsmodale, sondern zum einen eine gegebenheitsmodale Modifikation und zum anderen eine imperativische Umformung eines indikativisch formulierbaren Sachverhalts dar. 92 Aufgrund der konstatierten und durch den Originaltext klar belegten Relation vom Sollen unvollkommener und dem Wollen vollkommener Wesen müsse es möglich sein, den Inhalt eines deontologischen Ansatzes zugleich als ein Strebensziel darzustellen, das unter idealisierten anthropologischen Bedingungen Gültigkeit besäße oder das einen Zweck als geboten ausweist. Es muss also mutatis mutandis möglich sein, die von Kant gemeinte deontologische Moral in materialen Begriffen zu reformulieren. 93

Das bei der SZF primäre Problem ist bis hierher allerdings aus zwei unterschiedlichen Gründen noch nicht gelöst: Erstens scheint die Konzeption einer Umformulierung des Inhalts des Sittengesetzes zu einem Strebensziel Kants Verdikt gegenüber materialen Bestimmungsgründen des Willens in moralischen Kontexten zu widersprechen: Wenn eine Handlungsabsicht oder ein Zweck den Bestimmungsgrund des Willens ausmachten, »würde die Regel des Willens einer empirischen Bedingung (dem Verhältnisse der bestimmenden Vorstellung zum Gefühle der Lust oder Unlust) unterworfen, folglich kein praktisches Gesetz sein.« 94 Zweitens stellt sich in ethiktypologischer Hinsicht die Frage, ob eine materiale Reformulierung von ursprünglich formal-deontologischen Strukturen notwendig zu einer teleologischen Modifikation führen muss bzw., im hier vorliegenden Fall der Selbstzweckkonzeption, welche funktionale Bestimmung des Selbstzwecks aus dieser materialen Rekonstruktion resultiert. Neben der streng-deontologischen und klassisch-naturteleologischen Interpretationsrichtung existiert eine dritte Auffassungsmöglichkeit der Relation von Zweck und unbedingter Verbindlichkeit bei Kant: In dieser Perspektive weist Kant nicht Zwecke als solche, sondern Die imperativische Umformung indikativisch formulierter Gehalte kann ebenfalls als gegebenheitsmodale Modifikation verstanden werden, spielt jedoch unmittelbar keine typologisch relevante Rolle. 93 S.: Horn 2004, S. 199. 94 S.: KpV AA V, S. 27. 92

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nur die Moralität unterminierende Zwecksetzungen, also auf egoistischen Antrieben bzw. der Selbstliebe beruhende Ziele als Bestimmungsgrund des Willens zurück, da es nach Kant zum Wesen auch der moralischen Handlungen gehöre, nach einem teleologischen Schema rekonstruiert zu werden. 95 Vertreter der starken Deontologie-These wie z. B. Trampota berufen sich bei ihrer Interpretation des Selbstzwecks der Menschheit in der SZF vor allem auf GMS AA IV, S. 437, wo Kant den Selbstzweck im Gegensatz zu einem zu bewirkenden Zweck als selbständigen Zweck bezeichnet, der nur negativ aufgefasst werden könne. Letzteres wurde von deontologischer Seite dergestalt gedeutet, dass die Idee der selbstzweckhaften Menschheit nicht als materialer Zweck im Sinne eines positiven Strebensobjekts, sondern vielmehr als alle weiteren Zwecksetzungen restringierender Hintergrund bzw. als nur formale Zwecksetzung fungiere. 96 Teleologische Lesarten dieser KI-Formulierung begingen demnach den Fehler der Verkennung der Differenz von selbständigem und zu bewirkendem Zweck und liefen in die Falle einer grundlegenden strukturellen Missdeutung von Kants praktischer Systematik. Diese Perspektive bietet sich nicht zuletzt aufgrund des diesbezüglich einschlägigen Kant-Zitats an, kann jedoch aus mindestens drei Gründen nicht ohne Weiteres akzeptiert werden: 1. Auch ein Zweck, dessen Primärfunktion in der Begrenzung anderer Zwecksetzungen liegt, ist grundsätzlich einer inhaltlichen Bestimmung zugänglich bzw. ihrer sogar bedürftig. Der diesbezüglich ausschlaggebende Punkt besteht demnach in der Trennung von Materialität und Funktion eines Zwecks. In Anlehnung an die bereits angesprochenen Stellen aus der MS (vgl. Kapitel V.1.1.1) ist es nicht nur zulässig, nach der materialen Bestimmung des Selbstzwecks ›Menschheit‹ zu fragen: Wenn es – wie Kant in der MS annimmt – praktisch erforderlich sein sollte, durch einen Vernunftzweck den »Kant lehnt […] keineswegs die Wille-Zweck-Relation als Interpretationsschema moralischen Handelns ab; er behauptet nicht die generelle Verfehltheit einer materialen Beschreibung und Herleitung moralischen Handelns.« S.: Horn 2004, S. 202. 96 »Man könnte […] annehmen, dass die Selbstzweckformel dem kantischen Formalismus deswegen nicht zuwider läuft, weil durch sie alles Zwecksetzen lediglich unter eine regulative Bedingung gestellt wird. So gesehen besäßen zwar inhaltlich bestimmte, materiale Zwecke eine ›pathologische‹ Herkunft; ein formaler Zweck stammte dagegen aus der reinen praktischen Vernunft und bildete eine bloße Konsistenzregel.« S.: Horn 2004, S. 203. 95

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sinnlich bestimmten Zwecken entgegenzuwirken und Ethik als ›System der Zwecke der reinen Vernunft‹ zu bestimmen, ist eine inhaltliche Spezifizierung dieses Zweckes sogar notwendig, um den auf Neigung basierenden Zwecken auf derselben praktischen Reflexionsebene begegnen zu können. 97 2. Es ist durchaus zweifelhaft, ob Kant die Menschheitsidee wirklich nur als ein im Hintergrund wirkendes, rein formales Regulativum benutzt. Regulative Ideen wie z. B. diejenige des höchsten Guts aus der KpV und RGV zeichnen sich nach Kant dadurch aus, dass sie nicht primär als eigenständiger Bestimmungsgrund des Willens fungieren und daher nicht konstitutiv sind, sondern als abgeleiteter, durch ihren Zweckbezug richtungsweisender Horizont 98 menschlichen Handelns aus der sittlichen Willensbestimmung resultieren. Kant besteht an einschlägigen Stellen seines Werks 99 auf der Möglichkeit moralischen Handelns im Sinne einer dem Sittengesetz adäquaten Willensbestimmung auch ohne die vorherige Annahme der Möglichkeit des höchsten Guts, da letztere primär für die Willensausrichtung relevant sei. Die Funktion der Menschheit als Selbstzweck scheint sich dagegen zumindest nicht in formaler Regulation zu erschöpfen, sondern aufgrund seiner systemkonstitutiven Implikationen darüber hinauszugehen. 3. Zudem muss gefragt werden, ob der Kategorische Imperativ in der Form der UF und NF, also ohne Explikation des Selbstzweckgedankens, für die moralische Willensbestimmung hinreichend ist. Angesichts der Betonung der bloßen Widerspruchsfreiheit als Kriterium bei der UF und der wenig ergiebigen Naturanalogie in NF muss man diese Frage verneinen, 100 und es ist auch kein Zufall, dass Kant selbst in der MS fast alle Pflichten nicht von der UF oder NF, sondern der SZF ableitet. Zwar sind Selbstzweck und Tugendpflichten zu unterscheiden, doch kann der Selbstzweck der Menschheit als einer rein strategisch-instrumentalisierenden Auffassung von Vernunftwesen entgegengesetzter Zweck verstanden werden. 98 Vgl. zu Funktion und Gestalt der verschiedenen Horizontbegriffe bei Kant: Hutter 2003, S. 72 ff. 99 Vgl.: RGV AA VI, S. 5. Nicht das höchste Gut, sondern allein das Sittengesetz bestimme den Willen. Freilich kann man die diesbezüglichen Aussagen Kants keineswegs als eindeutig und zufriedenstellend bezeichnen; vgl.: Schwarz 2004, S. 26 Anm. 64. 100 Eine genauere Ausführung dieser Argumentation findet sich im folgenden Unterkapitel zur Relation der KI-Formulierungen. 97

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Dementsprechend muss man mit Horn zu dem Ergebnis kommen, dass die Idee der Menschheit als Selbstzweck keineswegs nur als rein formales Hilfsgerüst, sondern als zwar besonderer, aber dennoch inhaltlich bestimmter Zweck verstanden werden sollte: »Die Selbstzweckformel spricht von einem Zweck, der nicht mit jeder Einzelmaxime oder gar Einzelhandlung erstrebt zu werden braucht, der aber immer respektiert werden muss und der zugleich positiv angestrebt werden soll.« 101 Diese Interpretation wird durch eine zentrale Stelle aus der Einleitung zur Tugendlehre der MS gestützt, wo Kant eine weitere Form des Kategorischen Imperativs entwickelt, die in hinreichender Deutlichkeit veranschaulicht, dass die Menschheit nicht nur als farblose Hintergrundrestriktion verstanden werden sollte. Es handelt sich dabei um das oberste Prinzip der Tugendlehre: »handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann.« 102 Entscheidend ist nun der kommentierende Zusatz Kants, in dem er das Unzureichende daran hervorhebt, dass der Mensch »weder sich selbst noch andere blos als Mittel zu brauchen befugt ist (dabei er doch gegen sie auch indifferent sein kann), sondern den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen ist an sich selbst des Menschen Pflicht.« 103 Kant geht demnach offenbar davon aus, dass ein Verständnis der SZF als reines Instrumentalisierungsverbot insofern unzureichend sei, als damit noch keine positiv-affirmative Wertschätzung der Idee der Menschheit 104 gegenüber zum Ausdruck komme. Eine Lesart der SZF als reines Verbot, andere Vernunftwesen ausschließlich als Mittel zu eigenen Zwecken zu gebrauchen oder auch nur so zu betrachten, ist aber letztlich identisch mit ihrer Interpretation als nur subjektive Zwecksetzungen begrenzende Struktur, denn nur als Verbot könnte man sie als ausschließlich negativen Zweck verstehen. Es erscheint mir grundsätzlich irreführend zu sein, eine vollständige Disjunktion 101 S.: Horn 2004, S. 204. In gewisser Nähe zu Horn befindet sich auch Ebbinghaus, selbst wenn er nicht näher auf das Problem von negativen und positiven Zwecken bei Kant reflektiert: Die Maxime der Unwilligkeit zur Selbstkultivierung »macht […] diese Menschheit doch nicht im ganzen Umfange ihrer Möglichkeit, Zweck zu sein, zum Zweck.« S.: Ebbinghaus 1988, S. 218. Allerdings bleibt hier unterbestimmt, was Ebbinghaus genau unter dem ›ganzen Umfang der Möglichkeit des Zweckseins‹ versteht. 102 S.: MS AA VI, S. 395. 103 S.: MS AA VI, S. 395. 104 Zwar spricht Kant an genannter Stelle explizit nur vom Menschen, doch ergibt sich aus dem systematischen Kontext all seiner kritischen Schriften, dass es sich hier zumindest nicht allein um den primär empirisch verstandenen Einzelmenschen handeln kann.

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von negativen und positiven Zwecken bei Kant zu postulieren, wobei zudem selbst die deontologische Lesart Trampotas nicht ausschließt, dass man die Limitation der Zwecksetzungen durch die Idee der Menschheit als Selbstzweck wiederum in teleologischen Termini reformulieren kann: Auch die Idee der vernünftigen Begrenzung der Zwecke soll offenbar handlungsleitend sein 105 und muss somit im Hinblick auf die kantische Handlungsteleologie eine positive Zielfunktion besitzen können. Zwar befände sich der Zweck der Menschheitsachtung im Sinne Horns in der Tat nicht auf derselben praktischen Reflexionsebene wie diejenigen Zwecke, die durch ihn restringiert werden sollen, 106 doch ist dies auch nicht der primäre Streitpunkt der Diskussion. In Entsprechung zur Differenzierung von partikularen und höherstufigen Zwecken ist es plausibel, auch zwischen herkömmlichen Handlungen und besonderen, zur Ermöglichung von ›normalen‹ Einzelakten unverzichtbaren Akten zu unterscheiden, welche Distinktion wiederum als auf Kants Trennung von subjektiven und objektiven Zwecken rückbezüglich verstanden werden muss. Die Plausibilität der Annahme einer auch positiven Zweckfunktion der Menschheitsidee in der SZF kann in Übereinstimmung mit Horn anhand der Untersuchung des ihr eigenen kriteriologischen Potentials 107 verdeutlicht werden. Das inhaltliche Kriterium für die moralische Beurteilung der jeweiligen Maximen besteht in dieser Perspektive bei allen Beispielen in der Erhaltung und Bewahrung der menschlichen Zwecksetzungsfähigkeit. Dementsprechend müsse unter einer vollständigen Instrumentalisierung des Menschen eine Unterminierung seines Vermögens der Autonomie verstanden werden, während eine ›bloße‹ Instrumentalisierung auch Formen der nur partiellen Aufhebung, also einer Einschränkung rationaler Selbstbestimmung umfasse. 108 Im Gegensatz zu den Verboten der Selbsttötung und des 105 Die Idee der vernünftigen Zweckeinschränkung kann die Funktion der Handlungsleitung insofern übernehmen, als sie aufs Engste mit der Idee der Moralität, betrachtet unter dem Gesichtspunkt ihres Bezugs zur individuellen Zwecksetzung durch endliche Akteure, verbunden ist. 106 Anders wäre die Instanziierung einer umfassenden Restriktionsfunktion kaum möglich. 107 Die folgenden Passagen stellen einen Vorgriff auf die typologische Analyse von Kants Argumentationsweisen in Kap. VI dar, doch bietet die kriterielle Qualifikation der Achtung der Menschheit ein relevantes Argument für die Annahme ihrer systematischen Substanz, sodass dieser Vorgriff hier geboten erscheint. 108 S.: Horn 2004, S. 208.

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falschen Versprechens, bei denen es nach Kant zum moralischen Lebenswandel hinreicht, dass man dem Zweck der Menschheit nicht zuwider handele, sei es bei den Verboten der Selbstverwahrlosung und der Gleichgültigkeit gegenüber Notsituationen anderer nicht ausreichend, »daß die Handlung nicht der Menschheit in unserer Person als Zweck an sich selbst, widerstreite, sie muß auch dazu zusammenstimmen.« 109 Der Sinn dieser ›Zusammenstimmung‹ wird von Kant dergestalt präzisiert, dass eine Vernachlässigung der intelligiblen Gaben des Vernunftwesens zwar nicht im Widerspruch zu einer Erhaltung der Menschheit als Selbstzweck, wohl jedoch in Konflikt mit einer Beförderung dieses Selbstzwecks stehe. 110 Dieser Eindruck wird im Rahmen der kantischen Aussagen zum Gleichgültigkeitsverbot verstärkt, wenn er dort ebenfalls und nicht minder explizit auf den Sachverhalt verweist, dass die Menschheit durch ein prinzipielles Nicht-Helfen zwar nicht aufgehoben, aber eben auch nicht positiv affirmiert würde: Nun würde zwar die Menschheit bestehen können, wenn niemand zu des andern Glückseligkeit was beitrüge, dabei aber ihr nichts vorsetzlich entzöge; allein es ist dieses doch nur eine negative und nicht positive Übereinstimmung zur Menschheit als Zweck an sich selbst, wenn jedermann auch nicht die Zwecke anderer, so viel an ihm ist, zu befördern trachtete. Denn das Subject, welches Zweck an sich selbst ist, dessen Zwecke müssen, wenn jene Vorstellung bei mir alle Wirkung thun soll, auch, so viel möglich, meine Zwecke sein. 111

Hier findet sich eine abschließende Bestimmung der Zusammen- bzw. Übereinstimmung: Ein bloßer Nicht-Widerspruch von Maxime und Zweck bedeutet demnach eine negative, die dezidierte Beförderung des Zwecks eine positive Übereinstimmung. Wenn man dem Selbstzweck der Menschheit wie z. B. im Kontext bestimmter Formen der D-These jegliche positive (teleologische oder axiologische) Funktionalität abspricht, muss diese explizit kantische Differenzierung von bloßer Überein- und positiver Zusammenstimmung mit der Menschheit unverständlich, da unmotiviert erscheinen. Dementsprechend stellt S.: GMS AA IV, S. 430. Spätestens diese Passage spricht gegen eine Deutung der SZF als reines Instrumentalisierungsverbot. Cobet übernimmt jedoch diese Interpretation und kommt – nicht überraschend – zu einer Lesart der SZF, die stark an die goldene Regel erinnert; vgl.: Cobet 2003, S. 76. Auch Düsing konstatiert eine sinngemäße Entsprechung von Instrumentalisierungsverbot und der SZF; vgl.: Düsing 2005, S. 73. 110 Vgl.: GMS AA IV, S. 430. 111 S.: GMS AA IV, S. 430. 109

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sich eine Lesart, welche diese Distinktion ignoriert und damit die Relevanz der vernunftteleologischen Implikationen bestreitet, als Unterbietung des kantischen Komplexitätsniveaus dar. Die Autonomieformel (AF) wird von Kant in der GMS als synthetisches Resultat von der UF/NF und der SZF eingeführt: Während in der UF/NF vor allem »der Grund aller praktischen Gesetzgebung objectiv in der Regel und Form der Allgemeinheit« 112 fokussiert und in der SZF das Vernunftwesen in seiner Funktion des Subjekts aller Zwecke als Selbstzweck ausgewiesen werde, stelle »die Idee des Willens jedes vernünftigen Wesens als eines allgemein gesetzgebenden Willens« 113 die oberste Bedingung der Zusammenstimmung des Willens mit der praktischen Vernunft dar. Mit der AF würden die UF, NF und SZF insofern inhaltlich entscheidend ergänzt, als der Wille nun nicht mehr nur als unter bestimmten Gesetzen stehend betrachtet, sondern dahingehend konkreter gefasst wird, dass er erst dann als unter entsprechenden Gesetzen stehend angesehen werden kann, insofern er selbstgesetzgebend bzw. autonom ist. 114 Diesen Grundsatz nennt Kant das »Prinzip der Autonomie«, 115 und es muss beachtet werden, dass die AF im strengen Vergleich mit der formalen Struktur der UF/NF und SZF insofern von ihnen abweicht, als es in der GMS keine zu den anderen Formen strikt parallele, imperativische Formulierung dieses Grundsatzes gibt. 116 Wenn wir die AF im Vergleich vor allem zur SZF vernachlässigen, so folgen wir damit im Rahmen der GMS Kant selbst, der den Autonomie-Grundsatz zwar systematisch für besonders wichtig hielt, zugleich jedoch wenig ausführlich behandelte. Dies ist nicht zuletzt in dem Umstand begründet, dass Kant keine detaillierten ErläuS.: GMS AA IV, S. 431. S.: GMS AA IV, S. 431. 114 Erst in der AF werde demnach die spezifische Differenz von kategorischen und hypothetischen Imperativen deutlich, da die UF/NF und SZF zwar bereits eine kategorische Geltung implizierten, die AF jedoch eindeutig alles subjektive und zu hypothetischen Imperativen führende Interesse an den Gesetzen ausschließe; vgl.: GMS AA IV, S. 431 f. Zwar sei der Gedanke der Pflicht schon früher in der ethischen Tradition maßgeblich gewesen, doch führten die weiteren diesbezüglichen Überlegungen aufgrund der Verkennung der Notwendigkeit der Selbstgesetzgebung notwendig zu einer Form des motivationstheoretischen Externalismus; vgl.: GMS AA IV, S. 432 f. 115 S.: GMS AA IV, S. 433. 116 Diesen Sachverhalt hebt auch Brinkmann kritisch gegen Paton hervor; vgl.: Brinkmann 2003, S. 284; vgl. zu den verschiedenen Stellen zur AF bei Kant: Schönecker/ Wood 2002, S. 154 f. 112 113

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terungen anhand auf die AF angewandter oder gar neu entwickelter Beispiele bringt, sondern sich mit dem Hinweis auf frühere Anwendungsreflexionen des KI begnügt, die auch auf die AF zuträfen. Aufgrund der formal-strukturellen Unterschiede zu den anderen Formulierungen und der Bezeichnung als ›Grundsatz‹ bzw. ›Prinzip‹ ist es daher m. E. zwar zulässig, in Absetzung von Kant selbst 117 die AF nicht in strengem Sinne als eigenständige Version des KI einzustufen, doch hat die alternative Betrachtungsweise nicht nur den Vorteil, sich auf Kant berufen, sondern darüber hinaus die Bedeutung des Autonomiegedankens adäquat herausstellen zu können. Die AF scheint dagegen in der KpV einen höheren Stellenwert innezuhaben und wird von Kant wenigstens an einer Stelle sogar imperativisch formuliert: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« 118 In der GMS finden sich zudem Varianten der AF, die zwar nicht imperativisch formuliert sind, das entscheidende reflexive Moment dieser Struktur jedoch deutlicher zum Ausdruck bringen: »[…] wenn es einen kategorischen Imperativ giebt […] so kann nur gebieten, alles aus der Maxime seines Willens als eines solchen zu thun, der zugleich sich selbst als allgemein gesetzgebend zum Gegenstand haben könnte.« 119 Im Autonomie-Konzept kommt nicht nur eine akzidentelle Facette der moralphilosophischen Konzeption Kants zum Ausdruck, sondern es stellt nichts weniger als eine Formulierung des in Kants Ethiktheorie primären Grunds für die unbedingte Geltung bzw. die Kategorizität des KI dar. 120 Trotzdem hält sich Kant in der GMS nicht lange bei der AF auf, sondern geht vielmehr über die kurze Darstellung der Autonomie-Idee zur Reich-der-Zwecke-Formel (RZF) über:

117 Kant spricht von drei Arten der Vorstellung des sittlichen Prinzips und versteht darunter offenbar die UF, SZF und AF; vgl.: GMS AA IV, S. 436 f. 118 S.: KpV AA V, S. 30. 119 S.: GMS AA IV, S. 432, vgl. auch: S. 434 und S. 438. 120 Dies hat die AF mit der SZF gemein, doch besitzt der letzte praktische Geltungsgrund akteurkausaler (wohlgemerkt nicht akteurrelativer) Verbindlichkeit verschiedene Aspekte, sodass die AF mit der nomothetischen Selbstreferenz ein anderes, der axiologischen Komponente der SZF jedoch nicht entgegengesetztes Hauptmerkmal des Fundaments der kantischen Ethik expliziert. Vielmehr verweist auch die Rechtfertigung des Geltungsanspruchs der AF vernunftnotwendig auf die Axiologie der SZF, da sich der besondere Status der Selbstgesetzgebung dem besonderen Status des intelligiblen Selbst verdankt.

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Der Begriff eines jeden vernünftigen Wesens, das sich durch alle Maximen seines Willens als allgemein gesetzgebend betrachten muß, um aus diesem Gesichtspunkte sich selbst und seine Handlungen zu beurtheilen, führt auf einen ihm anhängenden sehr fruchtbaren Begriff, nämlich den eines Reichs der Zwecke. 121

Das Autonomieprinzip soll daher zu einem Reich 122 der Zwecke als systematischem Ganzen aller Zwecksetzungen führen, weil jedes endliche Vernunftwesen als selbstgesetzgebend gedacht werden müsse und daher eine vernünftig-harmonische Zusammenstimmung aller Vernunftzwecke als Ideal vorgestellt werden könne. In der RZF soll die Maximenbestimmung nicht allein durch allgemeine Gesetzmäßigkeit, sondern durch eine zusätzliche materiale Bestimmung restringiert werden: »handle nach Maximen eines allgemein gesetzgebenden Gliedes zu einem bloß möglichen Reiche der Zwecke, in seiner vollen Kraft, weil es kategorisch gebietend ist.« 123 Die aus der Autonomie der Vernunftwesen resultierenden Gesetze implizierten unter Berücksichtigung der in der SZF ausformulierten Idee der Selbstzweckhaftigkeit aller Vernunftwesen notwendig einen wechselseitigen Bezug dieser Wesen aufeinander als (Selbst-)Zweck und Mittel, sodass daraus das Ideal 124 einer rationalen Relation aller vernünftigen Zwecke ableitbar S.: GMS AA IV, S. 433. Der Begriff eines ›Reichs‹ bezeichnet für Kant einen primär strukturell spezifizierten Bereich: »Ich verstehe aber unter einem Reiche die systematische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze.« S.: GMS AA IV, S. 433. Zumindest in der GMS versteht Kant darunter offenbar nicht nur den Bereich moralischer Zwecke, sondern die Dimension der Zwecksetzung als solche; vgl.: GMS AA IV, S. 434. 123 S.: GMS AA IV, S. 439. 124 In diesem Zusammenhang gilt es zwischen zwei Verständnisweisen des Begriffs ›Ideal‹ zu unterscheiden: Während Kant an späterer Stelle der GMS (GMS AA IV, S. 462) von der reinen Verstandeswelt bzw. der intelligiblen Welt als Ideal spricht und damit aber nur die empirische Unzugänglichkeit, nicht jedoch deren Nicht-Existenz begrifflich erfassen will, bedeutet ›Ideal‹ im Kontext des Reichs der Zwecke, dass dieses Reich in moralischer Hinsicht zwar existieren sollte, de facto jedoch eine bisher nicht verwirklichte Vorstellung darstellt. Dies liegt schon in seinen anspruchsvollen Existenzbedingungen begründet, da eine vollkommene Verwirklichung dieses Reichs eine kontinuierliche Orientierung aller autonomen Vernunftwesen am Sittengesetz zur Voraussetzung hat. Natürlich ist die Annahme der Existenz einer intelligiblen Welt somit eine notwendige Voraussetzung des Reichs der Zwecke, doch reicht die bloße Potentialität zur moralischen Willensbestimmung nicht aus, um dieses Reich tatsächlich wirklich zu machen; vgl.: GMS AA IV, S. 438. 121 122

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sei. Ein interpretatorisches Problem stellt dabei der Sachverhalt dar, dass Kant an dieser Stelle sowohl von der Notwendigkeit einer Abstraktion von allen Privatzwecken der Vernunftwesen spricht als auch die »eigenen Zwecke, die ein jedes [Vernunftwesen, Einfügung C. B.] sich selbst setzen mag« 125 zum intendierten Ganzen der Zwecke hinzuzählt. 126 Ein plausibler Grund für den vergleichsweise schnellen Übergang von der AF zur RZF ist darin zu sehen, dass Kant am Ende der Darstellung der verschiedenen KI-Formulierungen von drei Arten der Vorstellung des Sittlichkeitsprinzips spricht und dabei nur die UF, SZF und RZF statt der AF anführt, wobei RZF die Synthese aus der UF und SZF sein soll. Diese Vermutung wird noch dadurch bestärkt, dass Kant den Autonomiegedanken explizit in RZF eingegliedert hat, indem er die vollständige Bestimmung der Maximen dadurch charakterisiert, »daß alle Maximen aus eigener Gesetzgebung zu einem möglichen Reich der Zwecke, als einem Reiche der Natur, zusammenstimmen sollen.« 127 Kant spricht hier nicht nur von dem Reich der Zwecke, sondern spezifiziert dies zugleich in dem darauf folgenden Zusatz, dass dieses als ein Reich der Natur gedacht werden solle. 128 Der Ursprung der RZF S.: GMS AA IV, S. 433. Der Unterschied von privaten und eigenen Zwecken wird nicht genauer erläutert, weshalb beide Aussagen in ihrer gleichzeitigen und uneingeschränkten Behauptung widersprüchlich erscheinen; vgl.: Schönecker/Wood 2002, S. 158 Anm. 87. 127 S.: GMS AA IV, S. 436. 128 Die Beantwortung der Frage nach der Bedeutung dieses Zusatzes expliziert nach Schönecker und Wood den tieferen Sinn der Vorstellung der Verknüpfung, die zwischen den Vernunftwesen herrschen soll: Nicht allein die Tatsache, dass jedes Vernunftwesen bei seiner Zwecksetzung die Zwecksetzungsfähigkeit und die konkreten Zwecke der anderen Vernunftwesen zu achten und bei seiner eigenen Zwecksetzung zu beachten habe, sondern erst die gemeinsame Zielsetzung des harmonischen, gemeinschaftlichen Zusammenlebens stelle nach Kant die volle inhaltliche Bestimmung des Ideals des Reichs der Zwecke dar. Dies ist zwar eine plausible Deutung, doch scheint Kant in anderen Passagen unter dem Konzept des Reichs der Zwecke auch nur die reine Verstandeswelt und damit die rationale Kompatibilität der Vernunftwesen und ihrer Zwecke zu verstehen: »Nun ist […] eine Welt vernünftiger Wesen (mundus intelligibilis) als ein Reich der Zwecke möglich und zwar durch die eigene Gesetzgebung aller Personen als Glieder.« S.: GMS AA IV, S. 438. Kant erläutert die Analogie des Reichs der Zwecke zum Reich der Natur dergestalt, dass die grundlegende gemeinsame Eigenschaft beider Reiche in ihrer Regelung durch allgemeine, wenn auch natürlich verschiedene Gesetzmäßigkeiten besteht. Der Begriff des ›Reichs‹ könne dabei in der Weise auf die Natur angewandt werden, dass ein Verständnis der Natur als auf Vernunftwesen als ihr Zweck hingeordnetes, demnach teleologisches Ganzes möglich sei; vgl.: GMS AA IV, S. 438. Offenbar unterscheidet Kant grundsätzlich zwar zwischen einer Idee und einer anzu125 126

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ist dabei eindeutig die Selbstzweckformel, denn der Gedanke des Reichs der Zwecke entspringt nach Kant dem Gebot, jedes Vernunftwesen als Selbstzweck zu achten. 129 Überhaupt stellt die RZF grundsätzlich eine Explikation der SZF dar, denn zumindest der Bezug auf andere Vernunftwesen war bereits im Konzept der Selbstzweckhaftigkeit und des Instrumentalisierungsverbots 130 impliziert. Zwischenfazit Im Ausgang von Kants Textgrundlage legt sich eine Rekonstruktionsperspektive nahe, welche dem Selbstzweck der Menschheit in grundsätzlicher Übereinstimmung mit Autoren wie Korsgaard, Horn und Wood (SD-These), Herman und Cummiskey (T-/K-These) sowie in partieller Absetzung von Trampota (D-These) zum einen die Funktion eines höherstufigen, aber dennoch anzustrebenden Vernunftzwecks, zum anderen diejenige eines ebenso nicht-optionalen, da wesenscharakteristischen Handlungsgrundes zuerkennt. Der bisher konstatierbare Unterschied von Vernunftzweck und Handlungsgrund besteht darin, dass die Menschheit als höchststufiger (Selbst-)Zweck aller Willensbestimmungen zumindest indirekt als zu beförderndes und zu verwirklichendes Ziel aufgefasst werden kann, während Menschheit als apriorischer Handlungsgrund nicht als übergeordnete Zweckstruktur, sondern allenfalls als durch Handlungen unzugängliche, ihnen praktisch-präsuppositionslogisch vorgeordnete Bedingung von moralisch qualifizierbarer Akteuridentität rekonstruierbar zu sein scheint. 131 Zwar mag die RZF die moralphilosophisch reichhaltigste Formulierung des KI darstellen, doch steht die SZF zu Recht im Mittelpunkt speziell der ethiktypologischen Diskussion, da sich in dieser Konzeption die typologisch relevanten Merkmale des Werts und der Zweckhaftigkeit sowie die für Kants Ethik in struktureller Hinsicht maßgebliche Idee der Selbstreferentialität in engster und somit für Kants Denken charakteristischer Verbindung miteinander ausmachen lassen. Diese Überlegungen führen uns zur Frage nach dem Zusammenhang der KI-Forstrebenden Realität des Reichs der Zwecke, doch besteht die umfassende Vorstellung dieser Konzeption in ihrer auch empirischen Verwirklichung. 129 Vgl.: GMS AA IV, S. 433. 130 Vgl. dazu die Kritik an Tugendhats einseitigem Verständnis von SZF in: Horn 2004, S. 205 Anm. 29. 131 Dieser letzten Auffassung des Selbstzwecks wird genauer in Kapitel V.1.2.3.1 dieser Studie nachgegangen.

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mulierungen und damit einhergehend zur Behandlung des Problems der kantischen These der Veranschaulichungsfunktion speziell der Selbstzweckformel. V.1.2.2 Die systematische Relation der KI-Formulierungen Die bereits erwähnte, von Kant konstatierte Form des Zusammenhangs der KI-Formulierungen wurde in jüngerer Zeit von Sala in kritischer Weise analysiert. Nach Sala könne man gegen Kant keineswegs von der inhaltlichen Gleichheit speziell der UF/NF und der SZF ausgehen. 132 Die Selbstzweckformel sei nicht nur nicht in den vorherigen Formulierungen impliziert, sondern Kant ginge mit ihr über seinen bisherigen Formalismus hinaus und vollziehe den Schritt zu einer inhaltlichen Wertethik. 133 Salas Interpretation der Stellung und Relevanz der Selbstzweckformel ist klar gegen die eher auf die UF/NF konzentrierte Deutungsrichtung gerichtet, welche die SZF als systematisch fruchtlos, überflüssig oder ganz einfach als strikt zu vermeidenden Rückfall Kants in teleologische Denkmuster aufgefasst hat. 134 Allerdings begreift Sala die ›Ganzheit‹ des Menschen als von Kant vorausgesetztes Gut, demgemäß das moralische Sollen bestimmt werden müsse, sodass seine Favorisierung der SZF auf Vorstellungen zu beruhen scheint, welche sich in dieser Form nicht aus der genuin kantischen Selbstzweckkonzeption ergeben. Der problematische Eindruck von Salas SZF-Rekonstruktion bestätigt und verstärkt sich, wenn man seinen zusammenfassenden Kommentar zur strukturellen Besonderheit der SZF gegenüber der UF/NF betrachtet: »Gut, und deswegen Gesolltes, ist das, was zum Menschen in seiner Ganzheit passt. Damit schließt sich Kant an die herkömmliches Lehre vom Menschen als ›norma obiecta 132 In differenzierter Form wird die These der extensionalen Äquivalenz von O’Neill vertreten; vgl.: O’Neill 1989, S. 141 f. Vgl. zur Ablehnung der These einer möglichen oder tatsächlichen Ableitung der SZF aus der UF: Wolff 1973, S. 50. 133 »[…] diese Formel bringt etwas wesentlich Neues in die Prinzipienlehre Kants, das nicht aus der ersten Formel ableitbar ist, der gegenteiligen Selbstinterpretation Kants zum Trotz. Mit ihr geht Kant von einer inhaltsleeren Allgemeinheit des moralischen Gesetzes zu einer ›materialen Wertethik‹ über, in deren Mittelpunkt der Mensch als Zweck an sich selbst und damit als Person steht: […].« S.: Sala 2004, S. 106. 134 Vgl. zu diesen Positionen: Horn 2004, S. 197. Eine Alternative zu diesen Möglichkeiten stellt z. B. Schmuckers Position dar, die zwar an der Bezeichnung des Formalismus festhält, diesen jedoch angesichts der SZF und der RZF sowohl in der GMS als auch der KpV mit dem metaphysischen Fundament der selbstzweckhaften Person korreliert versteht; vgl.: Schmucker 1955, S. 200.

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moralitatis‹ an […].« 135 Auch wenn Sala mit der Redewendung der ›Ganzheit des Menschen‹ einen gewissen Anschlusspunkt an Kant für sich in Anspruch nehmen kann, 136 ist eine Deutung der SZF unplausibel, die Kant unterstellt, dass er damit ausdrücken wolle, der Mensch sei vorgegebener Maßstab des Moralischen, weil er nun einmal (zufällig?) als moralischer Gesetzgeber fungiere. 137 Entweder man begreift die SZF als Explikation des materialen Gehalts einer apriorischen Vernunftethik oder man sieht in der Selbstzweckidee mit Sala eine dem Moralischen vorgeordnete und somit offenbar vom Moralischen unterschiedene Struktur, welche dann zumindest als funktionales Äquivalent zum Guten in am Nicht-Moralischen orientierten teleologischen Ethiken aufgefasst wird. 138 Diesbezüglich muss hinterfragt werden, ob Kants Ethik auf der Ebene der fundamentalen Begründungsreflexion in ihrer Komplexität überhaupt mit der klassischen Dichotomie von Richtigem (Moralisches als Gesetz/ Pflicht) und Gutem (Moralisches als Zweck/Wert) adäquat beschrieben werden kann. Vielmehr scheint Kant mit der noch näher aufzuweisenden Doppelfunktion des Selbstzwecks ausdrücken zu wollen, dass Moralisches (apriorischer Bestimmungsgrund des Willens) und Gutes (anzustrebender/zu verwirklichender Zweck) keine reinen Gegensätze, sondern zumindest im Rahmen der basalen praktischen Geltungs- und Begründungsreflexion auf eigentümliche Art und Weise miteinander verwoben sein müssen, was zum zweiten Mal auf einen möglicherweise wahren Kern der SKOM-These von Baumanns hinweist. Allerdings lassen sich neben der SZF auch die AF und RZF nicht direkt aus der UF/NF ableiten. Wie schon erwähnt wurde, ist von Autonomie in beiden Formulierungen keine Rede, und auch implizit findet man diese Idee nicht vor. 139 Im Gegenteil: Das vollständige Fehlen S.: Sala 2004, S. 106. Dies gilt hinsichtlich der Konzeption des höchsten Guts als moralisch adäquater Vereinigung von Sittlichkeit und Glückseligkeit, welche in anthropologischer Perspektive als Ganzheit des Menschen bezeichnet werden kann. 137 Vgl. zum Menschen als dem KI vorgegebenen Zweck: Sala 2004, S. 107. An dieser Stelle muss an die hinsichtlich der Verhältnisbestimmung von praktischer Vernunft und Anthropologie zentrale Passage aus der GMS erinnert werden, in der Kant vor der Deduktion des Kategorischen Imperativs aus der spezifisch menschlichen Natur warnt; vgl.: GMS AA IV, S. 425 f. 138 Beide Möglichkeiten stellen sich nur unter derjenigen Bedingung nicht als Alternativen zueinander dar, dass die Ganzheit des Menschen als Vernunftnatur begriffen wird. 139 Wimmer stuft dieses Problem als insgesamt weniger dramatisch ein, auch wenn er 135 136

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des Autonomiegedankens erweist die UF/NF als unentwickelte Formen des Kategorischen Imperativs. Deontologische Interpretationen, welche sich allein oder vorrangig auf die UF/NF berufen, stehen daher auf dünnem Eis. Der Übergang von der SZF zur RZF ist dagegen ein naheliegender Schritt, da die RZF letztlich identisch ist mit einer Form der SZF unter Berücksichtigung der Vielheit der mit praktischer Vernunft begabten endlichen Wesen. Der in ethiktypologischer Hinsicht primär relevante Einschnitt in der Reihe der KI-Formulierungen findet jedoch zwischen der UF/NF und der SZF statt: Die Selbstzweckformel zeichnet sich dabei sowohl durch die explizit materiale Bestimmung als auch durch die ebenfalls in der AF konstatierbare, obzwar dort zumindest oberflächlich formale Strukturkomponente der Selbstreferentialität aus. 140 In ethiktypologischer Hinsicht muss daher konstatiert werden, dass Kant seinen Kategorischen Imperativ de facto als auch material bestimmte Struktur entwickelt hat, wobei er dadurch insofern nicht in Konflikt mit seinem schon in vorkritischer Zeit internalisierten Ideal unbedingter praktischer Geltung oberster Moralgesetze gerät, als es beim Selbstzweck der Menschheit nicht um einen natürlichen, d. h. nicht-vernünftigen und somit empirisch vorgefundenen, sondern um einen durch Vernunft erzeugten Zweck handelt, der dementsprechend als durch Vernunftreflexion begründet und dadurch überhaupt erst als unbedingt verbindlich gedacht wird. Dieser Zweck kann trotz seiner Materialität im Sinne Kants insofern auch als formal-teleologischer Restriktionsrahmen fungieren, als er in Relation zu empirisch bestimmten Zwecksetzungen betrachtet, bei jedem einzelnen Zwecksetzungsakt respektiert und auf diese Weise immer auch zumindest implizit verfolgt wird. 141 Gegen die streng deontologische Deutung Trampotas muss dabei wiederholt auf den Umstand verwiesen werden, speziell im Rahmen der Naturgesetzformel ebenfalls auf das Fehlen der AutonomieIdee aufmerksam macht; vgl.: Wimmer 1980, S. 177; vgl. zu dieser Problematik (jedoch im Kontext der Erörterung der RZF): Reich 1935, S. 46 f. Allerdings begreift Wimmer Kant so, dass dieser durch die in der NF verwendete Formulierung des ›als ob‹ den angesprochenen Unterschied zwischen Naturgesetzen und autonomer Vernunftgesetzgebung markiert habe. 140 In einer ersten Annäherung kann man diesen Selbstbezug im Falle der AF im Unterschied zur Oberflächenstruktur der SZF als ›nomothetische Selbstreferenz‹ bezeichnen. 141 In gewisser Weise kommt hier die in aller Deutlichkeit von Hegel artikulierte Einsicht zum Tragen, dass Formalität und Materialität nicht absolute kategoriale Bezugsmomente darstellen, sondern immer als letztlich perspektiven- bzw. reflexionsstufenrelative Merkmale fungieren. A

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dass die Annahme einer prinzipiellen Zwecklosigkeit der einzelnen Zwecksetzungsakte endlicher Vernunftwesen vor dem Hintergrund der handlungstheoretischen Prämissen Kants logisch zwingend die Verunmöglichung, d. h. Negation freier Akte überhaupt implizieren würde, weil allein schon die Restriktionsbeachtung bei der Zwecksetzung eine Handlung sein soll, dies ohne jeden Zweck nach Kant aber nicht kann. Daher erscheint es nicht nur nicht widersprüchlich, sondern vielmehr konsistent, wenn Kant in der SZF einen moralischen Zweck postuliert. Darüber hinaus ist jedoch auch der Kontext der Einführung der SZF in der GMS von nicht zu unterschätzender Bedeutung, denn dort (und auch in der KpV) geht Kant ebenfalls einen entscheidenden Schritt über das in diesem Werk bisher Entwickelte hinaus, indem er sich einem vorher nur implizit bleibenden Thema widmet: Der Frage nach dem Grund des Kategorischen Imperativs. V.1.2.3 Der Grund des Kategorischen Imperativs Entgegen der starken Fokussierung vieler Darstellungen auf den Kategorischen Imperativ 142 lässt Kant in der GMS keinen Zweifel daran, dass weder das Sittengesetz noch dessen spezifisch auf endliche Wesen hin modifizierte Form des Kategorischen Imperativs eine fundamentale moralphilosophische Begründungsleistung zu erbringen hat. Zwar begründet der KI und damit auch das Sittengesetz die Pflichten dergestalt, dass sie sich in bestimmter Weise vom Kategorischen Imperativ ableiten lassen müssen, doch bleibt damit noch die Frage offen, welche praktisch-geltungstheoretische Struktur dem KI selbst zugrunde liegt, wenn dieser sich nicht selbst fundieren soll. Nun könnte man nicht zuletzt aufgrund der in die Idee des Kategorischen Imperativs implementierten Struktur der Selbstreferentialität annehmen, dass zumindest im Falle der SZF, RZF und AF genau dies Kants Position sei: Der in diesen Formulierungen präsente Selbstzweck der Menschheit könne nicht weiter begründet werden, da andernfalls das Merkmal der intrinsischen Werthaftigkeit als axiologische Umformulierung des der Idee des Selbstzwecks inhärierenden Selbstbezugs unterminiert würde, son-

142 Dies mag ein nicht unwichtiger Grund für die im Kontext von Kant-Interpretationen zuweilen anzutreffende begründungstheoretische Umdeutung der ethiktypologischen Termini Broads darstellen.

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dern fungiere seinerseits als praktische (Letzt-)Begründung. Dass dies auf bestimmte Art und Weise zutrifft, die Lage zugleich jedoch komplizierter ist, zeigt Kant explizit an, wenn er in der berühmten Stelle kurz vor der Formulierung der SZF und nach der Darstellung der Abhängigkeit der hypothetischen Imperative von nur relativen Zwecken auf eben diese Begründungsthematik reflektiert: Gesetzt aber, es gäbe etwas, dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Werth hat, was als Zweck an sich selbst ein Grund bestimmter Gesetze sein könnte, so würde in ihm und nur in ihm allein der Grund eines möglichen kategorischen Imperativs, d. i. praktischen Gesetzes, liegen. Nun sage ich: der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existirt als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden. 143

Diese für die Ethikbegründung in der GMS als Kernstelle zu bezeichnende Passage verbindet eine Reihe von Hauptbegriffen der moralphilosophischen Systematik Kants in einer Weise, die sie als Antwort auf die Frage nach dem Grund unbedingt verbindlicher Imperative ausweist. Das erste interpretationsbedürftige Begriffselement ist dabei der Begriff des ›Grunds‹ 144 – in der zweiten Kritik differenziert Kant 143 S.: GMS AA IV, S. 428 f. Eine weniger beachtete Formulierung zumindest eines Aspekts des oben genannten Gedankens findet sich in der Vorlesung Powalski. Dort reflektiert Kant über die Frage der Ursprünglichkeit des Moralgesetzes und beantwortet sie auf eine Art und Weise, die darauf schließen lässt, dass er keinen grundsätzlichen Widerspruch in der gleichzeitigen Behauptung der geltungstheoretischen Eigenständigkeit des Moralgesetzes und dessen Gegründetsein in etwas anderem als ihm selbst sah: »Hier ist eine Frage ob die moralischen Gesezze ursprünglich sind? Sie sind an und vor sich selbst beständig, sie sind ursprünglich und gründen sich auf nichts als auf ein daseyn.« S.: Vorlesung Powalski AA XXVII, S. 135. Dass mit diesem Dasein nicht dasjenige der Gesetze selbst, sondern vielmehr des axiologisch qualifizierten Akteurs gemeint ist, kann wiederum aus den diesbezüglich relevanten Passagen der GMS geschlossen werden. Andernfalls müsste man von Kant die Aussage erwarten, dass sich die Gesetze auf nichts als auf ihr eigenes Dasein im Sinne ihrer absolut unabhängigen Geltung gründeten. 144 Die Annahme, dass es sich in diesem Zusammenhang um einen kausalen und nicht epistemischen Begriff handeln könnte, scheint mir insofern unplausibel zu sein, als sich die gesamte Diskussion im Bereich des Moralischen vollzieht und dieser nach Kants Begriff der negativen Freiheit aus der KrV nicht vom Naturdeterminismus abhängt. Kant geht es offensichtlich nicht um Fragen der Verursachung, sondern um moralphilosophische Geltungs- bzw. Rechtfertigungsprobleme. Zumindest tendenziell problema-

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im terminologischen Anschluss an die Leibniz-Wolff-Schule 145 zwischen einem Erkenntnis- und einem Seinsgrund, und zur weiterführenden Auslegung des herangezogenen Zitats muss sichergestellt sein, welche Art von Grund hier gemeint ist. 146 An dieser wichtigen Stelle der KpV 147 geht Kant auf die praktische Freiheit als Bedingung für das Sittengesetz ein und fühlt sich in diesem Kontext genötigt, auf den von J. F. Flatt in seiner Rezension der GMS erhobenen Einwand zu antworten, dass die Behauptung der unbedingten Geltung des Sittengesetzes einerseits und diejenige seiner Bedingtheit durch Freiheit andererseits die Struktur einer petitio principii 148 impliziere. Kants Antwort besteht bekanntlich in dem Verweis darauf, dass das Sittengesetz der Erkenntnisgrund (ratio cognoscendi) der Freiheit, die Freiheit jedoch der Seinsgrund (ratio essendi) des Sittengesetzes sei, sodass sich die jeweiligen Bedingungsrelationen hinreichend voneinander unterscheiden, um besagte petitio vermeiden zu können: Während das Bewusstsein des Sittisch ist in diesem Kontext der Umstand, dass Kant nicht immer explizit zwischen Grund und Ursache differenziert; vgl.: Timmermann 2003, S. 29 Anm. 2. 145 Vgl. dazu in historischer Perspektive: Patzig 1981, S. 125–140. 146 Freilich findet sich diese Differenzierung bereits beim vorkritischen Kant, und zwar in der ›Nova Dilucidatio‹ : »Determinare est ponere prädicatum cum exclusione oppositi. Quod determinat subiectum respectu prädicati cuiusdam, dicitur ratio. Ratio distinguitur in antecedenter et in conseqünter determinantem. Antecedenter determinans est, cuius notio präcedit determinatum, h. e. qua non supposita determinatum non est intelligibile. Conseqünter determinans est, quä non poneretur, nisi iam aliunde posita esset notio, quä ab ipso determinatur. Priorem rationem etiam rationem cur s. rationem essendi vel fiendi vocare poteris, posteriorem rationem quod s. cognoscendi.« S.: Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio AA I, S. 391 f. Der Seinsgrund wird im Fortgang dieser Untersuchung in Absetzung von Leibniz-Wolff und in Anlehnung an Crusius als bestimmender Grund aufgefasst. 147 Vgl.: KpV AA V, S. 4 Anm. Wenn man diese Stelle aus der KpV zur Erläuterung des vorherigen Zitats aus der GMS heranzieht, ist zu beachten, dass Kant beim GMS-Zitat über den Grund des Kategorischen Imperativs und in der KpV-Stelle über die Bedingung des Sittengesetzes reflektiert. Auch wenn hier keine exakte terminologische Übereinstimmung vorliegt, ist eine reflektierte Zusammenschau beider Passagen insofern gerechtfertigt, als einerseits auch der KI in der GMS von einer Art (personalem bzw. personalisiertem) Seinsgrund bedingt und das Sittengesetz in der KpV andererseits durch ein an anderen Stellen des kantischen Werks eindeutig axiologisch konnotiertes Konzept begründet werden soll. Freilich sind Person und praktische Freiheit nicht identisch, sondern Freiheit ist die Ermöglichungsbedingung und zugleich ein konstitutives Merkmal von Akteuren als willensbegabten Handelnden. Enger verbunden sind dagegen Freiheit, Autonomie und Persönlichkeit. 148 Vgl. zur Natur dieses Zirkelproblems: Schönecker 1999, bes. S. 329 ff.

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tengesetzes den Schluss auf die Rechtmäßigkeit der Annahme der Freiheit des Akteurs impliziere, scheint ein Seinsgrund nach Kant insofern in einem stärkeren Sinne als Grund zu verstehen zu sein, als er nicht nur die Erkenntnis von Sachverhalten, sondern diese Sachverhalte, Entitäten etc. selbst bzw. die Annahme ihrer Existenz rational rekonstruierbar machen soll. Der im GMS-Zitat angeführte Grund des KI kann kaum ein Erkenntnisgrund sein, da zwar die Rede vom Sittengesetz als Erkenntnisgrund vor dem Hintergrund der in der KrV etablierten Erkenntnisrestriktionen schon Kant-immanent mit guten Gründen problematisiert werden kann, 149 die Behauptung einer ›Erkennbarkeit‹ des KI durch einen wie auch immer zugänglichen absoluten Wert jedoch mindestens ebenso spekulativ wäre. 150 Vielmehr scheint Kant mit dem Grund des KI in der GMS einen Geltungsgrund151 zu bezeichnen, der die unbedingte praktische Geltung des Kategorischen Imperativs präsuppositionslogisch fundieren soll. Daran anschließend stellt sich unmittelbar die Frage, in welcher Relation diese Formulierung des Geltungsgrundes zur Formulierung des Seinsgrundes in der KpV steht. Damit sind wir bei der übergeordneten Problematik der systematischen Beziehung der beiden Passagen der GMS und KpV angelangt. 152

149 Um diese Problematik einer fehlenden korrespondierenden Anschauung sehr wohl wissend, spricht Kant auch nur davon, dass das Sittengesetz durch Vernunftakte gedacht und nicht im vollen Sinne dieses Begriffs erkannt werde. 150 Abgesehen davon spricht allein schon die hypothetische Ausdrucksweise Kants gegen eine epistemologische Verständnisweise des Grund-Begriffes, da es Kant zumindest in der entsprechenden Reflexion in der KpV nicht um eine Fiktion möglicher Erkenntnisgründe, sondern einzig und allein um eine Klärung fundamentaler Bedingungsrelationen geht. 151 Nur, wenn man auch den Begriff des ›Erkenntnisgrunds‹ aus der KpV als präsuppositionslogisch notwendigen Rechtfertigungsgrund für die Annahme der Geltung bestimmter Sachverhalte (in diesem Fall: der Annahme der praktischen Freiheit des Akteurs) deutet, sind ratio cognoscendi und das hier Intendierte gleichbedeutend. Diese Strategie suggeriert jedoch letztlich zumindest eine tendenzielle Auflösung der Differenz beider Grundarten, welche gegen Kants Wortlaut eigens gerechtfertigt werden müsste. Eher besteht hier die Möglichkeit einer Parallelisierung von Geltungs- und Seinsgrund, da Kant in der GMS die Geltung des KI mit dem Verweis auf ihre Gründung in einem Dasein rechtfertigt. In der KpV dagegen wird die Freiheit als Seinsgrund nicht begründungsfunktional, sondern in Abhängigkeit vom Faktum der Vernunft eingeführt; vgl. dazu Kapitel V.1.2.3.2 dieser Untersuchung. 152 Dabei gehe ich nicht von der starken Annahme aus, dass beide Stellen nur unter Berücksichtigung der jeweils anderen Passage verständlich sind, auch wenn ich eine systematische Parallelisierung für fruchtbar halte.

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Bekanntlich ist die Frage seit langem umstritten, wie Kants Begründungsversuche seiner Ethik in der GMS und KpV zu verstehen und wie sie zueinander in Beziehung zu setzen sind. 153 Diese komplexe Problematik kann an dieser Stelle nicht in ihrer Tiefe erörtert oder gar geklärt werden, doch ist es für eine ethiktypologische und somit strukturreflexive Diskussion der kantischen Ethik notwendig, neben der Oberflächenstruktur auch die wichtigsten Strukturmomente der fundamentalen Begründungsebene zu bestimmen und zu den anderen Elementen in einen strukturellen Zusammenhang zu bringen. Dies ist der Fall, weil deontologische Interpretationen vor allem von Hermans, Guyers sowie Schöneckers und Woods Verweisen auf die werttheoretischen Grundlagen der kantischen Ethik herausgefordert werden. Zur Analyse der Stichhaltigkeit insbesondere der kritischen Positionen Hermans und Guyers, aber auch der deontologisch anmutenden Interpretation Korsgaards muss geklärt werden, auf welcher Reflexionsebene die jeweils konstatierten axiologischen Strukturen anzusiedeln sind und welche Funktion sie innerhalb der moralphilosophischen Systematik Kants innehaben. Die virulente Frage nach der Funktion axiologischer Strukturen bei Kant ist dabei keinesfalls einfach zu beantworten; dies soll hier auch noch nicht abschließend versucht werden. Allerdings stellt die folgende Reflexion auf einen Zusammenhang von werttheoretischen Überlegungen Kants mit der Frage nach dem Grund des Kategorischen Imperativs schon eine Perspektive in Aussicht, welche im Schlusskapitel dieser Untersuchung wieder affirmativ aufgegriffen wird. Bei der soeben erwähnten Kontroverse handelt es sich genau genommen zumindest nicht primär um die Diskussion der von mir angeführten Stellen der beiden Werke, sondern um die Deduktion des Sittengesetzes in der GMS und die Faktumslehre der KpV. Zwar geht es bei der Deduktion, doch nicht in der Faktumslehre explizit um den Zusammenhang von absolutem Wert, Selbstzweck und Geltung des Kategorischen Imperativs, was drei Fragen nahe legt: 1. Warum spricht Kant in der GMS neben der Deduktion noch von einem Grund des Kategorischen Imperativs und behandelt diese Thematik unter Rückgriff auf eindeutig axiologische Termini, die traditionell eher teleologischen Ethiken oder zumindest nicht-deon153 Vgl. dazu: McCarthy 1983, S. 169 f.; vgl. vor allem zu den Unterschieden von Deduktion und Faktumslehre: Schönecker 1999, S. 282 und S. 309 ff.

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tologischen Modellen zugeordnet werden, wenn die Deduktion des Sittengesetzes und nicht seine Axiologie das entscheidende Fundament der ethischen Begründungskonzeption, seiner ›Grundlegung einer Metaphysik der Sitten‹ darstellt? 154

154 Nichts anderes kann man aus der Flut von Veröffentlichungen zur Deduktion schließen. Viele Analysen behandeln diese Thematik ohne Reflexion auf den systematischen Konnex von Axiologie und normativer Ethiktheorie. Einige wenige Beispiele sollen diese These verdeutlichen: In seiner handlungstheoretischen Rekonstruktion versteht Willaschek die Frage nach der Möglichkeit der Imperative als Problematisierung ihrer jeweiligen Geltung; vgl.: Willaschek 1992, S. 78. Allerdings schreibt er Kant im Ausgang von dessen Aussage, dass ein Imperativ der sprachliche Ausdruck eines Gebots und dieses die praktisch-normative Vorstellung eines objektiven Prinzips sei, die These zu, dass der letzte Geltungsgrund auch vom Kategorischen Imperativ allein im ihm zugrundeliegenden objektiven Prinzip zu suchen sei. Willaschek führt nun GMS AA IV, S. 421 an, wo Kant die UF als das die anderen Formulierungen fundierende Prinzip bezeichnet. Wenn die UF, die selbst nur ein Imperativ ist, als Begründungsstruktur für die übrigen Formen des KI verstanden wird, liefe die kantische Argumentation (abgesehen von der Problematik der UF-basierten Ableitung der SZF) auf einen Zirkel (noch nicht auf vernunftnotwendige Selbstbezüglichkeit z. B. im Sinne Steigleders) hinaus, da ein Imperativ andere Imperative begründen würde. Dieser Gedankengang wird von Willaschek jedoch nicht explizit verfolgt. Indikativisch laute die UF nach ihm folgendermaßen: »Wer einen Zweck will, der handelt (sofern die reine Vernunft auf seine Handlungen entscheidenden Einfluß hat) nur nach derjenigen Maxime, von der er zugleich wollen kann, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.« S.: Willaschek 1992, S. 78 f. Dabei habe Kant sich nicht genauer über den Übergang vom deskriptiven Sittengesetz zum normativen moralischen Imperativ geäußert. Allerdings könne man davon ausgehen, dass Kant den spezifischen Konnex von Vernunft und Imperativ als »Grundaxiom der Praktischen Philosophie« angesehen hätte und demnach gelte: »Was zu tun vernünftig ist, das soll ein vernünftiges Wesen auch tun.« Dieser theoretische Sachverhalt sei ein »irreduzibles Faktum, das einer Begründung weder bedarf noch fähig ist.« S.: Willaschek 1992, S. 79. Zwar verweist er auf einen Zusammenhang dieser Reflexionen zur Faktumslehre, doch spielt das Phänomen der axiologischen Bedingungen moralischen Sollens und deren Rekonstruktion bei Willaschek explizit keine Rolle. Auch bei Freudigers Deduktionsrekonstruktion wird die Frage nach der Möglichkeit Kategorischer Imperative unter Absehung von der kantischen Wertthese behandelt; vgl.: Freudiger 1993, S. 92 ff. Auf die nachteiligen Konsequenzen dieses Sachverhalts für die Plausibilität von Freudigers Interpretation werde ich im Folgenden noch genauer zu sprechen kommen. In der mittlerweile klassisch zu nennenden Studie Henrichs zur Deduktion in der GMS finden sich zwar zahlreiche tiefblickende Problemaufwürfe und fruchtbare Reflexionen, jedoch keine Interpretation unter axiologischen Gesichtspunkten; vgl.: Henrich 1975. Als Ausnahme ragt in neuerer Zeit insbesondere Schöneckers Rekonstruktion heraus, der mit aller Klarheit auf den begründungstheoretischen Konnex von Deduktion und absolutem Wert des eigentlichen Selbst des Vernunftwesens reflektiert; vgl.: Schönecker 1999, S. 51 ff.

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2. In welcher Beziehung steht die These von der Freiheit als Seinsgrund des Sittengesetzes zur Faktumslehre der KpV? Schließlich ergibt sich vor unserem übergeordneten Erkenntnisinteresse die auf die Relation von Frage 1 und 2 gerichtete Frage: 3. Welche systematische Relation besteht zwischen der in der GMS etablierten Konzeption absoluten Werts und dem Faktum der Vernunft der KpV? Besondere Aufmerksamkeit werde ich der Behandlung der ersten Frage widmen, da ich die GMS neben der KpV als ein Referenzwerk für Kants kritische Wertprämissen auffasse. Die zweite Frage setzt eine Auseinandersetzung mit der Faktumslehre und zudem mit dem Freiheitsbegriff voraus, wobei der Freiheitsbegriff im Rahmen vorliegender Untersuchung in seiner definitiven Form erst im Wertkapitel V.3.1 erläutert werden kann. Das letzte Problem des Zusammenhangs der Wertkonzeptionen der GMS und der Faktumslehre der KpV kann an dieser Stelle erst nur tentativ, später jedoch (Kapitel VIII) expliziter behandelt werden. V.1.2.3.1 Die Funktion der Axiologie bei der Deduktion des Sittengesetzes in der GMS Um eine nachvollziehbare Verhältnisbestimmung von Deduktion und axiologischer Begründung leisten zu können, muss auf die wichtigsten Elemente der Deduktion reflektiert werden, um die argumentative Relevanz der zuletzt zitierten Wertthese 155 diskutieren zu können. Die Deduktion des Sittengesetzes wird von Kant im Rahmen der Erläuterung der Möglichkeit eines Kategorischen Imperativs behandelt. 156 Ausgangspunkt des Deduktionsabschnitts ist die Erkenntnis, dass der Mensch offenbar moralisch handeln kann. Die diesbezüglich virulente Vgl.: GMS AA IV, S. 428 f. Die Bedeutung der Redewendung von der ›Möglichkeit des Kategorischen Imperativs‹ muss dabei dergestalt spezifiziert werden, dass Kant unter einer ›Deduktion‹ nicht das terminologische Äquivalent zu einem mathematischen Deduktionsverfahren, also die direkte Ableitung einer bestimmten Struktur aus gegebenen Axiomen bzw. Prämissen, sondern die Rückführung einer Struktur, in diesem Falle des unbedingten moralischen Verbindlichkeitsanspruches, auf ihren Geltungsgrund begreift; vgl.: KrV A 84/B 116; vgl.: Baumanns 2000, S. 48 f.; vgl. darüber hinaus Henrichs Bestimmung: »›Deduktion‹ heißt Herleitung aus einem Ursprung, und der Ursprung ist die innere Verfassung des erkennenden Subjekts.« S.: Henrich 1975, S. 86. Diese Begriffsbestimmung Henrichs geht allerdings schon über den eigentlichen Sinn dieses Terminus bei Kant hinaus, der ein juristischer ist; vgl.: KrV B 116 f.; Metaphysik Volckmann AA XXVIII, S. 399. 155 156

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Frage ist nun, warum er moralisch handeln soll, wobei Kant grundsätzlich davon überzeugt ist, dass allein schon das Moralisch-HandelnKönnen einen hinreichenden Grund für das Moralisch-Handeln-Sollen darstellt. Die Bedingung dafür besteht in einer gewissen Form der Identität von Moralisch-Handeln-Können und dem entsprechenden Sollen, um deren Nachweis sich Kant folglich bemüht. Der Kern der Argumentation kann zusammenfassend folgendermaßen rekonstruiert werden: Zu Beginn bezieht sich Kant auf die bisherigen Reflexionsresultate des 3. Abschnitts der GMS, indem er den Menschen als mit Vernunft, einem Vermögen reiner und vom Naturdeterminismus unabhängiger Selbsttätigkeit begabt beschreibt. Als ein solches (Vernunft-)Wesen müsse er sich als Intelligenz, 157 als Wesen der Verstandeswelt verstehen, 158 dessen Vernunfttätigkeit die Idee 159 der Freiheit voraussetze. Zu dieser Vernunfttätigkeit gehöre nicht nur die theoretische Reflexion, sondern auch und vor allem das Bewusstsein der eigenen Kausalität als Willen. Zugleich betrachte sich der Mensch als Sinnenwesen, welches bestimmte Handlungen unter dem Einfluss der Heteronomie, der Fremdbestimmtheit des Willens durch Neigungen und Begierden vollziehe. 160 Unter der alleinigen Perspektive seiner Identität als reines Verstandeswesen würden seine Handlungen »dem Princip der Autonomie des reinen Willens vollkommen

Vgl. zum Intelligenzbegriff bei Kant: Schönecker 1999, S. 276 ff. Während Kant noch in der KrV (B 574) von der menschlichen Selbsterkenntnismöglichkeit durch Apperzeption ausging, hält Kant in der GMS offenbar das bloße Denken seiner selbst als Intelligenz zum Zweck der Selbsteinordnung als Glied der intelligiblen Welt für hinreichend. 159 Kant behauptet vor dem Hintergrund der theoretischen Erkenntnisrestriktionen der KrV wohlgemerkt nicht die Existenz, sondern allein die Notwendigkeit der Annahme der Idee der Freiheit als Voraussetzung für menschliche Handlungen als von Willensakten konstituierten Prozessen: »Diesen Weg, die Freiheit nur als von vernünftigen Wesen bei ihren Handlungen bloß in der Idee zum Grunde gelegt zu unserer Absicht hinreichend anzunehmen, schlage ich deswegen ein, damit ich mich nicht verbindlich machen dürfte, die Freiheit auch in ihrer theoretischen Absicht zu beweisen. Denn wenn diese letztere auch unausgemacht gelassen wird, so gelten doch dieselben Gesetze für ein Wesen, das nicht anders als unter der Idee seiner eigenen Freiheit handeln kann, die ein Wesen, das wirklich frei wäre, verbinden würden.« S.: GMS AA IV, S. 448 Anm. Wenig später spricht Kant die Folgerung aus diesen Überlegungen in aller Deutlichkeit aus, wenn er zugibt, dass Freiheit nur eine Idee sei, »deren objective Realität an sich zweifelhaft ist«; s.: GMS AA IV, S. 455. 160 Vgl.: GMS AA IV, S. 453. 157 158

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gemäß sein«. 161 Da Freiheit und Moralität in einem analytischen Verhältnis zueinander stünden, verstehe demnach der Mensch, insofern er sich als Glied der intelligiblen Welt auffasse, das Sittengesetz und die Autonomie als Gesetzmäßigkeiten, die sein vernünftiges Wollen bestimmen. Die zentrale Passage der Deduktion, von Schönecker und Wood als ontoethischer Grundsatz bezeichnet, 162 soll die Antwort auf die Frage liefern, weshalb sich ein sowohl der Verstandes- als auch der Sinnenwelt zugehörig betrachtendes Wesen dem Sittengesetz und nicht dem Naturdeterminismus zu unterstellen hat: Weil aber die Verstandeswelt den Grund der Sinnenwelt, mithin auch der Gesetze derselben enthält, also in Ansehung meines Willens (der ganz zur Verstandeswelt gehört) unmittelbar gesetzgebend ist und also auch als solche gedacht werden muß, so werde ich mich als Intelligenz, obgleich andererseits wie ein zur Sinnenwelt gehöriges Wesen, dennoch dem Gesetze der ersteren, d. i. der Vernunft, die in der Idee der Freiheit das Gesetz derselben enthält, und also der Autonomie des Willens unterworfen erkennen, folglich die Gesetze der Verstandeswelt für mich als Imperativen und die diesem Princip gemäße Handlungen als Pflichten ansehen müssen. 163

So implikationsreich und zumindest im Detail problematisch diese Passage (ich nenne sie im Folgenden ›DE 1‹ und die in ihr entwickelte Behauptung die ›axiologische Vorrangthese‹) auch sein mag – ihre argumentative Struktur erscheint insofern rekonstruierbar, da es sich letztlich um ein einfaches Grund-Schluss-Schema handelt: Da die Verstandeswelt und somit auch das Sittengesetz die Sinnenwelt begründet, d. h. auch die entsprechenden Gesetze der phänomenalen Welt fundiert, sind erstere nach Kant den letzteren gegenüber als überlegen anzusehen und ihre Gesetzlichkeiten – die Gesetze der Freiheit bzw. die Autonomie – als primär verbindlich aufzufassen. Es scheint sich also so zu verhalten, wie Schönecker und Wood es dezidiert formulieren: Es führt kein Weg daran vorbei: Kant begründet die Gültigkeit des KI mit der Superiorität des ontologischen Status der Verstandeswelt. Das moralische Gesetz ist das Gesetz des Willens als eines Gliedes der Verstandeswelt; dieser Wille ist das ›eigentliche Selbst‹ des Menschen. Der Mensch als Ding an sich […] hat eine höhere ontologische Valenz als der Mensch als Erscheinung, und

S.: GMS AA IV, S. 453. Vgl.: Schönecker/Wood 2002, S. 197; Schönecker 1999, S. 83, S. 193, S. 282 und S. 371; vgl. zudem: Schönecker 2006, S. 311 ff. 163 S.: GMS AA IV, S. 453 f. 161 162

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deshalb gilt das Gesetz der Verstandeswelt als Imperativ für den Menschen, der zugleich Glied der Sinnenwelt ist. 164

Mit der ›höheren ontologischen Valenz‹ des eigentlichen Selbst ist hier wohlgemerkt der absolute Wert bzw. Selbstzweck-Status der Person gemeint, 165 sodass werttheoretische Reflexionen für diese Rekonstruktion eine unverzichtbare Funktion besitzen. Nun folgt auf die soeben zitierte Kant-Stelle jedoch eine weitere Passage, deren Interpretation und systematische Gewichtung wiederum für die Gewichtung der kantischen Axiologie von fundamentaler Bedeutung ist: Und so sind kategorische Imperativen möglich, dadurch daß die Idee der Freiheit mich zu einem Gliede einer intelligibelen Welt macht, wodurch, wenn ich solches allein wäre, alle meine Handlungen der Autonomie des Willens jederzeit gemäß sein würden, da ich mich aber zugleich als Glied der Sinnenwelt anschaue, gemäß sein sollen, welches kategorische Sollen einen synthetischen Satz a priori vorstellt, dadurch daß über meinen durch sinnliche Begierden afficirten Willen noch die Idee ebendesselben, aber zur Verstandeswelt gehörigen reinen, für sich selbst praktischen Willens hinzukommt, welcher die oberste Bedingung des ersteren nach der Vernunft enthält; ungefähr so, wie zu den Anschauungen der Sinnenwelt Begriffe des Verstandes, die für sich selbst nichts als gesetzliche Form überhaupt bedeuten, hinzu kommen und dadurch synthetische Sätze a priori, auf welchen alle Erkenntniß einer Natur beruht, möglich machen. 166

In der Interpretation von Schönecker und Wood erscheint diese Stelle (ich nenne sie im Folgenden ›DE 2‹) ohne eigenständigen Gehalt, sondern wird allgemein als Zusammenfassung des Vorgängerzitats verstanden. 167 Kant liefere die Pointe seiner Deduktion des Sittengesetzes demnach in einem einzigen Satz, nämlich der These von der noumenalen Welt als Wertgrund der phänomenalen Welt. 168 Der lange Zusatz ist in dieser Perspektive für ein Verständnis der Deduktionsstruktur streng genommen überflüssig und kann vielmehr als eine Art Service für den eventuell überforderten Leser verstanden werden. Ganz anders, nämlich diametral entgegengesetzt, legt Düsing die Relation beider GMS-Zitate aus:

164 165 166 167 168

S.: Schönecker/Wood 2002, S. 199. Vgl.: Schönecker/Wood 2002, S. 99 Anm. 38. S.: GMS AA IV, S. 454. Vgl.: Schönecker/Wood 2002, S. 198. Vgl.: Schönecker 1999, S. 192 f.; Schönecker 2006, S. 316. A

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Der entscheidende Deduktionsgrund besteht darin, daß das spontane intellektuelle Selbst sich als Mitglied der intelligiblen Welt und damit als frei weiß. Die zusätzliche Begründung, daß die intelligible der sinnlichen Welt zugrunde liege, um die Gültigkeit des Sittengesetzes auch für den menschlich-endlichen, zugleich sinnlichen Willen aufzuzeigen, ist in der kritischen Philosophie nicht spezifizierbar; es kann in ihr nicht gezeigt werden, welche intelligiblen Ursachen und Wirkungen welche sinnlichen Handlungen und Ereignisse spezifisch auslösen, da dies Einsicht in die innere Beschaffenheit der Kausalität aus Freiheit verlangte. 169

Demnach kehrt Düsing die bei Kant selbst zu findende Reihenfolge der Argumentation um: Während das erste Zitat, indem Kant eine eigentlich klare Grund-Schluss-Struktur präsentiert, als (immanent inkonsistenter) Nebenschauplatz eingestuft wird, sieht Düsing in der nachgeschobenen Passage das Hauptargument: Allein schon der Gedanke der Zugehörigkeit zur Verstandeswelt sei nach Kant die hinreichende Rechtfertigung der unbedingten Verbindlichkeit des Sittengesetzes. Nach Düsing besitzt die in DE 1 entwickelte axiologische Vorrangthese keine Relevanz für die Bedeutung des Sittengesetzes, sondern stellt allenfalls eine Erläuterung der Deduktion dar. 170 Diese These ist nun ihrerseits zu hinterfragen, und zwar im Hinblick auf ihre Überzeugungskraft angesichts der vorher exponierten Problemstellung, dass die bloße Denkmöglichkeit seiner selbst als reine Intelligenz insofern unmöglich eine vollendete Deduktion darstellen könne, da durch die Anerkennung der Möglichkeit einer doppelten Perspektive des Menschen auf sich selbst als Sinnen- und Verstandeswesen noch keinerlei verbindlicher Grund für diese These erbracht wurde. Denn das systematische Grundproblem besteht nicht darin, sich nicht als frei bzw. als Glied der Verstandeswelt denken zu können, 171 sondern in der rationalen Beantwortung der Frage, warum beim Bestehen von zwei Arten von Gesetzlichkeit diejenige des Noumenalen in höherem Grad verbindlich sein soll als die Naturgesetzlichkeit. 172 S.: Düsing 2002, S. 220. »[…]; es genügt für die Deduktion die Feststellung, daß der Gedanke der Gültigkeit des Sittengesetzes für einen freien Willen im Begriff dieses Gesetzes liegt und für den menschlich-endlichen freien Willen ein absolutes Sollen bedeutet.« S.: Düsing 2002, S. 221. 171 Dies ist erklärtermaßen nicht Kants Anliegen; vgl.: GMS AA IV, S. 448 Anm., S. 455, S. 458 ff. 172 In einem bestimmten Sinne ist die Rede von dem Infragestehen der Verbindlichkeit von Naturgesetzen offenbar unsinnig, da die Geltung dieser Gesetze nicht willentlich 169 170

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Daher spricht Düsing auch nicht von einer Argumentation, sondern nur von einer für die Deduktion hinreichenden Feststellung, und seine Ausführung, dass die Gültigkeit des Sittengesetzes für den freien Willen aus dem Gesetzesbegriff entspringe, bewegt sich reflexionstheoretisch auf einer anderen Ebene als derjenigen, auf der die genannte Begründungsproblematik zu diskutieren wäre. Die Pointe der Deduktion des Sittengesetzes soll nach Kant gerade in dem Aufweis dafür bestehen, woher die Gültigkeit des KI in praktischer Perspektive resultiert, welches Projekt sich demnach nicht in der bloßen Behauptung dieses Sachverhalts erschöpfen kann. Wenn man unter dem Deduktionsargument tatsächlich nur die subjektiv aktualisierte Denkmöglichkeit der noumenalen Identität versteht, scheint mir das begründungstheoretische Potential dieser Passagen nicht ausgereizt zu werden. Eine solche Lesart kann nicht vollends überzeugen: Sie kann nicht erklären, warum Kant an dieser Stelle der Deduktion die in kritischer Hinsicht problematisch anmutende Vorrangthese der Verstandeswelt entwickelt, wenn doch sein eigentliches Hauptargument gar nicht darin, sondern in der einfachen Postulierung der Denkbarkeit seiner selbst als reine Intelligenz besteht. Besonders unter der Prämisse, dass die These von der die Sinnenwelt begründenden Verstandeswelt eindeutig ontologisch zu interpretieren ist, 173 erscheint ein solches Vorgehen nicht nachvollziehbar, da gerade bei einer derartigen Interpretation der Superioritätsthese rätselhaft bleiben muss, wieso Kant an einer solch zentralen Stelle der GMS eine den Grundlagen seines ganzen übrigen Denkens derart entgegenstehende These 174 präsentieren sollte, wenn diese These darüber hinaus vollkommen überflüssig, da funktionslos wäre. Das hier entscheidende Hauptproblem besteht dabei wohlgemerkt nicht in der ontologischen, sondern der nicht-axiologischen Deutung von DE 1 – in ethiktypologischer Hinsicht stimmt auch aufgehoben werden kann. In dem vorliegenden moralphilosophischen Kontext geht es jedoch eindeutig um die Frage nach dem Vorrang von moralischer oder neigungsbasierter Willensbestimmung. 173 Diese Prämisse ist m. E. zwar plausibel, jedoch nicht zwingend und wird daher im weiteren Verlauf vorliegender Untersuchung nicht uneingeschränkt adaptiert. 174 Die These von einem absolut werthaften Dasein als Grund des KI kann als klassischontologische Prämisse verstanden werden im Sinne einer verbindlichen Aussage über das Ding-an-sich der Person. In dieser Perspektive ignoriert Kant seine eigenen in der KrV etablierten erkenntniskritischen Restriktionen und unterminiert seine darauf basierenden Begründungsversuche der Geltung des KI. A

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eine streng wörtliche (wertrealistische) Auslegung von DE 1 mit einer antirealistischen Deutung im Punkt der konstitutiven Relevanz der Axiologie überein. Die Deduktionsrekonstruktion Freudigers stellt noch eine weitere Möglichkeit vor Augen, die Gemeinsamkeiten sowohl mit Schönecker/ Wood als auch Düsings Gegenposition aufweist: Wie Schönecker/ Wood sieht er den eigentlichen Argumentationsgang der Deduktion mit DE 1 als abgeschlossen an 175 und bezeichnet die axiologische Vorrangthese, die er als Prämisse auffasst, zudem als »äusserst zentral«, da sie die Schlussfolgerung ermögliche, dass der reine (empirisch nicht affizierte) Wille unmittelbar gesetzgebend sei, insofern er sich als Teil der Verstandeswelt denken müsse. 176 Letzteres bedeutet nichts anderes, als dass die Vorrangthese nach Freudiger eine argumentationslogische Bedingung für die Gültigkeit der kantischen Deduktionsbemühungen darstellt. Anders als Düsing sieht er dementsprechend in DE 2 nicht das entscheidende Hauptargument, sondern vielmehr eine Erläuterung von schon Gesagtem zur besseren Verständlichkeit. 177 Nicht nur von Düsing, sondern auch von Schönecker/Wood abweichend, ist nun sein Ansatz der Interpretation von DE 1, da er den Rahmen der praktischen Philosophie verlässt und DE 1 auf Kants in der KrV entwickelten These der kausalen Begründung der Sinnenwelt durch das Noumenale bezieht bzw. dadurch – wenn auch leidlich – gerechtfertigt sieht: Für diese absolut fundamentale Grundoption des transzendentalen Idealismus lässt sich höchstens in pragmatischer Weise argumentieren, wie dies Kant in der Kritik der reinen Vernunft ja auch tut: seine Position sei vorzuziehen, weil sie den Schwierigkeiten sowohl des Empirismus als auch des Rationalismus entgeht und Lösungen bereit halten kann, wo die beiden anderen

175 »Mit dieser letzten Schlussfolgerung [der Verbindlichkeit des Sittengesetzes für einen endlichen Willen aufgrund der begründenden Funktion der Verstandeswelt, Einfügung C. B.] ist mindestens ein Ziel, das in GMS III erreicht werden musste, tatsächlich erreicht: es ist nämlich damit gezeigt – Korrektheit der Argumentation vorläufig vorausgesetzt – wie ›die Nöthigung des Willens, die der Imperativ […] ausdrückt, gedacht werden könne‹ (GMS, 417); dies ist genau die Aufgabe, welche von der Frage, wie ein Imperativ möglich sei, gestellt wird. Da damit die Rechtfertigung des im kategorischen Imperativ erhobenen Geltungsanspruchs erbracht ist, können wir das oben skizzierte Argument als Deduktion des kategorischen Imperativs ansehen.« S.: Freudiger 1993, S. 97. 176 Vgl.: Freudiger 1993, S. 105. 177 Vgl.: Freudiger 1993, S. 97.

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Positionen einander mit jeweils (scheinbar) überzeugenden Argumenten in Schach halten können. 178

Die Isolation der Deduktion des Sittengesetzes von ihren axiologischen Grundlagen scheint demnach entweder die Behauptung der praktischen Irrelevanz der Axiologie (Düsing) oder die Rückführung auf problematische Elemente der theoretischen Philosophie bzw. auf pragmatische Problemvermeidungsstrategien (Freudiger) zur Folge zu haben, wobei eine Deutung von DE 1 primär als Problemvermeidungsthese das begründungstheoretische Fundament zumindest der GMS, wenn nicht noch weiterer Aspekte der kantischen Ethik, 179 als äußerst defensiv charakterisiert und daher kaum überzeugend erscheinen lässt. 180 Überdies wird die Geltung des Kategorischen Imperativs somit unmittelbar von einer theoretischen Prämisse abhängig gemacht, deren Unterminierungspotential hinsichtlich der Autonomie praktischer Vernunft eigens thematisiert werden müsste, zumindest jedoch nicht unterschätzt werden darf, da nach Kant auf dieser (theoretischen) Reflexionsebene nur die Möglichkeit negativer Freiheit, niemals aber die unbedingte Geltung moralischer Sollensforderungen erweisbar sein kann. 181 Wenn nun aber der Aufweis der Möglichkeit solcher praktischer Verbindlichkeitsstrukturen substantiell von der theoretischen Akzeptanz des transzendentalen Idealismus im Rahmen einer vorrangig defensiv-indirekten Argumentationsstrategie abhinge, sehe ich nicht, inwiefern man der kantischen Rede von der grundsätzlichen Freiheit praktischer Vernunft noch irgendeinen nennenswerten Sinn abgewinnen können soll. 182 Das bei Freudigers Erläuterung von DE 1 178 S.: Freudiger 1993, S. 104. Trotzdem sei diese These ein »harter Brocken« und, bei Verlassen der alleinigen Perspektive immanenter Konsistenz, ein Grund für die Ablehnung des gesamten Systems; vgl.: Freudiger 1993, S. 104. 179 Dies wäre dann notwendig der Fall, wenn man z. B. im Sinne McCarthys eine unaufgebbare oder wenigstens enge Beziehung zwischen Deduktion und z. B. Faktumslehre behaupten würde. 180 Interessanterweise sieht Freudiger selbst die Deduktion zumindest nicht als gescheitert an; vgl.: Freudiger 1993, S. 107. 181 Auch hier muss natürlich die Möglichkeit von Inkonsistenzen in Kants Argumentationsgang in Betracht gezogen werden, doch stellt sich eine solche Unterstellung mit Steigleder im impliziten Anschluss an Horn als möglichst zu vermeidende ultima ratio der Kant-Auslegung dar; vgl.: Steigleder 2004, S. XII. 182 Natürlich hängt die positiv-moralische Freiheit für Kant insofern von einem Resultat theoretischer Reflexion ab, als man ihre Idee im Falle der Unmöglichkeit (Widersprüchlichkeit) negativer Freiheit als hochgradig problematisch einstufen müsste; vgl.:

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bestehende Problem muss darin gesehen werden, dass Kant in der Deduktion nicht einfach auf ein rein theoretisches Lehrstück aus der KrV zurückgreift, um in DE 1 eine ontoethische Grundthese zu fundieren, sondern im Rahmen der Einführung der SZF eine spezifisch praktisch orientierte Wertthese präsentiert, welche als praktisch-axiologische Bedingung für das argumentativ entscheidende Strukturelement seiner Herleitung der Gültigkeit des Sittengesetzes fungiert. In der GMS stellt Kant dementsprechend hinsichtlich des Fundaments des KI fest: »[…]: die vernünftige Natur existirt als Zweck an sich selbst. So stellt sich der Mensch nothwendig sein eignes Dasein vor; […].« 183 Explizit ist hier von einer praktischen Notwendigkeit der Selbstauffassung des Akteurs und nicht von einer theoretischen Kausalanalyse die Rede. 184 Nur unter der Annahme, dass die noumenale Welt der phänomenalen nicht nur oder primär theoretisch zugrunde liegt, 185 sondern der nouDüsing 2002, S. 233. Doch handelt es sich in diesem Fall nur um die Auslotung von theoretischen Möglichkeitsbedingungen und nicht von praktisch unmittelbar wirksamen Geltungsfragen des moralischen Gesetzes selbst. Zudem ist zwar auch das kantische Konzept der Selbstverpflichtung nicht ohne die Doppelaspekt-Lehre denkbar, doch stellt auch diese nicht den Grund der Geltung des Moralgesetzes, sondern eben nur eine theoretische Bedingung für praktische Sachverhalte dar. 183 S.: GMS AA IV, S. 429. 184 Vgl. dazu: Rehbock 2005, S. 57; Rentsch 1990, S. 325. 185 Damit sei nicht bestritten, dass der in DE 1 in Anschlag gebrachte Begriff des ›Grundes‹ auf das in der KrV etablierte Verhältnis von Verstandes- und Sinnenwelt Bezug nimmt, doch bleibt bei alleiniger Fokussierung dieses Aspekts im Dunkeln, was Kant damit meinen könnte, dass die Verstandeswelt auch die Gesetze der Sinnenwelt beinhalte, da dies, obwohl von Kant durch das ›also‹ angezeigt, nicht aus der Behauptung der grundsätzlichen Begründung der Sinnenwelt durch die Verstandeswelt folgt. Henrich hat dieses Problem, obzwar in entgegengesetzter Auslegungsintention, in ganzer Schärfe auf den Punkt gebracht: »Achtet man auf die These des Arguments und nicht auf seine Rolle im Deduktionsgang, so ist freilich zu sagen, daß es bestenfalls ein Problem markiert, aber keine Lösung für es anbietet. Denn das Gesetz gilt für den Willen, insofern er der intelligiblen Welt angehört. Insofern gilt der Imperativ als solcher also nicht für den Willen, sondern, dem Grundgedanken des Arguments gemäß, für ein Bewußtsein in der Sinnenwelt. Für die Sinnenwelt im ganzen kann er nicht gelten. Wie immer sie sich aus der intelligiblen herleitet, ihre Gesetze sind als Phänomen denen der intelligiblen Welt gerade entgegengesetzt.« S.: Henrich 1975, S. 97. Diese Passage verdeutlicht zu Recht die massiven Probleme einer primär auf die theoretische Philosophie bezogenen Lesart der Deduktion. Konsequent kommt Henrich dann auch zum Resultat: »Kant bietet nicht die Spur eines Vorschlages an, wie sich die Subordination des Sinnlichen unter die intelligible Welt als die Subordination des sinnlich affizierten Willens unter den intelligiblen Willen denken lässt.« S.: Henrich 1975, S. 97. Der hier von mir anvisierte Gedanke weist dagegen Assonanzen zu Korsgaards Idee vom wertverleihen-

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menale Aspekt des endlichen Vernunftwesens auch und vor allem als in praktischer Hinsicht höherwertig und daher in moralischer Perspektive normativ, nämlich primär wertgesetzgebend (axiothetisch) betrachtet werden muss, kann der Kategorische Imperativ als Prinzip unbedingter praktischer Verbindlichkeit plausibel bzw. plausibler gemacht werden. 186 Mit Schönecker/Wood und gegen Düsing und Freudiger erfüllt die Annahme des Selbstzwecks/absoluten Werts der Person m. E. die metaethische Funktion der Begründung der Geltung des KI und stellt somit ein unverzichtbares Element der argumentativen Struktur der Deduktion der GMS dar. In typologischer Hinsicht muss daher zum einen die zentrale begründungstheoretische Rolle der Axiologie zur Kenntnis genommen und zugleich jedoch beachtet werden, dass dies kein schlagkräftiges Argument für oder gegen eine bestimmte Klassifikation der kantischen Ethik darstellt. V.1.2.3.2 Erkenntnisgrund, Seinsgrund und das Faktum der Vernunft in der KpV In der KpV hat Kant einen Zugang zur Begründungsproblematik seiner Ethik entfaltet, der sich in erster Linie durch seinen im Vergleich zur den Status der praktisch-vernünftigen Zuschreibungstätigkeit sowie zur GMS III-Interpretation Guyers auf: Vor dem Hintergrund einer axiologischen Lesart der Deduktion könnte man die Gesetzesautorität der Verstandeswelt so verstehen, dass für ein Vernunftwesen nichts in der Sinnenwelt einen Wert haben kann, der ihm nicht schon prinzipiell durch sich selbst kraft seines Vermögens der praktischen Wertkonstitution zugeschrieben worden ist. Dieses transzendental-axiologische Prinzip bzw. diese transzendentale Axiothetik, welche auch auf die Sinnenwelt bezogen ist, wäre demnach dem Phänomenalen gegenüber (wert-)gesetzgebend und damit sowohl nomothetisch als auch nomologisch dergestalt übergeordnet, dass die auf die Relation von konkreten, also in der empirischen Dimension konstatierten Wertverhältnissen abzielenden Gesetzmäßigkeiten (z. B. axiologische Regelstrukturen der Höher- bzw. Minderwertigkeit) einerseits Gesetze der Sinnenwelt (wohlgemerkt verstanden als genitivus objectivus) wären, die andererseits ihre Geltung allein aus dem Intelligiblen bezögen. Damit kann man zwar nicht beanspruchen, die grundlegenden systematischen Probleme der Deduktion aus dem Weg geräumt zu haben, da die schwache bzw. weite Interpretation der Idee der Gesetze der Sinnenwelt eine anfechtbare Prämisse dieser Perspektive darstellt und die in Anschlag gebrachte Wertthese Kants ihrerseits im Rahmen der Deduktion begründungsbedürftig bliebe, doch eröffnet sich auf diese Weise zumindest ein anderer Interpretationshorizont, welcher als alternativer Versuch einer Integration von Kants axiologischer Hauptthese der GMS verstanden werden kann. 186 Vgl.: Steigleder 2002, S. 86. A

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Deduktion der GMS stärkeren Anspruch auszeichnet: Während in der Deduktion noch verhältnismäßig vorsichtig auf den Umstand hingewiesen wurde, dass nicht die tatsächliche, objektiv bestehende Wirklichkeit der Freiheit, sondern nur die (obzwar praktisch unmittelbar relevante) Denknotwendigkeit ihrer Idee für handelnde Vernunftwesen thematisch sei, formuliert Kant schon zu Beginn der Vorrede der zweiten Kritik das Ziel einer Kritik der praktischen Vernunft als ein ambitionierteres Unternehmen: Sie solle darlegen, »daß es reine praktische Vernunft gebe, […].« 187 Nun stellt Kant in § 6 der KpV eine Frage, die an diejenige erinnert, welche die Deduktion der GMS geleitet hatte: »Wie ist […] das Bewußtsein jenes moralischen Gesetzes möglich?« 188 Kants Antwort in der KpV besteht allgemein in dem Verweis auf die Möglichkeit, sich in Analogie zum Bewusstsein der Verbindlichkeit theoretischer Grundsätze die jeweilige Vernunftnotwendigkeit der Annahme des Sittengesetzes zu verdeutlichen. Anders als in der GMS geht Kant in der KpV nicht vom Konzept des an sich guten Willens als Inbegriff des Guten aus und arbeitet nicht über den Weg der Erläuterung des Pflichtbegriffs dessen Prinzip heraus. Vielmehr fokussiert er eine Vorstellung von Moralität, die essentiell als objektiv-praktische Gesetzmäßigkeit beschreibbar und unmittelbar von dem entsprechenden Vermögen solcher Gesetze, der Vernunft, abzuleiten ist. Vor diesem Hintergrund nimmt er an verschiedenen Stellen Bezug auf etwas, das er als ›Faktum‹ bezeichnet und dessen systematischer Gehalt daher in der Forschung gemeinhin als Lehre vom ›Faktum der Vernunft‹ bekannt wurde. Diesem Faktum gilt es in den folgenden Ausführungen nachzuspüren, wobei der Rekonstruktionsfokus vor allem auf die Frage nach den ethiktypologischen Implikationen einer handlungstheoretischen Auffassung der Faktumslehre gerichtet ist. In § 7 stellt Kant das ›Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft‹ auf, welches nichts anderes als der Kategorische Imperativ ist: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« 189 Im Gegensatz zu den bedingten Regeln der Geometrie sei im Falle des praktischen Grundgesetzes »reine, an sich praktische Vernunft […] unmittelbar ge-

187 188 189

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S.: KpV AA V, S. 3; vgl.: Schönecker 1999, S. 309 ff. S.: KpV AA V, S. 30. S.: KpV AA V, S. 30.

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setzgebend.« 190 Der Wille müsse demnach als durch die reine vernünftige Form des Gesetzes bestimmt gedacht und dieser formale Gesetzesbegriff als oberster Bestimmungsgrund der handlungsleitenden Maximen betrachtet werden. Danach führt Kant den entscheidenden Terminus mit indirektem Bezug auf die AF ein: Man kann das Bewußtsein dieses Grundgesetzes ein Factum der Vernunft nennen, weil man es nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft, z. B. dem Bewußtsein der Freiheit (denn dieses ist uns vorher nicht gegeben), herausvernünfteln kann, sondern weil es sich für sich selbst uns aufdringt als synthetischer Satz a priori, der auf keiner, weder reinen noch empirischen, Anschauung gegründet ist, […]. Doch muß man, um dieses Gesetz ohne Mißdeutung als gegeben anzusehen, wohl bemerken: daß es kein empirisches, sondern das einzige Factum der reinen Vernunft sei, die sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend (sic volo, sic jubeo) ankündigt. 191

Als Folgerung resultiere, dass reine Vernunft für sich praktisch sei und dem Menschen das universal gültige Sittengesetz gebe. Kant legt diesem Faktum ein Prädikat bei, welches deutlich auf dessen besonderen Charakter hinweist: Es sei »unleugbar«. 192 Eine Interpretation der Faktumslehre muss sich zuerst hinsichtS.: KpV AA V, S. 31. S.: KpV AA V, S. 31. Sala deutet das in dieser Stelle von Kant partiell aufgegriffene Zitat Juvenals als ein kantisches Bekenntnis zu einer voluntaristischen Auffassung des Sittengesetzbewusstseins; vgl.: Sala 2004, S. 99. Damit schließt er sich explizit den Aussagen Rohnheimers (der sich wieder auf Sala bezieht) an, der aus mir nicht zugänglichen Gründen die These vertritt, dass Kants Willenskonzept unabhängig von Vernunft zu rekonstruieren sei: »Vor aller Vernünftigkeit gibt es bei Kant noch einmal die Autonomie des Willens (transzendentale Freiheit), dessen Vernünftigkeit aber gerade durch eine solche nicht an die Vernunft gebundene Autonomie gefährdet ist. Denn die Vernunft ist hier legitimiert nicht durch ihre Aufgabe, die Ausrichtung des Willens nach dem Guten zu bewerkstelligen, sondern Freiheit und Autonomie zu wahren; damit wird das Verhältnis zwischen Vernunft und Freiheit (Wille) jedoch auf den Kopf gestellt. Deshalb ist die Kantische Ethik letztlich und in ihrer Tiefenstruktur nicht eine Ethik der Vernunftautonomie, sondern eine solche der Autonomie des Willens.« S.: Rohnheimer 2001, S. 230. Rohnheimer bezieht sich in den folgenden Passagen nur auf Kants Beeinflussung durch Rousseau und seine frühe Lehre vom moralischen Gefühl, sodass ein Beweis dieser These unter Berücksichtigung der ausgereiften Ethik Kants fehlt. Zudem wird nicht deutlich, welcher grundsätzliche Unterschied zwischen der Ausrichtung des Willens nach dem Guten und der Wahrung der Freiheit besteht. Wir werden im Unterkapitel zum Willensbegriff sehen, dass Kant keineswegs von einer Unabhängigkeit von Wille und Vernunft ausging, sodass Rohnheimers Lesart als Verkürzung zumindest des ausgereiften Willenskonzepts bei Kant bezeichnet werden muss. 192 S.: KpV AA V, S. 32. 190 191

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lich der Frage positionieren, was unter dem Faktumsbegriff selbst verstanden werden soll, da die Bestimmung der ›Gegebenheit‹ davon abhängt. Kant macht deutlich, dass das von ihm intendierte Faktum kein herkömmliches psychologisch-empirisches Faktum sein kann, denn es soll eines der reinen Vernunft und somit notwendig apriorisch, von aller Erfahrung unabhängig sein. 193 Willaschek hat (allgemein Beck und Allison folgend) bezüglich der genaueren, ihm von Kant verliehenen Bedeutung dieses Terminus die These vertreten, dass grundsätzlich zwei Bedeutungsweisen von ›Faktum‹ zu unterscheiden seien: Während ›Faktum‹ im Sinne der vielleicht für ein heutiges Verständnis naheliegenden Bedeutung meist als Synonym für ›Tatsache‹ zu verstehen sei, meine Kant mit ›factum‹ vielmehr eine Handlung als zurechenbarer Akt. 194 Ich halte diese These u. a. deswegen für plausibel, da eine derart strukturierte, aktivische Deutung des Faktumbegriffs die Faktumslehre in systematischer Hinsicht als weitaus kantischer, d. h. überzeugender erscheinen lässt als die Alternative einer Deutung als bloße Gegebenheit einer Tatsache, mit welcher dem im Übrigen von Kant so vehement betonten Autonomie-Konzept kaum entsprochen werden dürfte. 195 Wie soll man sich aber das Bewusstsein des Sittengesetzes 196 als Tat der Vernunft vorstellen? Auch wenn man die Faktumslehre mit Willaschek in einem verVgl.: Höffe 1992, S. 203. S.: Willaschek 1992, S. 177. 195 Willaschek führt verschiedene Passagen aus unterschiedlichen Werken Kants als Beleg an, wobei sich gleich zu Beginn der KpV die Plausibilität seiner Lesart zeigt: »[…] wenn sie, als reine Vernunft, wirklich praktisch ist, so beweiset sie ihre und ihrer Begriffe Realität durch die That, und alles Vernünfteln wider die Möglichkeit, es zu sein, ist vergeblich.« S.: KpV AA V, S. 3. Wenig später in der Vorrede konstatiert Kant, dass »praktische Vernunft jetzt für sich selbst, und ohne mit der speculativen Verabredung getroffen zu haben, einem übersinnlichen Gegenstande der Kategorie der Causalität, nämlich der Freiheit, Realität verschafft (obgleich als praktischem Begriffe auch nur zum praktischen Gebrauche), also dasjenige, was dort bloß gedacht werden konnte, durch ein Factum bestätigt.« S.: KpV AA V, S. 6. Die Tatsache, dass es auch Ausnahmen von diesem Begriffsgebrauch gibt, widerlegt nicht die These, sondern ist für Kant vielmehr geradezu charakteristisch. 196 Gegen die Position, dass Kant auch das Sittengesetz selbst als Faktum bezeichne, argumentiert Willaschek, dass Kant nicht das Sittengesetz selbst, sondern nur seine Gegebenheitsweise als Faktum bezeichne; vgl.: Willaschek 1992, S. 181; vgl. zudem: Konhardt 1979, S. 219; Steigleder 2002, S. 102 Anm. 78; Höffe 2002, S. 14. Anders als Willaschek scheint Höffe unter ›Faktum‹ eher Faktizität als Tat zu verstehen; vgl.: Höffe 1992, S. 203; vgl. dazu auch seine jüngeren Ausführungen: Höffe 2002a, S. 14. Nach 193 194

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gleichsweise weiten Sinne handlungstheoretisch versteht, kann das Moment der Gegebenheit als mit dieser Lesart kompatibel gedeutet werden, insofern man unter ›Faktum‹ als substantiviertem Verb sowohl die Tätigkeit als auch deren Resultat versteht. Ein solcher Interpretationsansatz stimmt mit der bereits erwähnten Erläuterung Kants überein, dass das Bewusstsein des Sittengesetzes als einziges Faktum der reinen Vernunft gegeben sei. Zwar erscheint die Rede von einer ›Tat der Vernunft‹ auch unter den genannten Verständnisprämissen immer noch als ein primär metaphorischer Ausdruck,197 doch lässt sich diesem Terminus auch ein recht konkreter Sinn verleihen: Die Tat der Vernunft müsste demnach als das Bewirken des Bewusstseins des Sittengesetzes beim endlichen Vernunftwesen ausgelegt werden. 198 Das Düsing spricht Kant zuweilen auch vom Sittengesetz und der Autonomie als Faktum, doch geschehe dies »in abkürzender Redeweise«; s.: Düsing 2002, S. 229 Anm. 15. 197 Vgl.: Willaschek 1992, S. 180. 198 »Was die Vernunft ›tut‹, ist zunächst, den Menschen als endlichen vernünftigen Wesen die Geltung des unbedingten praktischen »Grundgesetzes« in der Form eines Imperativs bewußt zu machen.« S.: Willaschek 1992, S. 182. Das bei der Faktumslehre vorliegende interpretatorische Problem besteht nicht zuletzt darin, den objektiven Geltungsanspruch des Sittengesetzes und den Aspekt der freien Handlung der Vernunft (welche keine dem Menschen äußerliche Instanz ist) zugleich hervorzuheben. So scheint z. B. Henrichs Rekonstruktion der Faktumslehre tendenziell missverständlich zu sein, wenn er ihren Kern als Unterordnungsforderung der Vernunft beschreibt; vgl.: Henrich 1954/55, S. 36. Ein Punkt, der innerhalb der Diskussion um das semantische Referenzobjekt der Faktumslehre (Sittengesetz oder dessen Bewusstsein) vor dem Hintergrund des in neuerer Zeit vor allem von Willaschek verteidigten Deutungsschemas virulent werden könnte, mündet in die Frage, ob im Falle der Deutung des Faktums als Handlung nicht auch das Sittengesetz gewissermaßen eine Vernunfthandlung darstellt und damit ebenfalls als dergestalt rekonstruiertes Faktum verstanden werden könnte. Dieses Problem hängt mit dem fragwürdigen ontologischen Status des Sittengesetzes in Relation zu seiner objektiven Verbindlichkeit zusammen, denn so eindeutig Kant reine praktische Vernunft als Instanz objektiv geltender Gesetze charakterisiert, so deutlich dürfte auch der nicht-platonische Aspekt des Sittengesetzes, d. h. seine ontologische Non-Substantialität sein. Dementsprechend charakterisiert Konhardt die Gegebenheitsweise des Sittengesetzes als »seine Geltung für alle vernünftigen Wesen, d. h. für solche Wesen, die einen Willen haben.« S.: Konhardt 1979, S. 219. Im kantischen Kontext wäre es unstatthaft, über diese praktische Gegebenheitsweise des Sittengesetzes als Verbindlichkeit für endliche Vernunftwesen hinaus eine genuin theoretisch-ontologische Qualifikation vorzunehmen. Da Kant die Vernunft offenbar als ein menschliches Vermögen bzw. eine Fähigkeit auch endlicher Wesen betrachtete, ist die Annahme unplausibel, dass das Sittengesetz unabhängig vom faktischen Bestehen von Vernunftwesen existieren soll: Das Sittengesetz existiert nicht unabhängig von praktischer Vernunft, und praktische Vernunft ist ein menschliches Vermögen. Dabei ist zu beachten, dass ›Existenz‹ in A

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Bewusstsein des Sittengesetzes als Anerkennung unbedingter moralischer Verpflichtung ist dabei aufgrund der analytischen Relation von Sittengesetz und Freiheit zugleich das Bewusstsein der Freiheit des vernünftigen endlichen Willens. Diese Anerkennung des Moralgesetzes steht allerdings nicht nur in der Faktumslehre, sondern ebenso in der Achtungstheorie, der motivationstheoretischen Komponente der KpV, im Mittelpunkt der Überlegungen Kants. 199 Vor dem Hintergrund der Achtungstheorie besteht das Faktum darin, dass sich das objektiv gültige Sittengesetz durch seine Wirkung auf das menschliche Gemüt, durch die resultierende Achtung als vernunftgewirktes Gefühl, subjektive Anerkennung verschafft und auf diese Weise die Möglichkeit 200 besteht, den Willen und somit auch die Handlung zu bestimmen. Eine theoretische Erklärung dieses Vorgandiesem Rahmen nicht als theoretisches Vorhandensein, sondern als praktische Wirksamkeit zu verstehen ist, um die genuin moralische Dimension nicht doch wieder unter der Hand zu einem Bereich innerhalb eines theoretischen Diskurses zu transformieren. Demnach wäre es hinsichtlich der übrigen Systematik Kants zumindest nicht widersprüchlich oder unmittelbar inkonsistent, das Sittengesetz bzw. die selbstreferentielle Sittengesetzgebung nicht als an sich Seiendes, sondern auch und primär als eine höherstufige Vernunftaktivität aufzufassen. Dabei würde dies der strengen, objektiven Geltung des Sittengesetzes keinerlei Abbruch tun, sodass der Anspruch auf Geltungsobjektivismus in der Moralphilosophie gewahrt bliebe. Eine diese Position unterstützende Stelle findet sich z. B. in der KpV: »Die Anerkennung des moralischen Gesetzes aber ist das Bewußtsein einer Thätigkeit der praktischen Vernunft aus objectiven Gründen, die blos darum nicht ihre Wirkung in Handlungen äußert, weil subjective Ursachen (pathologische) sie hindern.« S.: KpV AA V, S. 79. Zumindest kann diese Passage m. E. auch so gelesen werden, dass die besagte Tätigkeit der Vernunft das moralische Gesetz selbst hervorbringt und dessen Anerkennung ein durch objektive Gründe bestimmtes Bewusstsein darstellt. Dann wäre die von Lauth artikulierte Kritik an Kant hinfällig, dass das Sittengesetz ohne Urheber bzw. konstitutiven Subjektbezug zu verstehen sei und daher abstrakt bliebe; vgl.: Lauth 1953, S. 98. Freilich betont Kant an anderer Stelle, dass wir nicht der Autor des Sittengesetzes, sondern nur seiner Autorität seien; vgl.: Illies 2003, S. 158 Anm. 17. Eine überzeugende Antwort auf die Frage, was das Sittengesetz über seine Autorität bzw. Geltung für Vernunftwesen hinaus sein soll, bleibt Kant schuldig. 199 Zwar hat Willaschek grundsätzlich Recht, wenn er ausführt, dass Faktumslehre und Achtungstheorie unterschiedliche Beschreibungen desselben Vorganges seien, doch scheint mir mit dieser allgemeinen Aussage tendenziell verschleiert zu werden, dass die Achtungstheorie zumindest partiell als Rekonstruktion bestimmter Bedingungen des Faktumphänomens verstanden werden kann. An anderer Stelle weist Willaschek jedoch selbst auf diesen Umstand hin, ohne jedoch die genaueren Implikationen zu reflektieren; vgl.: Willaschek 1992, S. 182. 200 Dass praktische Vernunft wirklich ist, bedeutet nach Kant (in Übereinstimmung mit

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ges schließt Kant naheliegenderweise aus, doch wählt er einen anderen Weg, um die Wirklichkeit der reinen Vernunft zu erweisen: In einem Gedankenexperiment 201 fingiert Kant den Fall, dass ein von seinen Neigungen beherrschter Mensch vor die Entscheidung gestellt wird, bei Androhung der Todesstrafe ein falsches Zeugnis gegen einen unbescholtenen Mann abzulegen. Die hier von Kant aufgeworfene Frage besteht nun darin, ob dieser von Selbstliebe beherrschte Mensch es für möglich erachten würde, sich trotz der sicheren Todesfolge gegen den moralisch verwerflichen Akt der ungerechtfertigten Bezichtigung des Unschuldigen entscheiden zu können. Als Ergebnis dieses Experiments müsse nach Kant zugegeben werden, dass sich jeder noch so sinnlich orientierte Mensch grundsätzlich in der Lage dazu sehe, eine Entscheidung für die moralisch geforderte Option der Wahrhaftigkeit und gegen das eigene Leben zu fällen. Für den Ausweis, dass reine Vernunft praktisch sei, kommt es nach Kant einzig und allein auf das Zugeständnis der Möglichkeit moralischen Verhaltens, nicht auf das tatsächlich stattfindende Verhalten an, da dieses Verhalten nicht theoretisch erklärt, sondern nur die praktische Gewissheit des Entscheidungsakts erwiesen werden soll. 202 Da es in der fiktiven Situation keinen anderen empirischen Grund für die Anerkennung der Möglichkeit selbstlosen Verhaltens gebe, könne es sich nur um den Fall einer Tat der Vernunft als Erweis für deren Wirklichkeit durch Kausalität handeln. 203 In den ersten sechs Paragraphen der KpV entwickelt Kant die Reflexionssequenz, dass die Freiheit des Willens und die Geltung prakden theoretischen Erkenntnisrestriktionen) nicht das tatsächliche Vorliegen freier Handlungen, sondern die Erschließung ihrer Möglichkeit; vgl.: Allison 1989, S. 129. 201 Vgl.: KpV AA V, S. 30. 202 Nach Herman ist genau dies das systematische Problem der Faktumslehre, insofern sie mit Allison als Erweis nur der Möglichkeit und nicht der Wirklichkeit von moralischen Bestimmungsgründen des Willens und somit von transzendentaler Freiheit verstanden wird; vgl.: Herman 1989, S. 135. Sie sieht die auf diese Weise rekonstruierte Faktumslehre daher als genauso enttäuschend an wie die Deduktion aus der GMS; vgl.: Herman 1989, S. 135 f. 203 Für Kant stellt sich das möglicherweise konstatierbare Problem einer nur subjektiven Wirklichkeit dieses Faktums jedoch deswegen nicht, weil er von einem analytischen Zusammenhang von praktischer Freiheit und der Geltung praktischer Gesetze ausgeht. Dies bedeutet genauer, dass, wenn das Grundgesetz der praktischen Vernunft (in der KpV also die AF) den alleinigen Bestimmungsgrund des Willens ausmachen könne, dieser Wille auch als frei und daher unter objektiv verbindlichen Gesetzen stehend gedacht werden müsse. A

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tischer Gesetze nur möglich seien, insofern die AF als zureichender Grund einer vernünftigen Willensbestimmung angenommen werden könne. Letzteres soll nun durch die Faktumsthese erwiesen worden sein, da das Resultat des Gedankenexperiments in der Möglichkeit bestand, sich als endliches Wesen dem Sittengesetz unterstellt zu denken, wodurch auch Willensfreiheit und Geltungsobjektivität des Sittengesetzes als in praktischer Hinsicht gesichert angesehen werden könnten. Angesichts der Entwicklung der Grundgedanken der Faktumslehre stellt sich nun aber die Frage, wieso Kant all diese weiterführenden Argumentationsstränge verfolgt, wenn er doch schon zu Beginn der KpV von der wechselseitigen Verwiesenheit von Sittengesetz und praktischer Freiheit ausgeht, welche Annahme in die Redewendung vom ›Sittengesetz als Erkenntnisgrund der Freiheit‹ und der ›Freiheit als Seinsgrund des Sittengesetzes‹ mündet. 204 Das Problem wird konkret dadurch deutlich, dass Kant in § 7 der KpV die These der Wirklichkeit reiner Vernunft ausdrücklich als Folgerung bezeichnet, wobei eruiert werden muss, warum sich diese argumentative Struktur hier trotz der zuvor etablierten Verhältnisbestimmung von Sittengesetz und Freiheit findet. Offenbar soll das Sittengesetz nicht als theoretischer Erkenntnisgrund für die Freiheit, 205 sondern vielmehr das Bewusstsein des Sittengesetzes als rein praktischer, da durch das Phänomen der sittlichen Motivation nahegelegter Grund für den Schluss auf die Freiheit des Willens fungieren. 206 Dieser Schluss auf die Freiheit ist somit weVgl. zu diesem Problem: Willaschek 1992, S. 226 ff.; vgl. ebenso Allisons Aussage: »[…], if Kant had thought that it [das Faktum der Vernunft, Einfügung C. B.] was obvious, he would not have thought it necessary to devote a whole critique to the topic.« S.: Allison 1989, S. 117. 205 Sala scheint von einem stärker theoretisch geprägten Verständnis des Erkenntnisanspruchs der Faktumslehre auszugehen, wenn er auf den bestehenden Widerspruch zur Erkenntnisrestriktion der KrV aufmerksam macht und Kant zudem einen sensualistischen Intuitionismus unterstellt; vgl.: Sala 2004, S. 100. Er deutet das Faktum der Vernunft als innere Erfahrung und schließt daher (mit Bezug auf Henrich 1975) auf die Sinnlosigkeit der Behauptung der Apriorizität des Sittengesetzbewusstseins; vgl.: Sala 2004, S. 100. 206 Der erkenntnistheoretische Status solcher praktischer Schlüsse ist hinsichtlich der Frage nach dem Sinn der Redeweise von praktischer Erkenntnis umstritten. So negiert Niquet im Gegensatz z. B. zu Henrich die Möglichkeit, dass es auch Erkenntnisse der praktischen Vernunft geben könne; vgl.: Niquet 1991, S. 106 Anm. 45. Diese Position ist insofern speziell im Kontext der Faktumslehre berechtigt, als man nicht von einer Erkenntnis im strikten (kritischen) Verständnis dieses Begriffs, wohl jedoch von einer Anerkenntnis des Sittengesetzes und damit auch der Freiheit sprechen kann; vgl.: Wil204

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der ein Ergebnis theoretischer Reflexion, noch stellt er selbst einen solchen Reflexionsakt dar. Die Geltung des Sittengesetzes sowie des Kategorischen Imperativs beruht bei Kant in der KpV demnach auf einer Form spezifisch praktischer Fundierung. 207 Die potentiell irreführende Rede vom Sittengesetz als ›ratio cognoscendi‹ der Freiheit müsste demnach im Sinne Kants streng genommen als Konzeption des Bewusstseins des Sittengesetzes als indirekte ›ratio motivationis‹ verstanden werden, wobei angesichts der noch näher zu analysierenden These Korsgaards von der Idee der intelligiblen Existenz als »motivating thought of morality« 208 zu prüfen ist, welche strukturellen Bedingunlaschek 1992, S. 227 f.; vgl. kritisch dazu: Steigleder 2002, S. 108. Daher ist Konhardt zuzustimmen, wenn er im Rekurs auf die (an anderer Stelle dieser Studie noch näher zu betrachtende) kantische Rede von einem ›Interesse‹ bzw. ›Bedürfnis‹ der Vernunft feststellt: »Die praktische Vernunft hat kein Bedürfnis nach Erkenntnis übersinnlicher Gegenstände (etwa der Freiheit), sondern nimmt ein Interesse an der Verwirklichung solcher Zwecke, die sich das endliche Vernunftwesen im Einklang mit den moralischpraktischen Grundsätzen vorsetzt.« S.: Konhardt 1979, S. 198. Die Frage, ob, wie Lauth es ausdrückt, der Gedankenschritt vom Sittengesetz zur Freiheit eine praktische Erkenntnis genannt werden sollte, führt letztlich über das hier hinreichend Analysierbare hinaus; vgl.: Lauth 1975, S. 128. Kant selbst spricht zwar im zweiten Hauptstück der Analytik der praktischen Vernunft vom Gegenstand der praktischen Erkenntnis als der »Beziehung des Willens auf die Handlung, dadurch er oder sein Gegentheil, wirklichgemacht würde, […]«, doch scheint der spezifische Sinn der Rede von Erkenntnissen ohne den kategorialen Reflexionsakten korrespondiere Anschauungen letztlich unterbestimmt zu bleiben; s.: KpV AA V, S. 57; vgl. die Kritik der Erweiterung der theoretischen Erkenntnis durch den Bezug auf das Praktische von Kynast, in: Kynast 1923, S. 12. 207 Vgl.: Düsing 2002, S. 231. Vor dem Hintergrund seiner skeptischen Perspektive auf die Deduktion der GMS hebt Düsing die zumindest vergleichsweise konstatierbare metaphysische Sparsamkeit der Faktumslehre hervor; vgl.: Düsing 2002, S. 232. Mit Allison muss man jedoch auf den Umstand hinweisen, dass man Kants Faktumslehre im Rahmen seiner kritischen Idee als nicht ganz so unproblematisch beurteilen muss; vgl.: Allison 1989, S. 116; vgl. ebenfalls: Prauss 1983, S. 66 ff. Zudem scheint mir bei Düsings Überlegungen noch nicht hinreichend reflektiert, wie die Faktumslehre sich zu den axiologischen Voraussetzungen verhält, die Kant schon der Deduktion in der GMS vorausschickt. Die bloße Konstatierung der Mitgliedschaft in der intelligiblen Welt bedeutet angesichts der ebenfalls bestehenden Mitgliedschaft des Menschen in der sinnlichen Welt so lange keine analytisch zu entwickelnde Vorrangposition des Intelligiblen bzw. Moralischen, als nicht die axiologische Auszeichnung des Intelligiblen immer schon vorausgesetzt wird. Diese jedoch hat Kant primär in der GMS dargelegt und – wie noch genauer zu zeigen ist – auf veränderte Art und Weise in der Achtungstheorie der KpV weiterentwickelt. 208 S.: Korsgaard 1996b, S. 169. Aus der Perspektive Guyers hingegen müsste man der Freiheit als ratio essendi die primäre Motivationsfunktion zuschreiben; vgl. zu seiner A

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gen für Kants Motivationstheorie nicht zuletzt in axiologischer Perspektive bestehen. In Entsprechung dazu macht m. E. auch die Redeweise von der ›Freiheit als Seinsgrund des Sittengesetzes‹ nur Sinn, wenn ›Seinsgrund‹ als praktisch-transzendentale Geltungsbedingung und nicht als ontologischer Grund verstanden wird. Die praktisch-transzendentale Geltungsfunktion der Freiheit ist im Rahmen der Faktumslehre derart zu spezifizieren, dass das endliche Vernunftwesen nach Kant ohne die Voraussetzung der Freiheit kein Bewusstsein vom Sittengesetz, von der eigenen unbedingten moralischen Verpflichtung besitzen könnte. Es handelt sich dabei um eine genuin praktische Voraussetzung, da der Rechtfertigungsgrund für die Notwendigkeit ihrer Annahme in der praktischen Gewissheit liegt, dass das Sittengesetz für den endlichen Willen tatsächlich unbedingt verpflichtend ist. Diese Behauptung der Wirklichkeit des unbedingten Verpflichtetseins stellt zwar den fundamentalen Unterschied zur Deduktion der GMS dar, doch kann die präsuppositionslogische Relation von Sittengesetz und Freiheit anhand einer geltungsorientierten Rekonstruktion des Begriffs der ratio essendi bis zu einem gewissen Grad der axiologischen KI-Begründung in der GMS angenähert werden. V.1.2.3.3 Problemausblick Die Rekonstruktion der Frage nach dem Grund des Sittengesetzes bzw. Kategorischen Imperativs hat verdeutlicht, dass Kant in der GMS das Dasein der vernünftigen Natur als absolut werthaften Grund möglicher moralischer Imperative bestimmt, während er in der KpV die Idee der Freiheit als Grund des Sittengesetzes bezeichnet. In beiden Werken werden diese Konzepte von zentralen Lehrstücken flankiert, die jeweils in spezifischen Beziehungen zu den Thesen des absoluten Werts (GMS) und der Freiheit (KpV) als Grund des Kategorischen Imperativs stehen: Während die axiologische These des Vorrangs der Verstandeswelt auf die These des absoluten Werts und Selbstzwecks der vernünftigen Natur als deren zumindest argumentativer Voraussetzung bezogen werden muss, stellt die Faktumslehre im Kern nichts anderes als eine auf dem Achtungsbegriff fußende praktische Begründungs- und

entsprechenden Kritik an Korsgaards Betonung des rationalen Wertstiftungsvermögens: Guyer 2000, S. 150 f.

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daher auch Motivationstheorie dar. 209 Ein systematisch aufschlussreicher Vergleich von Deduktion und Faktumslehre vor dem Hintergrund der moralphilosophischen Begründungsproblematik kann m. E. nicht darauf verzichten, diese bestehenden Relationen mit zu berücksichtigen. So unterschiedlich man nun auch Deduktionsversuch und Faktumslehre sowie deren Verhältnis charakterisieren mag, muss man sich demnach den beiden Begriffen des ›Werts‹ und der ›Freiheit‹ widmen, um eine differenzierte Analyse der Struktur der kantischen Ethik im Allgemeinen und des Verhältnisses von Werttheorie und Faktumslehre im Besonderen zu ermöglichen. Eine Verhältnisbestimmung der Wertthese der GMS und der Faktumslehre bzw. Achtungstheorie ist allerdings dem späteren Kapitel VIII vorbehalten, da zuerst untersucht werden muss, was Kant unter ›Wert‹ versteht und zudem, wie die Konzeption des Selbstzwecks genauer zu rekonstruieren ist, welche sowohl in der Selbstzweckformel als auch in den bereits erwähnten axiologischen Ausführungen der GMS eine Rolle spielt. Bevor die ethiktypologisch zentrale Frage nach den systematischen Funktionen des Wertkonzepts sowie dem Zusammenhang von Wert und Freiheit beantwortet wird, erfolgt eine Darstellung der wichtigsten, im weitesten Sinne als teleologisch zu bezeichnenden Grundbegriffe der kantischen Ethik.

V.2 Teleologische Begriffe Im Vergleich mit den (vermeintlich) deontischen Termini ist die Anzahl derjenigen Begriffe, die man gemeinhin als in teleologischen Kontexten beheimatet sehen würde, ungleich größer: Selbst wenn man nur die allerwichtigsten Konzepte heranzieht, liegen Kants Ethik mehr als doppelt so viele teleologische als deontische Begriffe zugrunde. Daraus folgt zuerst allerdings noch nicht viel, da sich eine hinreichend ausführliche ethiktypologische Analyse nicht allein auf einzelne Begriffe oder gar diesbezügliche quantitative Aspekte konzentrieren kann, sondern nicht nur deren spezifische Bedeutung, sondern ebenfalls die strukturellen Relationen zwischen ihnen beurteilen muss. Im Folgenden wird daher wie bei den deontischen Begriffen der ›Pflicht‹ und des ›Katego-

209

Vgl. dazu Kapitel VIII dieser Untersuchung. A

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rischen Imperativs‹ versucht, Bedeutung und Funktion der Termini in ihrem weiteren systematischen Kontext nachzuvollziehen.

V.2.1 Wille Der Willensbegriff ist vor allem in Leists Rezeption das argumentativ ausschlaggebende Strukturmoment für seine These, dass Kants Ethik letztlich eine teleologische sei: Der Hauptbegriff Kants sei derjenige des guten Willens und dieser sei per definitionem intentional und somit konstitutiv auf Zwecke bezogen. 210 Im Folgenden muss geprüft werden, was Kant unter dem Willensbegriff im Allgemeinen sowie demjenigen des guten Willens im Besonderen versteht und wie stichhaltig die starke Teleologie-These Leists zumindest in derjenigen Hinsicht ist, welche direkt auf die kantische Bestimmung dieses Konzepts Bezug nimmt. Die basale, da noch verhältnismäßig unspezifizierte Definition des Willensbegriffs findet sich in der GMS: »Der Wille ist eine Art von Causalität lebender Wesen, so fern sie vernünftig sind.« 211 Im Ausgang von seiner Überzeugung der prinzipiellen Gesetzmäßigkeit jeglicher Art von Kausalität hebt Kant das Vernunftwesen gegenüber anderen Wesen hervor, indem er auf das vernunftspezifische Vermögen des Willens verweist: »Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Principien, zu handeln, oder einen Willen.« 212 Die Art der durch den Willensbegriff bezeichneten Kausalität wird von Kant vor allem in der KU genauer spezifiziert als Zweckkausalität, was bedeutet, dass das Vermögen des Willens die Fähigkeit ist, sich selber Zwecke zu setzen und somit »eine Causalität

210 Vgl.: Leist 2000, S. 268. Stellvertretend für die in der Forschung verbreitete Bewertung der Bedeutung des Willens für die kantische Ethik sei an dieser Stelle die prägnante Aussage Schwartländers zitiert: »Wille bedeutet […] nicht mehr ein bestimmtes Vermögen neben anderen, sondern das ›Aktwesen‹ des Menschen überhaupt, und in diesem umgreifenden Sinn darf er als das personale Sein des Menschen bezeichnet werden.« S.: Schwartländer 1968, S. 182. 211 S.: GMS AA IV, S. 446. 212 S.: GMS AA IV, S. 412. Vgl. ebenfalls: »Der Wille wird als ein Vermögen gedacht, der Vorstellung gewisser Gesetze gemäß sich selbst zum Handeln zu bestimmen. Und ein solches Vermögen kann nur in vernünftigen Wesen anzutreffen sein.« S.: GMS AA IV, S. 427.

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der Endursachen«213 auszuüben. Die Fähigkeit der Zwecksetzung kann dabei nach Kant nicht ohne die Voraussetzung der Freiheit gedacht werden, da das endliche Vernunftwesen nicht dazu gezwungen werden könne, sich bestimmte Zwecke zu setzen. 214 Wille ist somit dasjenige Vermögen, durch das praktische Freiheit mittels Zweckkausalität unmittelbar wirksam werden kann. Eine differenziertere Bestimmung des Willensbegriffs als etwa diejenige in der GMS findet sich in der KpV: Dort unterscheidet Kant ein oberes von einem unteren Begehrungsvermögen, wobei die spezifische Funktion und Struktur dieser beiden Formen der Strebensfähigkeit 215 endlich-vernünftiger Wesen im Kontext der Problematik material bestimmter praktischer Regeln erörtert werden. Praktische Regeln entstammen der Vernunft, »weil sie Handlung als Mittel zur Wirkung als Absicht vorschreibt«216 , was nichts anderes heißt, als dass man eine bestimmte Absicht haben muss, damit eine entsprechende praktische Regel ein adäquates Mittel zur erfolgreichen Verfolgung dieser Intention bereitstellen kann. 217 In allgemeiner Anlehnung an die Minimaldefinition des Willens in der GMS 218 charakterisiert Kant das Begehrungsvermögen als solches durch die Eigenschaft, »durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein.« 219 WähS.: KU AA V, S. 426. Vgl.: MS AA VI, S. 381 f. 215 Die schon hier von mir festgesetzte Charakterisierung des Begehrungsvermögens als Form eines Strebens scheint mir insofern keine vorschnelle, in ethiktypologischer Perspektive interpretatorisch zu nennende Klassifizierung zu sein, als der Begriff des ›Begehrens‹ grundsätzlich nicht ohne die Vorstellung irgendeiner Art des Strebens verständlich ist. 216 S.: KpV AA V, S. 20. 217 »Die Absicht oder der Zweckbegriff fungiert dabei als ›Bedingung‹ der Geltung der Regel.« S.: Willaschek 1992, S. 65; vgl.: KpV AA V, S. 21. In § 1 der KpV erläutert Kant darüber hinaus, dass praktische, den Willen allgemein bestimmende Grundsätze mehrere praktische Regeln unter sich befassen, wobei man zwischen subjektiven und objektiven Grundsätzen unterscheiden müsse: Subjektive Grundsätze (Maximen) seien nur für den Willen des sie formulierenden Subjekts gültig, während objektive (praktische Gesetze) für jeden Willen verbindlich seien. 218 In der GMS benutzt Kant die der KpV zugrundeliegende handlungstheoretische Begrifflichkeit noch nicht; vgl.: Schönecker/Wood 2002, S. 99. Anders als in der GMS greift er in der KpV häufig auf die Begriffe des ›Begehrungsvermögens‹ und des ›Bestimmungsgrundes‹ zurück, was zu einer modifizierten Form der Willensauffassung führt; vgl.: Horn 2002, S. 44. 219 S.: KpV AA V, S. 9 und S. 21 f. 213 214

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rend er im Lehrsatz 1 des § 2 der KpV nur festsetzt, dass diejenigen praktischen Prinzipien empirisch seien, welche ein material bestimmtes Objekt als Bestimmungsgrund des Willens voraussetzen, stellt die Folgerung aus dem 2. Lehrsatz in § 3 eine Reformulierung dieser Aussage mit Bezug auf die Binnendifferenzierung des Begehrungsvermögens dar: Alle materiale praktische Regeln setzen den Bestimmungsgrund des Willens im unteren Begehrungsvermögen, und, gäbe es gar keine blos formale Gesetze desselben, die den Willen hinreichend bestimmten, so würde auch kein oberes Begehrungsvermögen eingeräumt werden können. 220

Daraus ergibt sich, dass Kant in der KpV von einer grundsätzlichen Zweiteilung des Begehrungsvermögens ausgeht, welche in direkter Relation zu der Art praktischer Regeln steht, durch welche der Wille jeweils bestimmt wird: Während das untere Begehrungsvermögen durch seine Bezogenheit auf materiale Bestimmungsgründe und somit durch die gefühlsmäßige Empfänglichkeit für Lust verschaffende Vorstellungen 221 definiert sei, zeichne sich das obere Begehrungsvermögen durch seine strukturelle Verbindung zu formalen praktischen Gesetzen 222 aus. V.2.1.1 Wille und Willkür in der MS Zur Charakterisierung der spezifischen Form des strukturellen Zusammenhangs von materialen bzw. formalen praktischen Regeln und den entsprechenden Momenten des Begehrungsvermögens verwendet Kant in der KpV immer wieder die Begriffe des ›Bestimmungsgrundes‹ und, allgemeiner, der ›Willensbestimmung‹. Die Art des jeweiligen Bestimmungsgrundes und somit die Struktur der Willensbestimmung ist nach Kant entscheidend, wenn es um eine moralische Beurteilung eines Willens geht, sodass diese Termini im Rahmen einer Erläuterung des S.: KpV AA V, S. 22. »Die Lust aus der Vorstellung der Existenz einer Sache, so fern sie ein Bestimmungsgrund des Begehrens dieser Sache sein soll, gründet sich auf der Empfänglichkeit des Subjects, weil sie von dem Dasein eines Gegenstandes abhängt; mithin gehört sie dem Sinne (Gefühl) und nicht dem Verstande an, der eine Beziehung der Vorstellung auf ein Object nach Begriffen, aber nicht auf das Subject nach Gefühlen, ausdrückt.« S.: KpV AA V, S. 22. 222 Der allgemeine Bezug des Begehrungsvermögens auf Prinzipien wird schon in der GMS angesprochen, wenn Kant den Willen als »Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Principien, zu handeln« beschreibt; s.: GMS AA IV, S. 412. 220 221

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Willensbegriffs explizit bestimmt werden müssen. 223 Grundsätzlich versteht Kant unter einem ›Bestimmungsgrund‹ offenbar diejenige Ursache, welche den Willen determiniert, 224 wobei diese Ursache sowohl vernünftig (formal) als auch nicht vernünftig (material) sein könne. Im Ausgang von zahlreichen Stellen kann der Begriff der ›Willensbestimmung‹ nur als Genitivus objectivus sinnvoll verstanden werden, sodass darunter offenbar eine verbindliche »Festlegung unserer Handlungsfähigkeit« 225 auf subjektive oder objektive praktische Regeln begriffen werden soll. Kant scheint von einem vom neuzeitlichen Willenskonzept als Dezisionsvermögen abweichenden Verständnis auszugehen, das letztlich bis zur platonischen Gorgias-Tradition zurückverfolgt werden kann. 226 Wille, als oberes Begehrungsvermögen betrachtet, beAngesichts des Mangels an genaueren Untersuchungen zum Bestimmungsbegriff bei zugleich bestehender Notwendigkeit seines adäquaten Verständnisses im Kontext von Analysen des kantischen Willensbegriffs weist Horn auf die Notwendigkeit seiner ausführlicheren Betrachtung hin; vgl.: Horn 2002, S. 44 ff. 224 Verdeutlich werden kann dies u. a. anhand einer kantischen Äußerung zur Charakterisierung empirischer Prinzipien: »[…] der Bestimmungsgrund der Willkür ist alsdann die Vorstellung eines Objects und dasjenige Verhältniß derselben zum Subject, wodurch das Begehrungsvermögen zur Wirklichmachung desselben bestimmt wird.« S.: KpV AA V, S. 21. Kant spricht an dieser Stelle von der Willkür, welche gewissermaßen einen Aspekt des Willens, nicht jedoch diesen als ganzen ausmacht, wie im Folgenden noch genauer ausgeführt wird. 225 S.: Horn 2002, S. 47. Daher ist es m. E. gegen Cummiskey nicht nachvollziehbar, inwiefern dieser Begriff sowohl als Rechtfertigungs- als auch als Erklärungsgrund fungieren können soll; vgl.: Cummiskey 1996, S. 30. 226 Vgl. dazu den Kommentar MacIntyres zu Kontinuitäten des kantischen Ethikansatzes zur Idee des vernünftigen Willens in Platons Gorgias: MacIntyre 1997, S. 69 f.; vgl. ebenso: Horn 2002, S. 51 f., S. 54 und S. 60. Die von Platon im Gorgias artikulierte Annahme besagt grundsätzlich, dass Personen, deren Verhalten sich durch moralische Defizienz auszeichnet, nicht das tun, was sie wollen (denn dies wäre vernünftig-moralisch), sondern durch kontingente sinnliche Affektionen bestimmen lassen. Horn unterscheidet hinsichtlich dieser Tradition eines rationalen Willensbegriffs zwei charakteristische Strukturmomente: Einerseits impliziere diese Tradition einen Wahrnehmungsaspekt, da der Akteur den Willen als eine vernünftige Strebenstendenz quasi reifiziert, sich ihm also in der Form eines gegenständlichen Phänomens bewusst wird; andererseits gebe es einen normativen Aspekt, da die rationale Ausrichtung des Willens nicht nur indifferent hingenommen werden kann, sondern apriori als moralisch normativ-gebietende Struktur verstanden werden muss; vgl.: Horn 2002, S. 52. Der Verweis auf die systematische Binnenstruktur dieser Willensauffassung ist insofern von Belang, als gerade der auch in der kantischen Ethik in Erscheinung tretende Wahrnehmungsaspekt dazu verleiten kann, den rationalen Willen oder auch das Sittengesetz zumindest tendenziell zu hypostasieren bzw. zu substantialisieren. 223

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deutet in dieser Perspektive weder ein Entscheidungsvermögen noch eine bestimmte Art von Aktionspotential im Sinne von finalisierten Kraftreserven, sondern eine grundsätzlich vernünftige Strebensfähigkeit. Besonders deutlich wird dies, wenn man die MS, besonders die ›Einleitung in die Metaphysik der Sitten‹ betrachtet, in der Kant die Rede vom Begehrungsvermögen aus der KpV fortführt. Dort differenziert er zwischen Willen und Willkür, wobei er den intellektualistischen Willensbegriff der Gorgias-Linie mit dem Willen und das Vermögen zur konkreten Ausführung und Entscheidung mit der Willkür gleichsetzt. 227 Diese Differenzierung zwischen Wille und Willkür 228 ist allein schon insofern von nicht zu unterschätzender Relevanz, als die in der MS getroffene (allerdings schon in der GMS vorhandene 229 ) Identifikation von Wille und praktischer Vernunft Konsequenzen für dessen Verhältnis zur Freiheitsproblematik besitzt: Während Kant noch in der Grundlegung davon ausging, dass der Wille nicht per definitionem durch das Sittengesetz bestimmt sei, 230 steht in der MS dagegen fest, dass er allein auf das Moralgesetz gerichtet ist und somit »unmittelbar auf die Gesetzgebung für die Maxime der Handlung (also die praktische Vernunft selbst) geht« 231 . Dies impliziere jedoch, dass der Wille aufgrund seiner Unabhängigkeit von jedem unmittelbaren Handlungsbezug im Gegensatz zum Vermögen der Willkür »weder frei noch un-

227 »Das Begehrungsvermögen nach Begriffen, sofern der Bestimmungsgrund desselben zur Handlung in ihm selbst, nicht in dem Objecte angetroffen wird, […] mit dem Bewußtsein des Vermögens seiner Handlung zur Hervorbringung des Objects verbunden […], heißt […] Willkür, […]. Das Begehrungsvermögen, dessen innerer Bestimmungsgrund, folglich selbst das Belieben in der Vernunft des Subjects angetroffen wird, heißt der Wille.« S.: MS AA VI, S. 213. An gleicher Stelle reformuliert Kant die Begriffsbestimmung des Willens und der Willkür unter dem Gesichtspunkt der Bezogenheit des Begehrungsvermögens: »Der Wille ist also das Begehrungsvermögen, nicht sowohl (wie die Willkür) in Beziehung auf die Handlung, als vielmehr auf den Bestimmungsgrund der Willkür zur Handlung, betrachtet, und hat selber vor sich eigentlich keinen Bestimmungsgrund, sondern ist, sofern sie die Willkür bestimmen kann, die praktische Vernunft selbst.« 228 Die Willkür zeichnet sich allgemein durch zwei Eigenschaften aus: »Sie ist einerseits maximensetzend und soll andererseits die spontane Ursache von Handlungen in der Sinnenwelt sein.« S.: Dittrich 2004, S. 191. 229 Vgl.: GMS AA IV, S. 412. 230 Andernfalls wären die dort vollzogenen Spezifizierungen eines guten oder heiligen Willens nicht nur redundant, sondern unverständlich. 231 S.: MS AA VI, S. 226.

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frei genannt werden« 232 kann. Dagegen sei die Willkür einzig und allein frei zu nennen, doch auch nicht, wie vielleicht zu erwarten wäre, als Vermögen der Entscheidung für oder gegen das Sittengesetz, sondern nur im Rahmen der moralisch grundsätzlich adäquaten Maximenwahl. 233 Auch wenn dieser kantische Sprachgebrauch erstens für ein heutiges Begriffsverständnis gewöhnungsbedürftig ist und zudem von Kant selbst nicht vollkommen ohne Ausnahme praktiziert wird, 234 gilt demnach für das Profil von Wille und Willkür in der MS als ausgearbeiteter moralphilosophischer Ansatz Kants, dass im Anschluss an Horn die Willkür als »rationales Dezisionsvermögen« 235 und der Wille als »rationales Strebevermögen« 236 oder auch als ein vernunftgeleitetes »Aufdeckungsvermögen des moralisch Richtigen« 237 rekonstruiert werden muss. Kant parallelisiert dabei die Vermögen der Willkür und des Willens mit negativer und positiver Freiheit: Während ersteres in der Unabhängigkeit von sinnlichen Bestimmungsgründen bestehe, sei der Wille »das Vermögen der reinen Vernunft für sich selbst praktisch zu sein.« 238 V.2.1.2 Willensbestimmung und Willensausrichtung in der RGV Mit der expliziten Differenzierung zwischen der Bestimmung und der Ausrichtung des Willens in der späten Religionsschrift vollzieht Kant eine Binnenstrukturierung des Prozesses der Willenskonfiguration, welche in ethiktypologischer Hinsicht insofern relevant zu sein scheint, als die Willensbestimmung im Unterschied zu ihrer teleoloS.: MS AA VI, S. 226. Freiheit als Freiheit auch zum Bösen im Sinne einer bewussten Abweichung vom Sittengesetz als Bestimmungsgrund der Willkür ist nach Kant keine positive Fähigkeit, sondern vielmehr ein »Unvermögen«, s.: MS AA VI, S. 227. In seiner vielbeachteten Kritik an dieser kantischen Konzeption hat Prauss bekanntlich konstatiert, dass es sich bei der angeblichen Freiheit der Willkür letztlich nur um eine Heteronomie höherer Stufe handele; vgl.: Prauss 1983, S. 113. Auch wenn die Willkür kein reines, sondern durch unzureichende Beachtung des Sittengesetzes auch sinnlich affizierbares Vermögen ist, handelt es sich nach Kant grundsätzlich dennoch um ein Vernunftvermögen, sodass man mit Dittrich gegen Prauss festhalten muss, »dass die Vernunft ihr keine fremde Bestimmung gibt«; s.: Dittrich 2004, S. 191 Anm. 158. 234 Vgl. zur diesbezüglichen Kritik Schöneckers: Schönecker 1999, S. 40. 235 S.: Horn 2002, S. 53. 236 S.: Horn 2002, S. 53. 237 S.: Horn 2002, S. 53. 238 S.: MS AA VI, S. 214. 232 233

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gisch/konsequentialistisch anmutenden Ausrichtung eine deontologische Rekonstruktion nahe legen könnte: Im Rahmen der Behandlung der Triebfederproblematik hebt Kant in der Vorrede zur ersten Auflage hervor, dass es keines Zwecks als eines materialen Bestimmungsgrundes bedürfe, um seine Pflicht zu erkennen und dieser auch in seinem Handeln Rechnung zu tragen. 239 Zugleich spricht Kant an dieser Stelle deutlicher als in allen anderen Werken die notwendige Bezogenheit der Willensbestimmung auf Zwecksetzungen aus, wobei erst die genauere Beschreibung der Art der Notwendigkeit in ethiktypologischer Perspektive aufschlussreich ist: Obzwar […] die Moral zu ihrem eigenen Behuf keiner Zweckvorstellung Bedarf, die vor der Willensbestimmung vorhergehen müßte, so kann es doch wohl sein, daß sie auf einen solchen Zweck eine nothwendige Beziehung habe, nämlich, nicht als auf den Grund, sondern als auf die nothwendigen Folgen der Maximen, die jenen gemäß genommen werden.- Denn ohne alle Zweckbeziehung kann gar keine Willensbestimmung im Menschen statt finden, weil sie nicht ohne alle Wirkung sein kann, deren Vorstellung, wenn gleich nicht als Bestimmungsgrund der Willkür und als ein in der Absicht vorhergehender Zweck, doch als Folge von ihrer Bestimmung durchs Gesetz zu einem Zwecke muß aufgenommen werden können […], ohne welchen eine Willkür, die sich keinen weder objectiv noch subjectiv bestimmten Gegenstand (den sie hat, oder haben sollte) zur vorhabenden Handlung hinzudenkt, zwar wie sie, aber nicht wohin sie zu wirken habe, angewiesen, sich selbst nicht Gnüge thun kann. 240

Zuerst ist festzuhalten, dass Kant wie auch in der GMS, KpV und MS die Unabhängigkeit der moralischen Willensbestimmung sowohl in epistemologischer als auch handlungspraktischer Perspektive von ihr vorhergehenden Zwecksetzungen und insofern ein deontisches Moment seiner Willens- und Handlungskonzeption betont. Zweitens macht er deutlich, dass die Willenskonfiguration trotz ihrer grundsätzlichen Zweckunabhängigkeit nicht ohne Zweckbezug verwirklicht werden kann und dieser daher auch notwendig zur tatsächlichen Willensbestimmung gehört. Die Art der Notwendigkeit, von der Kant hier spricht, ist dabei offenbar der konkreten, empirischen menschlichen

S.: RGV AA VI, S. 3 f. S.: RGV AA VI, S. 4. Unter ›Willensbestimmung‹ scheint Kant in diesem Zitat das Ganze des Prozesses der Willkürbestimmung vor dem Hintergrund des auf das Sittengesetz ausgehenden, rationalen Willens zu verstehen. 239 240

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Natur geschuldet: Die menschliche Willkür benötige irgendeine Art von Zweckvorstellung als moralisches Handlungsziel, auch wenn eine solche Zweckvorstellung nicht selber ihren Bestimmungsgrund ausmachen und ihr dementsprechend nicht als handlungsleitende Intention vorhergehen dürfe. Die hier entwickelte Argumentation könnte durchaus verwirrend anmuten, wenn man nicht zwischen zwei Begriffen der Willensbestimmung differenzieren würde: Wenn Kant von der prinzipiellen Zweckunabhängigkeit der Willensbestimmung spricht, meint er offenbar deren praktisch-geltungstheoretische bzw. begründungstheoretische Autonomie ohne Rücksicht auf die empirischen Eigentümlichkeiten des endlich-unvollkommenen Vernunftwesens Mensch. 241 Der Hinweis auf die zugleich bestehende Notwendigkeit eines Zweckbezugs eben dieser Willensbestimmung als deren notwendiger Sekundäraspekt scheint dagegen den empirisch-endlichen Vollzug der Willensbestimmung als Festlegung der Willkür zu thematisieren, bei welchem das reine ›Wie‹ nicht mehr ausreicht, sondern die verbindliche Angabe auch eines ›Wohin‹ nötig ist, um dem praktischen Sinnbedürfnis endlicher Vernunftwesen gerecht zu werden. Es mag daher im Ausgang von den bisher betrachteten kantischen Aussagen gerechtfertigt sein, im Kontext der Religionsschrift von einer allenfalls sekundären Motivationsfunktion von Zwecken zu sprechen: Sie dürfen nicht das primäre Moment der Willensbestimmung ausmachen (den Bestimmungsgrund des Willens als dessen allem anderen übergeordnete Form), wohl jedoch das aus dem primären abgeleitete, sekundäre Moment der Hinordnung des Willens auf einen moralischen Zweck (die Bestimmungsrichtung als von der Form des Sittengesetzes abgeleiteter Inhalt). Zwischenfazit Unsere bisherige Darstellung beinhaltet drei, in ethiktypologischer Hinsicht zumindest auf den ersten Blick nicht ohne Weiteres kompatibel erscheinende Momente des Willensbegriffs, wobei es sich um ein deontisches, ein teleologisches und ein weiteres, nicht derart eindeutig klassifizierbares Moment handelt: 241 Dies wird auch wenig später im Text deutlich, wenn Kant im Kontext der Erläuterung der Idee des höchsten Guts von einem »natürlichen Bedürfnisse, zu allem unserm Thun und Lassen im Ganzen genommen irgend einen Endzweck, der von der Vernunft gerechtfertigt werden kann, zu denken« spricht; s.: RGV AA VI, S. 5.

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1. Das deontische Moment: Zum einen hebt Kant hervor, dass dem Willen als dem Menschen allgemein zukommenden Vermögen rationalen Strebens kein Bestimmungsgrund vorhergehe, d. h. dass auch keine Zweckvorstellung irgendwelcher Art den Willen, welcher seinerseits als Bestimmungsgrund der Willkür fungiert, selbst noch einmal bestimmen könne. Bezüglich der Willkür betrachtet, stellt sich der Wille in seinem normativen Aspekt demnach als Struktur dar, von der ein unbedingtes moralisches Gebot ausgeht. Dieses Phänomen der strikten, von Zwecken unabhängigen moralischen Sollensforderung wird oftmals als Ausdruck der Überzeugung eines Primats des Richtigen gegenüber dem Guten verstanden und zeichnet dieses Strukturmoment des Willens in einer ethiktypologischen Reflexion erster Stufe als deontisch aus. 2. Das teleologische Moment: Zum anderen hat sich jedoch gezeigt, dass spätestens mit der Unterscheidung von Wille und Willkür und der Skizzierung des Willens als rationales Strebensvermögen ein impliziter konzeptueller Anschluss Kants an eine antik-teleologische Tradition vorliegt, was insofern nicht allzu verwunderlich sein dürfte, als auch ein wichtiges Resultat der Darstellung des Pflichtbegriffs schon darin bestand, dass Pflicht ohne Umschweife als Vorstellung eines Zwecks, daher letztlich als Derivat einer eigentlich teleologischen Systematik eingeführt wurde. 242 3. Drittens wird in der Religionsschrift ein bestimmtes praktisches Hierarchiemodell von deontischen und teleologischen Momenten innerhalb des Konzepts der Willensbestimmung expliziert, welches an diesem Phänomen die beiden Aspekte des Bestimmungsgrundes und der Bestimmungsausrichtung unterscheidet. Der Bestimmungsgrund des Willens stellt dabei das bereits erwähnte deontische Moment dar, wobei dieses jedoch als in empirischer Handlungsperspektive notwendigerweise als durch einen ihm nachfolgenden Zweckbezug ergänzungsbedürftig skizziert wird. Allerdings handelt es sich bei diesem Moment nicht um eine Art Synthese der ersten beiden genannten Momente, da es sich beim zweiten (teleologischen) Moment nicht um den

242 »Der imperativisch-deontologische Charakter seiner Ethik, Kants scheinbares Proprium gegenüber der strebensethischen Tradition, wird in Wahrheit exakt vor dem Hintergrund eines teleologischen Modells entwickelt und ausdrücklich als dessen Defizienzform charakterisiert.« S.: Horn 2002, S. 56; vgl. zudem: Loock 1998, S. 36; Diemer 1953, S. 25; Schönecker 1999, S. 32.

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hier fokussierten, empirisch-anthropologisch bedingten Aspekt handelt. Kurioserweise muss man in diesem Fall im diametralen Gegensatz zum Fazit zum zweiten Moment davon sprechen, dass sich nun nicht die Berücksichtigung der deontologischen, sondern der teleologischen Elemente (Zwecke) einem Defizienz- oder zumindest einem Bedürftigkeitsbefund verdankt, nämlich der empirischen Beschaffenheit des Menschen. Während der imperativische und deontologische Zug von Kants Ethik nicht vom Sittengesetz selbst, sondern von dessen Bezug auf das endliche Vernunftwesen stammt, wirkt sich diese Endlichkeit des moralischen Akteurs im Rahmen der konkreten Willensbestimmung wiederum dergestalt aus, dass Kant die Annahme von Zwecken für notwendig erachtet, damit ein menschlicher Akteur wirklich (empirisch) handlungsfähig wird. Zwar verdanken sich sowohl die imperativische Form und die Virulenz des Pflichtbegriffs bzw. der Pflichten als auch die kantische Berücksichtigung von Zwecken demnach der empirischen Faktizität des Menschseins, doch skizziert Kant den Einbezug von Zwecksetzungen ausdrücklich als Bezugnahme auf ein dem Menschen natürlicherweise zukommendes Bedürfnis, während dies hinsichtlich der Pflichten nicht gesagt werden kann: Das Sittengesetz wird nur aufgrund der bestehenden Doppelnatur des Menschen zum Kategorischen Imperativ und nicht etwa wegen eines genuin menschlichen Bedürfnisses nach ihm bzw. den durch ihn auferlegten Pflichten. Dies bedeutet, dass der Grund dieser beiden ethiktypologisch unterschiedlichen Strukturen nur oberflächlich betrachtet identisch ist: Das deontische Moment der Pflicht kann demnach in bedingungsanalytischer (nicht begründungstheoretischer) Perspektive letztlich bis auf die transzendental-idealistische Auflösung der dritten Antinomie aus der KrV zurückgeführt werden, dasjenige der teleologischen Natur menschlicher Handlung auf eine empirisch fundierte These. Damit haben wir allerdings noch nicht alle ethiktypologisch relevanten kantischen Aussagen über den Willen betrachtet, denn speziell die teleologische Kant-Interpretation Leists setzt an einer besonderen Gestalt dieses Begriffs an, welche von vielen Interpreten auch unabhängig von der Deontologie/Teleologie-Frage in den Mittelpunkt systematischer Rekonstruktionen gerückt wurde: am Konzept des guten Willens.

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V.2.1.3 Guter Wille Der gute Wille 243 wird gleich zu Beginn der GMS eingeführt als das einzig Denkbare, das uneingeschränkt gut zu nennen sei. 244 Alle weiteren möglichen Talente und Glücksgaben hängen nach Kant in moralischer Sicht von der Beschaffenheit des Willens, d. h. vom jeweiligen Charakter 245 ab und können daher nicht auf ähnliche Weise beurteilt werden. 246 Dies bedeute nicht, dass natürliche Gaben wie Intelligenz und Gesundheit unabhängig vom guten Willen für den Akteur keinen ex- oder auch intrinsischen Wert besitzen könnten, doch gebe es kein anderes unbedingtes (kontextinvariantes) Gutes. Intrinsisches und unbedingtes Gutsein sind demnach bei Kant zu unterscheiden.247 Zudem 243 Ebenso wie hinsichtlich des Kategorischen Imperativs wird seit langem eine weitreichende Diskussion über die Relevanz der Konzeption des guten Willens für die kantische Gesamtsystematik geführt. Über die intuitive Eingängigkeit des guten Willens im Sinne seiner Deutung als Explikation eines weitgehend bestehenden Common Sense besteht dabei zuweilen ein massiver Dissens; vgl.: Hill 2002, S. 37; vgl. zu einer Common Sense-orientierten Interpretation des guten Willens: Sorell 1987. Jüngst hat sich Wood explizit gegen die Primärrelevanz des guten Willens für die Rekonstruktion der kantischen Ethik ausgesprochen; vgl.: Wood 2006, S. 31 und S. 37 f. 244 Vgl.: GMS AA IV, S. 393. 245 Vgl.: GMS AA IV, S. 393. 246 Der gute Wille besitze u. a. die Funktion, die natürlichen Gaben des Menschen »allgemein=zweckmäßig« zu machen; s. GMS AA IV, S. 393. Kant behauptet damit nicht, dass natürliche Talente und Eigenschaften unabhängig vom guten Willen gar keinen Wert haben könnten, sondern nur, dass sie abgesehen von ihrem Bezug zum guten Willen keinen genuin moralischen Wert hätten. Damit wird also nicht bestritten, dass z. B. die Eigenschaft des Reichtums innerhalb einer bestimmten Zweck-Mittel-Relation ebenfalls gut genannt werden könne. Zudem behauptet Kant damit ebenfalls nicht, dass der gute Wille etwa das einzig intrinsisch Gute, also nichts anderes als etwas um seiner selbst willen Angestrebte sei. Dies zeigt sich exemplarisch an seiner These, dass der Mensch naturnotwendig nach Glückseligkeit (als dem intrinsisch wertvoll Anerkanntem) strebe; vgl.: KpV AA V, S. 61. Natürlich sollte nur der gute Wille als einzig wirklich unbedingt Gutes anerkannt werden; vgl.: Korsgaard 1996b, S. 117 f. In diesem Zusammenhang bleibt mir auch der Sinn der Frage Woods verschlossen, ob nun der moralische Gesamtwert eines guten Willens samt schlechter Konsequenzen oder derjenige eines schlechten Willens samt guter Konsequenzen höher sei, denn gerade der Beginn der GMS lässt doch eigentlich keinen Zweifel daran aufkommen, dass erstens die erste Variante höherwertig sein muss und zweitens die Rede von schlechten Konsequenzen von aus gutem Willen ausgeführten Handlungen näherer Erläuterung bedarf; vgl.: Wood 2006, S. 29 f. 247 Dieser Sachverhalt wird z. B. an folgender Stelle deutlich: »Mäßigung in Affecten und Leidenschaften, Selbstbeherrschung und nüchterne Überlegung sind nicht allein in vielerlei Ansicht gut, sondern scheinen sogar einen Theil vom innern Werthe der Person

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gilt es, zwischen zwei möglichen Bedeutungen dieses Begriffs zu differenzieren: Während der gute Wille einerseits einen dem Sittengesetz prinzipiell (ohne Ausnahme) angemessenen Willen bezeichnet, 248 besitzt jedes Vernunftwesen trotz seiner auch sinnlich-endlichen Beschaffenheit insofern einen guten bzw. reinen oder heiligen Willen, als es Teil der intelligiblen Welt des Verstandes ist. Demnach gibt es gewissermaßen einen absolut guten Willen und einen durch die empirische Beschaffenheit des Menschen eingeschränkten guten Willen, für den der vollkommen gute Wille vernünftiger Wesen als praktischregulatives Ideal fungiert. Nicht die durch ihn bewirkten Folgen, sondern das Wollen, also die Art der Bestimmungsgründe des Willens, machen den guten Willen zu einem einzigartigen Vermögen. 249 Indem Kant den guten Willen zu Beginn der GMS als Inbegriff des Guten einführt, liefert er, wie Höffe richtig bemerkt, 250 mit dieser Begriffsexplikation zuerst nur eine metaethische These ohne unmittelbar normativ-ethischen Geltungsanspruch. Zur Erläuterung des guten Willens greift Kant zu Beginn der GMS auf den Pflichtbegriff zurück und beschreibt einen guten Willen dementsprechend als einen Willen, dessen Bestimmungsgründe stets unter dem Sittengesetz stehen, und charakterisiert die durch ihn bestimmten Handlungen als Handlungen aus Pflicht. Demnach bleibe »nichts für den Willen übrig, was ihn bestimmen könne, als, objectiv das Gesetz und subjectiv reine Achtung für dieses praktische Gesetz, mithin die Maxime, einem solchen Gesetze selbst mit Abbruch aller meiner Neigungen Folge zu leisten.« 251 Die Ablehnung einer primär instrumentellen Wertschätzung des Willens wird von Kant wohlgemerkt dadurch präzisiert, dass dessen Eignung zur erfolgreichen Verauszumachen; allein es fehlt viel daran, um sie ohne Einschränkung für gut zu erklären (so unbedingt sie auch von den Alten gepriesen worden).« S.: GMS AA IV, S. 394. Auch kurz zuvor spricht Kant nur davon, dass selbst dem guten Willen dienliche Eigenschaften an sich keinen »innern unbedingten Wert« hätten; s.: GMS AA IV, S. 393 f. 248 »Der Wille ist schlechterdings gut, der nicht böse sein, mithin dessen Maxime, wenn sie zu einem allgemeinen Gesetze gemacht wird, sich selbst niemals widerstreiten kann. Dieses Princip ist also auch sein oberstes Gesetz: handle jederzeit nach derjenigen Maxime, deren Allgemeinheit als Gesetzes du zugleich wollen kannst; dieses ist die einzige Bedingung, unter der ein Wille niemals mit sich selbst im Widerstreite sein kann, und ein solcher Imperativ ist kategorisch.« S.: GMS AA IV, S. 437. 249 Vgl.: GMS AA IV, S. 394. 250 Vgl.: Höffe 1992, S. 127. 251 S.: GMS AA IV, S. 400 f. A

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folgung eines beliebigen ›vorgesetzten‹ Zwecks für seinen moralischen Wert irrelevant sei, womit noch nicht alle, z. B. vernunftnotwendige und daher eben nicht beliebige und dem vernünftigen Willen heteronom-vorgegebene Zwecke ausgeschlossen sind. 252 Der gute Wille fungiere darüber hinaus als Zweck (als »wahre Bestimmung« 253 ) der praktischen Vernunft, da Kant in Anlehnung an die allgemeine Zweckmäßigkeit des Organischen auch von der entsprechenden Zweckmäßigkeit der Vernunft ausgeht. Die Idee des guten Willens fungiert folglich in der GMS als intellektuelles Strebensobjekt, als vernunftnotwendiger Zweck der vernünftigen Tätigkeit des Menschen. Aufgrund dieser konstatierten Vernunftnotwendigkeit kann man innerhalb der kantischen Systematik demnach zumindest nicht davon sprechen, dass der Zweck der Hervorbringung eines solchen Willens der Vernunft heteronom vorgegeben sei. 254 Man kann bis hierhin zwar festhalten, dass Kant ein teleologisches Vernunftmodell zu benutzen scheint, 255 doch ist damit noch nicht die Frage geklärt, ob der Zweck der Vernunft selber über eine derartige Struktur verfügt. Diese Frage ergibt sich offenbar nur vor dem Horizont des hier vorliegenden Sonderfalls, dass der postulierte Zweck als Objekt des Vernunftvermögens selbst ein Strukturmoment dieses Vermögens darstellt. M. a. W. kann immer noch gefragt werden: Was will der gute Wille? Denn sein zweckunabhängiger Wert impliziert nur, dass er nicht auf einen anderen Zweck ausgerichtet sein muss, um seine moralphilosophische Sonderstellung beanspruchen zu können, nicht aber apriorische Zwecklosigkeit. Sowohl in der GMS als auch der MS behauptet Kant die Identität 252 Es scheint mir nahe zu liegen, die hier von Kant benutzte Idee des Vorgesetztseins als eine Form fremdbestimmter Gegebenheit aufzufassen. Zwar ist es durchaus möglich, auch Vernunftzwecke als vorgesetzt zu verstehen, doch würde es sich dabei um dieselbe Art der Gegebenheit handeln, wie sie bei einer genauen Interpretation des Faktums der Vernunft vorliegt: Das Faktum ist eigentlich ein Vernunftakt und die Gegebenheit des Faktums ist aktive ›Selbstgebung‹. 253 S.: GMS AA IV, S. 396. Wenig später konstatiert Kant dementsprechend, dass die Vernunft »ihre höchste praktische Bestimmung in der Gründung eines guten Willens erkennt, […].« S.: GMS AA IV, S. 396. Die Frage nach deontischen und teleologischen Momenten in den vernunfttheoretischen Prämissen Kants wird im Fortgang dieser Untersuchung noch ausführlicher aufzugreifen sein. 254 Vgl. zu diesem Argument aus der GMS Kapitel VI dieser Studie. 255 Vgl. zur genaueren typologischen Analyse der kantischen Vernunfttheorie Kapitel VII dieser Untersuchung.

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von Willen und praktischer Vernunft. Der ausgereifte Willensbegriff in der MS besagt, dass der Wille nur unter derjenigen Bedingung die praktische Vernunft selbst ist, dass er den Bestimmungsgrund der Willkür determiniert. Demnach stellt sich die soeben konstatierte Differenz von (praktischer) Vernunft und Wille als ungenau dar, denn streng genommen gibt es nach Kant keinen substantiellen Unterschied zwischen beiden Vermögen. Nun haben wir eben festgestellt, dass Kant in der GMS die Hervorbringung des guten Willens als Zweck der Vernunft bezeichnet hat und haben davon ausgehend den guten Willen von der (praktischen) Vernunft unterschieden. Unter Einbezug der Identitätsthese von Wille und praktischer Vernunft muss diese Verhältnisbestimmung partiell korrigiert werden: Wille erscheint demnach sowohl als praktische Vernunft selbst als auch als hervorgehobenes Strukturmoment der praktischen Vernunft in seiner Funktion als deren höchste Zweckbestimmung. Die Antwort auf die Frage nach dem Objekt des guten Willens muss also lauten: Der gute Wille als Inbegriff des Guten will letztlich nur sich selbst. Ebenso bringt die praktische Vernunft mit der Erfüllung ihres genuinen Zwecks, der Produktion des guten Willens, immer wieder nur sich selbst hervor. Zwar erweist sich diese Struktur als grundsätzlich selbstreferentiell, doch ist es zugleich folgerichtig, dass der gute Wille, insofern es sich dabei wie im kantischen Fall um ein Strebensvermögen handelt, auf nichts anderes als sich selbst gerichtet ist – wie könnte es andernfalls, d. h. im Falle seiner Fremdbedingtheit, noch als uneingeschränkt gut bezeichnet werden? Die Argumentation Leists, dass der gute Wille allein schon aufgrund seiner Grundbestimmung als eines auf etwas gerichteten bzw. abzielenden Vermögens teleologisch genannt werden müsse, ist daher zwar nicht zwingend, jedoch zulässig, auch wenn sie eine umfassende ethiktypologische Analyse selbstbezüglicher Strukturen nicht ersetzen kann. 256 Zwischenfazit Wie schon hinsichtlich des Selbstzweck-Konzepts scheint es sich beim guten Willen und seiner Relation zur praktischen Vernunft um eine Form selbstreferentieller praktischer Konstitution, um eine ethiktypo256 So könnte man z. B. abstrakt alle selbstreferentiellen Strukturen als nicht-teleologisch auffassen, womit allerdings auch entelechiale Formen teleologischer Selbstreferenz ausgeschlossen würden.

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logisch nur bedingt eindeutig bzw. zwingend klassifizierbare Form der Vernunfttätigkeit zu handeln. Hier ist vor allem von Belang, wie genau man die Extension des Prädikats ›teleologisch‹ bestimmt: Zum einen kann der gute Wille als Zweck der praktischen Vernunft plausiblerweise als teleologischer Aspekt verstanden werden, zum anderen zielt die praktische Vernunft mit diesem Zweck aufgrund seiner praktischen Vernünftigkeit nur auf Selbstverwirklichung ab, weil das ›telos‹ im anstrebenden Vermögen selbst liegt. Allerdings soll dies nicht das letzte Wort zu dieser Frage sein; das Problem von Ethiktypologie und konstitutiver Selbstbezüglichkeit ethiktheoretischer Strukturmomente wird uns im Folgenden noch in anderer Form begegnen. 257 Um den Sinn der kantischen Konzeption vom guten Willen als Zweck bzw. Bestimmung der praktischen Vernunft besser verstehen zu können, wird im nächsten Schritt Kants Zweckbegriff analysiert, wobei es im Anschluss an die Behandlung der SZF in Kap. V.1.2.1 gilt, vertiefend auf die Eigenschaften des Selbstzwecks zu reflektieren.

V.2.2 Zweck Während der Pflichtbegriff als gemeinhin deontisch klassifizierter Terminus meist in Verbindung mit einer entsprechenden Auslegung des Kategorischen Imperativs die systematische Basis deontologischer Kant-Interpretationen bildet, dürfte der Zweckbegriff (oftmals im Kontext des Willensbegriffs) traditionell das teleologische Konzept schlechthin darstellen. Wir haben bereits in Bezug auf den Pflichtbegriff gesehen, dass dieser bei Kant grundsätzlich als Defizienzform von (allerdings besonderen) Zweckstrukturen verstanden wird, sodass die Betonung des Primats der Pflichten gegenüber Zwecken von deontologisch orientierten Kant-Interpreten zumindest ohne differenzierende Zusätze und Erläuterungen als nicht haltbar angesehen werden muss. Während nun das Profil des Pflichtbegriffs in den Werken GMS, KpV, MS und auch KU als zumindest prinzipiell homogen bezeichnet werden kann, 258 stellt sich die Situation im Falle des Zwecks als etwas komplizierter dar. 257 Vgl. speziell zur typologischen Charakterisierung der kantischen Vernunfttheorie Kapitel VII. 258 Freilich gilt das nur für eine sehr allgemeine Perspektive, denn allein schon die Ein-

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In erster Annäherung an den kantischen Zweckbegriff kann man seine Ausarbeitung in der GMS, der KpV und der MS von derjenigen in der KU unterscheiden, da sich in der dritten Kritik die Ausarbeitung einer regulativen Naturteleologie und zudem – neben der Ethikotheologie – einer Ästhetik findet, in der der Zweckbegriff zumindest teilweise (z. B. im Begriff des ›Naturzwecks‹ oder der Idee der ästhetischen Zweckmäßigkeit) auf besondere Weise fungiert. Dabei zeigt sich schon in der GMS, dass Kant ein weites und vielschichtiges, da nicht ohne Weiteres aus dem Alltagsverständnis abzuleitendes Zweckkonzept ansetzt. 259 Im Rahmen der Beschreibung des Willens in der GMS charakterisiert Kant einen Zweck als »das, was dem Willen zum objectiven Grunde seiner Selbstbestimmung dient, […].« 260 Dieser Zweckbegriff hat offenbar wenig mit einem noch nicht existenten Gegenstand bzw. Zustand etc. zu tun, dessen Hervorbringung von einer konkreten Person im Sinne eines Wünschens oder Wollens angestrebt und verfolgt wird. Vielmehr handelt es sich an dieser Stelle um eine Art initiativen Handlungsgrund, der im Prozess der Willensbestimmung als Bestimmungsgrund fungieren kann. Zwecke in diesem Sinne können nach Kant auch von der Vernunft stammen und sind dann, wie bei der Darstellung der Tugendpflichten gezeigt wurde, von vernunftgegründeter Verbindlichkeit und daher als praktisch notwendige Zwecke dem Akteur von seiner eigenen Intelligibilität als zu erfüllende Pflicht aufgegeben. Vernunftnotwendige Zwecke werden daher bei Kant als objektive Zwecke begriffen und sind mit dem objektiven Grund des Willens, dem Bewegungsgrund verbunden. Diesen unterscheidet Kant von einem subjektiven Grund des Begehrens, der Triebfeder. 261 Dem Bewegungsgrund und der Triebfeder entsprechen demnach jeweils objektive Vernunftzwecke und subjektive, der Neigung zugeschriebene Triebfedern. führung der Tugendpflichten in der MS stellt einen wichtigen Entwicklungsschritt des Pflichtkonzepts etwa gegenüber der GMS oder KpV dar. Allerdings kann man auch argumentieren, dass im Konzept der Tugendpflichten der eigentliche, immer schon implizit auf Zwecke bezogene Charakter des schon in den der MS vorhergehenden kritischen Werken etablierten Pflichtbegriffs zur Ausprägung kommt. 259 Vgl. die entsprechende Äußerung Kernsteins speziell zur kantischen Konzeption der Menschheit als Zweck: »[…] in calling humanity an end in itself, he must have a broader notion of an end in view. […]. An end is an objective ground of an agent’s determining his will to an action.« S.: Kernstein 2002, S. 176. 260 S.: GMS AA IV, S. 427. 261 Vgl.: GMS AA IV, S. 427. A

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Allerdings gibt es neben diesem Konzept des Zwecks als Handlungsgrund auch bei Kant die Zweckvorstellung des Alltagsbewusstseins, wenn er zwischen einem zu bewirkenden und einem selbstständigen Zweck differenziert. 262 Der Begriff eines ›hervorzubringenden Zwecks‹ bezeichnet all diejenigen Zwecke, welche nur relativ zu einer subjektiv bestimmten Handlungsintention wertvoll erscheinen, d. h. letztlich nicht als Endpunkte einer objektiv-vernünftigen Strebensaktivität dienen können. Dagegen stellt ein selbstständiger oder von Kant auch als ›negativ‹ bezeichneter Zweck ohne Ausnahme ein finales, durch weitere Vorstellungen und Umstände unbedingtes Handlungsziel dar, welches aufgrund seines objektiv-vernünftigen Werts nur um seiner selbst willen angestrebt werden kann. 263 In der GMS lässt Kant keinen Zweifel daran, dass es vernunftnotwendige Zwecke gebe und diese für alle Vernunftwesen gültig seien. Allerdings würde dies in letzter Konsequenz bedeuten, dass materiale Bestimmungsgründe des Willens angenommen werden müssten – und diese Möglichkeit wird von Kant in allen kritischen Werken wiederholt ausgeschlossen, wenn es um die streng moralische Willensbestimmung geht. Schon in der GMS heißt es zu den materialen Zwecken: Die Zwecke, die sich ein vernünftiges Wesen als Wirkungen seiner Handlung nach Belieben vorsetzt, (materiale Zwecke) sind insgesammt nur relativ; denn nur bloß ihr Verhältniß auf ein besonders geartetes Begehrungsvermögen des Subjects giebt ihnen den Werth, der daher keine allgemeine für alle vernünftige Wesen, und auch nicht für jedes Wollen gültige und nothwendige Principien, d. i. praktische Gesetze, an die Hand geben kann. Daher sind alle diese relative Zwecke nur der Grund von hypothetischen Imperativen. 264

Wenn man dieses Zitat genauer betrachtet, fällt jedoch auf, dass Kant zwar materiale Zwecke als Grundlage eines Kategorischen Imperativs ausschließt, unter inhaltlichen Zwecksetzungen offenbar jedoch nur beliebige, also nicht durch Vernunft gesetzte, sondern von den Neigungen vorgegebene Zwecke versteht. Dies kann ebenfalls durch die BeVgl.: GMS AA IV, S. 437. Vgl.: GMS AA IV, S. 437. Diese Form der Zwecksetzung war bereits im Rahmen unserer Darstellung der Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs von entscheidender Relevanz und wurde dort in ihrer Doppelfunktion als einerseits die jeweiligen Neigungsbestrebungen limitierende Struktur, anderseits jedoch auch als im positiven Sinne eigenständiger Vernunftzweck interpretiert. 264 S.: GMS AA IV, S. 427 f. 262 263

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trachtung einer Passage der viele Jahre später verfassten Religionsschrift belegt werden, in der Kant unter einem ›Zweck‹ zunächst ein kontingentes, zu bewirkendes Ziel versteht, nachfolgend jedoch auf die in der GMS etablierte Differenzierung zwischen subjektiven und objektiven Zwecksetzungen Bezug nimmt: Zweck ist jederzeit der Gegenstand einer Zuneigung, das ist, einer unmittelbaren Begierde zum Besitz einer Sache vermittelst seiner Handlung; so wie das Gesetz (das praktisch gebietet) ein Gegenstand der Achtung ist. Ein objectiver Zweck (d. i. derjenige, den wir haben sollen) ist der, welcher uns von der bloßen Vernunft als ein solcher aufgegeben wird. Der Zweck, welcher die unumgängliche und zugleich zureichende Bedingung aller übrigen enthält, ist der Endzweck. 265

In der angeführten Passage aus der Religionsschrift entwickelt Kant den bereits in unserem Unterkapitel zur Willensausrichtung erwähnten Gedanken der notwendigen Zweckbezogenheit menschlichen Handelns und spezifiziert diese These dahingehend, dass jeder Mensch das höchste Gut als moralisch adäquate Einheit von Moralität und Glück265 S.: RGV AA VI, S. 6. Anm. Auch wenn man eine gewisse Kontinuität zur Zweckeinteilung in der GMS konstatiert, kann diese Passage stutzig machen, denn man müsste doch eigentlich erwarten, dass ein auf Neigung basierender Zweck strikter von der Willensbestimmung durch das Sittengesetz über den Weg der Achtung unterschieden würde; vgl.: Schönecker/Wood 2002, S. 141. Achtung wird von Kant in der KpV allgemein als vernunftgewirktes Gefühl verstanden und ist somit zwar wie die Neigungen strukturell ebenfalls untrennbar mit der menschlichen Sinnlichkeit verbunden; sie ist allerdings dadurch von den nur subjektiv-relativen Interessen abgehoben, als ihre Ursache allein in der Vernunft und damit einem Vermögen von höherer Dignität besteht; vgl.: KpV AA V, S. 78. Als ebenfalls unüblich könnte der Übergang zum darauf folgenden Satz angesehen werden, da Kant die objektiven Zwecke nicht, wie sonst häufig geschehen, deutlich von den auf Neigung zurückführbaren Zwecken absetzt. Vielmehr könnte man der Ansicht sein, dass Kant in der Religionsschrift eine Parallelisierung vorzunehmen scheint, die insofern nicht unmittelbar einsichtig wäre, als das Sittengesetz weder in der Perspektive der GMS noch der KpV oder der MS explizit als Objekt einer direkten Begierde nach dem Besitz eines Gegenstandes fungiert – im Gegenteil: Vor allem die traditionell stark vertretene deontologische Interpretationsrichtung beruft sich zum Ausweis ihrer Legitimation gerne auf die kategoriale Differenz von einem Strebensobjekt und dem Sittengesetz. Tatsächlich wäre eine solche Lesart jedoch verfehlt, denn vernunftnotwendige Zwecke können innerhalb der kantischen Systematik zwar als Objekte rationalen Strebens, niemals allerdings als Gegenstände irgendeiner Form von Begierde betrachtet werden, ohne zugleich ihren moralischen Eigenwert zu verlieren. Begierden müssen dem unteren Begehrungsvermögen zugeordnet werden und sind strukturell ungeeignet, das Sittengesetz bzw. seine Verwirklichung in moralisch adäquater Weise zu erstreben oder anzuerkennen.

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seligkeit zum Endzweck haben solle. Diese Forderung ist dabei keine nur relativ verbindliche, sondern zeichnet sich nach Kant durch strenge Gebotenheit aus: »Daß aber jedermann sich das höchste in der Welt mögliche Gut zum Endzwecke machen solte, ist ein synthetischer praktischer Satz a priori und zwar ein objectiv=praktischer, durch die reine Vernunft aufgegebener, […]« 266 . Die Beförderung des höchsten Guts ist demnach nichts anderes als ein objektiv verbindlicher Vernunftzweck. Nun haben wir im Kapitel zum Willensbegriff (V.2.1.3) gesehen, dass Kant die Hervorbringung des guten Willens als Zweck der praktischen Vernunft und somit ebenfalls als Vernunftzweck charakterisiert hat. Es gilt demnach in einem nächsten Schritt, die kantische Idee von objektiven Vernunftzwecken sowie deren verschiedene Spezifikationen genauer zu betrachten, zu bestimmen, welche Geltungsgründe diesen Zwecksetzungen jeweils zugrunde liegen und ob sich die Vernunftzwecke in bestimmten Hinsichten voneinander unterscheiden. Zu diesem Zweck werden wir einen kurzen Blick auf das höchste Gut in der KpV werfen, bevor wir das Konzept des Selbstzwecks behandeln. V.2.2.1 Objektive Zwecke I: Das höchste Gut So sehr Kant einerseits an verschiedenen Stellen seiner moralphilosophischen Werke die Ungeeignetheit materialer Zwecke als Grundlage einer moralisch richtigen (dem Sittengesetz gemäßen) Willensbestimmung oder gar einer Bestimmung des Sittengesetzes selbst hervorhebt, so sollte andererseits mittlerweile deutlich geworden sein, dass Kants Ethik ein inkonsistenter, da letztlich an verschiedenen Kernpunkten seines Systems selbstwidersprüchlicher Entwurf wäre, wenn er tatsächlich alle inhaltlich spezifizierten Zweckvorstellungen auf handlungstheoretischer – und damit praktischer – Ebene ausschließen würde. Mit dem Konzept des höchsten Guts führt Kant in der KrV 267 eine Struktur an, die in struktureller Hinsicht insofern komplexer und voS.: RGV AA VI, S. 6 Anm. Die Rekonstruktion der kantischen Ausarbeitung der Idee des höchsten Guts stellt in entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht eine Herausforderung dar, da diesbezüglich verschiedene Phasen zu unterscheiden sind: Bis in die Mitte der 80’er Jahre (demnach auch in der KrV) finden sich viele Formulierungen, welche auf eine Triebfederfunktion des höchsten Guts schließen lassen, während man ab 1786 (Was heißt: Sich im Denken orientieren?, AA VIII, S. 139) von einer fast durchgängigen Trennung von Triebfederund Zweckaspekt in der Lehre vom höchsten Gut sprechen kann und die Verbindung 266 267

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raussetzungsvoller als die der SZF zugrundeliegenden SelbstzweckIdee und der gute Wille zu sein scheint, als es sich bei dieser Idee um ein empirisch-vernünftiges Mischgebilde 268 handelt: Das höchste Gut wird von Kant in der KpV und in späteren Werken wie der Religionsschrift als moralisch angemessene Einheit von Moralität und Glückseligkeit bzw. als Glückswürdigkeit spezifiziert, wobei letztere beide zuvor genannten Elemente impliziert. Evident ist der Mischcharakter des höchsten Guts insofern, als es sich um eine vernünftige Verbindung eines genuin vernünftigen (Moralität, Gebot der moralischen Willensbestimmung) und eines empirischen Elements (Glücksempfindung, Begierde nach Glückseligkeit) handelt. Dabei muss das höchste Gut als Resultat der für die kantische Vernunftvorstellung charakteristischen Aktivität der Auffindung des Unbedingten zu etwas Bedingtem 269 aufgefasst werden. 270 Kant differenziert in der KpV zum einen deutlich zwischen der Idee des vollkommenen bzw. vollständigen Gegenstands der reinen praktischen Vernunft und dem Bestimmungsgrund des Willens, welcher allein das moralische Gesetz sein dürfe, 271 zum anderen zwischen dem Gegenstand reiner praktischer Vernunft 272 und der unbedingten Totalität dieses Gegenstandes als höchstes Gut. 273 Das Moralgesetz als Form der Maximen sei als der primäre Bestimmungsgrund des Willens zu denken, und das höchste Gut dürfe nicht als dessen Deduktionsbasis verstanden werden. Allerdings zeigt sich die strukturelle Komplexität des höchsten Guts darin, dass es aufgrund seiner empirisch-vernünftigen Binnendifferenziertheit – genauer: aufvon Sittlichkeit und Glückseligkeit in den folgenden Werken primär als Objekt der praktischen Vernunft fungiert. 268 Vgl. zum Problem einer adäquaten Rekonstruktion der inneren Struktur des höchsten Guts und der damit verbundenen Antinomie der praktischen Vernunft: Albrecht 1978; Milz 2002. 269 In Kapitel VII dieser Untersuchung zur Struktur von Kants Vernunftkonzeption wird dieser Bezug der Vernunft zum Unbedingten genauer nachgezeichnet. 270 »Sie [die reine praktische Vernunft, Einfügung C. B.] sucht, als reine praktische Vernunft, zu dem praktisch Bedingten (was auf Neigung und Naturbedürfniß beruht) […] das Unbedingte, und zwar nicht als Bestimmungsgrund des Willens, sondern, wenn dieser auch (im moralischen Gesetze) gegeben worden, die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft, unter dem Namen des höchsten Guts.« S.: KpV AA V, S. 108. 271 Vgl.: KpV AA V, S. 109. 272 Diesen handelt Kant in der Analytik der KpV ab; vgl.: KpV AA V, S. 100–119. 273 Vgl.: Albrecht 1978, S. 56–72; vgl.: Milz 2002, S. 101 Anm. 5. A

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grund der normativ-hierarchischen Überordnung des Vernunftmoments (Moralität) als ›oberste Bedingung‹ des empirischen Moments (Glückseligkeit) – nicht nur als Gegenstand der praktischen Vernunft fungiere, sondern zudem sein [des moralischen Gesetzes, Einfügung C. B.] Begriff und die Vorstellung der durch unsere praktische Vernunft möglichen Existenz desselben zugleich der Bestimmungsgrund des reinen Willens sei: weil alsdann in der That das in diesem Begriffe schon eingeschlossene und mitgedachte moralische Gesetz und kein anderer Gegenstand nach dem Princip der Autonomie den Willen bestimmt. 274

Das in der KpV entwickelte Argument für die Doppelfunktion des höchsten Guts als sowohl notwendiger Zweck 275 als auch erster Bestimmungsgrund der praktischen Vernunft beruht auf der inneren Struktur dieser Idee: Das höchste Gut ist nicht nur Gegenstand, sondern auch in bestimmter Hinsicht Bestimmungsgrund des moralischen Willens, weil das Sittengesetz innerhalb des höchsten Guts das primär normative Moment darstellt und es nach Kant daher keinen praktischgeltungstheoretischen Unterschied macht, ob nur das Sittengesetz oder das höchste Gut die Form der Maximen bestimmt. 276 Entscheidend ist nach Kant hier allein, dass nicht das Glückseligkeitsstreben, sondern das Sittengesetz das Handlungsmotiv ausmacht. 277 Die Idee des höchsS.: KpV AA V, S. 109 f. Vgl. zum höchsten Gut als einem praktisch notwendigen Objekt: KpV AA V, S. 134. 276 Dies verhielte sich so, da das ›ganze‹ höchste Gut als Bestimmungsgrund des Willens impliziere, dass nicht nur das Sittengesetz, sondern zudem die Begierde nach Glückseligkeit das Handeln bestimmen würde, was auf eine Verunreinigung des Handlungsmotivs hinausliefe. Gegen Silber konstatiert Milz daher zu Recht, dass die Herbeiführung einer synthetischen Verbindung von Tugend und Glückseligkeit in kantischer Perspektive nicht »Inhalt und Gegenstand einer Handlungsintention« sein könne; s.: Milz 2002, S. 163. Das an gleicher Stelle entwickelte Zusatzargument von Milz gegen das höchste Gut als zu realisierendes Objekt hebt auf den Umstand ab, dass Tugend nach Kant nicht empirisch verifiziert werden und somit auch nicht vom Akteur in der geforderten Proportionalität zur Glückseligkeit herbeigeführt werden könne. Dieser Einwand ist nur hinsichtlich der Unmöglichkeit der besagten Proportionalität gültig, da der subjektive Grund der Annahme von Maximen auch unabhängig vom höchsten Gut nicht bestimmbar sein soll (vgl. RGV) und die Möglichkeit der empirischen Verifikation von Moralität im Übrigen niemals als Bedingung des Sinns bzw. der praktischen Geltung moralischer Forderungen behauptet wird. 277 Vgl.: Schwarz 2004, S. 26 Anm. 64. Das höchste Gut muss seine gesamte Normativität demnach vom geltungstheoretisch prinzipiell vorgeordneten Sittengesetz beziehen, wenn es seine Funktionen als moralischer Zweck und Bestimmungsgrund gerecht274 275

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ten Guts kann in gewissem Sinne als zweckhafte Spiegelstruktur der phänomenal-noumenalen Doppelaspektivität des praktisch aufgefassten Menschen verstanden werden, wie man nicht zuletzt anhand entsprechender Ausführungen aus der Religionsschrift zeigen kann. 278 Daher ist Milz zuzustimmen, wenn er die bestmögliche Verwirklichung 279 des höchsten Guts nicht als irgendeine Pflicht, sondern als den »Inbegriff aller Pflichten und sittlichen Bestrebungen ihrem objektiven Gehalt nach« 280 bezeichnet. In der Vorrede zur ersten Auflage der Religionsschrift beschreibt Kant die Beförderung des höchsten Guts als objektiv gültigen, praktisch-notwendigen sowie synthetisch-apriorischen Satz. Die letztgenannte Klassifizierung ist deswegen zutreffend, weil in der Idee des höchsten Guts mehr ausgesagt wird als die moralische Notwendigkeit von Handlungen aus Pflicht. Kant spricht von dieser Idee als einer durch Vernunft gegebenen Vorstellung, wobei man unter ›Vernunftgegebenheit‹ wohlgemerkt Verschiedenes verstehen kann: Die erste fertigerweise ausüben können soll. Die Idee der Glückswürdigkeit ist keine aus der Natur aufgegriffene Vorstellung, sondern entspringt dem Bereich der praktischen Vernunft. Dementsprechend wäre es Kants kritischer Ethik zufolge falsch, das höchste Gut als eine weitere Triebfeder neben dem Sittengesetz zu betrachten; vgl.: RGV AA VI, S. 3 f. In der KrV stellt sich dies allerdings noch anders dar: Zwar behandelt Kant dort primär Fragen der theoretischen Erkenntnis, doch mündet dieses Werk am Ende auch in Fragen praktischer Provenienz bzw. in einen Ausblick auf die Struktur und den Gegenstandsbereich der praktischen Vernunft. Während die Moralität das oberste Gut sei, müsse die Vereinigung von Moralität und Natur (Glücksstreben) als das höchste Gut bezeichnet werden. Anders als in den praktischen Werken seit der KpV schreibt Kant der Idee Gottes und dem höchsten Gut in der ersten Kritik eine primäre Triebfederfunktion zu; vgl.: KrV B 840 f.; vgl. zu den verschiedenen Ausarbeitungen der Idee des höchsten Guts: Düsing 1971, S. 5–42, bes. S. 15–35; Albrecht 1978, S. 14–23; Himmelmann 2003, S. 193 ff. 278 So führt Kant in der RGV die Fähigkeit der Idee des höchsten Guts an, die natürlichen und aus Freiheit vollzogenen Strebenstendenzen des Menschen vereinigen zu können; vgl.: RGV AA VI, S. 5. Milz sieht im höchsten Gut ebenfalls die »Struktur der praktischen Realisierung der Intention« gespiegelt, weist jedoch zugleich auf Unterschiede von höchstem Gut und der allgemein menschlichen Situation der Verwirklichung des Sittengesetzes hin; s.: Milz 2002, S. 128. Der Realunterschied von Tugend und Glückseligkeit sei weitgehender als derjenige von Handlungsabsicht und ihrer empirischen Realisierung; vgl.: Milz 2002, S. 150. 279 In der Forschung ist umstritten, ob die Beförderung oder die vollkommene Verwirklichung des höchsten Guts Pflicht sei; vgl. dazu: Schwarz 2004, S. 112 f. Anm. 201, S. 138 Anm. 220 und S. 144 f. 280 S.: Milz 2002, S. 186. A

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mögliche Bedeutung besteht in einer direkten Begründetheit einer Aussage in rein vernünftigen Reflexionen, sodass ein Sachverhalt allein aus Vernunft einsichtig werden kann. Die zweite Auffassung von ›Vernunftgegebenheit‹ behauptet dagegen nur, dass eine Aussage von der Vernunft gefordert, nicht aber, dass sie allein aus ihr als normativer Quelle stammen würde. Zusammengefasst könnte man die erste, strenge Vernunftgegebenheit demnach als apriorische bezeichnen, während die zweite, weniger rigide Verständnisweise als aposteriorische Gegebenheit in einem weiten Sinn charakterisiert werden könnte. Das höchste Gut als Objekt der reinen praktischen Vernunft ist nach Kant dabei einerseits als Ergänzung der Vorstellung des Sittengesetzes notwendig, anderseits soll es aus dem Sittengesetz folgen. Mir scheint daher, dass im Falle des höchsten Guts beide Formen der Vernunftgegebenheit vorliegen und aufgrund ihres verschiedenen Geltungsgrundes deutlich voneinander unterschieden werden müssen. Das apriorischvernunftgegebene Element besteht offenbar im Moralgesetz, welches daher auch als normativ-bedingende Primärstruktur fungiert. Die Forderung einer moralisch adäquaten Glückseligkeit entspringt dagegen nicht allein aus Vernunft, da Glückseligkeit ein empirisches Phänomen 281 darstellt und zur Konstatierung des höchsten Guts demnach der Bezug auf die Erfahrungswirklichkeit unumgänglich ist. Die moralisch qualifizierte Mitberücksichtigung der Handlungsfolgen wird dabei in der Religionsschrift nur partiell 282 in struktureller Assonanz an Kants Begriff des ›Glücks‹ zeichnet sich darüber hinaus jedoch durch eine gewisse Vielschichtigkeit aus, da er nicht nur die Idee einer Glückseligkeit aus natürlichen Antrieben, sondern vor allem in den Reflexionen zudem den Begriff einer intelligiblen Glückseligkeit aus Freiheit bzw. Moralität entwickelt hat; vgl.: Düsing 1971, bes. S. 19 ff.; Forschner 1988; Wike 1994; Himmelmann 2003, bes. S. 86 ff. und S. 97 Anm. 86.; Schwarz 2004, S. 89 ff. Da dieser moralische Glücksbegriff nicht die ethiktypologisch orientierte Analyse des höchsten Guts als Verbindung von empirischer Glückseligkeit und Moralität tangiert, wird er im Folgenden nicht mehr thematisiert. 282 Die Eingeschränktheit der praktischen Vernunft als Grund für die Notwendigkeit der Annahme von Zwecken für die menschliche Handlungsfähigkeit bezeichnet in diesem Kontext der RGV offenbar nicht den teleologischen Aspekt der intelligiblen Willenskonzeption (das obere Begehrungsvermögen als rationale Strebensfähigkeit), da der rein intellektuell betrachtete Wille gerade nicht durch Restriktionen, sondern vielmehr durch die Freiheit von ihnen zu charakterisieren ist. Mit der Beschränkung des Menschen bzw. seines Vernunftvermögens scheint demnach eine spezifisch empirische Unzulänglichkeit gemeint zu sein, welcher Eindruck durch die an gleicher Stelle der RGV angeführte These gestützt wird, dass der Mensch nicht nur das Bewusstsein des Richtigen, sondern darüber hinaus ein Objekt seiner affektiven Zuwendung brauche. Auch in 281

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die bereits skizzierte ethiktypologische Doppelaspektivität der Willenskonfiguration in der MS auf die empirisch (natürlich) bedingte Einschränkung des menschlichen Wesens sowie die Beschaffenheit seines »praktischen Vernunftvermögens, sich bei allen Handlungen nach dem Erfolg aus denselben umzusehen, um in diesem etwas aufzufinden, was zum Zweck für ihn dienen und auch die Reinigkeit der Absicht beweisen könnte« 283 zurückgeführt. Kant geht grundsätzlich von einem derivativen Status der Idee des höchsten Guts aus: Das höchste Gut folgt aus dem Sittengesetz unter Berücksichtigung der menschlichen Beschaffenheit und ist hinsichtlich seiner praktischen Verbindlichkeit vollständig von ihm abhängig. In der KpV findet sich nun aber eine Passage, die diese klare Bedingungsstruktur wieder aufzusprengen scheint. 284 Kant formuliert dort eine systematische Bedingungsthese, welche scheinbar die andernorts wiederholt betonte Unbedingtheit der Geltung des Sittengesetzes negiert: Das Sittengesetz sei falsch bzw. sinnlos, wenn das höchste Gut als Verwirklichung des Sittengesetzes unter Bedingungen der empirischen Welt und des endlichen Willens unmöglich sein sollte. Diese Aussage könnte auf den ersten Blick ein konsequentialistisches Ethikmodell beschreiben, 285 denn insofern man das moralisch Richtige (Sittengesetz bzw. dessen Geltung sowie Pflichtbestimmungen) nach Maßgabe guter Folgen (des höchsten Guts) bestimmt, ist das moralisch Gebotene von einer konkreten Wert- bzw. Zwecksetzung abhängig. Ein solcher Schluss würde jedoch die spezifischen Bedingungsstrukturen der kander Religionsschrift kommt Kant zu dem Schluss: »das Gesetz, […], erweitert sich […] zum Behuf desselben zu Aufnehmung des moralischen Endzwecks der Vernunft unter seine Bestimmungsgründe, […].« S.: RGV AA VI, S. 6 Anm. 283 S.: RGV AA VI, S. 6 Anm. 284 »Da nun die Beförderung des höchsten Guts, welches diese Verknüpfung [der Glückseligkeit mit der Tugend, Einfügung C. B.] in seinem Begriffe enthält, ein a priori nothwendiges Object unseres Willens ist und mit dem moralischen Gesetze unzertrennlich zusammenhängt, so muß die Unmöglichkeit des ersteren auch die Falschheit des zweiten beweisen. Ist also das höchste Gut nach praktischen Regeln unmöglich, so muß auch das moralische Gesetz, welches gebietet dasselbe zu befördern, phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch sein.« S.: KpV AA V, S. 114. 285 Eine solche Auffassung ist in der Forschung immer wieder in verschiedenen Formen vertreten worden. So behauptet schon Döring, dass Kant durch die Aufnahme der Idee des höchsten Guts eigentlich eine Form der moralphilosophischen Heteronomie befürworte; vgl.: Döring 1900, S. 94–101, bes. S. 98 ff. In eine ähnliche Richtung geht die Kritik Jaeschkes; vgl.: Jaeschke 1986, S. 66 und S. 74 ff. A

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tischen Ethik verkennen, da es innerhalb dieser Systematik gar keine zulässige Möglichkeit gibt, unabhängig vom Sittengesetz über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit des höchsten Guts zu entscheiden. Die Frage nach der Möglichkeit des höchsten Guts ist vielmehr schon apriori entschieden, da Kant die Geltung des Sittengesetzes nicht anzweifelt, sondern prinzipiell vom Grundsatz ausgeht, dass das moralisch geforderte und durch die Überlegungen der Faktumslehre aufgewiesene, unbedingte Sollen notwendigerweise ein Können, d. h. auch dessen praktischen Sinn für das endliche Vernunftwesen impliziert. 286 Die angesprochene Passage macht m. E. nur Sinn in ihrem Verständnis als Verdeutlichung der Zusammengehörigkeit von Sittengesetz und seiner Verwirklichungsmöglichkeit (seinem praktischen Charakter) und nicht als Zurücknahme von im Übrigen grundlegenden Relationsbestimmungen. Eine konsequentialistische Kant-Interpretation kann sich daher nicht auf eine These der Abhängigkeit der Geltung des Sittengesetzes von dessen Realisierungsmöglichkeit in Form des höchsten Guts berufen. Zwischenfazit Die normative Abhängigkeit des höchsten Guts vom Sittengesetz ist ethiktypologisch insofern implikationsreich, als der Zweck der praktischen Vernunft im Ausgang von Kant niemals als eigenständiger Zweck vom Moralgesetz als seinem Geltungsgrund isoliert und gegen die Forderungen der praktischen Vernunft (Pflichten) ausgespielt werden kann: Die vom Sittengesetz ausgehende Pflicht zur Wahrhaftigkeit bzw. das Lügenverbot kann nicht mit der Zwecksetzung der Beförderung des höchsten Guts oder einer ihrer Implikationen konfligieren, selbst wenn diese Beförderung durch eine Lüge auf den ersten Blick unterstützt würde. Allerdings kann ein Verstoß gegen das Sittengesetz deswegen kein Element der Beförderung des höchsten Guts sein, weil letztere aufgrund der normativen Priorität des Sittengesetzes gegenüber dem Glücksstreben allein moralische, d. h. durch das Sittengesetz gebotene Strukturen implizieren kann.

286 In Entsprechung dazu hält Kant an anderer Stelle fest, dass das höchste Gut nicht in Bezug auf die Pflichterfüllung in Einzelhandlungen angenommen werden müsse, da auch ohne diese Vorstellung eine moralische Triebfeder vorhanden sei, sondern nur zur Hinwirkung auf das höchste Gut diene; vgl.: Refl. 6451 AA XVIII, S. 723 f.; vgl. ebenso: Refl. 8097 AA XIX, S. 641.

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V.2.2.2 Objektive Zwecke II: Selbstzweck Die Struktur und Bedeutung des Selbstzwecks der Menschheit wurden in Kap. V.1.2.1 und V.1.2.2 bereits partiell dargestellt. Allerdings sind bisher sein systematisches Profil sowie seine Funktion in ethiktypologischer Perspektive noch nicht hinreichend bestimmt worden. Darüber hinaus soll die These weiterentwickelt werden, dass anhand der Konzeption des Selbstzwecks exemplarisch deutlich wird, welche Herausforderung die kantische Ethik für eine nachvollziehbare ethiktypologische Klassifizierung darstellt. Der Selbstzweck trat bisher im Kontext der Darstellung der SZF in den Mittelpunkt unseres Interesses und damit in seiner Funktion als moralisch unbedingt geforderter Vernunftzweck, der nicht nur als hintergründig-implizite Restriktion anderer Zwecksetzungen, sondern darüber hinaus als material bestimmter, positiver Zweck jeder menschlichen Handlung fungiert. Nun stellen sich aber angesichts der prominenten These Kants vom Selbstzweck der Menschheit als einem ›selbständigen‹ und nicht zu bewirkenden Zweck in erster Linie zwei nur schwer abweisbare Fragen, die das Selbstzweck-Konzept in systematischer und somit auch ethiktypologischer Perspektive betreffen und die bisher zwar angesprochen, nicht jedoch in hinreichender Klarheit beantwortet werden konnten: 1. Kann ein Selbstzweck im Sinne Kants auf irgendeine Art und Weise angestrebt werden, und wenn ja, wie? 2. Welche Arten der Verwirklichung des Selbstzwecks kann man in der kantischen Ethik finden und in welcher Beziehung stehen sie zueinander? Ad 1: Ein Selbstzweck kann nicht auf herkömmliche Weise angestrebt werden – dies dürfte von Kant her deutlich geworden sein, wenn er ihn als nicht hervorzubringenden Zweck bezeichnet und ihn dadurch von den aus der alltäglichen Lebenswelt vertrauten Zwecken absetzt, die sich in erster Linie durch eine bestimmte Form von Gegenständlichkeit auszeichnen, welche in der Vorstellung gedacht werden und als angestrebte, in der natürlichen Wirklichkeit zu produzierende Objekte des Willens und somit als konkrete Handlungsziele dienen. Im Kontext der Behandlung der SZF wurde bereits darauf verwiesen, dass der Selbstzweck der Menschheit zwar nicht als herkömmlicher Zweck, wohl jedoch als höherstufiger, alle subjektiven Einzelzwecke restringierender Vernunftzweck rekonstruiert werden kann. Es bleibt dennoch zu fragen, ob es bei Kant nicht noch eine Art von funktionaA

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lem Analogon zur herkömmlichen Strebenstätigkeit gibt, welches unmittelbar mit der Idee des Selbstzwecks der rationalen Natur verbunden ist. Unsere bisherige Charakterisierung des Selbstzwecks hat allerdings bereits angedeutet, dass ein entsprechendes Strebenskonzept auch im Falle einer material-positiven Auffassung dieser Idee wohl kaum unter herkömmliche Vorstellungen der Verursachung oder Produktion subsumiert werden kann. Vor einer Analyse der diesbezüglichen Aussagen Kants ist jedoch in Grundzügen zu bestimmen, wie diese Alternative zum klassisch-teleologischen Streben allgemein bzw. formal zu beschreiben wäre. Auch wenn es sich nicht um die willentliche Verwirklichung eines vorgestellten Gegenstandes oder Zustandes handeln kann (dies wäre der Fall bei einem zu bewirkenden Zweck), bleibt noch die Möglichkeit einer anderen Form von intentionaler Gerichtetheit, welche nicht durch das Wirklichmachen von etwas noch Unwirklichem, sondern einen substantiellen Akt der Anerkennung eines bereits bestehenden Geltungsanspruchs charakterisiert ist. In theoretischer Perspektive wäre es zumindest fragwürdig, Geltungsanerkennung und Strebenstätigkeit in eine nähere Beziehung zueinander zu setzen, doch handelt es sich bei der hier eruierten Möglichkeit einer Alternative zum alltäglich verwurzelten Zweckverständnis um eine genuin praktische Form von intentionaler Gerichtetheit. Praktische Geltungsanerkennung impliziert nach Kant unter dem Gesichtspunkt des Strebensaspekts im Gegensatz zu theoretischer Geltungseinsicht nicht allein theoretische Reflexion bzw. abstrakte Zustimmung allein im Denken, deren Folgen sich gegebenenfalls primär auf ebensolche theoretische Akte beziehen können, sondern immer auch das unmittelbar handlungswirksame Moment der Motivation. Die Anerkennung der unbedingten praktischen Geltung des Sittengesetzes kann also nur als solche bezeichnet werden, wenn damit auch ein die Handlung bestimmendes moralisches Handlungsmotiv vorliegt. Kant hat eine solche Form intentionaler Gerichtetheit nicht nur für möglich gehalten, sondern ihr vor allem in der KpV eine nicht unerhebliche Relevanz zugeschrieben. Der diesbezüglich zentrale Begriff ist derjenige der ›Achtung‹, und wir werden im Folgenden andeuten, inwiefern die kantische Achtungstheorie in Begriffen des (An-)Strebens reformuliert werden könnte. Die Achtungslehre wird wie die Faktumslehre in der zweiten Kri-

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tik entwickelt und spielt auch nur dort eine derart wichtige Rolle. 287 Der locus classicus für diese Reflexionen ist das Triebfederkapitel der KpV, was bereits auf den grundsätzlichen Charakter der Achtungstheorie als Motivationstheorie hinweist. 288 Kant betont dabei, dass das Sittengesetz keine anderen Triebfedern neben sich erlaubt, wenn man gerechtfertigterweise von moralischer Willensbestimmung sprechen will. 289 Unter einer Triebfeder versteht Kant den subjektiven Bestimmungsgrund des Willens eines Vernunftwesens, der im Falle einer moralischen Willensbestimmung mit dem Sittengesetz als dem objektiven Bestimmungsgrund des Willens identisch ist. Wie wirkt sich nun das Sittengesetz als Triebfeder auf den Willen und das Gemüt des Menschen insgesamt aus? Kant differenziert diesbezüglich zwischen einer negativen und einer positiven Wirkung: Während die negative Wirkung des Sittengesetzes als »Abbruch aller Neigungen« 290 und insofern als negative Wirkung auf das menschliche Gefühl beschrieben wird, besteht die positive Wirkung in der Hervorbringung eines genuin moralischen, da durch reine Vernunft gewirkten Gefühls, was durchaus als positiv bestimmt zu verstehen ist. Achtung ist demnach »ein Gefühl, welches durch einen intellectuellen Grund gewirkt wird, und dieses Gefühl ist das einzige, welches wir völlig a priori erkennen, und dessen Nothwendigkeit wir einsehen können.« 291 287 Zwar hat Kant diese Theorie auch in späteren Werken nicht widerrufen oder durch eine andere Konzeption ersetzt, doch finden sich vor allem in der KpV ausführlichere Bestimmungen des Achtungsbegriffs und eine eingehendere Problematisierung möglicher Einwände. 288 Die Achtungstheorie muss als Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit der Einflussnahme des Sittengesetzes auf den Willen, nach der Möglichkeit des Sittengesetzes als Triebfeder verstanden werden. Allein im Ausgang von den Wirkungen des Sittengesetzes im menschlichen Gemüt könne ein apriorisches Urteil über das Moralgesetz als Triebfeder gefällt werden: »Also werden wir nicht den Grund, woher das moralische Gesetz in sich eine Triebfeder abgebe, sonder was, so fern es eine solche ist, sie im Gemüthe wirkt (besser zu sagen, wirken muß), a priori anzuzeigen haben.« S.: KpV AA V, S. 72 289 Vgl.: KpV AA V, S. 72 f. Wenig später heißt es: »Achtung fürs moralische Gesetz ist also die einzige und zugleich unbezweifelte moralische Triebfeder, so wie dieses Gefühl auch auf kein Object anders, als lediglich aus diesem Grunde gerichtet ist.« S.: KpV AA V, S. 78 und S. 81 f. Anm. 290 S.: KpV AA V, S. 72. 291 S.: KpV AA V, S. 73 Wenn das Sittengesetz demnach eine handlungsbestimmende Wirkung auf den endlichen Willen ausüben können soll – und die Tatsächlichkeit dieses Prozesses wird in der Faktumslehre als zweifellos sicher betrachtet –, dann muss es auch

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Um die Binnenstruktur der Achtung besser verstehen zu können, ist es fruchtbar, zwischen Akt und Resultat der Achtung zu differenzieren. Kant hat dabei in der Achtungstheorie selbst offenbar eher das Resultat von Achtungsakten fokussiert, da er Achtung als vernunftgewirktes Gefühl bezeichnet und damit nicht primär den Akt der Bewirkung dieses Gefühls in den Blick nimmt. 292 Insofern man Achtung allein als Ergebnis eines vorherigen Prozesses versteht, ergeben sich kaum plausible Möglichkeiten des Vergleichs mit der menschlichen Strebenstätigkeit. Dies stellt sich allerdings anders dar, wenn man das Aktivitätsmoment im Gesamtkonzept der Achtung betrachtet, welches als das Konstituieren des moralischen Gefühls durch reine Vernunft bestimmt werden muss: Als »Anerkennung des moralischen Gesetzes« 293 sei die Achtung »das Bewußtsein einer Thätigkeit der praktischen Vernunft aus objectiven Gründen« 294 , welches das indirekte, da über das Phänomen der Demütigung der Neigungen vermittelte Resulauf der Ebene des motivationspsychologischen Primärmoments der Emotionen kausalen Einfluss ausüben, welcher Schluss zur notwendigen Annahme eines durch reine Vernunft verursachten und daher moralischen Gefühls führt. Das Vernunftgefühl der Achtung darf dabei nach Kant allein als Motivationsmoment und nicht als Beurteilungsinstrument für Handlungen oder gar als Grund des Sittengesetzes verstanden werden; vgl.: KpV AA V, S. 76 f. Hinsichtlich der Frage nach dem Objekt des moralischen Gefühls der Achtung nennt Kant im Triebfederkapitel der KpV sowohl das Sittengesetz selbst als auch die Person: »Da dieses Gesetz aber doch etwas an sich Positives ist, nämlich die Form einer intellectuellen Causalität, d. i. der Freiheit, so ist es, indem es im Gegensatze mit dem subjectiven Widerspiele, nämlich den Neigungen in uns, den Eigendünkel schwächt, zugleich ein Gegenstand der Achtung, […].« S.: KpV AA V, S. 73; vgl. ebenso S. 75 sowie S. 79 f. Wenig später heißt es dagegen: »Achtung geht jederzeit nur auf Personen, niemals auf Sachen.« S.: KpV AA V, S. 76; vgl. ebenso KpV AA V, S. 78. Zwar sind Gesetze keine Personen und vice versa, doch besteht sicherlich darin ein positiver Zusammenhang zwischen beiden, dass die Person als autonomes Vernunftwesen sich das Sittengesetz selbst (auf-)gibt bzw. auferlegt. Nur als ein solches ist sie im moralischen Sinne für ihre Handlungen verantwortlich zu machen. Dennoch ist der Gegenstandsbereich der Achtungsakte bei Kant nicht vollkommen homogen bestimmt. 292 Vgl.: Schwemmer 1986, S. 201. Guyer spricht dementsprechend primär von dem psychologischen Effekt der Faktumslehre; vgl.: Guyer 2000, S. 136 Anm. 6. Dies verdankt sich nicht zuletzt dem Umstand, dass vor dem Hintergrund der epistemologischen Beschränktheit theoretischer Urteile gehaltvolle Aussagen über diesen auf Vernunftkausalität basierenden Prozess kaum möglich sind. In KpV AA V, S. 72 widmet sich Kant in Übereinstimmung damit explizit nicht der Frage, wie bzw. warum das Sittengesetz als solches eine Triebfeder abgeben könne; vgl. zur genaueren Analyse der Achtung Kapitel VIII dieser Studie. 293 S.: KpV AA V, S. 79. 294 S.: KpV AA V, S. 79.

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tat der Einflussnahme des Sittengesetzes auf das Gefühl darstellt. Diese Bestimmung des moralischen Gefühls als Bewusstsein einer Vernunfttätigkeit rückt das Konzept der Achtung in die Nähe zum handlungstheoretisch interpretierten Faktum der Vernunft. 295 Letzteres ist insbesondere für eine definitive Verhältnisbestimmung von Achtung und Strebenstätigkeit relevant, da eine Deutung der Achtungstheorie durch Begriffe der ›Handlung‹ und ›Tätigkeit‹ eine Verbindung zur Zweckbezogenheit des Achtungskonzepts impliziert. 296 Die Anerkennung des Sittengesetzes kann wie auch das Bewusstsein des Sittengesetzes – wenn auch nur bis zu einem bestimmten Grad – als eine Handlung, eine Aktivität des vernünftigen Subjekts und als solche als ein auf einen Zweck ausgerichteter Strebensakt rekonstruiert werden, wobei das entsprechende Aktzentrum von Kant als praktische Vernunft bezeichnet wird. 297 Auch wenn die soeben angedeutete Interpretationsmöglichkeit der Achtung als zweckbezogene Handlung bis hierhin zumindest grundsätzlich mit der übrigen kantischen Systematik verträglich zu sein scheint, stellt sich in unserem Kontext immer noch die Frage, welcher Bezug einer handlungstheoretischen Achtungsrekonstruktion zur Selbstzweckidee besteht. Diesbezüglich besteht die Möglichkeit, den Achtungsakt als spezifische Form des Anstrebens des Selbstzwecks der Menschheit zu verstehen: In Übereinstimmung mit der kantischen Konzeption eines stets auf das Gute gerichteten, daher jedoch noch nicht im klassischen Sinne produktiven oberen Begehrungsvermögens kann besagte Tätigkeit der praktischen Vernunft insofern als zweckorientiert verstanden werden, als sie prinzipiell auf den Selbstzweck der Menschheit bezogen gedacht wird. Diese Auffassung kann man durch die explizite Verbindung des teleologisch aufgeladenen Begriffs des 295 Dementsprechend behandelt Willaschek in seiner Abhandlung über die kantische Handlungstheorie einige Passagen aus dem Triebfederkapitel der KpV im Rahmen seiner Deutung des Faktumsbegriffs; vgl.: Willaschek 1992, S. 182 f. 296 Dieser systematische Bezug zur zweckorientierten Strebenstätigkeit wird meist verkannt bzw. bleibt implizit, wenn der Akt der praktischen Anerkennung des Sittengesetzes bloß auf die Wirkung des Sittengesetzes reduziert wird. 297 Praktische Vernunft darf hier in Parallele zur Faktumslehre nicht als apersonale Instanz, sondern als Kern der moralischen Akteuridentität verstanden werden: Zwar erfährt das phänomenal-noumenal verfasste Vernunftwesen die Wirkung des Sittengesetzes als Form des Erleidens, doch erleidet es de facto stets nur die Folgen einer besonderen (durch die ihm eigene reine praktische Vernunft verursachte) Handlung seiner selbst bzw. seines eigentlichen (intelligiblen) Selbst.

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›Interesses‹ mit dem der ›Achtung‹ unterstützt sehen, wenn Kant konstatiert, dass alles moralische Interesse »lediglich in der Achtung fürs Gesetz« 298 besteht. In dieser Perspektive fungiert die Achtung vor dem Sittengesetz als ursprüngliches praktisches Konstitutionsmoment im übergeordneten Kontext der moralischen Selbstbestimmung des Akteurs, wobei der Vollzug dieser Konstitution als Prozess der Vernunftwirkung aufgrund seiner Beschreibung als Tätigkeit 299 zweckrelativ sein muss. Da das Resultat des Achtungsvollzugs jedoch im Bewusstsein eines absoluten und eben nicht relativ-bedingten moralischen Anspruchs besteht, kommt als Bezugspunkt einzig der Selbstzweck der Menschheit in Frage. Zwischenfazit Vor dem Hintergrund eines (allerdings stark) erweiterten Verständnisses des Konzepts der Strebenstätigkeit kann der Achtungsakt als Form des Anstrebens des Selbstzwecks der rationalen Natur interpretiert werden. Dennoch sieht man sich hier vor gewisse Grenzen einer radikal handlungstheoretischen Rekonstruktionsperspektive gestellt, da Kant selbst eine solche Interpretation erstens nirgendwo explizit nahe legt und der Strebensbegriff zweitens in einem anfechtbaren Maße strapaziert werden muss. Trotz dieser legitimen Einwände bleibt festzuhalten, dass das zumeist von deontologischen Interpretationen angeführte Achtungskonzept vom kantischen Text her zwar jegliche naturteleologische Deutung als falsch erweist, die Rede von einer dem Vernunftgefühl vorgängigen Tätigkeit der Vernunft eine Verhältnisbestimmung von Achtung und Zweck allerdings dennoch erforderlich macht. Demnach gilt, dass sich zum einen eine zweckorientierte Achtungsrekonstruktion zumindest auf eine Kernstelle der kantischen Achtungstheorie berufen und daher nicht als schlechterdings unplausibel bezeichnet werden kann, zum anderen jedoch allenfalls der Selbstzweck der Menschheit als eigentliches Objekt der Achtung in Frage kommt, welcher wiederum nur schwerlich als eindeutig nicht-deontisches Moment klassifizierbar ist. Ein weiteres Problem der Konzeption der Anstrebung des Selbstzwecks in Form des Achtungsvollzugs besteht darin, dass man im Ausgang von Kant stets über den Sinn dieser Formulierung streiten kann, da Achtung auch schon allein unter dem 298 299

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S.: GMS AA IV, S. 401. Vgl.: KpV AA V, S. 79.

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Aktgesichtspunkt als Verwirklichungsform des Selbstzwecks aufgefasst werden kann. 300 Von daher kann eine strebenstheoretische Achtungsrekonstruktion zwar eine gewöhnlich vernachlässigte Implikation der Achtungstheorie ins Blickfeld rücken, nicht jedoch alternative Zugänge obsolet machen. Ad 2: Wie kann nun der Selbstzweck verwirklicht werden? Die Struktur des Selbstzwecks der rationalen Natur als unableitbarer, unbedingter Zweck der Vernunft impliziert aufgrund seiner grundlegenden Selbstbezüglichkeit ein spezielles Verhältnis derjenigen Tätigkeiten, die intentional auf ihn bezogen sind. Prinzipiell kann man drei dieser Tätigkeiten unterscheiden: 1. Das Anstreben der Verwirklichung des Selbstzwecks, 2. seine tatsächliche Verwirklichung und 3. seine Adaption als einen apriorischen Handlungsgrund. Die selbstbezügliche Struktur der Selbstzweckidee zeigt in Verbindung mit der dualistischen Transzendental-Anthropologie dagegen gewisse Grenzen dieser Differenzierung auf, da der apriorisch-vernunftnotwendige Charakter des Selbstzwecks der rationalen Natur (Selbstzweck der Menschheit als vernunftgegebener Handlungsgrund) für jedwedes Anstreben dieses Zwecks die Voraussetzung impliziert, dass er auf eine bestimmte Art und Weise schon verwirklicht ist bzw. als axiologisch qualifizierter Handlungsgrund praktische Geltung generiert. Dies rührt daher, dass zur Möglichkeit einer Willensbestimmung durch Bestimmungsgründe der reinen praktischen Vernunft immer schon praktische Freiheit vorausgesetzt werden muss, was wiederum in anderen Begriffen bedeutet, dass von der notwendigen Annahme der praktischen Tatsächlichkeit der rationalen Natur als Reflexions- und Zwecksetzungsvermögen ausgegangen werden muss. In diesem Kontext gilt es nun, zwischen zwei möglichen Verwirklichungsbereichen des Moralischen und somit auch zwischen zwei unterschiedlichen, jeweils notwendigen Bedingungsstrukturen zu differenzieren: Das Sittengesetz kann nach Kant zum einen im Willen verwirklicht werden, wozu praktische Freiheit vorausgesetzt werden muss; es kann aber auch darüber hinaus in der Welt Verwirklichung erfahren, welche Überlegung Kant u. a. zur Aufstellung der praktischen Postulatenlehre geführt hat. Die Verwirklichung des Sittengesetzes im Willen besteht in dem Sittengesetz völligen angemessenen 300 Diese Eigentümlichkeit des Selbstzwecks wird in Diskussionspunkt 2 stärker zum Tragen kommen.

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Bestimmungsgründen, während Moralität in der Welt in Form von Bedingungen realisiert werden kann, die der Freiheitserhaltung der Vernunftwesen dienlich sind. 301 Evident ist hier, dass die Realisierung des Moralischen in der Welt als ihre erste Bedingung einen moralischen Willen voraussetzt. Nur auf dieser moralisch-praktisch vorrangigen Verwirklichungsebene der Willensbestimmung kann die eigentümliche Verwobenheit von Strebenstätigkeit und Verwirklichungsakt aufgewiesen werden. Eine vollständige oder vollkommene Anerkennung des Selbstzwecks des Vernunftwesens und somit ein guter Wille im starken Sinne des Wortes würde in der vollkommen sittengesetzlichen Willensbestimmung bestehen. Nun haben wir an früherer Stelle bereits erörtert, dass der gute Wille nicht nur als regulative Idee für den unvollkommenen, endlichen Menschen dient, sondern sich jedes Vernunftwesen nach Kant nicht nur als sinnliches, sondern auch als intelligibles Wesen betrachten kann. Als rein intelligibles Vernunftwesen betrachtet, hat jedes Vernunftwesen nicht nur einen guten, sondern einen heiligen Willen – allein die Einschränkung durch die Bedingung der menschlichen Doppelnatur, d. h. der Koexistenz der sinnlichen und der intelligiblen Seite, bringt es sich mit sich, dass der Mensch nicht als ganzes (auch sinnliches) Wesen über einen solchen Willen verfügt. Demnach ist der Selbstzweck der Person auf der Verstandesebene in gewisser Weise immer schon verwirklicht, da in dieser Perspektive kein Bestimmungsgrund des Willens existiert, der nicht dem Sittengesetz entspricht und der Selbstzweck der rationalen Natur somit grundsätzlich angestrebt bzw. verwirklicht wird. Nur vor diesem Hintergrund ist es dem auch sinnlich bestimmten Vernunftwesen überhaupt möglich, den moralischen Maßstab des Moralgesetzes für sich anzunehmen und sich nach den Forderungen des Kategorischen Imperativs zu richten, da die Idee der Moralität ohne die intelligible Bestimmung des Menschen keine Anerkennungs- oder Motivationsmöglichkeit besitzen könnte. Zwischenfazit Die der kantischen Selbstzweckkonzeption eigentümliche Selbstbezüglichkeit erfordert offenbar eine bestimmte Umdeutung bzw. Erweiterung sowohl des Strebens- als auch des Verwirklichungsbegriffs, da 301 Dies ist nach Kant z. B. durch vernunftbasierte Staatenbildung und Rechtsprechung zu bewerkstelligen, kann aber auch in Form einer ehelichen Verbindung geschehen.

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das uneingeschränkt rationale Streben zwar grundsätzlich nie durch die Erfüllung eines hervorzubringenden Zwecks obsolet werden kann, zugleich jedoch, als prinzipiell durch das Sittengesetz bestimmtes Wollen, als Verwirklichung des Selbstzwecks begriffen werden muss. Der spezifische Zusammenhang von Streben und Verwirklichung lässt sich daher dergestalt beschreiben, dass die Differenz zwischen beiden Tätigkeiten keine kategoriale, sondern vielmehr eine perspektivische ist: Das Anstreben des Selbstzwecks der Person stellt als punktueller Akt der Wahl eines dem Sittengesetz angemessenen Bestimmungsgrundes immer schon eine Form seiner Verwirklichung dar, doch erst die ausnahmslose (gesetzanaloge) Achtung der Person als Triebfeder würde eine unüberbietbare, da vollkommene Verwirklichung des Selbstzwecks bedeuten. V.2.2.3 Objektive Zwecke III: Endzweck Der Begriff des ›Endzwecks‹ spielt im Gegensatz zu demjenigen des ›Selbstzwecks‹ vor allem in der dritten Kritik eine prominente Rolle. In der KU widmet sich Kant insbesondere den Fragen nach der Zweckmäßigkeit der Natur und des ästhetischen Erlebens vor dem Hintergrund einer Analyse des Vermögens der Urteilskraft, wobei die wichtigsten Erörterungen zur Zweckthematik im Rahmen von naturphilosophischen Reflexionen zu finden sind. Der Begriff des ›Endzwecks‹ wird in besonderer Deutlichkeit und Grundsätzlichkeit in der ›Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft‹ und dort im Kontext der Erörterung von innerer und äußerer Organisiertheit in ihrer Relation zur Zweckmäßigkeit dargelegt. 302 Das Vorliegen einer organisierten Struktur bei einem Naturwesen verweise auf dessen Zweckbezogenheit über das Ablaufen naturgemäßer Mechanismen (kausaler Determinismen) hinaus: der Zweck der Existenz eines solchen Naturwesens ist in ihm selbst, d. i. es ist nicht bloß Zweck, sondern auch Endzweck; oder: Dieser ist außer ihm in anderen Naturwesen, d. i. es existirt zweckmäßig nicht als Endzweck, sondern nothwendig zugleich als Mittel. 303

Ein Endzweck scheint im Ausgang von dieser Passage insofern in großer Nähe zur Selbstzweck-Konzeption zu stehen, als er prinzipiell 302 303

Vgl.: KU AA V, S. 426 f. S.: KU AA V, S. 426. A

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nicht als Mittel zu einem anderen Zweck betrachtet und benutzt werden kann. Wenig später bestimmt Kant diesen Begriff in aller Klarheit und Prägnanz: »Endzweck ist derjenige Zweck, der keines andern als Bedingung seiner Möglichkeit bedarf.« 304 Ein Endzweck muss offenbar ebenso wie ein Selbstzweck als ein selbstständiger, unabhängiger Zweck betrachtet werden. Dies wird umso deutlicher, wenn Kant den Menschen als letzten Zweck und somit Endzweck der Schöpfung bezeichnet: […] er ist der letzte Zweck der Schöpfung hier auf Erden, weil er das einzige Wesen auf derselben ist, welches sich einen Begriff von Zwecken machen und aus einem Aggregat von zweckmäßig gebildeten Dingen durch seine Vernunft ein System der Zwecke machen kann. 305

Das systematisch primäre Argument für die Endzwecklichkeit des Menschen stellt in diesem Zitat die Tatsache dar, dass der Mensch über die Fähigkeit verfügt, die Idee des Zwecks reflexiv zu durchdringen, sie in einem tieferen Sinn zu verstehen. Ein solches Verständnis dürfte – über den bloßen Wortlaut der angeführten Passage hinaus – vor allem daher abgeleitet werden, dass der Mensch sich selbst Zwecke setzen und somit aus praktischer Freiheit handeln kann. Zudem beschreibt Kant den Endzweck einmal mehr auf dieselbe Weise wie die Selbstzweck-Konzeption, wenn er darauf verweist, dass er aufgrund seiner Unbedingtheit nicht zu bewirken, d. h. nicht wie herkömmliche Zwecke hervorzubringen sei. 306 Menschen, als noumenale Wesen betrachtet, seien diejenigen Wesen, deren Causalität teleologisch. d. i. auf Zwecke gerichtet und doch zugleich so beschaffen ist, daß das Gesetz, nach welchem sie sich Zwecke zu bestimmen haben, von ihnen selbst als unbedingt und von Naturbedingungen unabhängig, an sich aber als nothwendig, vorgestellt wird. 307

Die teleologische Kausalität des Menschen als Fähigkeit zur Zwecksetzung und Zweckverwirklichung weist die Freiheit als dem Menschen eigenes Vermögen aus. Der Mensch sei nun zwar mit teleologischer Kausalität begabt und könne aus Freiheit handeln, doch könne man keinen Zweck angeben, auf den die menschliche Existenz selbst hin304 305 306 307

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S.: KU AA V, S. 434. S.: KU AA V, S. 427. Vgl.: KU AA V, S. 435. S.: KU AA V, S. 435.

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Teleologische Begriffe

geordnet sei: »Von dem Menschen nun […], als einem moralischen Wesen, kann nicht weiter gefragt werden: wozu (quem in finem) er existire. Sein Dasein hat den höchsten Zweck selbst in sich, […].« 308 Kant muss in diesem Punkt offenbar dahingehend verstanden werden, dass der Mensch einzig den Zweck hat, Mensch zu sein, da MenschSein bedeutet, ein moralisches Wesen zu sein und somit moralische Zwecke aufgrund moralischer Bestimmungsgründe zu verfolgen. Das Anerkennen des Sittengesetzes und die Beförderung des höchsten Guts sind Handlungen, welche selber keinem anderen übergeordneten Zweck dienen können, da es für Kant nichts die Moralität Übersteigendes geben kann. Daher ist es nur konsequent, wenn der Mensch als moralisches Wesen nach Kant zwar als Endzweck der Welt fungiert, nicht jedoch selbst einen anderen Zweck als denjenigen der Selbstverwirklichung in Form einer Verwirklichung der Freiheit besitzt. Der Begriff des ›Endzwecks‹ erweist sich somit auch in dieser Hinsicht als letztlich identisch mit dem Konzept des Selbstzwecks, auch wenn letzterer explizit in der KU keine vergleichbare Rolle spielt. Fazit Auch wenn der kantische Willensbegriff im Sinne Leists in der Tat eine teleologische Bedeutungskomponente aufweist, stellt sich das Modell der Willens- bzw. Willkürbestimmung insofern komplexer dar, als es unmittelbar durch die Normativität des Sittengesetzes geprägt ist. Der Wille und sein besonderer Modus des guten Willens weisen daher insgesamt sowohl deontisch als auch teleologisch interpretierbare Aspekte auf: Während die moralische Willensbestimmung unabhängig von vorgegebenen Zwecken geschehen soll und aufgrund des Ideals des guten Willens als prinzipielle Angemessenheit der Bestimmungsgründe des Willens an das Sittengesetz deontisch anmutet, skizziert Kant den Willen als rationales Strebevermögen und schließt sich damit konzeptuell einer teleologischen Tradition der Willensbeschreibung an. Dazu findet sich ein weiteres, handlungsteleologisches Moment: Nur unter der Bedingung einer Zwecksetzung könne der Mensch tatsächlich handeln. Der gute Wille hingegen ist einerseits die Bezeichnung für die als grundsätzlicher Maßstab fungierende Idee des absolut (unter allen Umständen) Guten und andererseits sowohl der höchste Zweck der praktischen Vernunft als auch eine exponierte Form dieser selbst, so308

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dass zusätzlich zu den bereits erwähnten Aspekten eine ethiktypologisch nicht unmittelbar klassifizierbare Form praktisch-konstitutiver Selbstreferenz vorliegt. Somit besitzt der gute Wille zwei grundlegend relevante Funktionen: Er steht 1. für den letztgültigen Begriff des Guten als kontextinsensitive Ausrichtung der Bestimmungsgründe des Willens am Sittengesetz (metaethische Funktion) und er stellt 2. den Zweck der praktischen Vernunft als deren qualitatives Maximum dar (normativ-ethische Funktion). Der teleologische Grundbegriff des ›Zwecks‹ wird von Kant auf unterschiedliche Weisen bestimmt, sodass man fast schon von verschiedenen Zweckbegriffen sprechen kann. 309 Über die Differenzierung in subjektive und objektive sowie materiale und formale Zwecke hinaus ist die Unterscheidung von zu bewirkenden und selbstständigen Zwecken von besonderer typologischer Signifikanz, da der Selbstzweck der Menschheit zwar als teleologisches Moment fungiert, zugleich jedoch nicht von einzelnen Akteuren willkürlich gesetzt werden kann, sondern das Vernunftwesen als solches betrifft. Im Unterschied zum ebenfalls objektiv verbindlichen Vernunftzweck des höchsten Guts wird der Selbstzweck nicht vom Sittengesetz abgeleitet, sondern kann als der exponierte Zweck des Kategorischen Imperativs und somit als höchststufiger Vernunftzweck bezeichnet werden. 310 Wie schon im Rahmen der Pflichtanalyse ist auch hier auf die strukturellen Verbindungen von Vernunftzwecken und Pflichten hinzuweisen: Zum einen nehmen Vernunftzwecke in ihrem Bezug auf endliche Vernunftwesen die Form kategorischer Sollensforderungen bzw. Pflichten an, zum anderen sollen bestimmte Zwecke (Maximen) von letzteren abgeleitet werden. Im Anschluss an die Resultate der früheren Analyse der SZF stellt sich der Selbstzweck der Menschheit als besonderer Vernunftzweck dar, weil das Anstreben dieses Zwecks nur unter der Bedingung seiner bereits erfolgten, wenn auch nur ›intelligiblen Verwirklichung‹ möglich ist. Dabei ist wohlgemerkt noch nicht der Zweck eines Kontinuums moralischer Achtungsakte des einzelnen Akteurs, sondern allein die grundsätzliche Ausrichtung des Willens jedes Akteurs auf das Sittengesetz realisiert, sodass die auch individuelle Verwirklichung des Vgl.: Atwell 1986, S. 9. Eine rein oder primär instrumentelle Auffassung des Sittengesetzes/des KI wäre m. E. irreführend, da die dem KI gemäße Maximenwahl und ihr adäquate Handlungen nichts anderes als den Selbstzweck der Menschheit verwirklichen. 309 310

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Selbstzwecks der Menschheit die bleibende moralische Aufgabe für jedes endliche Vernunftwesen darstellt. Das höchste Gut als objektiv verbindlicher Vernunftzweck folgt nach Kant aus dem Sittengesetz und bedingt es seinerseits nicht, da es seine ihm eigene Normativität vollständig von letzterem verliehen bekommt. Zwar kann man auch hier in gewisser Weise von einer der Verfolgung des höchsten Guts notwendig vorangehenden Verwirklichung eines seiner beiden Momente sprechen, da zu einem solchen Projekt das Sittengesetz als Bestimmungsgrund der Willkür dienen muss – von einem außermoralischen Standpunkt aus kann man das höchste Gut nicht moralisch adäquat anstreben –, doch unterscheidet es sich qua Glückswürdigkeit vom Selbstzweck der Menschheit durch die ihm implizite Glückseligkeit als empirisches Element. Während der Selbstzweck der Menschheit in seiner Funktion als höchststufiger Vernunftzweck nicht einfach als vom Sittengesetz abgeleiteter Einzelzweck, sondern vielmehr als teleologisch formulierter Gehalt des Moralgesetzes selbst 311 verstanden werden kann, verhält es sich beim höchsten Gut insofern anders, als es zwar als Natur und Vernunft vereinende Zweckbestimmung und somit als beschränkten Einzelzwecken ebenfalls übergeordneter Zweck fungiert, zugleich jedoch als Pflicht zur empiriebezogenen Umsetzung des sittlich Gebotenen direkt vom Moralgesetz abgeleitet und bedingt wird. 312

V.3 Axiologische Grundbegriffe Neben den in der Kant-Forschung verhältnismäßig viel beachteten deontischen und teleologischen Begriffen, denen wir uns in den vorherigen Ausführungen gewidmet haben, gibt es noch eine weitere Klasse von Termini, welche zwar in der vergleichsweise jüngeren Forschung meist angloamerikanischer Provenienz (insbesondere bei Herman, Wood, Korsgaard und Guyer) zunehmend mehr Beachtung gefunden hat, deren Elemente jedoch nicht selten unmittelbar zu deontischen

311 Diese Auffassung des Selbstzwecks der Menschheit als Vernunftzweck wird auch durch die bereits erfolgte Interpretation der SZF gestützt, da diese Form des KI darauf verweist, dass der Gehalt der Selbstzweckidee dem Sittengesetz implizit sein muss. 312 Vgl. zu einer genaueren Analyse der Argumentation für die Annahme des höchsten Guts Kapitel VI.3.2 dieser Studie.

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und teleologischen/konsequentialistischen Strukturen in Beziehung gesetzt oder gar schon von vornherein als entsprechend zu klassifizierende Begriffe verstanden werden. Es handelt sich dabei um axiologische Termini, um Begriffe des ›Werts‹ oder ›Unwerts‹. Sowohl systematisch als auch historisch könnte man meinen, dass axiologische Begriffe schon von ihrer Natur her eine größere Nähe zu teleologischen als zu deontologischen Strukturen aufweisen. In dieser Perspektive stehen Wertkonzepte insofern in einer engen Beziehung zu zweckbezogenen Ethikmodellen, als durch die jeweilige Zweckverfolgung bzw. –verwirklichung bestimmte für wertvoll erachtete Zustände etc. angestrebt und realisiert werden sollen. Zwecke wie z. B. Glückseligkeit oder die Herstellung gerechter Sozialverhältnisse scheinen nur moralisch interessant zu sein, wenn sie auch als gut aufgefasst und somit in axiologischer Hinsicht affirmiert werden können. Das vorliegende Kapitel zeigt, dass sich die Situation im Falle der kantischen Ethik – ebenso wie bei der Darstellung des Profils deontischer und teleologischer Grundbegriffe – als komplizierter erweist und die skizzierte Erwartung zumindest partiell enttäuscht. 313 Wertbegriffe wurden bereits implizit im Kontext des Kategorischen Imperativs, des Willens- und Zweckbegriffs oder auch der Faktumslehre als relevant erwiesen. Zudem hat sich bei der Rekonstruktion der Selbstzweckformel ergeben, dass der schon eingehender untersuchte Begriff des ›Selbstzwecks‹ nicht nur als eigenwilliger teleologischer Terminus, sondern zugleich als grundlegender Wertbegriff der kantischen Moralphilosophie bezeichnet werden muss. 314 Daher werden wir in diesem Kapitel teilweise auf bereits erwähnte oder ausführlicher dargestellte Lehrstücke Kants zu sprechen kommen, wobei dies aufgrund der bereits in anderen Untersuchungsabschnitten geleisteten Vorarbeit in gestraffter Form geschehen wird.

Allerdings dürfte dies angesichts des bisherigen Untersuchungsverlaufs keine große Überraschung darstellen, da nicht nur z. B. Pflicht- und Zweckbegriff in einer besonderen, nicht zuletzt durch die von Kant vorausgesetzte Transzendental-Anthropologie begründeten Beziehung zueinander stehen, sondern darüber hinaus an verschiedenen Stellen dieser Studie schon auf die Relevanz axiologischer Strukturen verwiesen wurde, welche zum Teil erst jetzt gründlicher dargestellt werden können. 314 Vgl.: Schönecker 1999, S. 56. 313

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V.3.1 Wert Bei den neueren Interpreten der kantischen Ethik gibt es eine bestimmte Tendenz zur stärkeren Betonung der Relevanz der Aussagen zum Wert und Unwert von Dingen, Personen und Sachverhalten. Dabei wird jedoch keineswegs durchgängig behauptet, dass Kant eine differenzierte philosophische Axiologie ausgearbeitet hätte – vielmehr wird auch dezidiert auf den ergänzungsbedürftigen Charakter diesbezüglicher Passagen verwiesen. 315 Wenn wir uns in Erinnerung rufen, welche allgemeinen Charakteristika axiologischer Reflexion im ethiktyplogischen Begriffskapitel II festgesetzt wurden, so ergibt sich, dass im Zentrum axiologischer Reflexionen nicht allein die Frage der Werterkenntnis, sondern ebenso das Moment der Wertsetzung, demnach also keine strikt theoretisch-epistemologische Problematik, sondern eine zudem moralisch relevante Handlungsdimension im Mittelpunkt des Interesses steht. Um Werte anerkennen zu können, müssen diese konsequenterweise schon vor den auf sie gerichteten kognitiven Akten in irgendeiner Art und Weise existieren bzw., um eine implizite und ungerechtfertigte Vorentscheidung für eine klassisch-realistische Auffassung von Werten auszuschließen, zumindest als bestehend (und sei es in Form einer theoretischen oder praktischen Geltung) angenommen werden. Je nach genauerer Spezifizierung der jeweiligen axiologischen Bestimmungen sowie nach der Struktur der vorausgesetzten Entscheidung der Internalismus/Externalismus-Frage ist die Erkenntnis eines Wertes nicht zwingend identisch mit dessen Anerkennung. Es gilt demnach grundsätzlich, begrifflich zwischen dem Akt der Wertsetzung, demjenigen der Werterkenntnis und der Anerkennung der entsprechenden Wertbestimmungen zu unterscheiden und zu beachten, 315 »Kant hat […] nie eine echte Werttheorie entwickelt. Er sagt weder, was genau überhaupt Werte im ethischen Kontext sind, noch, wie wir solche Werte erkennen.« S.: Schönecker/Wood 2002, S. 145. Diese Aussage von Schönecker/Wood impliziert über das bisher Gesagte hinaus, dass auch die Bestimmung der unbedingten Werthaftigkeit der vernünftigen Person nicht näher begründet werden kann. Insbesondere müsse offen bleiben, warum die vernünftige Natur als Zweck an sich selbst existiere: »Es bleibt (zumindest in der GMS) unklar, warum und ausgerechnet aus der Tatsache, daß Menschen moralisch handeln können, irgendeine normative Geltung abgeleitet werden kann.« S.: Schönecker/Wood 2002, S. 145 f. Kants Aussagen zu Wertbestimmungen werden in dieser Perspektive offenbar einerseits als begründungstheoretische Grundlage für normative moralische Forderungen, andererseits jedoch auch als selber begründungsbedürftige Behauptungen eingestuft.

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Grundbegriffe der kantischen Ethik

über welche der drei Bereiche von Kant jeweils reflektiert wird. Im Folgenden werden speziell die kantischen Aussagen zum moralischen Wert beachtet, da sich an ihnen und nicht an Aussagen z. B. zum pragmatischen Nutzwert bestimmter Gegenstände oder Fähigkeiten aufzeigen lässt, in welchem Maße die kantische Ethik von axiologischen Reflexionen bestimmt ist. 316 Welchen Entitäten schreibt Kant nun einen moralischen Wert zu und um welche Wertbegriffe handelt es sich dabei? V.3.1.1 Der Gegenstandsbereich der moralischen Wertsetzungsakte Auch wenn die Problematik der Existenz oder Nicht-Existenz einer Werttheorie bei Kant nicht weiter vertieft werden soll, muss doch schon zu Beginn der Analyse der Rolle dieses axiologischen Grundbegriffs in seiner Ethik darauf verwiesen werden, dass sich der Gegenstandsbereich der Werturteile als partiell heterogen darstellt. Grundsätzlich differenziert Kant zwischen zwei relativen Werten, dem (Markt-)Preis bzw. dem ökonomisch zu bestimmenden Warenwert und einem Affektionspreis, und dem davon kategorial zu unterscheidenden moralischen Wert, welcher nicht in diesen relativen Kategorien zu betrachten sei. 317 Der moralische Wert sei ein Wert, »der keinen Preis hat, kein Äquivalent, wogegen das Object der Wertschätzung (aestimii) ausgetauscht werden könnte.« 318 Der jeweils unvergleichliche moralische Wert, der dem wechselhaften und nur relativen Marktpreis gegenübersteht, wird von Kant auch als ›Würde‹ bezeichnet. Im Gegensatz zum äußeren und daher auch verrechenbaren Wert 319 von Gegenständen oder Dienstleistungen bezeichnet der Terminus der 316 Eine umfassende Erörterung aller kantischen Wertbegriffe erfordert m. E. eine gesonderte Studie. 317 »Was sich auf die allgemeinen menschlichen Neigungen und Bedürfnisse bezieht, hat einen Marktpreis; das, was, auch ohne ein Bedürfniß vorauszusetzen, einem gewissen Geschmacke, d. i. einem Wohlgefallen am bloßen zwecklosen Spiel unserer Gemüthskräfte, gemäß ist, einen Affectionspreis; das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Werth, d. i. einen Preis, sondern einen innern Werth, d. i. Würde.« S.: GMS AA IV, S. 434 f. 318 S.: MS AA VI, S. 462. So heißt es auch in der GMS: »Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.« S.: GMS AA IV, S. 434. 319 In der MS spricht Kant auch vom nur »äußeren Wert seiner Brauchbarkeit (pretium

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›Würde‹ einen inneren Wert. 320 Allerdings stellt sich der Objektbereich derjenigen Entitäten, denen Kant Würde zuschreibt, vielfältiger dar, als die bisherigen Ausführungen vermuten lassen. Nach einer Durchsicht allein nur der kritischen Hauptwerke (GMS, KpV, MS, KU, RGV) sowie der in axiologischer Hinsicht besonders fruchtbaren Vorlesungsmitschrift Kaehler muss man konstatieren, dass durchaus unterschiedliche Entitäten axiologisch ausgezeichnet werden. So verfügen nach Kant usus)« eines Menschen, insofern es allein um seine Fähigkeit geht, von der Natur vorgegebene Zwecke zu verfolgen; s.: MS AA VI, S. 434. 320 Im Kontext der Erläuterung der Bedeutung bestimmter Eigenschaften für die moralische Qualität des guten Willens macht Kant deutlich, dass selbst den guten Willen begünstigende Talente oder Glücksgaben keinen unbedingten inneren Wert besitzen können; vgl.: GMS AA IV, S. 393. Diese Ausdrucksweise legt die Frage nahe, ob Kant zwischen einem bedingten und einem unbedingten inneren Wert differenziert. Auch an einer anderen Stelle der MS spricht Kant von der Würde als einem »absoluten innern Werth« der Person, als ob das Prädikat »absolut« der Zuschreibung des inneren Werts noch eine qualitative Dimension hinzufügen würde; s.: MS AA VI, S. 435. Da Kant sich jedoch einerseits an keiner Stelle explizit und somit in hinreichender Deutlichkeit zu dieser Problematik äußert, sondern die genannten Begriffe eher intuitiv bzw. ohne weiterführende Systematisierung verwendet, andererseits auch kein konkretes Konzept von bedingtem innerem Wert eingeführt wird, ist es m. E. plausibel, von einer Identität von innerem und unbedingtem bzw. absolutem Wert bei Kant auszugehen. Diese Position wird zudem dadurch gestärkt, dass Kant mit dem Konzept des inneren Werts offenbar stets einen moralischen Wert bezeichnen will, woraus sich das Charakteristikum der Unbedingtheit analytisch nahe legt. Würde stellt sich zudem nicht als eine gesondert hervorzuhebende Maximierung moralischen Werts, sondern als dessen grundsätzliche Bezeichnung dar. Diese These findet nicht zuletzt in dem insgesamt recht umfassenden Gegenstandsbereich moralischer Wertsetzungsakte seine philologische Fundierung. Zudem zeigt sich die Identität von Würde und moralischem Wert in der Falschheit des Umkehrschlusses: Die kantische Würdebestimmung als innerer Wert und ihre Bezeichnung als »dignitas interna« (s. MS AA VI, S. 570) erfordert insofern die Richtigkeit der soeben aufgestellten Identitätsthese, als ein Verständnis von moralischem Wert als nur äußere Wertstruktur dessen Vergleichbarkeit und Relativität, somit aber auch die Zuschreibung einer großen strukturellen Nähe zur Vorstellung des Marktpreises implizieren würde, was der hier virulenten Idee von Moralität aber diametral widerspricht. Dies bedeutet jedoch nicht zwingend, dass man keinerlei qualitative Differenzierungen unter den moralisch wertvollen Strukturen konstatieren könnte und allen moralisch wertvollen Entitäten genau dieselbe praktisch-geltungstheoretische Signifikanz zuerkennen müsste. Recht unmittelbar kann man hier z. B. auf die Relation von Kirche und praktischer Freiheit verweisen: Kant erkennt beiden Würde zu, doch stünde es in einem manifesten Widerspruch zu seiner Systematik, die Würde der Freiheit von derjenigen der Kirche abzuleiten – primär die Tatsache, dass die Institution der Kirche der Beförderung der Moralität dienlich sein könne, stellt für Kant ein Argument für deren moralische Werthaftigkeit dar. A

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nicht nur Personen 321 bzw. das Dasein von Vernunftwesen 322 über inneren bzw. moralischen Wert, sondern z. B. auch Handlungen, 323 innere Prinzipien von Handlungen, 324 Maximen, 325 der Charakter, 326 der gute Wille, 327 sittliche Begriffe, 328 die moralische Gesetzgebung, 329 der Gesetzgeber, 330 moralische Gebote, 331 die Menschheit, 332 die Bedingung selbstzweckhafter Strukturen, 333 das Sittengesetz selbst, 334 Tugend 335 und Tugendhaftigkeit 336 , Gesinnung, 337 Sittlichkeit bzw. Moralität 338 und der Glaube an deren Gültigkeit, 339 die Idee der Pflicht, 340 der Adel, 341 die Kirche, 342 die drei Staatsgewalten, 343 der Staatsbürger, 344

321 Vgl.: MS AA VI, S. 435; KpV AA V, S. 147 f., S. 153 f. und S. 157; GMS AA IV, S. 428 f.; Vorlesung Kaehler, S. 176. 322 Vgl.: KU AA V, S. 370; GMS AA IV, S. 426 f. 323 Vgl.: GMS AA IV, S. 399 f.; KpV AA V, S. 62, S. 72 f. und S. 147 f.; Vorlesung Kaehler, S. 263. 324 Vgl.: GMS AA IV, S. 407. 325 Vgl.: KpV AA V, S. 151 f. In der GMS betont Kant darüber hinaus die Erhabenheit der Maximen, die unabhängig von nicht-moralischen Triebfedern sind; vgl.: GMS AA IV, S. 439. 326 Vgl.: GMS AA IV, S. 398; KpV AA V, S. 152 f. 327 Vgl.: GMS AA IV, S. 393 f. und S. 425 f. 328 Vgl.: GMS AA IV, S. 410 f. 329 Vgl.: GMS AA IV, S. 435 f. 330 Vgl.: RGV AA VI, S. 66 und S. 113. 331 Vgl.: Vorlesung Kaehler, S. 163. 332 Vgl.: KpV AA V, S. 88; GMS AA IV, S. 439; MS AA VI, S. 436 f. und S. 463 f.; Vorlesung Kaehler, S. 176, S. 207 und S. 228. 333 Vgl.: GMS AA IV, S. 435. 334 Vgl.: KpV AA V, S. 72 f., S. 79 f., S. 87 f. und S. 128; RGV AA VI, S. 6; Vorlesung Kaehler, S. 159 und S. 193. 335 Vgl.: MS AA VI, S. 396 f.; Vorlesung Kaehler, S. 200. 336 Vgl.: KpV AA V, S. 115 f. 337 Vgl.: KpV AA V, S. 129 f. 338 Vgl.: GMS AA IV, S. 435; Vorlesung Kaehler, S. 110 f. 339 Vgl.: RGV AA VI, S. 62 f. 340 Vgl.: RGV AA VI, S. 49 f. und S. 173. 341 Vgl.: MS AA VI, S. 328 f. 342 Vgl.: MS AA VI, S. 327. 343 Vgl.: MS AA VI, S. 316. Meyer ist insofern zuzustimmen, wenn er eine gewisse Einseitigkeit der Auslegung des Wertverständnisses bei Kant als intrinsischem Wert moniert, da Kant zumindest mit dem Begriff der Würde auch die politische Dimension der Autorität bezeichnet haben wolle; vgl.: Meyer 1987, S. 51 (diesen Hinweis entnehme ich: Löhrer 1995, S. 34 f. Anm. 2). 344 Vgl.: MS AA VI, S. 329 f.

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praktische Freiheit 345 etc. 346 Kant hat in der Schaffensphase von der Mitte der 70’er Jahre bis einschließlich der KpV im Vergleich mit den nachfolgenden Werken verhältnismäßig viel über axiologische Fragen reflektiert: Sowohl Kaehlers Vorlesungsmitschriften zur Moralphilosophie und die metaethische Grundlagenuntersuchung der GMS als auch die zweite Kritik beinhalten die maßgeblichen und auch später noch gültigen Aussagen Kants zur Wertthematik. Während sich in der dritten Kritik häufiger Aussagen zum Endzweck als zum moralischen Wert finden lassen, spielt in der Religionsschrift insbesondere der Begriff der ›Heiligkeit‹ bzw. das Prädikat ›heilig‹ – verstanden als Elemente einer spezifisch moralischen Axiologie – eine wichtige Rolle. Insgesamt werden wir sehen, dass es in der Untersuchung der ethiktypologischen Rolle der kantischen Axiologie darauf ankommt, vor allem die entsprechenden Thesen aus der Frühphase der Entwicklung der kritischen Ethik zu beachten und ernst zu nehmen, da diese in den späteren Werken zwar meist implizit bleiben, aber dennoch die systematische Grundlage für andere moralphilosophisch relevante Bestimmungen ausmachen. In den folgenden Ausführungen soll ein kurzer, aber dennoch aussagekräftiger Überblick über die in unserem Kontext wichtigsten Elemente des Gegenstandsbereichs moralischer Werturteile gegeben werden. Ich werde mich dabei auf die Aussagen zum moralischen Wert von Personen, Handlungen, der Menschheit, des Sittengesetzes bzw. der moralischen Gesetzgebung und der Freiheit konzentrieren, da diese Begriffe für die Struktur der kantischen Ethik zentral sind und zudem in der aktuellen ethiktypologischen Diskussion um Kant eine besondere Rolle spielen. V.3.1.1.1 Person Eine besonders prägnante und material reichhaltige Passage zur Sonderstellung der Person findet sich in der Tugendlehre der MS: Allein der Mensch als Person betrachtet, d. i. als Subject einer moralisch=praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben; denn als ein solcher Vgl.: MS AA VI, S. 420. Nach Löhrer zeige sich Kant über die Vielfalt der verschiedenen Wertarten nicht irritiert, doch scheint er sich in der Tat nur auf die Wertarten, nicht jedoch auf den durchaus heterogenen Gegenstandsbereich der Werturteile zu beziehen; vgl.: Löhrer 1995, S. 39. 345 346

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Grundbegriffe der kantischen Ethik

(homo noumenon) ist er nicht blos als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d. i. er besitzt eine Würde (einen absoluten innern Werth), wodurch er allen andern vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnöthigt, sich mit jedem Anderen dieser Art messen und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann. 347

Die in dieser Passage benutzte Ausdrucksweise Kants suggeriert eine gewisse Statik, was den axiologischen Status der Person betrifft: Der Mensch als homo noumenon sei als solcher grundsätzlich moralisch unbedingt wertvoll – ohne alle weiteren Einschränkungen. In Kürze werden wir jedoch sehen, dass die Person auch in der Lage sein soll, ihre eigene Würde zu verletzen bzw. sich hinsichtlich der Wahl der Bestimmungsgründe ihres Willens unwürdig zu verhalten. 348 Zudem spricht Kant in verschiedenen Passagen seines Werks davon, dass sich der Mensch seinen moralischen Wert selbst verschafft und somit nicht nur für einzelne Handlungen, sondern auch für seine eigene moralische Identität verantwortlich ist. 349 Nun besteht aber deswegen kein Widerspruch zwischen der These der prinzipiellen Würde der Person und der gleichzeitigen Behauptung einer gewissen Dynamik ihres Verhältnisses zum Menschen, weil Kant stellenweise zwischen moralischem Potential, oder in den Begriffen der Religionsschrift: der Persönlichkeit als moralischer Anlage im Menschen, und aktualisierter, empirisch entwickelter Moralität differenziert – ersteres werde ich in den folgenden Ausführungen den ›Potenzaspekt‹, letzteres den ›Aktaspekt‹ der personalen Würde nennen. Darüber hinaus liefert dieses Zitat einen für uns wichtigen Hinweis auf das von Kant vorausgesetzte Verhältnis von moralischem Wert und Zweckstrukturen: Selbstzweck-Sein und der Besitz von unveräußerlicher Würde sind dabei nach dieser Passage aus der MS offenbar bedeutungsgleich. In Entsprechung zur SZF schließt Kant dabei nicht auf die Unmöglichkeit bzw. das Verbot, Personen auch als Mittel zur Verwirklichung von nicht unbedingt universalen Zwecken zu betrachten, doch impliziere die Würde der Person, dass diese immer zugleich in allen personbezogenen Handlungen geachtet werden muss. Weiter zu beachten ist vor allem die Beziehung von Anfang und Ende S.: MS AA VI, S. 434 f. Streng genommen macht freilich nur die zweite der oben angeführten Formulierungen Sinn, da man eine unveräußerliche Würde nicht verletzen kann. 349 Vgl.: RGV AA VI; S. 44; Vorlesung Kaehler, S. 180 f. 347 348

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der Passage, da sich beide auf das Thema der qualitativen Differenzierungsmöglichkeit innerhalb der moralischen Wertsphäre beziehen: Während die noumenale Person zu Beginn als allein Würde besitzende Entität bezeichnet wird, behauptet Kant am Schluss die Gleichheit aller Wesen ›dieser Art‹. Was er genauer mit dem interpersonalen Sicht-Untereinander-Messen meint, kann mangels weiterer Erläuterungen nur vermutet werden. – Da ein definitiver Vergleich 350 der moralischen Qualität oder Reife zweier Personen für jedes endliche Wesen streng genommen aus erkenntnistheoretischen Gründen unmöglich ist, scheint Kant mit dieser Aussage die Erwähnung des Faktums der Gleichwertigkeit aller moralischen Subjekte vorzubereiten. Eine letzte wichtige Komponente der obigen Aussage besteht darin, dass die Selbstzweckhaftigkeit und somit die Würde der Person den Grund für die moralische Notwendigkeit des Geachtetwerdens von anderen Personen darstellt. 351 Personale Würde kann nach Kant nicht auf der Grundlage von Gefühlen, sondern nur durch eine Gründung der Gesinnung der Person in begrifflichen Strukturen etabliert werden: Grundsätze müssen auf Begriffe errichtet werden, auf alle andere Grundlage können nur Anwandelungen zu Stande kommen, die der Person keinen moralischen Werth, ja nicht einmal eine Zuversicht auf sich selbst verschaffen können, ohne die das Bewußtsein seiner moralischen Gesinnung und eines solchen Charakters, das höchste Gut im Menschen, gar nicht stattfinden kann. 352

Die Würde der Person setze demnach Grundsätze voraus, die auf dem Fundament rationaler, begrifflicher Strukturen ruhen, während alle nicht-begrifflichen Grundlagen nur schnell vergängliche und somit für die willentliche Internalisierung von bestimmten subjektiv-praktischen Grundsätzen (Maximen) ungeeignete Bewusstseinsstrukturen 350 Dies bedeutet nicht, dass zwischen Personen im Ausgang vom äußerlichen Verhalten keinerlei moralisch relevanten Unterschiede festgestellt werden könnten. Natürlich weist ein häufigeres moralisch unzulässiges Verhalten auf entsprechende Maximen hin, doch kann nach Kant die Maximenbeschaffenheit vor allem im Falle moralisch adäquaten Verhaltens nicht sicher bestimmt werden. 351 Der Akt der Achtung ist nach Kant demnach allgemein nur dann angemessen, wenn es sich um zur Moral fähige Vernunftwesen handelt. Dieser Punkt soll allerdings in Kap. VIII noch genauer analysiert werden, wenn der Zusammenhang von Achtungsund Werttheorie zur Sprache kommt. 352 S.: KpV AA V, S. 157 f. Vor diesem Hintergrund erscheint mir Woods These der Nicht-Identität von guter Person und gutem Willen als gewagt; vgl.: Wood 2006, S. 39.

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erzeugten. Im Ausgang von diesen Bestimmungen aus der zweiten Kritik ergibt sich die wesentliche Abhängigkeit der Personenwürde von Begriffen und daher von der Vernunft: Nur auf dem Boden begrifflicher Grundsätze kann man in kantischer Perspektive überhaupt von moralischem Wert der Person sprechen. In GMS II wird dieser Aspekt unter dem Gesichtspunkt der Wesensstruktur der Person aufgegriffen: Vernunftwesen seien Personen, weil deren Dasein an sich selbst Zweck ist und zwar einen solchen, an dessen statt kein anderer Zweck gesetzt werden kann, dem sie bloß als Mittel zu Diensten stehen sollten, weil ohne dieses überall gar nichts von absolutem Werthe würde angetroffen werden; wenn aber aller Werth bedingt, mithin zufällig wäre, so könnte für die Vernunft überall kein oberstes praktisches Princip angetroffen werden. 353

Die Würde der Person liegt demnach allein in ihrer ihr gegebenen Natur in Form der Vernunftanlage. Dabei ist die Bedeutung der Würde für Kant kaum zu überschätzen: Ohne die Würde der Person und demnach ohne den Selbstzweck der Menschheit wäre die Bestimmung eines obersten Moralprinzips unmöglich. Diese Position kann man sowohl als ein Bekenntnis zu einer Form des moralischen Realismus 354 S.: GMS AA IV, S. 428. In Reinform wird diese These von Schönecker und Wood vertreten: »Kant ist, wie man heute vielleicht sagen würde, moralischer Realist. Er ist überzeugt, daß unsere moralischen Urteile kognitiven Charakter haben (also wahr oder falsch sein können) und sich auf moralische Sachverhalte beziehen. Dieser Sachverhalt ist die Zweckansichhaftigkeit autonomer Wesen. Der ›absolute Wert‹ dieses Sachverhalts ist nichts, das Menschen machen, das sie verleihen, oder das sich irgendwie aus einer bereits de facto vorausgesetzten Anerkennung von Werten ableiten ließe: Kant ist weder Konstruktivist noch Subjektivist.« S.: Schönecker/Wood 2002, S. 146. Schönecker/Wood konzentrieren sich in diesem Zitat offenbar allein auf den Potenzaspekt personaler Würde. Die beiden von den Autoren genannten Aspekte des Kognitivismus und des Realismus sind dabei zu differenzieren bzw. als unabhängig voneinander zu betrachten, da man Kant durchaus auch kognitivistisch und zugleich antirealistisch deuten kann. Zwar beziehen sich die hier relevanten Aussagen Kants in der Tat auf den moralischen Sachverhalt der absoluten Zweckhaftigkeit von Vernunftwesen, doch lässt der Begriff des ›Sachverhalts‹ immer noch einen gewissen interpretatorischen Spielraum offen, da mit ihm auch ein praktisch-geltungstheoretischer Sachverhalt, demnach eine gegenständliche Struktur bezeichnet werden kann, welche durchaus mit einer antirealistischen Auslegung kompatibel ist. Moralische Sachverhalte können prinzipiell auch als Geltungsfragen interpretiert werden, sodass die These vom absoluten Wert des Daseins des Vernunftwesens als Grund des kategorischen Imperativs nicht notwendig zu einer realistischen Deutung führen muss, sondern ebenso zur vielleicht zurückhaltenderen (und vergleichsweise 353 354

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als auch als eine Befürwortung einer antirealistischen Theorie der Moral 355 skizzieren. Im Falle einer realistischen Deutung wäre der moralische Akteur nach Kant bestrebt, etwas unabhängig von ihm und seiner Vernunftstruktur Reales anzuerkennen, was eine klassisch-teleologische Interpretation begünstigen kann, während eine antirealistische Deutung die Möglichkeit nahe legt, den Akt der Wertkonstitution als spezifische Form der (noumenalen) Selbstverwirklichung auszulegen, wobei diese Selbstverwirklichung aufgrund ihrer selbstreferentiellen Struktur (der von der praktischen Vernunft zu verwirklichende Wert ist letztlich ein objektivierter, ›reiner‹ Teil bzw. Aspekt ihrer selbst) hinsichtlich ihres ethiktypologischen Status zumindest weniger eindeutig zu klassifizieren ist. Abgesehen von dieser Teilproblematik liegt es jedoch in der Idee einer ontologisch-epistemologisch neutralen Ethiktypologie, dass nicht die Seinsweise der jeweiligen

leichter zu verteidigenden) Konstatierung eines axiologischen Geltungsobjektivismus in Kombination mit einem nicht-metaphysischen Realismus Anlass geben kann. Eine dieser Form ähnliche Variante der Realismus-These wird von Korsgaard vertreten, die gewissermaßen konstruktivistische und objektivistische Elemente vereint. Der Kern ihrer Interpretation der kantischen Axiologie besteht in der Feststellung, dass die in der Welt existierenden Entitäten nach Kant nicht an sich wertvoll sind, sondern jeglicher Wert vom rationalen Subjekt erst verliehen werden muss: »According to Kant, we confer value on the objects of our rational choices«, s.: Korsgaard 1996b, S. IX. Dieser Standpunkt impliziert demnach eine Ablehnung derjenigen Vorstellung, dass Kants Axiologie in traditioneller Weise ontologisch-metaphysisch zu verstehen sei. Dabei betont Korsgaard, dass Kant zumindest in derjenigen Ansicht mit realistischen Moraltheorien übereinstimme, dass es bestimmte Entitäten gebe, denen notwendigerweise unbedingter moralischer Wert zugeschrieben werden müsse, wobei dies nicht primär an den Entitäten selbst, sondern vielmehr an den personal verankerten Rationalitätsstrukturen liege: Kants Theorie bestätige »the basic intuitions behind realist theories of value: that we can’t value just anything, and that there are things which we must value. But these requirements are not derived from metaphysical facts. What brings ›objectivity‹ to the realm of values is not that certain things have objective value, but rather that there are constraints on rational choice«; s.: Korsgaard 1996b, S. X. Abgesehen von Kant sei ein metaphysischer Realismus nicht in der Lage, einen praktischen positiven Wertbezug zu etablieren; vgl.: Korsgaard 1996b, S. 305 Anm. 17. Dagegen bezeichnet sie Kants Zugang zur Ethik als ›prozeduralen Realismus‹ und versucht auf diese Weise, den vom klassischen Realismus übernommenen Geltungsobjektivismus und die für Kant charakteristische und streng genommen antirealistische Konstitutivität der personalen Handlung für axiologische Sachverhalte in einem begrifflichen Konzept zusammenzufassen; s.: Korsgaard 1996a, S. 35 ff. 355 Vgl. zur antirealistischen Deutung: Horn 2004, S. 211. A

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Pflichten und Zwecke, sondern ihre funktionale Rolle und ihr genuiner Geltungsanspruch356 von entscheidender Relevanz sein sollen. Eine antirealistische Interpretation deutet die Aussage vom absoluten Wert des Daseins selbstzweckhafter Wesen insofern primär in Übereinstimmung mit der Erkenntnistheorie der KrV, als Kant nicht die in dieser Perspektive problematische These zugeschrieben wird, dass man Werturteile berechtigterweise (rational ausweisbar) von der Beschaffenheit existierender Entitäten ableiten müsse, welche sich demnach konsequenterweise unter axiologischen Auspizien verbindlich bestimmen lassen müssten. Kant hat jedoch – soviel an Fazit zur kantischen Axiologie sei an dieser Stelle schon einmal vorweggenommen – in keinem seiner Werke eine Theorie entwickelt, nach der durch bloßen Gegenstandsbezug gezeigt werden könnte, warum bestimmte Objekte in der Welt kraft ihrer Eigenschaften unbedingt wertvoll sein sollen. Während eine klassisch-realistische Interpretation mit der Unterstellung von massiven immanenten Widersprüchen beispielsweise in der GMS arbeiten muss, deutet die antirealistische Alternativposition die jeweiligen Wertthesen als mit der Gesamtsystematik kompatibel, da die autonome Eigenaktivität der Zuschreibung von moralischem Wert durch das Subjekt als ursprünglich für den jeweils veranschlagten Wert der Dinge, Sachverhalte und Subjekte angenommen wird. Angesichts sowohl der philologischen als auch der systematischen Sachlage scheinen mir die Vorteile der antirealistischen Interpretationsrichtung zu überwiegen, auch wenn gerade hinsichtlich des oben angeführten Zitats die kantische Rede von dem Wert eines Daseins ›ent-ontologisiert‹ werden muss. In der Vorlesung Kaehler findet sich darüber hinaus eine aufschlussreiche Passage zur Relation von Pflichten und Wert der Person. Kant entwickelt dort in der Übergangszeit zwischen vorkritischer und kritischer Ethik den auch für seine späteren Konzeptionen zentralen Gedanken, dass der moralische Wert der Person unmittelbar mit den Pflichten gegen sich selbst zusammenhänge: Die Pflichten gegen sich selbst sind die oberste Bedingung und das principium aller Sittlichkeit, denn der Werth der Person macht den moralischen Werth aus, der Werth der Geschicklichkeit bezieht sich nur auf seinen Zustand. Socrates war in einem elenden Zustande, der gar keinen Werth hatte, aber seine 356 Freilich können diese unterschiedlichen Aspekte durchaus voneinander abhängen, doch darf dies nicht die typologische Klassifikation bestimmen.

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Person war in diesem Zustande in dem grössten Werth. […] Wer keinen innern Wert hat, der hat seine Person weggeworfen und der kann keine Pflicht mehr ausüben. 357

Die erste These des obersten Prinzipienstatus der Pflichten gegen sich selbst steht in Verbindung mit der weiteren Behauptung, dass dieser Status auf einem spezifischen Zusammenhang dieser Pflichten und dem moralischen Wert der Person beruht – Kants Wortwahl legt dabei unmissverständlich die Deutung nahe, dass der Wert der Person und somit der moralische Wert eines Menschen durch die Erfüllung bzw. Nicht-Erfüllung der selbstbezogenen Pflichten konstituiert werde. In Verbindung mit der dritten These ergibt sich insgesamt folgende Gedankensequenz: Die Grundlage und erste Bedingung von gelebter Moralität besteht in der Beachtung der Pflichten gegen sich selbst, welche den persönlichen moralischen Wert eines Menschen ausmacht. Ohne diesen fundamentalen moralischen Wert des Personseins durch Beachtung der selbstbezogenen Pflichten würden alle anderen moralischen Handlungen (Pflichtbefolgungen) hinfällig. Kant spricht an dieser Stelle offenbar vom Aktaspekt menschlicher Würde: Der Mensch kann sein Personpotential entweder aktualisieren und vor allem anderen die Befolgung der Pflichten gegen sich selbst zu seinem obersten Handlungsmaßstab machen, oder er kann diese Pflichten ignorieren bzw. ihnen gezielt zuwider handeln und dadurch seine Person ›wegwerfen‹. Auch wenn die Vorlesung Kaehler aus den Jahren 1774/75 stammt, scheint Kant die entsprechende These zur Relation der Befolgung der Pflichten gegen sich selbst und dem Wert der Person auch in späteren Werken für verbindlich erachtet zu haben. 358 Zwar fehlt in dieser frühen Vorlesung die Explikation der außerordentlichen Relevanz der Autonomie des moralischen Subjekts, doch steht für Kant offenbar schon einige Jahre vor der definitiven Systematisierung seiner Ethik fest, dass S.: Vorlesung Kaehler, S. 176. Im ersten Teil der ethischen Elementarlehre heißt es: »Denn setzet: es gebe keine solche Pflichten, so würde es überall gar keine, auch keine äußeren Pflichten geben. – Denn ich kann mich gegen andere nicht für verbunden erkennen, als nur so fern ich zugleich mich selbst verbinde; weil das Gesetz, kraft dessen ich mich für verbunden achte, in allen Fällen aus meiner eigenen praktischen Vernunft hervorgeht, durch welche ich genötigt werde, indem ich zugleich der Nötigende in Ansehung meiner selbst bin.« S.: MS AA VI, S. 417 f. Wenn es keine Pflichten gegen sich selbst gibt, existiert letztlich auch keine Handlung aus Achtung vor der Menschheit in jeder Person und somit keine praktische Anerkennung des personalen moralischen Werts. 357 358

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Personsein und damit auch der Besitz moralischen Werts untrennbar mit der Fähigkeit zusammenhängt, sich selber verbindlich zu bestimmten moralischen Geboten zu bekennen, sich demgemäß zu verhalten und nur auf diese Weise eine auf Moral basierende Form von Interpersonalität etablieren zu können. V.3.1.1.2 Der moralische Wert der Handlung In Anlehnung an die Differenzierung zwischen dem moralischen Wert der Person und dem Wert der Geschicklichkeit bzw. Lebensklugheit trifft Kant im Bereich der Handlungsevaluation eine strukturell ähnliche Unterscheidung zwischen moralisch und somit unbedingt wertvollen Handlungen und denjenigen Akten, welche nur als Mittel zu einem übergeordneten Zweck gutzuheißen seien. In aller Deutlichkeit findet sich dieser Ansatz im zweiten Hauptstück der Analytik der KpV: Das Gesetz bestimmt alsdann unmittelbar den Willen, die ihm gemäße Handlung ist an sich selbst gut, ein Wille, dessen Maxime jederzeit diesem Gesetze gemäß ist, ist schlechterdings, in aller Absicht, gut, und die oberste Bedingung alles Guten: oder es geht ein Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens vor der Maxime des Willens vorher, der ein Object der Lust oder Unlust voraussetzt, mithin etwas, das vergnügt oder schmerzt, und die Maxime der Vernunft, jene zu befördern, diese zu vermeiden, bestimmt die Handlungen, wie sie beziehungsweise auf unsere Neigung, mithin nur mittelbar (in Rücksicht auf einen anderweitigen Zweck, als Mittel zu demselben) gut sind, und diese Maximen können alsdann niemals Gesetze, dennoch aber vernünftige praktische Vorschriften heißen. 359

Insofern das Sittengesetz den Willen ohne jede weitere Zweckvorstellung bestimme, sei die an diesen moralisch adäquaten Willen gebundene Handlung an sich gut, d. h. sie verfüge über moralischen Wert. Falls jedoch die Maxime des der Handlung zugrundeliegenden Willens nicht direkt durch das Sittengesetz determiniert werde, sondern der Verwirklichung eines auf Neigung basierenden Zwecks dienlich sei, könne man nur von einem durch eben diese nicht-moralische Zwecksetzung bedingten Gutsein der Handlung sprechen. In Entsprechung zum nur relativen Wert der Geschicklichkeit bzw. des Zustands der Person besitze auch die zweckrationale Handlung keinen invarianten moralischen Wert, sondern sei nur unter bestimmten Bedingungen (der Gegebenheit des passenden Zwecks) gut zu nennen. 359

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S.: KpV AA V, S. 62.

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Auch im dritten Hauptstück der Analytik bestimmt Kant die unmittelbare Willensbestimmung durch das Moralgesetz als das Wesentliche des moralischen Werts von Handlungen. 360 Der hier vorliegende systematische Zusammenhang ist m. E. dergestalt zu rekonstruieren, dass eine moralisch wertvolle Handlung nach Kant nicht ohne Bezug zum moralischen Wert von Personen denkbar ist, da eine unmittelbar durchs Sittengesetz stattfindende Willensbestimmung in erster Linie nichts anderes bedeutet als die unbedingte intrasubjektive Anerkennung und Wertschätzung des höheren, noumenalen Vernunftselbst bzw. der Person. Indem ich mich als freies Vernunftwesen bzw. als einen moralisch verantwortlichen Akteur verstehe und das Sittengesetz als für mich verbindlich auffasse, habe ich schon implizit die uns hier interessierenden praktischen Werturteile bzw. Wertschätzungsakte vollzogen, da ich mich für den vorrangigen Wert meines intelligiblen Selbst und damit für die Unterordnung (nicht Negation) des relativen Werts meiner physischen und psychischen Begehrungen entschieden habe. Andernfalls könnte für mich die Vorstellung des Sittengesetzes keinen praktischen Beweggrund darstellen und ich mich nicht als Adressat der vom Kategorischen Imperativ ausgehenden Forderungen betrachten. Der moralische Wert von Handlungen ist nach diesen Stellen aus der KpV demnach immer durch den moralischen Wert der

360 Vgl.: KpV AA V, S. 71 f. Die Betonung der entscheidenden Relevanz der direkten Willensbestimmung durch das Sittengesetz für Kants Handlungsaxiologie stellt dabei eine implizite Antwort auf die in diesem Kontext nicht immer leicht zu beantwortende Frage nach dem letztlich ausschlaggebenden Handlungsgrund einer an sich guten Handlung dar: Eine Handlung ist an sich gut, wenn sie allein um willen des Sittengesetzes, demnach aus Achtung des unbedingten Werts der Person geschieht. Auch in GMS II widmet sich Kant dieser Frage, wo er konstatiert, dass »weder Furcht, noch Neigung, sondern lediglich Achtung fürs Gesetz diejenige Triebfeder sei, die der Handlung einen moralischen Werth geben kann.« S.: GMS AA IV, S. 440. Handlungen kann laut dieser Passage nur mittels Triebfedern moralischer Wert verliehen werden, was insofern von ethiktypologischer Bedeutsamkeit ist, als durch diese Stelle aus der GMS verdeutlicht wird, dass es vor dem Hintergrund dieser Feststellung bei der ethiktypologischen Analyse des kantischen Konzepts von moralischem Wert von Handlungen erstens auf eine genauere Strukturbestimmung von Triebfedern ankommt und bei dieser Bestimmung zweitens die Frage nach verschiedenen möglichen Funktionen von Triebfedern im Mittelpunkt stehen muss. Bisher kam eine Triebfeder bei Kant nur als ein Begriff der Handlungsbestimmung zum Tragen, doch bliebe zu erörtern, inwiefern Triebfedern bzw. Vorstellungen von Triebfedern auch Strukturmomente von Zweckkonzeptionen sein können.

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Akteure bedingt, da eine an sich gute Handlung niemals von einem primär unmoralischen Akteur vollzogen werden kann. Die soeben skizzierte Verhältnisbestimmung ist allerdings nicht alternativlos, wie ein genauerer Blick in die KpV zeigt. In ihrem ersten Teil reflektiert Kant über die motivationalen Probleme, die im Falle einer bewusstseinsmäßigen Dauerpräsenz Gottes entstehen würden: Nicht primär die Würde des Gesetzes wäre handlungsweisend, sondern Furcht, weshalb gelte: »[…] ein moralischer Werth der Handlungen aber, worauf doch allein der Werth der Person und selbst der der Welt in den Augen der höchsten Weisheit ankommt, würde gar nicht existiren.« 361 Da aber bestimmte Beschränkungen der menschlichen Erkenntnis bestünden und die Existenz Gottes somit allenfalls vermutet werden dürfe, »so kann wahrhafte sittliche, dem Gesetze unmittelbar geweihte Gesinnung stattfinden und das vernünftige Geschöpf des Antheils am höchsten Gute würdig werden, das dem moralischen Werthe seiner Person und nicht blos seinen Handlungen angemessen ist.« 362 In beiden Teilelementen dieser Stelle differenziert Kant einerseits eindeutig zwischen moralischem Wert der Person und der Handlung, andererseits entwickelt er zwei unterschiedliche Thesen hinsichtlich ihrer Relation: Die erste These besagt, dass der Personenwert und sogar der Wert der Welt auf denjenigen der Handlung ›ankomme‹, wobei diese Formulierung in vorliegendem Kontext nur als axiologische Primärrelevanz von Handlungen Sinn macht, während Kant in der zweiten These allein durch die dem Sittengesetz angemessene Gesinnung eine der Würde der Person und nicht nur deren Handlungen angemessene Teilhabe am höchsten Gut gewährleistet sieht. Diese Passage aus der KpV zeigt trotz der zu berücksichtigenden Unterscheidung beider Wertträger eindrucksvoll, wie eng moralischer Handlungswert und die Würde der Person bei Kant verbunden sind: Der Mensch gebe sich zum einen als Vernunftwesen durch den freien Handlungsvollzug in Form einer grundsätzlichen Affirmation seines eigenen moralischen Wesens (der Wertschätzung seines noumenalen Selbst in Form der Anerkennung der Pflichten gegen sich selbst 363 ) unbedingten Wert und sei zum anderen gerade dadurch erst mit vollem Bewusstsein ein moraS.: KpV AA V, S. 147. S.: KpV AA V, S. 147 f. 363 Das Gewahrsein der moralischen Natur des Menschen äußere sich phänomenal in dem »Gefühl der Erhabenheit seiner Bestimmung«; s.: MS AA VI, S. 437. 361 362

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lisch verantwortlicher Akteur und somit ein exponiertes Subjekt weiterer moralischer Handlungen. V.3.1.1.3 Menschheit Der moralische Wert bzw. die Würde der Menschheit ist sicherlich neben der Würde der Person der in der gegenwärtigen Forschung am stärksten beachtete Wert in der kantischen Ethik. Die Kombination von Person und Menschheit ist dabei kein Zufall, denn nicht zuletzt in der SZF wird der Akteur dazu angehalten, die Menschheit in seiner und der jeweils anderen Person zu achten und seine Maximenwahl demgemäß zu gestalten. Mit ›Menschheit‹ bezeichnet Kant grundsätzlich die Fähigkeit, sich im Ausgang von der eigenen Freiheit der Selbstgesetzgebung und Selbstbestimmung Zwecke zu setzen. Diese Zwecke müssen dabei wohlgemerkt nicht notwendig moralischer Natur sein, sondern können sich ebenso auf andere Inhalte beziehen. 364 Die fol364 Allerdings finden sich auch bestimmte Stellen bei Kant, die einer solchen Einschätzung zu widersprechen scheinen. So führt Kant z. B. in der Tugendlehre der MS im Unterkapitel über die Kriecherei aus: »Der Mensch im System der Natur (homo phaenomenon, animal rationale) ist ein Wesen von geringer Bedeutung und hat mit den übrigen Thieren, als Erzeugnissen des Bodens, einen gemeinen Wert (pretium vulgare). Selbst, daß er vor diesen den Verstand voraus hat und sich selbst Zwecke setzen kann, das gibt ihm doch nur einen äußeren Werth seiner Brauchbarkeit (pretium usus), nämlich eines Menschen vor dem anderen, d. i. ein Preis, als einer Waare, in dem Verkehr mit diesen Thieren als Sachen, wo er doch noch einen niedrigern Werth hat, als das allgemeine Tauschmittel, das Geld, dessen Werth daher ausgezeichnet (pretium eminens) genannt wird.« S.: MS AA VI, S. 434. Dieses Zitat scheint der oben genannten Behauptung, dass der Mensch aufgrund seiner Freiheit voraussetzenden Zwecksetzungsfähigkeit unbedingten Wert besitze, unmittelbar zu widersprechen: Insofern der Mensch sich als homo phaenomenon Zwecke setze, befinde er sich auf derselben Stufe wie die übrige animalische Natur und besitze daher nur bedingten, äußeren und keinen moralischen Wert. Zwar nennt Kant an dieser Stelle nur den Verstand und nicht die praktische Vernunft als Unterscheidungsmerkmal von Menschen gegenüber Tieren, doch gibt es keine weiteren philologischen Anhaltspunkte, dass Kant das Vermögen des Verstandes strukturell mit der Setzung und Verfolgung neigungsbasierter Zwecke verbunden hat. In Übereinstimmung mit dem Zitat aus der MS steht auch das Denken Pippins, wenn er konstatiert: »[…] meiner Meinung nach gibt es keinen internen Kantischen Grund, unsere Fähigkeit, materielle Zwecke zu setzen und zu verfolgen, als einen fundamentalen Wert zu betrachten, den es stets in unserem gesamten Tun zu berücksichtigen gilt.« S.: Pippin 2005, S. 46. Die Sachlage ist allerdings komplizierter, als Pippin annimmt. Zwar findet seine Behauptung z. B. in GMS AA IV, S. 427 f. ihre philologische Fundierung, doch wird auf derselben Seite des Werks ein Zweck als ›objektiver Grund der menschlichen Selbstbestimmung‹ und damit der Willensbestimmung bezeichnet, was insofern nicht recht mit dem vorhergehenden Kant-Zitat aus

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gende Betrachtung der Menschheitskonzeption baut auf den bisherigen Erläuterungen im Kontext der Analyse der SZF auf und hat vor allem eine Verdeutlichung der Beziehung der Menschheit zum axiologischen Fundamentalbegriff der ›Person‹ zum Ziel.

der MS übereinstimmen will, als es für den homo phaenomenon als bloßes Naturwesen ohne die Fähigkeit zu reiner Vernunftkausalität nicht möglich sein dürfte, für objektive Gründe seiner Selbstbestimmung, m. a. W. für Zwecke als Handlungsgründe, offen zu sein. Denn Kant geht grundsätzlich nicht davon aus, dass es Phänomene wie Selbstbestimmung im rein phänomenalen Bereich oder in rein naturalistischer (d. h. hier: empiristischer) Perspektive geben könne. Andererseits, wie im Zweckkapitel dieser Untersuchung bereits erwähnt wurde, bestimmt Kant einen Zweck in der Religionsschrift (RGV AA VI, S. 5 f.) als Objekt einer Zuneigung, welche Definition wiederum in Übereinstimmung mit dem obigen Zitat aus der MS gelesen werden kann. Zwar führt er auch in der RGV einen Begriff von objektiven Zwecken an, doch löst dieser Umstand unser aktuelles Problem nicht. Steigleder hat diese Problematik u. a. im Ausgang von Kants Rede über das Wohlergehen als eines natürlichen Zwecks des Menschen pointiert in Worte gefasst: »Die Rede von einem ›Ziel‹ insinuiert ›Entscheidung‹ oder ›Wahl‹ und somit einen Anteil praktischer Vernunft, während die Rede von ›Zwangsläufigkeit‹ aufgrund der ›Bedürfnisnatur‹ dies gerade auszuschließen scheint.« S.: Steigleder 2002, S. 10. Er weist in den auf dieses Zitat folgenden Passagen auf, dass für Kant ein natürlicher oder durch Neigung vorgegebener Zweck zwar als solcher nicht streng mit Vernunft und Freiheit verbunden sei, der Mensch jedoch generell die Möglichkeit besitze, sich mittels vernünftiger Reflexion bis zu einem gewissen Grad von seinen unmittelbaren Bedürfnissen zu distanzieren und somit über die Freiheit verfüge, die Art und Weise der Verfolgung dieses natürlichen Zwecks (z. B. der Glückseligkeit) für sich zu bestimmen und seine nicht-vernünftigen Zwecke somit doch einer wenigstens mittelbaren Einflussnahme der Vernunft zu unterstellen; vgl.: Steigleder 2002, S. 17. Die Quelle oder der Ursprung natürlicher Zwecke sei zwar nicht die Vernunft, sondern die jeweils durch die Natur vorgegebene Bedürfnisstruktur, die Handlungsstrategien zu deren Verfolgung stammten allerdings aus der Vernunft. Letztlich dürfte diese Frage nur unter Einbezug von Allisons ›incorporation thesis‹ sinnvoll beantwortet werden können: Demnach kann es nach Kant keine sich von selbst und sozusagen von Natur aus notwendig aufzwingenden Zwecke geben, sondern jede Zwecksetzung – aus welcher Quelle auch immer – setzt ihre Beurteilung durch die Vernunft voraus und die Handlung der Aufnahme oder Nicht-Aufnahme in eine entsprechende Maxime. Jede Handlung als Willensakt setzt dabei nach Kant die Idee der Freiheit voraus; vgl.: GMS AA IV, S. 448 Anm. In der MS lässt Kant darüber hinaus keinen Zweifel daran, dass auch jede Zwecksetzung Freiheit voraussetzt und somit eine Handlung darstellt: »Zweck ist ein Gegenstand der Willkür (eines vernünftigen Wesens), durch dessen Vorstellung diese zu einer Handlung diesen Gegenstand hervorzubringen bestimmt wird.- Nun kann ich zwar zu Handlungen, die als Mittel auf einen Zweck gerichtet sind, nie aber einen Zweck zu haben von anderen gezwungen werden, sondern ich kann nur selbst mir etwas zum Zweck machen.« S.: MS AA VI, S. 381; vgl. ebenfalls: Steigleder 2002, S. 510 f. Auch wenn nicht alle Ausführungen Kants zu dieser Problematik einheitlich sind, schei-

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In GMS II findet sich eine prägnante Stelle, in der Kant eine wichtige Funktionsspezifizierung der Idee der Würde der Menschheit vornimmt. Kurz nach der Erläuterung der verschiedenen Formen des Kategorischen Imperativs heißt es dort: Und hierin liegt eben das Paradoxon: dass bloß die Würde der Menschheit als vernünftiger Natur ohne irgend einen andern dadurch zu erreichenden Zweck, oder Vortheil, mithin die Achtung für eine bloße Idee, dennoch zur unnachlaßlichen Vorschrift des Willens dienen sollte, und daß gerade in dieser Unabhängigkeit der Maxime von allen solchen Triebfedern die Erhabenheit derselben bestehe und die Würdigkeit eines jeden vernünftigen Subjects, ein gesetzgebendes Glied im Reiche der Zwecke zu sein; denn sonst würde es nur als dem Naturgesetze seines Bedürfnisses unterworfen vorgestellt werden müssen. 365

Die für uns hier primär relevante These besteht in der Aussage: Die Würde der Menschheit soll zur alleinigen und streng verbindlichen Vorschrift des Willens dienen. Was versteht Kant nun unter einer Vorschrift des Willens? Grundsätzlich könnte der Begriff der ›Vorschrift‹ in diesem Fall zwei Bedeutungen besitzen: Er könnte 1. eine Zielsetzung oder 2. eine Form von Gesetzlichkeit bezeichnen. 366 Da nun die Vorstellung von Würde bzw. von Achtung als anzustrebender Zweck nur insofern Sinn machen kann, als es dabei um ihre empirische Verwirklichung und nicht ihre Erlangung (ihren ursprünglichen Erwerb) geht, scheint Kant hier eine zumindest gesetzesanaloge Vorstellung von moralischem Wert zu gebrauchen. 367 Menschheit als Fähigkeit zur freien Zwecksetzung wird von Kant nicht nur in der SZF, sondern auch in vielen anderen Aussagen an die Person gebunden, da sie letztlich schon per definitionem niemals unnen mir vor allem die zuletzt genannten Passagen derart konstitutiv für das gesamte kantische Denken zu sein, dass ihre verstärkte Beachtung im Vergleich mit anderslautenden oder mehrdeutigen Stellen als gerechtfertigt angesehen werden sollte. 365 S.: GMS AA IV, S. 439. 366 Zwar scheinen mir Handlungen als zweckorientierte Akte einerseits und als durch Gesetze/Prinzipien bestimmte Akte andererseits in struktureller Hinsicht enger verflochten, als es z. B. Höffe in seinem Vergleich von aristotelischer und kantischer Ethik konstatiert, doch ist zugleich zuzugeben, dass zwischen ihnen durchaus auf typologischer Reflexionsebene differenziert werden muss; vgl.: Höffe 1995, S. 296 f. 367 Hinsichtlich der Entscheidung der Frage nach dem Vorrang einer primär restriktivlimitierenden oder positiv-ausrichtenden Rekonstruktion der Menschheitsidee ist die Rede von der ›Würde als Vorschrift‹ jedoch insofern nicht weiterführend, als beide Deutungsansätze mit diesem Begriff kompatibel sind. A

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abhängig von ihr auftreten kann. 368 Menschheit und Persönlichkeit rücken demnach zumindest im uns hier primär interessierenden Rahmen der Zuschreibung von axiologischen Prädikationen in eine größere inhaltliche Nähe, als Ausführungen über die menschlichen Anlagen 369 in der RGV suggerieren. Allerdings erweist sich Kants Personenkonzept insgesamt als vergleichsweise konsistenter zu rekonstruieren: Die Beantwortung der Frage nach einer einheitlichen Bestimmung des Gehalts der Würde der Menschheit wird zwar durch einen Blick in die GMS erleichtert, doch findet sich auch dort keine definitive axiologisch orientierte Verhältnisbestimmung von reiner (nicht-moralischer) Zwecksetzungsfähigkeit und genuin moralischer Selbstbestimmung. Dort scheint er unter dieser Bezeichnung – im Gegensatz zur RGV und in Übereinstimmung zur MS – recht eindeutig eine genuin moralische Fähigkeit zu verstehen, wenn er in GMS II konstatiert: »[…] und die Würde der Menschheit besteht eben in dieser Fähigkeit, allgemein gesetzgebend, obgleich mit dem Beding, eben dieser Gesetzgebung zugleich selbst unterworfen zu sein.« 370 Kurz zuvor bestimmt Kant dementsprechend in Bezug auf die Person: »[…] so fern ist zwar keine Erhabenheit an ihr, als sie dem moralischen Gesetze unterworfen ist, wohl aber so fern sie in Ansehung eben desselben zugleich gesetzgebend und nur darum ihm untergeordnet ist.« 371 In beiden Fällen ist die Fähigkeit zur autonomen Gesetzgebung das in axiologischer Hinsicht entscheidende Merkmal, sodass Erhabenheit bzw. Würde in dieser Charakteristisch ist daher die häufige Rede von der ›Menschheit in unserer Person‹ ; vgl. z. B.: Vorlesung Kaehler, S. 228; KpV AA V, S. 87 f.; MS AA VI, S. 420 und S. 429; GMS AA IV, S. 429 f. 369 In der RGV hingegen beschreibt Kant die Anlage zur Menschheit als Disposition zur »vergleichenden Selbstliebe«, welche zwar praktische Vernunft, nicht jedoch unbedingt gesetzgebende, also für sich selbst praktische und somit genuin moralischer Selbstbestimmung dienliche Vernunft voraussetze; s.: RGV AA VI, S. 26 f. Dies bedeutet, dass es im Ausgang vom Menschheitsbegriff in der RGV und im Gegensatz zu anderen angeführten Passagen sehr wohl möglich ist, mittels vergleichender Selbstliebe (mit den Vernunftmitteln der Anlage zur Menschheit) ein rein instrumentelles Verhältnis zu anderen Personen zu etablieren. Erst die Anlage zur Persönlichkeit impliziere die genuin moralische Vernunft, unter welcher Perspektive der Mensch immer auch als Selbstzweck geachtet werden muss. Festzuhalten bleibt dennoch, dass nach Kant die Anlage zur Menschheit in der RGV im Gegensatz zur Tierheit prinzipiell den Gebrauch der Vernunft erfordert und sich daher kategorial von Selbsterhaltungs-, Fortpflanzungsund Gesellschaftstrieb unterscheidet. 370 S.: GMS AA IV, S. 440. 371 S.: GMS AA IV, S. 440. 368

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Perspektive dem moralisch verantwortlichen Menschen und, allgemeiner, der Menschheit als Idee der freien (Selbst-)Gesetzgebung zugeschrieben werden kann. V.3.1.1.4 Sittengesetz Neben dem bereits Angeführten schreibt Kant auch dem Sittengesetz selbst unbedingten moralischen Wert zu. In der KpV stellt er z. B. fest, dass die Neigungen, »wenn sie zur Würde eines obersten praktischen Princips erhoben werden« 372 , eine Erniedrigung der Menschheit bedeuten würden, was auf eine prinzipielle unbedingte Wertschätzung erster moralischer Prinzipien schließen lässt. Wenig später reflektiert er im Triebfederkapitel über das Außergewöhnliche »in der grenzenlosen Hochschätzung des reinen, von allem Vortheil entblößten moralischen Gesetzes« 373 und dessen Unergründlichkeit, während er im Kapitel über das praktische Gottespostulat das Sittengesetz für heilig 374 erklärt. Schon in der Vorlesung Kaehler verwendet Kant das Prädikat der ›Heiligkeit‹ an vielen Stellen und nicht selten zur Kontrastierung von vollkommener Moralität und der gebrechlichen Natur des Menschen: Seit der Zeit des Evangelii ist nun die völlige und Heiligkeit des moralischen Gesetzes eingesehen, ob gleich es in unserer Vernunft liegt; das Gesetz muß nicht nachsichtig, sondern die gröste Heiligkeit, Reinigkeit muß darin gezeigt werden, und wir müssen wegen unserer Schwäche den göttlichen Beystand erwarten, dass er uns dem heiligen Gesetze ein Gnüge zu leisten geschikt mache, und das, was der Reinigkeit unserer Handlungen fehlt, ersetze. Allein das Gesetz muß an sich rein und heilig seyn. 375

Unter ›Heiligkeit‹ versteht Kant hier offenbar eine Form moralischer Konsequenz bzw. Strenge und identifiziert sie mit moralischer Reinheit, 376 worunter er eine Abwesenheit von empirischen Elementen S.: KpV AA V, S. 71. S.: KpV AA V, S. 79. 374 Vgl.: KpV AA V, S. 128 und ebenso schon im Triebfederkapitel S. 82. Auch in der Religionsschrift findet sich diese Prädikation; vgl.: RGV AA VI, S. 6. In der GMS prägt Kant darüber hinaus den Begriff des ›heiligen Willens‹ als keiner normativen Anleitung durch moralische Imperative bedürftige Form der Selbstbestimmung; vgl.: GMS AA IV, S. 414. 375 S.: Vorlesung Kaehler, S. 98. 376 Solcherart Stellen gibt es allein in der Vorlesung Kaehler zuhauf, vgl. z. B.: »Die nach sichtliche Ethic ist das Verderben der moralischen Vollkommenheit der Menschen; das 372 373

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und somit auch der menschlichen Schwächen bei der handlungsleitenden Gesinnung begreift. An gleicher Stelle benennt Kant auch den Grund für diese Notwendigkeit der Heiligkeit des Sittengesetzes: Das oberste Moralgesetz sei »Urbild, das Richtmaas, das Muster unserer Handlungen. Das Muster muß aber exact und precise seyn, wäre es nicht so, wornach sollte man denn alles beurtheilen.« 377 Natürlich muss man mit einer gewissen Vorsicht zu Werke gehen, wenn man moralphilosophische Schriften oder Vorlesungen Kants aus der vorkritischen Periode in eine systematische Verbindung zu kritischen und reiferen Arbeiten bringen will, 378 doch scheint mir in dieser Aussage etwas auch noch für die späteren Hauptwerke zur Ethik Relevantes zur Sprache zu kommen. 379 In der GMS findet sich darüber hinaus eine für die Frage des Wertgrundes des Sittengesetzes aufschlussreiche Aussage, welche zudem unmittelbar mit der bereits angesprochenen Thematik der moralischen Reinheit als Apriorizität zusammenhängt. Dort stellt Kant fest, »daß alle sittliche Begriffe völlig a priori in der Vernunft ihren Sitz und Ursprung haben […]; daß in dieser Reinigkeit moralische Gesetz muß rein seyn, […]. […] Das moralische Gesetz muß Puritaet haben. […] Die Ethic muß precise und heilig seyn, diese Heiligkeit kommt dem moralischen Gesetz zu, nicht weil es uns offenbart ist, sondern es kann demselben auch durch die Vernunft zukommen, weil es ursprünglich ist, wornach wir selbst die Offenbarung beurtheilen; denn die Heiligkeit ist das höchste vollkommenste sittliche Gute was wir doch aus unserm Verstande und aus uns selbst nehmen.« S.: Vorlesung Kaehler, S. 109 f.; vgl. auch S. 156 und S. 159. 377 S.: Vorlesung Kaehler, S. 98. 378 Ein wichtiger motivationstheoretischer Unterschied des in der Vorlesung Kaehler (und noch der KrV) entworfenen Ethikkonzepts und der kritischen Ethik besteht natürlich in der diesbezüglich zentralen Rolle Gottes. Die reine Geltung des Sittengesetzes kann von dieser Frage jedoch begrifflich hinreichend unterschieden werden, sodass Kants Ausführungen zum obersten Moralprinzip durchaus auch für seine reife Ethik relevant bleiben. 379 Das Sittengesetz als Urbild menschlicher Handlungen kann m. E. durchaus als eine Idee verstanden werden, welche sich einige Jahre später sowohl in der GMS als auch der KpV wiederfinden lässt. Dies gilt in demjenigen Sinne, dass sich der Mensch seine Identität als praktisches Vernunftwesen primär durch Handlungen, d. h. durch freie Akte der Selbstbestimmung verschafft und die Idee des Sittengesetzes daher auch in den späteren Werken zur Ethik nicht nur als Urbild menschlicher Handlungen, sondern vielmehr als Urbild und Ideal, als wahres intelligibles Selbst des Menschen in Erscheinung tritt. Ebenso wie das Sittengesetz in der Vorlesung Kaehler einen unbedingten normativen Anspruch in Bezug auf das Handeln des Menschen als dessen letztes Richtmaß besitzt, dient das noumenale Selbst und der prinzipiell gute Wille als ein ideales Menschenbild, dem es nachzueifern gilt.

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ihres Ursprungs eben ihre Würde liege, um uns zu obersten praktischen Principien zu dienen […].« 380 Der moralische Wert des Sittengesetzes verdanke sich demnach dessen apriorischer (vernünftiger) Geltungsstruktur und somit auch seiner prinzipiellen Unabhängigkeit von jeglichen empirischen Elementen. Durch diese Unabhängigkeit von empirischen und somit zufälligen Elementen sei die immanente Stringenz und Gesetzmäßigkeit des obersten Moralprinzips gesichert und könne kraft dieser Eigenschaft auch als letztgültiger moralischer Maßstab allen vernünftigen Handelns fungieren. Dabei kann an verschiedenen Stellen des Gesamtwerks zwar durchaus der Eindruck entstehen, dass es Kant im Rahmen seiner werttheoretischen Aussagen primär auf die Unabhängigkeit der Willensbestimmung von der Natur angekommen sei, doch würde dies eine alleinige Konzentration auf den negativen Freiheitsbegriff bedeuten, was der tatsächlichen Theoriestruktur der kantischen Ethik nicht entspricht. Negative Freiheit als bloße Unabhängigkeit der Willensbestimmung von empirischen Gegebenheiten (Neigungen etc.) und somit allgemein verstanden als Freiheit von Kontingenz allein ist für Kant nicht das axiologisch Entscheidende und die Befolgung des durchs Sittengesetz Geforderten nicht etwa nur der Weg zur Befreiung vom Naturzwang. Vielmehr zeichnet sich das Sittengesetz aufgrund seiner apriorischen Struktur und damit seines Vernunftursprungs durch die Eigenschaft aus, zum positiv-praktischen Freiheitsbegriff in einer besonderen, wechselseitigen Beziehung zu stehen. 381 Zum Schluss dieser Bestandsaufnahme grundsätzlicher axiologischer Bestimmungen wird dementsprechend mit der Darstellung der werttheoretischen Implikationen des praktischen Freiheitsbegriffs implizit auch das Sittengesetz weiterführend thematisiert. V.3.1.1.5 Freiheit Kants Freiheitsbegriff und die zugehörige Freiheitstheorie sind von vielen Autoren nicht nur als Kernstück seiner Ethik oder gar Gesamtphilosophie bezeichnet worden, sondern haben zugleich Generationen

S.: GMS AA IV, S. 411. Die Bedeutung dieser Frage ist m. E. jedoch nicht allzu hoch zu veranschlagen, da Kant prinzipiell nur von der Willkürbestimmung entweder durch Natur- oder Sittengesetze ausging und daher die Unabhängigkeit von ersteren die Bestimmtheit durch letztere impliziert. 380 381

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von Interpreten massive Schwierigkeiten bereitet. Auch in jüngeren Rekonstruktionsbemühungen hat der Freiheitsbegriff eine prominente oder gar zentrale funktionale Rolle inne. – Insbesondere in den neueren Aufsätzen Guyers wird praktische Freiheit nicht zuletzt im Ausgang von Notizen und Vorlesungsmitschriften aus der Übergangszeit zur kritischen Ethik als absoluter axiologischer Bezugspunkt aller anderen Strukturmomente gedeutet und in diesem Sinne sogar das Sittengesetz als Mittel zur Verwirklichung und Erhaltung des Werts der freien Handlung ausgelegt. Sein Interpretationsansatz scheint mir hinsichtlich einer axiologischen Lesart Kants der radikalste zu sein, da er nicht nur die werttheoretischen Aspekte der kantischen Freiheitstheorie als zentral ansieht und sie ihren rein transzendental-präsuppositionslogischen Implikationen überordnet, sondern Freiheit und Sittengesetz derart voneinander differenziert, dass er dem Sittengesetz eine nur instrumentelle Funktion gegenüber dem Wert der Freiheit zuschreibt. Ohne vorschnell zu einer definitiven Evaluation der Position Guyers überzugehen, muss angesichts schon der bisher gesichteten Textlage konstatiert werden, dass die Primärfunktion sowohl der vorkritischen (zumindest partiell) als auch der reifen Freiheitskonzeption zumindest auch in einer konstitutiven axiologischen Fundierungsleistung besteht. Ich werde dieses im Folgenden anhand der Betrachtung verschiedener kantischer Aussagen zum praktischen Freiheitsbegriff erläutern und im Rahmen dessen auch auf die axiologischen Aspekte des negativen Freiheitsbegriffs eingehen. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass sich eine genuin bzw. primär axiologische Charakterisierung der Freiheit eher in den früheren Vorlesungen als in den kritischen Hauptschriften finden lässt, was interpretationsbedürftig ist: Entweder sah Kant vor dem ausgereiften kritischen Hintergrund seiner späteren Ethikarbeiten die Betonung des Werts der Freiheit als nur sekundär relevant für ein Verständnis seiner Argumentationen an, 382 oder der Wert der Freiheit erscheint im Gegensatz zu den dezidierten und hinreichend expliziten Äußerungen insbesondere in der Vorlesung Kaehler (bzw. auch in der Naturrechtsvorlesung Feyerabend) in der GMS, der KpV und der MS in anderer begrifflicher Gestalt und hat immer noch seine frühere Funktion der 382 Ich denke hierbei natürlich an die gegenüber der GMS veränderte Argumentationsstrategie bzgl. Freiheit/Selbstzweck und Sittengesetz/Kategorischer Imperativ in der zweiten Kritik.

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praktischen Letztbegründung des Sittengesetzes/Kategorischen Imperativs inne. Angesichts der in den reifen Hauptwerken konstatierbaren Rolle des Begriffs der Menschheit auch und besonders im Rahmen der SZF drängt sich die größere Plausibilität der zweiten Interpretationsmöglichkeit auf, da Menschheit als Fähigkeit zur Zwecksetzung in unmittelbarem Zusammenhang zur Freiheit als ihrer Voraussetzung steht und der moralische Wert der Menschheit oder der rationalen Natur unbestreitbar ein zentrales Moment auch der kritischen Ethik ausmacht. Die erstgenannte Deutungsstrategie würde im Gegensatz dazu nahe legen, die Faktumslehre der KpV gegen eine primär axiologischbegründungstheoretische Lesart der Freiheitskonzeption ins Feld zu führen und damit die zuweilen als ›ontoethisch‹ klassifizierte Lehre eines Daseins mit absolutem Wert als Fundament des KI aus der GMS als obsolet für die ausgereifte kritische Ethikkonzeption zu erweisen. Doch auch wenn man die extreme Position Guyers vom axiologischen Primat der Freiheit gegenüber dem Sittengesetz und damit eine recht starke Ausdifferenzierung von Freiheit und Sittengesetz nicht oder nur unter Vorbehalt nachvollziehen kann, dürfte nur schwerlich zu bestreiten sein, dass auch die Ausführungen über die Würde des Menschen in der späten MS nicht ohne die Präsupposition des unbedingten Werts der praktischen Freiheit verständlich gemacht werden können. Insgesamt lässt sich konstatieren, dass Kant in den Werken GMS, KpV und MS häufiger von der Würde der Person als vom Wert der Freiheit spricht, was u. a. auch dadurch zustande gekommen sein könnte, dass Kant zum einen seine philosophische Sprache zunehmend von bestimmten metaphysischen ›Restbeständen‹ gereinigt und zum anderen vor allem seit der KpV mit der stärkeren Fokussierung auf das Autonomiekonzept die personale, individuelle Konkretion der Freiheit in den Mittelpunkt seiner Reflexionen gerückt hat. Die von Kant behauptete Würde des Gesetzgebers bzw. der moralischen (Selbst-)Gesetzgebung ist dabei ohne impliziten Freiheitsbezug nicht nachvollziehbar. Auch wenn also explizite Aussagen zum moralischen oder inneren Wert der Freiheit vor allem in den Vorlesungen und Reflexionen der 70’er und 80’er Jahre zu finden sind, wäre es m. E. unangemessen, auf eine systematische Funktionslosigkeit der Freiheit in ihrem Verständnis als axiologische Fundierungsstruktur383 in den Hauptwerken zu schließen. 383

Dass Freiheit in ihrer transzendentalen, demnach präsuppositionslogischen Funktion A

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In der Vorlesung Kaehler finden sich zentrale axiologische Aussagen zur Freiheit vor allem im Rahmen der Behandlung der selbstbezogenen Pflichten, wobei Kant jedoch nicht nur die positiven, sondern ebenso die möglicherweise negativen Aspekte der Freiheit benennt. Eine etwas ausführlichere Betrachtung der Freiheitskonzeption des frühen Kant auf dem Weg zu seiner reifen Ethikkonzeption ist dabei deswegen lohnend und auch für die weitere Behandlung des Themas in seinen kritischen Werken relevant, weil hier bereits einige grundsätzliche moralphilosophische Überzeugungen der späteren Werke zu finden sind, die Kant z. B. in der KpV und der MS zwar voraussetzt oder auch (allerdings selten) erwähnt, nicht jedoch auf solch klare Art und Weise expliziert bzw. reflektiert. In der Vorlesung Kaehler erläutert Kant zuerst die der Freiheit eigene und positiv konnotierte moralische Fundierungsleistung: Worauf beruht denn das principium aller Pflichten gegen sich selbst? Die Freyheit ist einerseits dasjenige Vermögen welches allen übrigen Vermögen unendliche Brauchbarkeit giebt, sie ist der höchste Grad des Lebens, sie ist diejenige Eigenschafft, die eine nothwendige Bedingung ist, die allen Vollkommenheiten zum Grunde liegt. 384

An dieser Stelle bestimmt Kant praktische Freiheit noch nicht explizit als primäres Wertfundament, schreibt ihr jedoch gleich mehrere Funktionen und Eigenschaften zu, welche implizit mit axiologischen Strukturen zusammenhängen. Die erstgenannte Eigenschaft der Verleihung unendlicher Brauchbarkeit aller anderen Vermögen macht in Parallele zum guten Willen in der GMS nur Sinn, wenn unter ›Brauchbarkeit‹ nicht ein rein pragmatischer Nutzen, sondern die Geeignetheit jedweder menschlicher Fähigkeiten zu genuin moralisch sinnvollen Handlungen gemeint ist. Das Prädikat der ›Unendlichkeit‹ würde in einem alltagspragmatischen Verständnis keinerlei Sinn ergeben, da es sich dort stets nur um endliche, da durch vorausgesetzte und meist subjektspezifische Zwecke bedingte Nützlichkeit handeln kann. Nur, wenn Handlungen aus Freiheit vollzogen werden, können sie moralischen – gerade auch für Kants kritische Ethik eine unverzichtbare Rolle spielt, dürfte dagegen als in der Forschungsliteratur akzeptiert angesehen werden. Dabei handelt es sich nicht um zwei kategorisch verschiedene Funktionen der Freiheit, sondern das axiologische Moment kann vielmehr als zusätzliche materiale Bestimmung der Transzendentalfunktion der praktischen Ethikbedingung verstanden werden. 384 S.: Vorlesung Kaehler, S. 176.

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d. h. unmessbaren und daher auch unendlichen – Wert besitzen. Der zweite Teil der Aussage bezieht sich auf die in späteren Werken Kants nicht mehr in solcher Deutlichkeit betrachtete Beziehung von Freiheit und Leben, 385 wobei der Freiheit eine nicht genauer spezifizierte Maximierungsfunktion zugeschrieben wird, welche allerdings nicht zwingend als teleologisches Moment seiner frühen Freiheitstheorie verstanden werden muss. Dennoch kann die Idee der Freiheit als höchster Grad des Lebens als leitende Vorstellung von Kants naturteleologischen Erwägungen verstanden werden, sodass der Mensch in Übereinstimmung mit entsprechenden Aussagen der späteren KU aufgrund seiner moralisch-intelligiblen Natur bzw. seiner Freiheit als höchster bzw. letzter Zweck der gesamten Natur fungiert. In dieser Perspektive wäre der höchste Grad des Lebens realisiert, wenn der letzte Zweck der Natur erfüllt würde. 386 In axiologischer Hinsicht entscheidend sind jedoch die folgenden Passagen, in denen Kant das menschliche Vermögen der Freiheit von der naturnotwendigen Bestimmtheit des animalischen Verhaltens abgrenzt: Alle Thiere haben Vermögen ihrer Kräffte nach Willkür zu gebrauchen, diese Willkür ist aber nicht frey sondern durch Reitze und stimulos necessitirt, in ihren Handlungen ist bruta necessitas, hätten alle Wesen solche an sinnliche Triebe gebundene Willkür, so hätte die Welt keinen Werth, der innere Werth der Welt das summum bonum ist aber die Freyheit nach Willkür die nicht necessitirt zu handeln. Die Freyheit ist also der innere Werth der Welt. 387

Freiheit in ihrer Spezifizierung als willentliche Handlungsfreiheit wird hier unmissverständlich als Bedingung für den moralischen Wert der Welt etabliert, wobei Kant mit dem Begriff des ›summum bonum‹ auf traditionell teleologisches Vokabular zurückgreift, ohne jedoch die teleologischen Implikationen dieser Begrifflichkeit konkreter aufzuzeigen oder zu reflektieren. Vielmehr geht Kant nach diesen positiven Prädikationen direkt zur Erwähnung des negativen Potentials der Freiheitsidee über, wobei diese Aussagen für uns insofern von besonderem 385 Die Aussage aus der KpV, dass ein Leben ohne Moralität wertlos sei, nimmt nicht auf die Maximierungsproblematik Bezug; vgl.: KpV AA V, S. 88. 386 Dementsprechend rekonstruiert Horn diese Aussage im Kontext der teleologischen Tradition der Lehre von einem höchsten Gut, welches den Endpunkt aller menschlichen Handlungen ausmacht; vgl.: Horn 2002, S. 57. 387 S.: Vorlesung Kaehler, S. 177.

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Interesse sind, als sie als Indikator für die Triftigkeit bzw. Fragwürdigkeit der bereits dargestellten These Guyers von dem absoluten und vom Sittengesetz unabhängigen Wert der Freiheit dienen können. Während an genannter Stelle die positive Bestimmung der Freiheit als innerer (moralischer) Wert der Welt in kaum überbietbarer Dezidiertheit entwickelt wird, lässt Kant ebenso keinen Zweifel darüber aufkommen, dass Freiheit als solche – d. h. ohne jede weitere Spezifikation ihrer strukturellen Konfiguration – offenbar in moralischer Hinsicht keineswegs prinzipiell zu affirmieren ist: Von der andern Seite aber so fern sie nicht restringirt ist unter gewisse Regeln des bedingten Gebrauchs, so ist sie das schrecklichste was nur seyn kann. […]. Wenn die Freyheit nicht durch objective Regeln restringirt wird, so kommt die gröste wilde Unordnung heraus, denn ist es ungewiß, ob nicht der Mensch seine Kräfte brauchen wird, sich, andere, und die gantze Natur zu destruiren, bey der Freyheit kann ich alle Regellosigkeit denken, wenn sie nicht objectiv necessitirt ist, diese objectiv necessitirenden Gründe müssen im Verstande liegen, die die Freyheit restringiren. 388

Diese Passage macht deutlich: Freiheit ist nach Kants Denken der 70’er Jahre nicht an sich selbst gut und daher das summum bonum, sondern sie kann ohne hinzukommende rationale Regelung aufgrund innerer Widersprüche sogar zur Selbstzerstörung des Menschen und der Natur führen. Daher gilt: »[…] der gute Gebrauch der Freyheit ist die oberste Regel.« 389 Was Kant hier unter einem guten Gebrauch der Freiheit versteht, verdeutlicht er anhand der folgenden Überlegungen: Welches ist die Bedingung, unter der die Freiheit restringirt ist? Dieses ist das Gesetz. Das Allgemeine Gesetz ist also dieses: Verfahre so daß in allen deinen Handlungen Regelmässigkeit herrsche; Was wird denn das seyn, was in Ansehung meiner selbst die Freiheit restringiren soll? Dieses ist den Neigungen nicht zu folgen. Die ursprüngliche Regel nach der ich die Freiheit restringiren soll, ist die Übereinstimmung des freyen Verhaltens mit den wesentlichen Zwekken der Menschheit. 390

Dieses Zitat verdeutlicht zum einen die moralische Notwendigkeit besagter Zusatzqualifikation des Freiheitsgebrauchs als regelgeleiteter Freiheitsvollzug, zum anderen fällt die explizite Rückbindung von regelmäßigen Handlungen an die Primärzwecke der Menschheit auf, 388 389 390

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S.: Vorlesung Kaehler, S. 177. S.: Vorlesung Kaehler, S. 178. S.: Vorlesung Kaehler, S. 178.

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durch welche unmittelbar eine zwar immer noch vergleichsweise formal anmutende, de facto jedoch materiale Dimension des regelgeleiteten Handelns angezeigt wird. Die beiden letztgenannten Passagen deuten in der Zusammenschau darauf hin, dass Kant schon zu dieser Zeit keinen grundsätzlichen Gegensatz von regelgeleiteter Handlung und deren Ausrichtung auf einen Zweck konstatiert, wobei die Erläuterung des rechten Gebrauchs der Freiheit als regelmäßige Übereinstimmung mit den wesentlichen Menschheitszwecken insofern auf die wenig später entwickelte Selbstzweckformel und letztlich auch auf die Tugendpflichten hindeutet, als mit den wesentlichen Zwecken der Menschheit als Korrelativ der objektiven Regeln nur die genuin vernünftigen, nicht-kontingenten Zwecksetzungen gemeint sein können. 391 In ethiktypologischer Hinsicht ist hier zentral, dass Kant mit der drohenden Selbstzerstörung des Menschen zwar die Vorstellung der schlechten Folgen eines nicht-moralischen Gebrauchs der Freiheit betont, doch geschieht dies explizit nicht als Rechtfertigung der Affirmation des moralischen Freiheitsvollzugs, sondern einzig und allein als Verständnishilfe und Veranschaulichung. Kant hält dezidiert in antikonsequentialistischer Grundhaltung fest, dass die »Folgen nicht das principium der Pflichten« 392 sind, sondern nur die »innere Schändlichkeit« 393 das moralisch primär Problematische am Freiheitsmissbrauch ausmacht. Kant benutzt Folgeerwägungen in der Vorlesung Kaehler demnach gezielt als didaktisches Mittel und nicht als konstitutives Element seiner Ethikfundierung. Auf diese Weise scheint er zudem nahe legen zu wollen, dass moralisch schon an sich schlechte Handlungsgrundsätze darüber hinaus zu nachteiligen Konsequenzen führen, sodass die Vergegenwärtigung dieser Folgen als den moralisch adäquaten Bestimmungsgründen subordinierte und daher moralisch unbedenkliche Verständnis- bzw. Motivationshilfe fungieren kann. Diese hier skizzierte Verhältnisbestimmung vom absoluten Wert der Freiheit, der engen Verbindung von oberster Regel/erstem Prinzip und vernünftiger Zweckverfolgung sowie der klar untergeordneten, jedoch nicht vollkommen irrelevanten Konsequenzerwägungen scheint mir dabei 391 In der Vorlesung versteht Kant unter diesen Zwecken die Bedingungen der Selbstübereinstimmung der Freiheit, was nichts anderes bedeutet als die Bedingungen des bestmöglichen Freiheitsgebrauchs; vgl.: Vorlesung Kaehler, S. 180. 392 S.: Vorlesung Kaehler, S. 182. 393 S.: Vorlesung Kaehler, S. 182. Kant differenziert hier streng zwischen der Folgenbezogenheit der Klugheit und der Prinzipienorientierung der Moral.

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nicht nur für die Vorlesung, sondern auch die spätere kantische Systematik von grundlegender Relevanz zu sein. Fazit Eine rational befriedigende Analyse der Relation der Würde der Person und des praktisch-geltungstheoretisch primären Selbstkonstitutionsakts des moralischen Akteurs, d. h. die fundamentale Selbstbestimmung des Charakters, stellt innerhalb des kantischen Denkens ein Problem dar, da Handlungs- und Personwert jeweils aufeinander verweisen. Eine gewisse Entschärfung dieser Problematik kann zwar durch die Differenzierung von Potenz- und Aktaspekt der Würde erzielt werden, doch führt die konsequent gestellte Frage nach einer selbstreferentiellen, wertkonstitutiven Urhandlung der Person in die Untiefen des infiniten Regresses: Vor allem in der Religionsschrift hält Kant mit immanenter Konsistenz daran fest, dass die Bestimmung des ersten Bestimmungsgrundes des Willens nicht möglich sei, da dies einer Deduktion (und somit einer Form der Bedingung) der Freiheit gleichkomme. 394 Hier spiegelt sich gewissermaßen die komplexe und durch Wechselseitigkeit charakterisierte Struktur der kantischen Relationsbestimmung von Personen- und Handlungswürde wider: Der moralische Wert der Person konstituiere bzw. aktualisiere sich durch eine moralisch wertvolle Handlung, doch zugleich könne nur eine Person moralisch qualifizierbare Akte vollziehen. Der moralische Wert der Person hat grundsätzlich mit demjenigen der Handlung gemein, dass er in begrifflichen Strukturen gründen muss. Kants Konzeption der Würde der Menschheit kann m. E. trotz seiner insgesamt nicht einheitlichen Aussagen mittels einer Applikation der Differenz von Potenz- und Aktaspekt auf die beiden Anlagen zur Menschheit und Persönlichkeit hinreichend genau und kohärent rekonstruiert werden. Nach dieser Herangehensweise stellt die Menschheit als noch nicht moralisch spezifizierte Vernunftfähigkeit die vermögenstheoretische Voraussetzung und somit das Potential für eine Aktualisierung der moralischen Fähigkeiten des Menschen dar: Die Vernunft als das Vermögen der Zwecksetzung ist zwar noch nicht identisch mit dem Vermögen zur moralischen Selbstgesetzgebung, doch würde eine moralische Nicht-Achtung von Vernunftwesen auf der Stu-

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Vgl.: RGV AA VI, S. 21 Anm.

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fe der vergleichenden Selbstliebe bedeuten, ein grundsätzlich freies und damit moralfähiges Wesen zu missachten. Während dem Sittengesetz aufgrund seiner Reinheit qua Apriorizität Würde und Richtmaßfunktion zugeschrieben werden muss, stellt sich die Situation im Falle des Werts der Freiheit etwas vielschichtiger dar. Kants Freiheitskonzeption wird von ihm in verschiedenen Hinsichten entwickelt: Einerseits sei Freiheit die Eigenschaft eines vernünftigen Willens, andererseits der Seinsgrund des Sittengesetzes und zudem, als innerer Wert der Welt, die exponierte axiologische Bedingung aller weiteren werthaften Entitäten und Strukturen. Auch der Wert der Menschheit als allgemeine Vernünftigkeit weist auf den Wert der Freiheit zurück, indem diese auch Klugheit und vergleichende Selbstliebe umfassende Anlage zum einen die Unabhängigkeit vom Naturdeterminismus bedeutet, zum anderen als Bedingung der Möglichkeit sittengesetzlich adäquater Handlungsgrundsätze und somit letztlich auch der Ausübung praktischer Freiheit fungiert – ohne Menschheit keine Persönlichkeit. Allerdings bedeutet die Verschiedenheit von Menschheit und Persönlichkeit keineswegs, dass für das Vermögen der Menschheit charakteristische Handlungen wie z. B. Klugheitserwägungen als Handlungsgrundlage nicht moralisch beurteilbar wären, da auch schon diese Akte vernünftige Ausübungen des Freiheitsvermögens darstellen. Dadurch wird die axiologische Differenz von nur strategisch klugen und moralisch wertvollen Handlungsgrundsätzen jedoch nicht aufgehoben, sondern vielmehr der gemeinsame Boden bereitet, auf dem beide Handlungsformen überhaupt vergleichend beurteilbar werden. Auch wenn man die Freiheit als Seinsgrund in der KpV nicht als Wertkonzept, sondern als axiologisch neutrale Bedingung des Sittengesetzes begreift, besteht m. E. kein Zweifel an der axiologischen Begründungsfunktion der Freiheit hinsichtlich der ihr praktisch-präsuppositionslogisch unter- bzw. nachgeordneten Strukturen. Dies wird in der Vorlesung Kaehler mit aller Deutlichkeit formuliert, doch auch in der Selbstzweckformel der späteren Werke geht es bei der Achtung der Menschheit um eben diese freie Zwecksetzungsfähigkeit, welche nach Kant der vernünftigen Existenz ihre besondere Dignität verleiht. V.3.1.2 Zusammenfassung Zwar ist eine typologische Klassifikation der kantischen Ethik anhand der alleinigen Betrachtung von einzelnen Begriffen (Elementen) nicht A

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tragfähig, doch weist die Untersuchung praktischer Grundbegriffe Kants auf die Tendenz einer typologischen Komplexität vermeintlich eindeutig klassifizierbarer Konzepte hin, welche in Grundzügen kurz rekapituliert werden soll. Einerseits verweisen Pflichten und Vernunftzwecke wechselseitig aufeinander, da erstere die Gegebenheitsform der letzteren für endliche Vernunftwesen sein sollen und sich die Lehre der Tugendpflichten wie eine vernunftbasierte Güterlehre darstellt, andererseits kann der Selbstzweck der Menschheit aufgrund seiner Zweckunabhängigkeit als deontisches, hinsichtlich seiner eigenen Zweckfunktion als vernunftteleologisches Element verstanden werden, ohne dass man einer der beiden Ansätze eine direkte Diskrepanz zu diesbezüglichen kantischen Aussagen nachweisen kann. Die divergierenden Deutungen des Selbstzwecks als deontischer Restriktionsinstanz in der D-These und als zu verfolgender, höherstufiger Vernunftzweck in der SD-These scheinen vor diesem Hintergrund nichts substantiell Verschiedenes zu besagen, sondern verschiedene Aspekte der Konzeption des ›negativen Zwecks‹ in den Mittelpunkt zu stellen. Dies deutet einmal mehr darauf hin, dass die starke und schwache Deontologie-These nicht in inhaltlichen Grundsatzfragen, sondern bezüglich gegebenheitsmodaler Rekonstruktionen bestimmter Elemente voneinander abweichen. Das Dasein der selbstzweckhaften Person als Wertgrund des KI in der GMS spricht aufgrund seiner metaethischen Funktion m. E. allerdings nicht für eine bestimmte typologische Tendenz der kantischen Ethik. Doch auch wenn man die axiologische KI-Begründung in der GMS als typologisch unsignifikant beurteilt, besitzen im Rahmen der Selbstzweckformel sowohl vernunftaxiologische als auch vernunftteleologische Aspekte eine direkte klassifikatorische Bedeutung, da hier der oberste Handlungszweck in der Achtung von Personen als absolut wertvolle Wesen bestehen soll. Neben der strukturell gegebenen Verbindung von Deontologie und Vernunftteleologie hat sich gezeigt, dass schon das vermeintlich ›reine‹ deontische Konzept der Pflicht auch in Beziehung zu werttheoretischen Aspekten steht, da Kant ausdrücklich auf die Fundierung aller Pflichten im Wertgrund der Persönlichkeit verweist. Die Persönlichkeit als Idee des Sittengesetzes samt der ihr zugehörigen Achtung stellt allein schon aufgrund des Achtungsmoments eine Komponente der ethischen Theorie dar, weshalb die axiologische Fundierung der Pflichten von typologischer Bedeutung ist und gegen die Plausibilität der stark332

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Axiologische Grundbegriffe

deontologischen These der Irrelevanz werttheoretischer Reflexionen für das Strukturprofil von Kants Moralphilosophie spricht. Diese Kritik an der ›axiologischen Blindheit‹ der D-These wird u. a. auch durch Kants werttheoretische Charakterisierung der Freiheit in der Vorlesung Kaehler nahe gelegt, auch wenn er z. B. in der KpV nicht explizit von dem Wert-, sondern dem Seinsgrund der Freiheit spricht. Der Willensbegriff hat sich in seiner näheren Charakterisierung bei Kant als rationales Strebevermögen und somit als vernunftteleologisches Element erwiesen, wobei die moralische Willkürbestimmung deontisch anmutet, da sie nicht durch die Orientierung an einem Zweck, sondern einzig und unmittelbar am Sittengesetz zu charakterisieren ist. 395 Eine handlungsführende Willkürbestimmung kann nach Kant jedoch nur unter der Bedingung der Zweckorientierung der Akteurakte geschehen, sodass gilt: Keine Handlung ohne Zweck und keine moralische Handlung ohne Selbstbestimmung durchs Sittengesetz. All dies deutet zum einen auf die Fragwürdigkeit der uneingeschränkten Geltung der T-These hin, insofern diese wie bei Leist primär auf der Deutung des Willensbegriffs beruht, zum anderen ist sowohl der Willensbegriff als auch der Handlungsbezug der Willkür nicht ohne teleologische Strukturmomente rekonstruierbar. Wenn man die wichtigsten Einsichten dieses Abschnitts pointiert und zudem in kritischem Bezug auf die in Kap. III skizzierten Klassifikationsthesen zusammenfasst, muss man insgesamt feststellen: 1. Entgegen der D- und T-These sind weder Pflichten noch (Vernunft-)Zwecke allein strukturell maßgeblich, sondern gehören (mit Ausnahme des Selbstzwecks der Menschheit) untrennbar zusammen. 2. Entgegen der D-These impliziert die (überdies einseitige) Annahme der Priorität der Pflichten keineswegs die Irrelevanz axiologischer Begriffe. 3. Entgegen der SKOM-These vermischen sich im Selbstzweck-Konzept nicht einfach typologisch unterschiedliche Strukturmerkmale, sondern diese können weitgehend differenziert und entsprechend funktional bestimmt werden.

395 Auf die typologischen Implikationen der in diesem Kapitel herausgearbeiteten axiologischen Aspekte des Sittengesetzes für diese Form der prodeontologischen Argumentation wird im nächsten Kapitel eingegangen.

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Grundbegriffe der kantischen Ethik

4. Entgegen der T-These ist der Begriffskomplex ›Wille/Willkür‹ nicht allein teleologisch oder axiologisch verfasst, sondern zudem durch deontische Aspekte (s. Willkürbestimmung) gekennzeichnet. 5. Entgegen der K-These wird der moralische Wert von Handlungen nicht nach Maßgabe ihrer Zuträglichkeit zu wertvollen Weltzuständen als Konsequenzen ihres Vollzugs, sondern anhand der Relation der ihnen zugrundeliegenden Maximen zum Sittengesetz bzw. Selbstzweck der Menschheit bestimmt. Diese fünf Punkte sind nur die wichtigsten Einsichten und stellen noch keine erschöpfende Auswertung der in diesem Kapitel erarbeiteten Resultate dar – letzteres erfolgt im Rahmen der ausführlichen kritischen Auseinandersetzung mit den maßgeblichen Klassifikationsthesen im Schlusskapitel IX. Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Resultate wird nun im nächsten Kapitel geprüft, ob es eine einheitliche oder wenigstens vorrangige Argumentationsform in Kants Ethik gibt, welcher Analyseschritt einerseits eine Präzisierung der Funktion bestimmter bereits hier dargestellter Elemente impliziert, zum anderen jedoch das Verlassen der Reflexionsebene der Begriffe bedeutet und die Ebene der ethiktypologisch relevanten Strukturen, d. h. der systematischen Relationen der Begriffe zueinander in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt.

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VI. Argumentationsstrategien

Im Kontext der Untersuchung der deontischen, teleologischen und axiologischen Grundbegriffe im vorherigen Kapitel konnte es nicht vermieden werden, auch auf bestimmte Passagen primär argumentativen Charakters zu rekurrieren, um auf die jeweiligen Begriffsfunktionen und die zwischen den Grundbegriffen herrschenden Relationen eingehen zu können. Dennoch konnten bisher viele einschlägige Argumentationsstrategien Kants bestenfalls erwähnt werden und sollen daher im vorliegenden Abschnitt dieser Untersuchung unter ethiktypologischen Gesichtspunkten analysiert werden. Als Ausgangspunkt für eine Analyse des typologischen Profils der durchaus unterschiedlichen Argumentationsmuster dient dabei die Differenzierung zwischen a) deontologischen, b) teleologischen, c) konsequentialistischen und d) axiologischen Argumentationen, wozu vorweg noch einige allgemeine Bemerkungen nötig sind. Ad a): Unter einer deontologischen Argumentation verstehe ich im Folgenden grundsätzlich einen begründungstheoretischen Rekurs entweder auf ein oberstes Moralgesetz oder auf Pflichten, also Begriffselemente, die im Vorkapitel in erster Linie als deontisch klassifiziert wurden. Im Rahmen der kantischen Ethik bedeutet dies, dass entweder das Sittengesetz oder eine Pflicht auf die Frage nach dem jeweiligen Bestimmungsgrund des Willens als Begründungsstruktur angeführt werden müsste. Entscheidend ist dabei, dass diese Bestimmung des Willens unmittelbar, also ohne jede weitere normative Zwischeninstanz geschieht. Das soeben Konstatierte impliziert, dass sich eine deontologische Argumentation nicht oder höchstens nur akzidentell auf normativ verstandene Zweckbestimmungen oder axiologische Strukturen beziehen darf. Der bisherige Verlauf dieser Untersuchung hat zwar ergeben, dass selbst vermeintlich rein deontische Begriffe insofern eine beträchtliche ethiktypologische Tiefendimension bzw. Komplexität aufweisen, als schon auf der Ebene der Grundbegriffe A

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Argumentationsstrategien

(welche auch das Konzept des Kategorischen Imperativs umfasst) bei einer umsichtigen Rekonstruktion der kantischen Systematik unverzichtbare vernunftteleologische und vor allem axiologische Implikationen nicht wirklich, d. h. mit seriös zur Kenntnis genommener philologischer Grundlage, bestritten werden können. Im Rahmen einer Argumentationsanalyse erweist es sich jedoch durchaus als sinnvoll, eine möglichst strenge Unterscheidung der zu untersuchenden Strategien vorzunehmen, da gerade im Falle strikt differenzierter Klassifikationsmuster etwaige Überschneidungen bzw. Übersetzbarkeiten deutlicher herausgearbeitet werden müssen, als wenn man schon von Beginn an großzügige Grauzonen voraussetzen würde. Das offensichtlichste Problem für eine begrifflich hinreichend trennscharfe Analyse derjenigen Argumentationen, welche zumindest primär auf den Kategorischen Imperativ Bezug nehmen, besteht darin, dass die unterschiedlichen Formulierungen dieses Imperativs in ethiktypologischer Perspektive als durchaus heterogen rekonstruiert werden können. Exemplarisch kann man diese Problematik an dem Unterschied zwischen der UF und der SZF demonstrieren: Während es – auch vor dem Hintergrund der dominierenden Interpretationstendenz in der systematischen Forschung – grundsätzlich als plausibel gelten kann, eine auf die UF rekurrierende Argumentation als deontologisch zu klassifizieren, scheint dies im Falle der SZF weitaus weniger eindeutig durchführbar zu sein, da eine Reihe von Rekonstruktionen auf den materialen Aspekt dieser Formulierung Bezug nehmen und auf dieser Grundlage den rein deontischen Charakter dieser Struktur bestreiten. Die Nachzeichnung der kantischen Argumente gegen teleologische Ethikmodelle sowohl in den vorkritischen als auch kritischen Schriften hat jedoch ergeben, dass eine materiale Bestimmung allein ein die Ethik fundierendes Prinzip noch nicht notwendigerweise disqualifizieren muss, auch wenn Kant Vernunft, Formalität und universelle Gültigkeit von moralischen Geboten häufig als implizit verbunden anzusehen scheint. Zum einen ist dagegen mit Guyer zur Kenntnis zu nehmen, dass Kant nicht gegen jegliche Materialität von ethiktheoretischen Grundstrukturen, sondern für eine rationale Absicherung von unbedingten praktischen Sollensforderungen argumentiert, zum anderen ist zugleich mit Horn zu beachten, dass aufgrund der Nicht-Äquivalenz von Formalität und Deontologie die deontologische Verfasstheit einer Ethik nicht im Widerspruch zu inhaltlich bestimmten Grundsätzen stehen muss. Dies bedeutet für unseren Kontext, dass nicht schon 336

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deswegen von einer deontologischen Argumentation gesprochen werden darf, weil ein direkter bzw. primärer argumentativer Bezug zum Kategorischen Imperativ als solchem (d. h. in jeglicher Formulierung) festgestellt wird; zugleich ist die Konstatierung einer nicht-deontologischen Argumentationsweise keineswegs zwingend, nur weil auf inhaltlich bestimmte Elemente rekurriert wird. Dieser Umstand erschwert die Durchführung des anstehenden Analyseprogramms und muss hinsichtlich des Projekts der Freilegung der vorauszusetzenden begrifflichen Bedingungen klar als Problem benannt werden. Diese Schwierigkeit wird jedoch durch den Aspekt der spezifischen Funktionalität des KI in den jeweiligen Argumentationskontexten zumindest relativiert, wobei diese Funktionalitätsbestimmung ihrerseits natürlich nicht wieder konstitutiven Bezug auf vorausgesetzte semantischstrukturelle Profile nehmen darf. Wir werden anhand der Betrachtung der entsprechenden Ausführungen Kants – trotz aller Probleme, die sie für eine Rekonstruktion darstellen mögen – sehen, dass eine hinreichend begründete Differenzierung der argumentationstheoretischen Funktion vor allem der SZF nicht nur notwendig, sondern darüber hinaus grundsätzlich möglich ist. Das formale Muster einer deontologischen Argumentation bei Kant lautet: Die handlungsleitende Maxime X soll praktisch adaptiert werden, weil Handlungsweise Y Pflicht ist bzw. vom Sittengesetz geboten wird. 1 Ad b): Eine teleologische Argumentation bezieht sich entweder auf nicht-moralische oder moralische Zwecke, wobei ersteres eine natur- oder sozialteleologische 2 und letzteres eine vernunftteleologische Argumentation darstellt. Traditionellerweise rekurriert eine teleologi1 Natürlich drängt sich schon hier – vor der Argumentationsanalyse – die Frage auf, ob nach der Analyse des Sittengesetzes als auch axiologisch qualifiziertes Konzept in Kapitel V.3.1.1.4 die Wahrscheinlichkeit der Konstatierung von streng-deontologischen Argumentationen bei Kant nicht sehr gering ist. Angesichts der diesbezüglich aufschlussreichen Aussagen Kants z. B. in der KpV oder RGV kann man diese Frage nur lakonisch mit ›ja‹ beantworten, wobei allerdings selbst vor dem Hintergrund der zunehmenden Unwahrscheinlichkeit der D-These stets die Möglichkeit der unverzichtbaren Relevanz deontischer Elemente und Strukturen sowie der Plausibilität der SD-These besteht. Ein Vertreter der D-These müsste nachweisen können, dass es ethiktypologisch und systematisch vollkommen irrelevant ist, dass Kant das Sittengesetz ›heilig‹ nennt und als praktischen Achtungsgegenstand konzipiert. Dies dürfte nicht zuletzt deshalb kaum praktikabel sein, da man auch die SZF als imperativische Form des Moralgesetzes antiaxiologisch oder zumindest wertindifferent rekonstruieren müsste. 2 Eine sozialteleologische Argumentation besitzt allgemein denselben geltungstheoreti-

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sche Argumentation auf einen Zweck oder eine anzustrebende Verwirklichung eines Werts und weist zwar häufig, jedoch nicht notwendig einen expliziten oder impliziten Bezug auf ein Maximierungsprinzip 3 auf. Das formale Muster einer teleologischen Argumentation bei Kant lautet: Die handlungsleitende Maxime X soll adaptiert werden, weil Y der anzustrebende Zweck/Wert ist und Handlung X der Verwirklichung dieses Zwecks/Werts dient. Handlung X kann zugleich selbst eine unmittelbare Verwirklichung von Y darstellen. 4 Ad c) Eine konsequentialistische Argumentation stellt eine eigenständige Unterform der teleologischen Argumentation dar. Sie bezieht sich auf die nicht-moralischen oder moralischen Folgen der Verfolgung von nicht-moralischen oder moralischen Zwecken. Das Charakteristische einer konsequentialistischen Argumentation besteht nicht in der Berücksichtigung der Handlungsfolgen als anderen Gesichtspunkten nur untergeordneter Aspekt der Urteilsbildung, sondern in der Konstatierung der ausschließlichen oder eindeutig primären moralischen Relevanz der Konsequenzen. 5 Das formale Muster einer konsequentialistischen Argumentation lautet: Die handlungsleitende Maxime X soll adaptiert werden, weil Y die anzustrebende, da wertvolle Folge der Verfolgung von Zweck Z ist und X eine Verfolgung von Z darstellt. Ad d): Axiologische Argumentationen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich fundamental auf einen Wert beziehen, d. h. dass in einer solchen Argumentation ein Wert als letzter bzw. primärer praktischer Handlungsgrund angesetzt wird. Da die moralphilosophische Konstitutivität von Werten auch in teleologischen Argumentationsmustern schen Status wie eine naturteleologische, da dort die kontingenten Gewohnheiten oder Sitten einer Gesellschaft normativ sind. 3 Dies kann sich z. B. in der Forderung nach der Maximierung einer Wertverwirklichung oder einer bestmöglichen Zweckverfolgung äußern. 4 Auf die Einordnung einer Argumentation als teleologisch speziell im kantischen Kontext trifft derselbe Vorbehalt zu wie auf deontologische Argumentationen, da insbesondere Zwecke, aber auch Werte in verschiedenen Zusammenhängen z. B. mit dem Kategorischen Imperativ eine wichtige Rolle innehaben und teilweise auch zu deontischen Strukturen in einer bedeutsamen Beziehung stehen. 5 Eine weitere Definition der konsequentialistischen Argumentation führt in seichte Gewässer, da eine bloße Mitberücksichtigung von Handlungskonsequenzen z. B. bei der Bildung von konkreten, situativ verorteten Einzelentscheidungen für oder gegen einen spezifischen Handlungsvollzug typologisch unsignifikant, da z. B. auch mit deontologischen Ethiken kompatibel ist; vgl. zur bedingten, da anwendungsbezogenen Relevanz von Folgeüberlegungen bei Kant: Höffe 1992, S. 137 f.

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möglich ist, muss bei jeder Argumentationsklassifikation beachtet werden, ob der jeweilige Wert diejenige Funktion innehat, welche Zwecke und Werte in teleologischen Ethiken besitzen. Es gilt demnach zwischen Werten als apriorischem Handlungs- und Rechtfertigungsgrund und dem Anstreben der Verwirklichung von Werten als Zweckbestimmung zu unterscheiden, wobei diese Differenzierung freilich insofern nicht ganz streng durchgeführt werden kann, als Handlungsgründe auch unter der Verwendung von teleologischem Vokabular rekonstruiert werden können. 6 Dennoch kann man axiologische Argumentationen von anderen Ansätzen bis zu einem gewissen Grad unterscheiden, da axiologische Elemente zwar auch einen Bestandteil teleologischer bzw. konsequentialistischer und schwach-deontologischer Argumentationsweisen darstellen können, diese Argumentationen jedoch auf verschiedene Art und Weise über das Konzept eines Werts als Handlungsgrund hinausgehen: Während im Kontext einer deontologischen Argumentation zumindest explizit nicht der Wert der Pflicht, sondern die Pflicht selbst den Akteur unmittelbar bestimmen soll, geht es bei der teleologischen und konsequentialistischen Argumentation primär um die Erreichung eines Zwecks und nicht allein um Wertbeachtung bzw. -anerkennung. Die Tatsache, dass sowohl die jeweils postulierten Pflichten als auch die Zweckbestimmungen in der Regel 7 auch als wertvoll angesehen werden, stellt eine implizite axiologische Komponente der deontologischen und teleologischen Argumentationsweise dar. So wie schon in Kap. II die Rede von einer ›axiologischen Ethik‹ auf der gleichen klassifikationsbegrifflichen Reflexionsebene wie deontoInsbesondere der alltagssprachliche Gebrauch des Zweckbegriffs weist einen Zweck gemeinhin als Grund für eine Handlung aus, doch auch in diesem vergleichsweise weniger reflektierten Zusammenhang kann man sich über die Gründe für bestimmte Zwecksetzungen verständigen, was zwar keine ausdrückliche, vielleicht aber eine tendenzielle Differenzierung zwischen einem Gehalt als Grund und als Strebensziel anzeigt. So kann man z. B. problemlos sagen: ›Ich habe das Ziel, den Armen zu helfen, weil ich der Hilfe gegenüber Bedürftigen einen besonderen Wert zuschreibe‹. Die Unterstützung der Armen wird hier sowohl axiologisch (Handlungsbegründung) als auch teleologisch (Handlungsausrichtung) reifiziert, sodass beide Intendierungsmodi trotz der bestehenden inhaltlichen Konvergenzpunkte nicht identisch sind, da nicht der Wert der Nächstenliebe, sondern ihre praktische Umsetzung als Zweck fungiert. 7 Die im Sinne Gewirths und Korsgaards bestehende Zusammengehörigkeit von Handlung und Zweckaffirmation bzw. Wertschätzung des Handlungsgrunds/-ziels ist daher nicht weit von einer lebensweltlich geprägten Auffassung dieses Themenkomplexes entfernt. 6

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logische und teleologische Ethikmodelle mit dem Argument der typologischen Unterspezifiziertheit abgelehnt wurde, muss auch im Falle der axiologischen Argumentation darauf verwiesen werden, dass sie mit unterschiedlichen Ethiktypen kompatibel ist. Dementsprechend ist eine sinnvolle Differenzierung zwischen deontologischer, teleologischer, konsequentialistischer und axiologischer Argumentation nur möglich, wenn man von der metaethischen Reflexionsebene (von Werten als apriorischen Rechtfertigungsgründen oberster Prinzipien) so weit wie möglich abstrahiert und somit die hinter die typologisch einschlägigen Kategorien zurückgehende Analysestufe methodisch ausblendet. 8 Die dieser Ausblendung nicht ›zum Opfer gefallenen‹ axiologischen Argumente müssen zudem hinsichtlich ihrer jeweiligen Relation zu Pflichten und Zwecken untersucht werden. Das formale Muster einer axiologischen Argumentation bei Kant lautet: Die handlungsleitende Maxime X soll adaptiert werden, weil sie Ausdruck der Anerkennung des Werts Y ist. Es ist m. E allerdings zu bevorzugen, von Argumentationsstrategien zu sprechen, die ein bestimmtes Ethikkonzept nahe legen und diese nicht als direkten Ausdruck der vorherigen Akzeptanz eines bestimmten Ethiktyps zu deuten, da die Möglichkeit besteht, dass in einer Ethik z. B. eine deontologische Argumentationsstrategie vorherrschen und diese Ethik dennoch auf einer axiologischen Begründungsstruktur beruhen kann, ohne dass dies in irgendeiner Hinsicht unmittelbar widersprüchlich sein muss. 9 Insbesondere im Falle der kantischen Ethik scheint es nicht nur möglich, sondern sogar notwendig zu sein, zwischen der Begründung des ersten bzw. obersten Moralprinzips und derjenigen der moralischen Angemessenheit von Handlungsweisen oder Handlungen zu unterscheiden, um die Dominanz Aus diesem Grund wird z. B. die axiologische Vorrangthese aus der GMS als Argument für die Gültigkeit des KI hier nicht als möglicherweise typologisch signifikante Argumentationsstrategie angeführt. Die spezifisch metaethische Funktion der Selbstzweckkonzeption als Grund des KI ermöglicht eine hinreichende Differenzierung seiner systematisch relevanten Verwendungsformen bei Kant, weil der Selbstzweck als Kernelement der SZF niemals als Begründung des KI, also seiner selbst angeführt wird, sondern stets zur praktischen Rechtfertigung von bestimmten Geboten und Verboten dienen soll. 9 Dies steht wohlgemerkt nicht im Widerspruch zur These von Schönecker/Wood, dass die SZF unter der Bedingung der definitorischen Axiologiefreiheit deontologischer Ethiken gegen eine deontologische Klassifikation der kantischen Moralphilosophie sprechen würde; vgl.: Schönecker/Wood 2002, S. 140. 8

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der hinsichtlich ihres ethiktypologischen Charakters jeweils differierenden Elemente auf den verschiedenen Reflexionsebenen dieses moralphilosophischen Systems adäquat hervorheben zu können. Die in diesem Kapitel dargestellten Argumentationsansätze dürfen somit nicht als alternative Begründungskonzepte für Kants Ethik als ein einheitliches System, sondern vielmehr nur als Begründungsversuche einzelner ihrer Aussagen verstanden werden, die jeweils nicht die Begründung des Sittengesetzes bzw. Kategorischen Imperativs zum Zweck haben. Allerdings erscheint es mir pragmatisch sinnvoll zu sein, im Diskurs über die Argumentationsansätze Kants die oben benutzte (verkürzte) Redeweise zu benutzen, um die Diskussion nicht unnötig kompliziert zu gestalten. Zur allgemeinen Strukturierung der Argumentationsanalyse werde ich im Folgenden bestimmte systemarchitektonisch signifikante Ebenen in Kants Moralphilosophie unterscheiden. Die in Kapitel V erfolgte Begriffsanalyse hat verdeutlicht, dass sich bei Kant kaum ein in typologischer Hinsicht einfach rekonstruierbares Konzept finden lässt, was eine ähnliche bzw. sogar schwerwiegendere Klassifikationsproblematik im Rahmen einer Analyse der Argumentationstypen zwar nicht prognostizierbar, jedoch erwartbar macht. Im Vergleich zur Rekonstruktion der typologisch relevanten Elemente fällt bei der Betrachtung der entsprechenden Strukturen der Komplexitätsfaktor der übergeordneten Relationsbestimmung zwischen den Elementen weitaus stärker ins Gewicht: Häufig besteht die (nach Kapitel V freilich antizipierbare) Situation, dass die von Kant argumentativ aufeinander bezogenen Elemente auf unterschiedlichen Reflexionsebenen angesiedelt sind und/ oder eines der beiden Elemente in funktionaler Hinsicht auf verschiedene Ebenen zu beziehen ist. Darüber hinaus zeigt die typologische Argumentationsanalyse, dass Kant fast immer mehrere und zudem typologisch heterogene Argumente für ein und dieselbe These anführt, wodurch die Aufgabe der begründeten Gewichtung verschiedener Argumente bzw. Perspektiven zusätzlich an Bedeutung gewinnt. Dies bedeutet insgesamt zum einen eine stärkere Zurkenntnisnahme der horizontalen Komplexität, da neben den bereits definitorisch angesetzten und partiell schon in Kap. V reflektierten Wechselbeziehungen zwischen den Grundbegriffen auch noch die systematischen Funktionen dieser Elemente in Kants Argumentationen fokussiert werden; zum anderen verweist das folgende Unterkapitel VI.1 auf die ebenfalls bestehende vertikale Komplexität, welche durch die bi- oder unidirektioA

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nale Dependenz- und Inferenzrelationen 10 zwischen verschiedenen Reflexionsebenen zustande kommt.

VI.1 Ethiktypologisch relevante Reflexionsebenen der kantischen Ethik Grundsätzlich muss man mindestens vier Reflexionsebenen der kantischen Ethik unterscheiden,11 wobei es sich um eine metaethische und drei ethische Ebenen handelt und metaethische Fundamente und ethische Theoriestrukturen in einer differenzierten systematischen Beziehung zueinander stehen. 12 Diese Ebenen werden im Folgenden mögVgl. zu Inferenzen als Folgerungen: Brandom 2001, S. 68. Eine fünfte Ebene wäre diejenige der praktischen Regeln, die eine konkrete und situativ bedingte Umsetzung von Maximen darstellen. Allerdings ist diese Ebene für eine Diskussion des kantischen Ethiktyps m. E. im Vergleich mit den anderen Ebenen nicht primärrelevant, da die typologisch maßgeblich prägenden Weichenstellungen schon vorher geschehen sind. Dementsprechend spielen sie in der aktuellen Diskussion keine wichtige Rolle. 12 Allgemein ist bezüglich des Projekts einer Überblicksdarstellung der Struktur der kantischen Ethik in methodischer Hinsicht zu konstatieren, dass nicht alle vorhandenen Ebenen der moralphilosophischen Reflexion in einem einfachen Top-Down- bzw. Bottom-Up-Modell dargestellt werden können. Aufgrund der bereits erwähnten Selbstbezüglichkeitsstruktur des kantischen Konzepts reiner Vernunft stellen sich schon basale kantische Vorstellungen einer linear schematisierten Darstellungsweise entgegen. Doch dies ist nicht das einzige Problem: So sinnvoll es einerseits zu sein scheint, zumindest grundsätzlich zwischen einer Begründungs- und einer Anwendungsebene und innerhalb der Begründungsebene zwischen Wertkonstitution und Moralprinzip zu differenzieren, so wenig praktikabel stellt sich eine nahtlose Einordnung von Elementen wie z. B. der Vernunfttheorie oder der Konzeption der Willensbestimmung dar, weil die kantischen Annahmen sowohl bezüglich der inneren Beschaffenheit der Vernunft als auch der Willensbestimmung bestimmte Sachverhalte entweder explizit voraussetzen oder implizieren, welche in komplexen Bezügen zu gleich mehreren Reflexionsebenen stehen. Dementsprechend wird für die hier unternommene Strukturbeschreibung nicht in Anspruch genommen, besagte Darstellungsprobleme einer letztgültigen Lösung zugeführt zu haben. Darüber hinaus erweist sich die Erstellung eines umfassenden Strukturplans der kantischen Ethik nicht als primäre Aufgabe eines Beitrags zur Diskussion um den ethiktypologischen Status der kantischen Ethik, sondern für unsere Zwecke reicht es aus, eine Relationsbestimmung der allgemeinen und zudem in der aktuellen Diskussion relevanten Strukturmerkmale durchzuführen. Dies erweist sich zwar bereits als hinreichend komplex und darüber hinaus auch insofern als anfechtbar, als in einer generellen Strukturbestimmung vielen (z. B. entwicklungsgeschichtlichen) Nuancen des kantischen Denkens nur bedingt Rechnung getragen werden kann, doch darf dieser 10 11

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lichst pointiert charakterisiert, wobei dies unter besonderer Berücksichtigung der Gesichtspunkte des Selbstzwecks und der Selbstreferenz geschieht, da der Selbstzweck als das selbstbezügliche Kernkonzept der kantischen Ethik fungiert. Folgende Reflexionsebenen sind von ethiktypologischer Primärrelevanz: 1. die metaethische Reflexionsebene der ursprünglichen Generierung praktischer Normativität: die Idee der freien Persönlichkeit/der rationalen Natur als apriorisch-selbstzweckhafter Wertgrund sowohl der Akteuridentität als auch aller unbedingten Pflichten und Zwecke 13 2. die ethische Reflexionsebene des praktischen Moralprinzips: der Kategorische Imperativ als Etablierungsinstanz allgemeiner unbedingter Sollensforderungen sowie unbedingt werthafter Zwecke 14 berechtigte Einwand m. E. nur zu einer Beschränkung des legitimerweise anzumeldenden Geltungsanspruches, nicht jedoch zu dessen völliger Negation führen. 13 Die begründungstheoretisch primär relevante Instanziierung von Selbstreferenz findet sich auf der ersten (metaethischen) Reflexionsebene in Form des apriorischen Selbstzwecks der Menschheit. Der Selbstzweck bzw. absolute Wert der rationalen Natur ist dabei nur eine andere Bezeichnung für die prinzipielle Selbstreferenz reiner praktischer Vernunft: Die präsupponierte Vernunftidee von Moralität impliziert notwendig die geltungstheoretische Unabhängigkeit von allen anderen Quellen praktischer Geltungsansprüche, da andernfalls nur eine ›unreine‹ Form gewichtender bzw. subjektiv beeinflusster praktischer Vernunft möglich wäre, welche zudem ihres ›reinen‹ Maßstabs zur Beurteilung der Maximen verlustig ginge. Dementsprechend gilt mit Steigleder: »[…] Reine praktische Vernunft stellt für sich notwendig einen unbedingten oder absoluten Wert dar und ist das Vermögen, diesem Wert in allen ihren Zwecksetzungen völlig aus sich heraus Rechnung zu tragen.« S.: Steigleder 2002, S. 64. Diese begründungstheoretische Selbstbezüglichkeit stellt letztlich den strukturellen Grund der unbedingten praktischen Geltung in der kantischen Ethik dar – das Merkmal der selbstreferentiellen Form reiner praktischer Vernunft bedingt demnach implizit die These des absoluten Werts, sodass Selbstbezüglichkeit in der metaethischen Selbstzweckkonzeption zwar ein Konstitutionsmerkmal der Idee des Moralischen, jedoch als solche keinen besonderen Reflexionsaufwand im Kontext der ethiktypologischen Analyse der kantischen Ethik bedeutet, da sowohl deontologische als auch teleologische Ethikmodelle auf dieser Moralitätsidee basieren könnten. 14 Auf der Ebene des ethischen Prinzips tritt Selbstbezüglichkeit sowohl in der AF als auch in der SZF explizit in Erscheinung, wobei die SZF aufgrund der vergleichsweise deutlicheren Implementierung der Wertkonzeption der rationalen Natur in das oberste Pflichtenprinzip vorrangig zu beachten ist. Das durch die SZF explizierte Gebot, dass jede Handlung ein Ausdruck der Achtung der Menschheit in jeder Person sein soll, bedeutet das praktische Gebotensein der Verfolgung und bestmöglichen Verwirklichung des Selbstzwecks des Vernunftwesens und somit auch des durch den KI adressierten Akteurs selbst. In dieser (letztlich handlungstheoretischen) Hinsicht besteht auf PrinziA

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3. die ethische Reflexionsebene der konkreten Gebote bzw. gebotenen Vernunftzwecke: Pflichten als Formen vernünftiger Zwecke in ihrer Funktion als Instanzen des Gebietens von konkreten Handlungsgrundsätzen nach Maßgabe des Kategorischen Imperativs 15 4. die ethische Reflexionsebene der subjektiven Handlungsgrundsätze: Maximen als handlungsleitende Grundsätze des Akteurs und als Grundlage der Bestimmung praktischer Regeln, die sich auf konkrete empirische Situationen beziehen 16 pienebene demnach eine grundsätzliche Akteurreflexivität aller im Sinne der praktischen Affirmation des Selbstzwecks ausgeführten Handlungen, da die Achtung des Selbstzwecks die eigene Selbstverwirklichung impliziert. Dieser systematische Konnex von Selbst- und Fremdbezug moralischer Handlungen scheint mir als solcher zwar weder für die kantische Ethik noch für einen besonderen Ethiktyp von exklusiver Relevanz zu sein, da auch das Verfolgen eines Ideals utilitaristischer Provenienz wie z. B. des größtmöglichen Glücks/Wohls der Menschheit eine Form besagter Akteurreflexivität impliziert – jeder Akteur stellt einen Teil der Menschheit dar –, doch liegt bei Kants Modell eine notwendig-vernünftige Selbstreferenz vor: Wie bereits in Kap. V.2.2.2 angedeutet, ist in unserem Kontext vielmehr die komplexe Relation von Verfolgung und Verwirklichung des Selbstzwecks relevant, da in diesem Fall zwei Reflexionsbewegungen zu konvergieren scheinen, welche gewöhnlich streng differenziert werden müssen und zudem in der ethiktypologischen Diskussion als für unterschiedliche oder sogar einander entgegengesetzte Ethikmodelle charakteristisch angesehen werden können. Bei besagten Reflexionsbewegungen handelt es sich auf der einen Seite um das Verfolgen oder Anstreben der Verwirklichung eines Zwecks (des Guten) als handlungstheoretisch kennzeichnende Grundoperation teleologischer Ethiken und auf der anderen Seite um die zweckunabhängige, unmittelbar gesetzlich gebotene Verwirklichung einer vernunftmoralischen Idee als deontologischer Ausdruck der unbedingten Wertschätzung des moralisch Gesollten (des Richtigen). Jeder Akt der Verfolgung des Selbstzwecks stellt einen Akt seiner Verwirklichung dar, und jede Verwirklichung kann als Akt des Zweckanstrebens verstanden werden. 15 Auf der Ebene der Pflichten dient die Selbstzweckidee bei Kant vor allem mittels der SZF als Grundlage vieler Pflichtbestimmungen, was insofern immanent nachvollziehbar erscheint, als Handlungen aus Pflicht aufgrund der Achtung von Personen/des Sittengesetzes geschehen, wobei Personen wiederum als Selbstzweck betrachtet werden müssen. Auch das Konzept der Pflichten gegen sich selbst ist offenbar selbstbezüglich, doch wird dadurch kein neuer und zudem ethiktypologisch relevanter Aspekt der kantischen Ethik thematisch. 16 Im Falle der Ebene der Maximen muss ebenfalls konstatiert werden, dass sich zwar auch dort Selbstbezüglichkeit finden lässt, diese in der ethiktypologischen Analyse jedoch kaum weiterführt: Insofern man das kantische Diktum von Pflichten als gegebenheitsmodal modifizierten Zwecken ernst nimmt, ergibt sich das Szenario von Maximen als subjektiven Zwecksetzungen, welche wiederum von Pflichten als eigentlich vorgeordneten Zwecken abgeleitet werden müssen. Ethiktypologisch ist dieser Umstand jedoch wenig aufschlussreich, da diese Feststellung aufgrund der dafür notwendigen

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Ethiktypologisch relevante Reflexionsebenen der kantischen Ethik

Vor allem die Idee des Selbstzwecks und die ethiktypologisch weniger beachtete Autonomie-Konzeption sowie die Relation von praktischer Vernunft und gutem Willen sind durch eine tiefenstrukturell verankerte Selbstbezüglichkeit charakterisiert. Diese stellt insbesondere im Falle des Selbstzwecks einen vorrangig zu beachtenden Grund für das Komplexitätsniveau der typologischen Diskussion um die kantische Ethik dar, weil sich sowohl Vertreter der D-These als auch der T- und der SKOM-These auf diese Konzeption als Begründung eigener Klassifikationsthesen berufen. Zudem zeichnet sich der Selbstzweck der rationalen Natur durch eine verschiedene Reflexionsebenen übergreifende Polyfunktionalität aus, welche ihn zum einen als transzendentalreflexiv zu erschließenden Wertgrund moralischer Normativität, zum anderen als obersten handlungsleitenden Vernunftzweck und in dieser Funktion als materiale, kriterielle Bedingung der Pflichtbestimmung ausweist. Die allgemeine Differenzierung der vier typologisch wichtigsten Reflexionsebenen der kantischen Ethik verleiht der anschließenden Argumentationsanalyse dahingehend eine gewisse hierarchische Ordnung, dass mit dem ›Paradoxon der Methode‹ zuerst die abstrakteste und auf die ersten beiden Ebenen bezogene Struktur untersucht wird, während danach mit der Willensbestimmung, der Funktion praktischer Vernunft und der Ableitung des höchsten Guts drei vor allem auf der zweiten und partiell auch dritten Ebene angesiedelte Reflexionen zur Darstellung kommen. Die zahlreichen Pflichtableitungen aus der GMS und MS nehmen ihren Ausgang ebenfalls von normativen Vorgaben auf der Prinzipienebene, doch stellen die Ergebnisse dieser Überlegungen die vergleichsweise konkretesten Anwendungsresultate des KI auf die menschliche Lebensrealität dar, sodass sie primär der Ebene der Pflichten zuzuordnen sind und dementsprechend im letzten Teil dieses Abschnitts besprochen werden. Abschließend erfolgt eine pointierte Zusammenfassung der Ergebnisse, in der vor allem das Problem der Beurteilung der Relevanz natur- und sozialteleologischer Argumente sowie der typologisch nachvollziehbaren Klassifikation axiologischer Begründungen behandelt wird.

Rückgängigmachung der gegebenheitsmodalen Modifikation der Zwecke zu Pflichten keinerlei substantiellen Erkenntnisgewinn bedeuten kann. A

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VI.2 Das Paradoxon der Methode Das sogenannte ›Paradoxon der Methode‹ 17 ist bereits im Kontext der kantischen Kritik an der Struktur der teleologischen Ethik (Kap. IV.2) angesprochen worden. Im zweiten Hauptstück der Analytik der KpV wird es im Unterkapitel über den Begriff eines ›Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft‹ abgehandelt und stellt ein entscheidendes Element im Rahmen einer deontologischen Kant-Interpretation dar. 18 Kant erörtert dort in verschiedenen Anläufen dasjenige, was nicht zuletzt unter dem Einfluss von Rawls als die These der Priorität des moralisch Richtigen gegenüber dem Guten in der Forschung in beinahe schlagwortartiger Form bekannt geworden ist. Das Besondere an diesem Abschnitt der KpV besteht darin, dass sich Kant – zumindest bis zu einem gewissen Grad – explizit zu dem seiner Ansicht nach adäquaten Vorgehen in der Moralphilosophie äußert und in diesem Zusammenhang spezifische Verhältnisbestimmungen von moralischem Gesetz und dem Begriff des ›Guten‹ bzw. ›Bösen‹ vornimmt, welche er als für seine kritische Ethik verbindlich ansieht. Das ›Paradoxon der Methode‹ stellt die definitive kantische Argumentation dafür dar, wie man im Bereich der Moralphilosophie zulässig reflektiert, wodurch in diesem Lehrstück nicht etwa nur eine spezifisch methodische Aussage getroffen, sondern zugleich eine allgemeingültige Trennung von moralischem und nicht-moralischem Reflexionsbereich etabliert wird. Daher handelt es sich einerseits um eine metaethische Bestimmung des moralisch Guten 19 als sittengesetzlich adäquates WillensKant stellt ausdrücklich klar, dass das entsprechende Unterkapitel »die Methode der obersten moralischen Untersuchungen betrifft« und somit ohne Spekulation als expliziter Beitrag zu dieser Frage interpretiert werden kann; vgl.: KpV AA V, S. 64. 18 Dabei ist es kein Zufall, dass sich die Reflexionen zur adäquaten Methode in der praktischen Philosophie in einem Unterkapitel zum Objekt der reinen praktischen Vernunft finden lassen, da sich die praktische Objektkonstitution darin von derjenigen eines theoretischen Objekts unterscheidet, dass ein praktischer Gegenstand allein durch die Verwirklichung einer Idee bzw. Vorstellung mittels bestimmter Handlungsvollzüge zustande kommen kann. Ein Objekt praktisch-vernünftiger Akte wird demnach nicht durch die Anwendung der Verstandeskategorien auf das schon gegebene Sinnliche, sondern mittels einer sinnlich nicht unterstützten Willensbestimmung nach Vorstellungen konstituiert. In Brinkmanns Terminologie müsste man diesbezüglich den Begriff des ›konstruktiven Formalismus‹ in Anschlag bringen; vgl.: Brinkmann 2003, S. 22. 19 Eine grundsätzliche begriffliche und daher ebenfalls metaethische Bestimmung des Guten liegt natürlich auch im Falle der Erläuterung des guten Willens zu Beginn der 17

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objekt 20 und andererseits um einen fundamentalen methodischen Baustein der ethischen Theorie, der in direkter Verbindung zur Ebene des Moralprinzips steht. 21 Das besagte Paradoxon bestehe darin, »daß nämlich der Begriff des Guten und Bösen nicht vor dem moralischen Gesetze (dem er dem Anschein nach sogar zum Grunde gelegt werden müßte), sondern nur (wie hier auch geschieht) nach demselben und durch dasselbe bestimmt werden müsse«. 22 Nur diese Vorgehensweise könne ausschließen, dass GMS vor, doch wurde dieser Begriff bereits in Kap. V ausführlicher dargestellt und analysiert, da die diesbezüglichen kantischen Reflexionen keinen ausgeprägten Argumentationscharakter besitzen. Dies trifft auch auf das Paradoxon zu, doch liegt der entscheidende Unterschied zum guten Willen darin begründet, dass ersteres die oberste Regel der moralphilosophischen Argumentation darstellt, welche daher zwar selbst streng genommen kein Argument ist, wohl jedoch den bei Kant stets mitzureflektierenden Argumentationshintergrund ausmacht. 20 Vgl.: Trampota 2003, S. 109. Zwar liefert das Paradoxon keine der Deduktion bzw. der axiologischen Vorrangthese aus der GMS vergleichbare Begründung praktischer Geltung, doch fungiert es dennoch als metaethisch relevantes Lehrstück, weil Kant darlegt, nach welchem Maßstab und welcher Methode man das moralisch Gute bzw. Böse begrifflich fassen muss. Dadurch ist es zwar auch, aber eben nicht ausschließlich in ethischer Hinsicht relevant. 21 Während die Ebene der Pflichten und Vernunftzwecke (Ebene 3) als Applikationsrahmen des Moralprinzips (Ebene 2) fungiert, gilt parallel dazu, dass das ›Paradoxon der Methode‹ auf Ebene 2 umgesetzt wird, indem das kategorische Sollen allein im Ausgang von der Vernunftidee universell verbindlicher bzw. gesetzlich verfasster Moralität als unabweisbare Forderung an das Vernunftwesen ausgeht. 22 S.: KpV AA V, S. 62 f.; vgl. dazu: Schneewind 1992, S. 317. Eine bezüglich der Interpretation des Schlussteils des Zitats gerechtfertigte Überlegung besteht in der Frage, ob man der Redeweise der Bestimmung des Guten durch das Sittengesetz auf kantischer Grundlage einen eigenständigen Sinn abgewinnen kann, welcher sich von der ersten These der Abhängigkeit des Guten vom Sittengesetz hinlänglich unterscheidet oder sie vielleicht gar in inhaltlicher Perspektive modifiziert. Da die Möglichkeit einer strikten Identifizierung von Gutem und Sittengesetz als plausible Deutung dieser Aussage wegfällt – dies ergibt sich aus der vorhergehenden These der einseitigen Dependenzrelation beider Begriffe, welche andernfalls unsinnig wäre – und die Auffassung beider Aussagen als Elemente einer These durchaus einen immanent nachvollziehbaren Sinn für sich beanspruchen kann, scheint mir die in Frage stehende Lesart nicht plausibel zu sein. Vielmehr legt sich eine Deutung der letzten Aussage als Explikation der unmittelbar vorhergehenden These nahe: Das Gute müsse durch das Sittengesetz, demnach im Rahmen des durch reine praktische Vernunft definierten Gegenstandsbereichs begriffen werden, da es nach dem Sittengesetz, d. h. in prinzipieller Abhängigkeit vom moralisch immer schon Gebotenen, zu bestimmen sei. Es handelt sich hierbei um ein und dieselbe These und kann daher nur illegitim gegen Kants These vom Primat des Sittengesetzes gegenüber dem Guten angeführt werden. A

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man zuerst einen auf die Sinnlichkeit bzw. das Lust/Unlust-Empfinden 23 bezogenen, da aus der Erfahrung abgeleiteten Begriff des ›Guten‹ bestimme, somit einen inhaltlich bestimmten Gegenstand des Willens zugrunde lege und daraus bestimmte praktische Gesetze entwickele, die aufgrund ihres letztlich kontingenten, da nicht rein vernünftigen Ursprungs unweigerlich hinsichtlich ihrer unbedingten Verbindlichkeit bezweifelt werden könnten. Kant behauptet in diesem Abschnitt, dass ein anderes Modell als das von ihm postulierte zur Generierung moralisch-praktischer Gesetze unfähig sei. Dies sei darin begründet, dass eine andere Art und Weise der Bestimmung des moralisch Primären – genauer: die Qualifizierung des Guten als Bestimmungsgrund des Willens – über keine Möglichkeit verfüge, eine adäquate moralische Verbindlichkeit fundieren zu können: Weil […] dieser Begriff [des Guten, Einfügung C. B.] kein praktisches Gesetz a priori zu seiner Richtschnur hatte: so könnte der Probirstein des Guten oder Bösen in nichts anders, als in der Übereinstimmung des Gegenstandes mit unserem Gefühle der Lust oder Unlust gesetzt werden, und der Gebrauch der Vernunft könnte nur darin bestehen, theils diese Lust oder Unlust im ganzen Zusammenhange mit allen Empfindungen meines Daseins, theils die Mittel, mir den Gegenstand derselben zu verschaffen, zu bestimmen. 24

Kant geht in diesem Zusammenhang so weit, zu behaupten, dass im Falle einer vom praktischen Gesetz unabhängigen Bestimmung des Guten allein schon die Denkmöglichkeit eines reinen praktischen Gesetzes unmöglich sei, da »das moralische Gesetz allererst den Begriff des Guten, so fern es diesen Namen schlechthin verdient, bestimme und möglich mache.« 25 Für ihn steht gegen Ende des Kapitels dementsprechend fest: »Nur ein formales Gesetz, d. i. ein solches, welches der Vernunft nichts weiter als die Form ihrer allgemeinen Gesetzgebung zur obersten Bedingung der Maximen vorschreibt, kann a priori ein Bestimmungsgrund der praktischen Vernunft sein«. 26 Vgl.: KpV AA V, S. 58. S.: KpV AA V, S. 63. 25 S.: KpV AA V, S. 64. 26 S.: KpV AA V, S. 64. Diese im Methodenabschnitt erläuterte Thematik wird auch zu Beginn des Folgeabschnitts über die Typik der reinen praktischen Urteilskraft aufgegriffen, wenn Kant ausführt, dass die Begriffe des Guten und Bösen zwar durchaus für die auf den Willen bezogene Objektbestimmung konstitutiv, zugleich jedoch einer praktischen Vernunftregel unterstellt seien, »welche, wenn sie reine Vernunft ist, den Willen 23 24

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Man könnte nun argumentieren, dass bisher noch weitgehend unausgemacht blieb, was eigentlich genauer unter dem immer wieder erwähnten, aber nie vollends konkret bestimmten Guten verstanden werden soll. De facto resultierte eine solche Anfrage jedoch aus einem Missverständnis dessen, was im Paradoxonabschnitt eigentlich ausgesagt wird, denn durch die These vom Sittengesetz als apriorischem Maßstab des Guten wird sehr wohl eine (zugegebenermaßen recht formale) Bestimmung des Guten geleistet, indem die Methode zur Gewinnung seines Gehalts angegeben wird. 27 Dennoch gilt: So wie man konstatieren muss, dass Kant über keine ausgearbeitete Theorie moralischen und nicht-moralischen Werts verfügt, so klar muss man ebenso feststellen, dass er den Begriff des ›Guten‹ zwar häufig und in verschiedenen Kontexten benutzt, eine differenzierter reflektierte Theorie des Guten in ihrem Verhältnis zum Richtigen über die Konstatierung von besagter Dependenzrelation hinaus jedoch nicht vorhanden ist. 28 Freilich wurde bereits die Identifikation des Guten mit dem praktisch Notwendigen erwähnt, 29 doch gibt Kant in der KpV zudem eine weitere Bestimmung des Guten an, welche sich auf das dem Guten korrespondierende Vermögen bezieht: a priori in Ansehung seines Gegenstandes bestimmt«; s.: KpV AA V, S. 67. Ohne die skizzierten Vorbemerkungen des Methodenabschnitts könnte man dieser Position vielleicht einen unmittelbaren Widerspruch nachweisen wollen, doch vor dem Hintergrund des Paradoxons wird deutlich, dass die Begriffe des ›Guten‹ und ›Bösen‹ als moralische Qualifikationstermini für Kant überhaupt nur einen verbindlichen Sinn besitzen können, wenn ihr Anwendungsbereich vorher durch reine praktische Vernunft bestimmt wurde. Die apriorische Bestimmung des Willens ›in Ansehung seines Gegenstandes durch reine Vernunft‹ bedeutet hier demnach nichts anderes, als dass jegliche empirische Bestimmung des Willens im Bereich des Moralischen ausgeschlossen und Maximen allein nach Maßgabe ihrer Relation zum praktischen Vernunftgesetz beurteilt werden dürfen. 27 Hier besteht eine gewisse Strukturanalogie zum Formalismus des Kategorischen Imperativs, da auch dieser im Sinne Wagners als methodische Anleitung zum Auffinden konkreter moralisch zulässiger bzw. gebotener Maximen verstanden werden kann; vgl.: Wagner 1980, S. 343. 28 Wie auch im Falle z. B. der Relation von Zweck und Selbstzweck nimmt Kant die Begriffe des ›Guten‹ und des ›sittengesetzlich Gebotenen‹ in allen kritischen Hauptwerken in Anspruch, doch stellt der erwähnte Abschnitt zum methodischen Paradoxon in der praktischen Philosophie in ihrer Deutlichkeit eine Besonderheit im Rahmen seiner anderen diesbezüglich interessanten Äußerungen dar. 29 Während die oben angeführte Bestimmung des Guten grundsätzlich auch nicht-moralische Interpretationen zulässt, äußert sich Kant in der GMS auch weniger zweideutig; vgl.: GMS AA IV, S. 413. A

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Die alleinigen Objecte einer praktischen Vernunft sind […] die vom Guten und Bösen. Denn durch das erstere versteht man einen nothwendigen Gegenstand des Begehrungs=, durch das zweite des Verabscheuungsvermögens, beides aber nach einem Princip der Vernunft. 30

Diese Bestimmung des Guten als notwendiges Objekt des Begehrungsvermögens bringt dabei nicht das untere, sondern das obere, rationale Begehrungsvermögen zur Geltung, welches Kant spätestens ab der Zeit der Abfassung der KpV mit dem auf die Gesetze abzielenden Willen identifiziert und in der MS klar von dem auf die Maximenbildung gerichteten Vermögen der Willkür differenziert. Der notwendige (positive) Zweck des oberen Begehrungsvermögens bzw. des Willens bestehe demnach im moralisch Guten bzw. in dessen Herbeiführung und Verwirklichung. Die systematische Beziehung des Guten als das nach dem und durch das Sittengesetz Definierte einerseits und als das Objekt des oberen Begehrungsvermögens andererseits stellt sich deswegen immanent einheitlich dar, weil das obere Begehrungsvermögen prinzipiell auf das Sittengesetz ausgerichtet ist und daher nur das anstrebt, was sittengesetzlich geboten ist. Kant äußert sich in der KpV nicht nur zum ›Paradoxon der Methode‹, sondern führt zudem eine strukturelle Bestimmung der Relation des Guten/Bösen, des Willens und der Vernunftgesetzlichkeit im Rahmen der Konstitution eines Objekts des Willens durch. Im Unterschied zum Wohl oder Unwohl des Menschen bezeichneten die Begriffe des ›Guten‹ und ›Bösen‹ jederzeit eine Beziehung auf den Willen, so fern dieser durchs Vernunftgesetz bestimmt wird, sich etwas zum Objecte zu machen; wie er denn durch das Object und dessen Vorstellung niemals unmittelbar bestimmt wird, sondern ein Vermögen ist, sich eine Regel der Vernunft zur Bewegursache einer Handlung (dadurch ein Object wirklich werden kann) zu machen. 31

Diese Passage verdeutlicht auf prägnante Art und Weise die Bedingtheit des Guten durch das sittengesetzlich Vorgegebene, welche auch im Paradoxon-Abschnitt behauptet wird: Das Gute sei demnach dahingehend durch die Struktur des Willens bedingt, dass dieser sich hinsichtlich der moralischen Selbstbestimmung niemals direkt durch einen Gegenstand, sondern durch Vernunftgesetzlichkeit bestimmen 30 31

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S.: KpV AA V, S. 58. S.: KpV AA V, S. 60.

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lasse, wobei diese Bestimmung durch das Sittengesetz nichts anderes sei als die Verwirklichung der Idee des Moralischen in der oder durch die Handlung. Umgekehrt bekräftigt Kant damit in aller Deutlichkeit, dass der Wille in seiner Identität als strukturell mit dem Moralischen verbundenes Vermögen niemals unabhängig von der sittlichen Regel der Vernunft zu einer moralisch adäquaten Handlung fähig sei. Zwischenfazit Insgesamt bleibt daher zu konstatieren, dass das Paradoxon aus der KpV nach einem ersten Analyseschritt wie kaum ein anderes kantisches Lehrstück als deontologische Struktur klassifiziert werden muss, da nirgendwo anders in Kants Werk eine ähnlich klare Bestimmung des moralisch Guten durch das vernunftgegebene Sittengesetz geliefert wird. Auch wenn die bloße Idee eines vernünftigen Begriffs des ›moralisch Guten‹ rein systematisch auch mit einer vernunftteleologischen Rekonstruktion des Sittengesetzes kompatibel wäre, bietet sich eine entsprechende Rekonstruktionsperspektive dieses Lehrstücks von Kant selbst aus nicht unmittelbar an, da zwar das sittengesetzlich bestimmte Strebensobjekt moralisch gut sein soll, das Gesetz selbst jedoch nicht in den hier thematisierten Gegenstandsbereich einzuordnen ist. 32 Allerdings muss einschränkend hinzugefügt werden, dass Kant das Sittengesetz zwar nicht explizit als Zweck, andernorts in der KpV und z. B. auch in der RGV jedoch als zulässiges Objekt vernunftaxiologischer Urteile auffasst (s. Kapitel V.3.1.1.4), sodass sich vor diesem Hintergrund nur eine schwach-deontologische Klassifikation anzubieten scheint. Dieser Aspekt wird abschließend in der kritischen Auswertung dieses Kapitel noch genauer zu reflektieren sein. Hier muss beachtet werden, dass Kant z. B. nicht auf den Selbstzweck der Menschheit als Wertgrund und insofern als Rechtfertigung der Methode rekurriert, auch wenn die von ihm hier bzw. der gesamten KpV vorausgesetzte Konzeption von Moralität dieses Konzept durchaus umfasst. Die systematische Herleitung sähe demnach folgendermaßen aus: Das Richtige als durch die Vernunft festgelegtes Moralisches soll als vorgeordneter Maßstab des Guten dienen, da das Sittengesetz und der KI in dem absolut werthaften intelligiblen Selbst des vernünftigen Akteurs gegründet ist. Ein Verständnis dieser Herleitung nicht als theoretische Kausalerklärung, sondern als praktisch-transzendentale Präsuppositionsrekonstruktion wird m. E. weder von der in der KpV explizierten Ablehnung einer Deduktion des Sittengesetzes, noch vom Gehalt des ›Paradoxons der Methode‹ selbst tangiert, denn de facto wird hier nicht bei der Vorstellung eines kriteriell qualifizierten, außermoralischen Guten, sondern bei praktisch-rationalen Bedingungen moralischer Selbstbestimmung angesetzt.

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VI.3 Willensbestimmung, Funktion der praktischen Vernunft und höchstes Gut VI.3.1 Die moralische Bestimmung des Willens Kants Ethik ist nicht zuletzt eine Ethik des Willens, wobei der Ausdruck in dieser Form sicherlich noch zu allgemein für eine definitive Bezeichnung ihres charakteristischen Profils ist. Zumindest ist jedoch unverkennbar, dass der Wille in seiner Relation zu den jeweiligen Bestimmungsgründen immer wieder im Mittelpunkt diesbezüglicher Ausführungen steht und die Frage der Willensbestimmung ein Kernproblem dieser moralphilosophischen Konzeption darstellt. Kants Konzeption der moralisch adäquaten Willensbestimmung steht darüber hinaus nicht selten im Fokus der Interpretationen von Vertretern der D-These und stellt damit meist ein Hauptelement deontologischer Auslegungen dar. 33 Zugleich findet man die interessante Situation vor, dass sich z. B. Leists Argumentation für eine teleologische Kant-Deutung ebenfalls auf den Willensbegriff beruft, indem auf die prinzipielle Ausgerichtetheit des Willens verwiesen wird. Allerdings besitzen die beiden entgegengesetzten Klassifikationsansätze nicht dasselbe Referenzobjekt: Deontologische Interpretationen beziehen sich primär auf die Konzeption der moralischen Willensbestimmung und nicht auf den Willensbegriff selbst, 34 während Leists teleologische Deutung primär in einer entsprechenden Begriffsauslegung besteht. In diesem Unterkapitel wird im direkten systematischen Anschluss an das Kapitel V.2.1 zum Willensbegriff rekonstruiert, wie Kant sich eine moralisch geforderte Bestimmung des Willens vorgestellt hat und inwiefern seine diesbezüglichen Ausführungen als triftiges Argument für eine deontologische Klassifikation seiner Ethik angesehen werden dürfen. Auch wenn sich der Terminus der ›Willensbestimmung‹ ebenfalls Vgl.: Trampota 2003, S. 60, wo Trampota das Sittengesetz als der praktischen Vernunft inhärierend und diese apriorisch restringierend auffasst. Auch Horns Ausarbeitung der SD-These basiert nicht zuletzt auf der Analyse der Struktur der Bestimmung des Willens; vgl.: Horn 2002a, S. 61. 34 Diese Distinktion wird in aller Deutlichkeit durch Horn berücksichtigt, wenn er einerseits die begriffliche Konzeption des Willens als rationales Streben bzw. vernunftteleologisch, die Willensbestimmung, d. h. den methodischen Vollzug seiner praktischen Konfiguration dagegen als sittengesetzlich geregelt bzw. deontologisch klassifiziert; vgl.: Horn 2002a, S. 59 ff. 33

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in anderen Werken finden lässt, empfiehlt sich doch vor allem die KpV als exponiertes Referenzwerk für eine nähere Darstellung der diesbezüglichen Ausführungen. Der Beginn des Triebfederkapitels aus der zweiten Kritik erweist sich dabei nicht nur als Kernstelle für eine deontologische Argumentation, sondern verdeutlicht zugleich eine spezifische Verwobenheit deontologischer und axiologischer Aspekte: »Das Wesentliche alles sittlichen Werths der Handlungen kommt darauf an, daß das moralische Gesetz unmittelbar den Willen bestimme.« 35 Wenig später heißt es: Das Wesentliche aller Bestimmung des Willens durchs sittliche Gesetz ist: daß er als freier Wille, mithin nicht blos ohne Mitwirkung sinnlicher Antriebe, sondern selbst mit Abweisung aller derselben und mit Abbruch aller Neigungen, so fern sie jenem Gesetz zuwider sein könnten, blos durchs Gesetz bestimmt werde. 36

Diese Passagen enthalten zwei Thesen von grundlegender Bedeutung sowohl für Kants moralphilosophische Gesamtkonzeption als auch für die spezielle Frage nach der Struktur der moralischen Willensbestimmung: 1. Für den moralischen Wert von Handlungen sei die unmittelbare Willensbestimmung durch das Sittengesetz entscheidend. – Diese These kann im Rahmen einer deontologischen Deutung dergestalt aufgefasst werden, dass moralischer Wert von seinem Bezug zum Sittengesetz abgeleitet werden müsse und damit axiologische Konzepte von deontischen abhingen. 2. Die Vorstellung einer unmittelbaren Willensbestimmung durch das Sittengesetz setze voraus, dass es sich dabei um einen im praktischen Sinne freien Willen handele, der die der Ausübung der Moral hinderlichen Antriebe der Sinnlichkeit aktiv zurückweise und dagegen das Sittengesetz als einzigen Bestimmungsgrund zulasse. Diese zweite These der alleinigen Bestimmung des Willens durch das oberste Moralgesetz, damit auch durch den Kategorischen Imperativ und letztlich durch die Pflichten unter Ausschluss aller auf Neigung basierenden Zwecke stellt neben der Argumentation für den moralischen Wert des guten Willens die deontologische Musterargumentation dar, welche oft als origineller Kern der kantischen Ethik betrachtet wurde. Bevor vor allem auf die zweite These genauer eingegangen wird,

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S.: KpV AA V, S. 71. S.: KpV AA V, S. 72. A

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sei kurz in Erinnerung gerufen, dass es bei Kant grundsätzlich zwei Möglichkeiten der Willensbestimmung gibt: 37 Entweder werde der Wille durch die Form (das Sittengesetz bzw. den KI) oder durch die Materie (subjektiv-relative Zwecke) bestimmt, wobei ersteres der Autonomie und letzteres der Heteronomie entspreche. Obwohl der Terminus der ›Willensbestimmung‹ in keinem seiner Werke ausführlicher einführt und ihm somit explizit keine spezifische und genau umschriebene Bedeutung zugeschrieben wird, ist es von der Verwendung dieses Begriffs her plausibel, dass ›Bestimmung‹ hier einen Akt des Festlegens 38 im Sinne der kausalen Herbeiführung einer strukturellen Konfiguration bedeuten soll. Während These 1 in Kap. V.3.1.1.2 und Kap. VIII behandelt wird und trotz all ihrer für uns relevanten Implikationen nicht konkret zu einem besseren Verständnis der hier relevanten Struktur beitragen kann, ist es dagegen durchaus aufschlussreich, sich hier dem zweiten Zitat zu widmen, da insbesondere der zweite Teil des Zitats auf einen Gedanken aus der erst nach der KpV verfassten MS verweist, welcher in unserer Studie bereits genannt wurde, jedoch nicht in allen ethiktypologisch wichtigen Aspekten zur Sprache kommen konnte. Kant hebt deutlich hervor, dass nicht nur die Abwesenheit von sinnlichen Antrieben, sondern darüber hinaus die dezidierte Abweisung aller nicht-moralischen Bestimmungsgründe des Willens für die moralische Willensbestimmung zentral sei. In der MS greift er diese These wieder auf, allerdings nicht nur in Form einer bloßen Rekapitulation, sondern bei der Erläuterung ihres Rechtfertigungsfundaments unter Rekurs auf die Idee der Moral als eines Systems der Zwecke der reinen praktischen Vernunft. 39 Die entscheidende Überlegung besagt, dass eine Morallehre ohne moralische Zwecke deswegen keine wirkliche Handlungswirksamkeit im Sinne einer ausnahmslosen Willensbestimmung durchs Sittengesetz besitzen könne, weil eine zentrale Funktion moralisch geforderter Inhalte in der Zurückweisung der natürlich verwurzelten Ansprüche der Neigungen bestehe und diese im Ganzen der menschlichen Handlungsstruktur in Form von Zwecken repräsentiert seien. Die dies-

»Alle mögliche Bestimmungsgründe des Willens sind nämlich entweder blos subjectiv und also empirisch, oder auch objectiv und rational; beide aber entweder äußere oder innere.« S.: KpV AA V, S. 39. 38 Vgl.: Horn 2002a, S. 44 ff. 39 Vgl.: MS AA VI, S. 381. 37

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bezügliche Hintergrundannahme besteht dabei in der These, dass dem Einfluss von nicht-moralischen Zwecken nur auf dem Wege der Etablierung von inhaltlich entgegengesetzten Zwecken erfolgreich begegnet werden kann – die grundsätzlichen Pflichten müssten als universell verbindliche Zwecke formuliert werden, um den Neigungen auf gleicher Augenhöhe begegnen zu können: […], da die sinnlichen Neigungen zu Zwecken (als der Materie der Willkür) verleiten, die der Pflicht zuwider sein können, so kann die gesetzgebende Vernunft ihrem Einfluß nicht anders wehren, als wiederum durch einen entgegengesetzten moralischen Zweck, der also von der Neigung unabhängig a priori gegeben sein muss. 40

Wenn wir nun, unter Berücksichtigung der soeben erwähnten Prämisse, zum zweiten Zitat aus der KpV zur Willensbestimmung zurückkommen, so zeigt sich ein im Vergleich zur bisherigen Skizzierung der kantischen Position komplexeres Bild der moralischen Bestimmung des Willens, da nun eine in ethiktypologischer Perspektive relevante Implikation hinzugedacht werden muss: Die unmittelbare Willensbestimmung durchs Moralgesetz beinhaltet stets die materiale Konfrontation des moralisch Gebotenen mit den sinnlichen Neigungen und damit die Notwendigkeit einer praktischen Konstitutivität von Zwecken. Auch wenn in der zitierten Passage aus der KpV explizit von Zwecksetzungen keine Rede ist, muss prinzipiell berücksichtigt werden, dass die moralische Willensbestimmung eine aktive Überwindungsleistung des moralischen Akteurs voraussetzt, welche ihrerseits allein mittels moralischer Zweckbestimmungen möglich sein soll. 41 Um allerdings einen vorschnellen Schluss etwa auf eine teleologische Bedingtheit der wesentlich deontologisch anmutenden Argumentation für die moralische Willensbestimmung zu verhindern, muss daran erS.: MS AA VI, S. 380 f. Im Ausgang von der Vorrede der KpV ergibt sich zudem eine große Nähe des dort verfolgten Projekts zur späteren MS: »Die Kritik der praktischen Vernunft überhaupt hat also die Obliegenheit, die empirisch bedingte Vernunft von der Anmaßung abzuhalten, ausschließungsweise den Bestimmungsgrund des Willens allein abgeben zu wollen.« S.: KpV AA V, S. 16. Zwar ist es durchaus plausibel, diese explizite Zielsetzung der KpV z. B. schon auf dem Wege der Etablierung der Faktumslehre, also schon innerhalb der KpV erfolgreich verfolgt zu sehen, doch dürfte man eine vollends erbrachte Begrenzung der empirischen Neigungen vor dem Hintergrund der Annahme der Prämisse einer nicht-teleologischen Interpretation des Faktums der Vernunft erst durch die Lehre von den Tugendpflichten der MS konstatieren.

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innert werden, dass Kant explizit von der moralischen Bestimmtheit und somit von der strukturellen Dependenz der jeweiligen Zwecke ausging. – Das Sittengesetz soll nicht unter oder neben, sondern über bzw. geltungstheoretisch vor den entsprechenden Zwecken stehen, da im Rahmen seines Ansatzes eine Etablierung moralischer Zwecke nicht ohne konstitutiven Bezug auf die Idee rationaler Sittlichkeit konsistenterweise möglich ist. Die Konzeption der moralischen Willensbestimmung in der KpV beruht darüber hinaus auf Vorstellungen, die auf eine spezifische Verständnisweise der Begriffe ›material‹ und ›formal‹ in ihrer Relation zu den Vermögen des unteren und oberen Begehrungsvermögens Bezug nehmen: Alle materiale praktische Regeln setzen den Bestimmungsgrund des Willens im unteren Begehrungsvermögen, und, gäbe es gar keine blos formale Gesetze desselben, die den Willen hinreichend bestimmten, so würde auch kein oberes Begehrungsvermögen eingeräumt werden können. 42

Das untere Begehrungsvermögen unterstehe demnach materialen praktischen Regelstrukturen, wobei für diese gelte: »Alle materiale praktische Principien sind, als solche, insgesamt von einer und derselben Art und gehören unter das allgemeine Princip der Selbstliebe oder eigenen Glückseligkeit.« 43 Daraus ergibt sich in der KpV eine – zumindest in einem ersten Gedankenschritt – geradezu strukturell zu interpretierende Zuordnung von materialen Handlungsprinzipien und menschlichem Glücksstreben, welche angesichts der Grundforderung nach einer regelgeleiteten Restriktion naturgegebener Handlungsantriebe durchs Sittengesetz zu dem Schluss führt, dass materiale Prinzipien als solche prinzipiell für eine moralische Willensbestimmung inadäquat sein müssen. Allerdings wäre eine solch strikte Zuordnungspraxis, obzwar scheinbar direkt aus dem Bisherigen folgend, insofern der kantischen Systematik gegenläufig, als allein schon die SZF ohne Zweifel als materiale, auf den endlichen Willen bezogene Bestimmungsstruktur gedeutet werden kann. 44 Wir sahen bereits an früherer S.: KpV AA V, S. 22. S.: KpV AA V, S. 22. 44 Die SZF erscheint nicht in jeder Perspektive als formal, sondern die Klärung dieser Frage hängt von der jeweils angesetzten Reflexionshinsicht ab: Von einem gesetzten Einzelzweck aus ist die Selbstzweckidee so allgemein, dass man sie als formales und umfassendes Hintergrundkriterium verstehen kann, auf der Ebene des Kategorischen 42 43

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Stelle, dass Kants Verwendung des Prädikats ›material‹ sehr eng an die Vorstellung von Gehalten empirischer Natur geknüpft ist, sodass man unter der Konstatierung der moralphilosophischen Defizienz materialer Regeln/Prinzipien grundsätzlich zwar eine Abweisung empirischer, nicht aber tatsächlich aller inhaltlich bestimmten Elemente verstehen muss. Dementsprechend rekurriert Kant als Erläuterung des im letzten Zitat erwähnten 2. Lehrsatzes zu den Grundsätzen der reinen praktischen Vernunft darauf, dass »alle materiale Principien, die den Bestimmungsgrund der Willkür in der aus irgend eines Gegenstandes Wirklichkeit zu empfindenden Lust oder Unlust setzen«, 45 zum Prinzip der Selbstliebe bzw. Glückseligkeit gehören. Diese letzte Bestimmung stellt eine entscheidende Präzisierung innerhalb der an vielen anderen Stellen bloß allgemein als ›material‹ bezeichneten Strukturen dar und sollte stets mitgedacht werden, wenn Kant von einer begründungsbzw. bestimmungstheoretischen Insuffizienz materialer Gehalte in der Ethik spricht. Sie ist deswegen entscheidend, weil die Demarkationslinie zwischen moralisch zulässigen und unzulässigen Bestimmungsgründen de dictu zwischen Formalität und Materialität, de re (und damit meine ich auch und vor allem die konkreten Argumentationen im Kontext der SZF und der RZF sowie die axiologische Begründung der Ethik in der GMS) jedoch vielmehr zwischen moralischen und unmoralischen Inhalten verläuft, 46 wobei sich moralische Inhalte nach Kant dadurch auszeichnen, dass sie notwendigerweise und unmittelbar durch die reine praktische Vernunft generiert werden und somit auch über apriorische Geltung und universelle Verbindlichkeit für alle Vernunftwesen verfügen können. Der unbedingte Selbstzweck bzw. absolute Wert des Akteurs entspringt nicht irgendeiner Werterfahrung47 und damit auch keinem durch eine Anschauung mitkonstituierten Erlebnis, sondern gewinnt Gestalt durch die transzendentale RefleImperativs lässt sich eine materiale Bestimmung des Selbstzwecks jedoch kaum negieren. 45 S.: KpV AA V, S. 22. 46 Vgl. dazu: Herman 1993, S. 217. 47 Selbst wenn der Gehalt (der noematische Aspekt) einer solchen Werterfahrung dem Sittengesetz entsprechen würde, wäre dennoch der noetische Aspekt eines solchen Vorgangs defizient, da vor diesem Hintergrund allein der auch prozedurale Vernunftbezug die eingeforderte rationale Verlässlichkeit verbürgen kann. Das Sittengesetz muss selbst als »a priori gegründet und nothwendig eingesehen werden können«, was unter den Bedingungen von Erfahrungsurteilen unmöglich sei; s.: MS AA VI, S. 215. A

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xion auf die Bedingungen des moralisch qualifizierten Handelns, wobei die Tatsächlichkeit des letzteren durch das Faktum der Vernunft als sicher verbürgt begriffen wird. Zwischenfazit Kants Konzeption der moralischen Willensbestimmung kann vor dem Hintergrund der in dieser Untersuchung zugrundegelegten Definition einer deontischen Struktur durchaus insofern als deontisches Element bezeichnet werden, als sich auch durch eine materiale Bestimmung der obersten imperativischen Bestimmungsstruktur (des KI) grundsätzlich nichts an dem Umstand ändert, dass der Wille durch eine unbedingt gültige Sollensstruktur bestimmt wird. Vor allem die angesprochenen Passagen aus der KpV lassen sich hierfür ins Feld führen. Zugleich muss von Seiten des deontologischen Lagers berücksichtigt werden, dass in der MS eine konsequente Umformulierung sowohl des KI als auch der Pflichtstrukturen vorgenommen wird, bei welcher eindeutig Zweckbegriffe dominieren. Angesichts dieser Sachlage könnte man es als naheliegend ansehen, dass ein adäquates Verständnis der im Rahmen der Willensbestimmung adressierten Unmittelbarkeit nicht primär auf den vereinzelten Begriff der ›Pflicht‹ rekurrieren sollte, sondern sich umfassender auf die (zudem axiologisch konstitutive) Vernunft als Quelle unbedingter moralischer Forderungen berufen müsste, um auch der für Kant konstitutiven Idee der unmittelbaren Willensbestimmung durch Vernunftzwecke gerecht werden zu können. Die Akzeptanz dieser These würde jedoch ein vorheriges Verlassen der ethiktypologischen Reflexionsebene voraussetzen, da sie eine Antwort auf die Frage z. B. nach dem entweder rationalistischen oder empiristischen Charakter der kantischen Ethik und nicht derjenigen nach ihrem spezifischen Ethiktyp darstellt. Auch und gerade in der späten MS steht fest, dass der Wille stets auf Gesetze bzw. das Sittengesetz ausgerichtet ist und primär die Bestimmung der Willkür als zwischen Natur und Vernunft zu verortendem Vermögen das Moment der moralischen Selbstbestimmung ausmacht. Ein Vergleich der Modelle der Willensbestimmung von KpV und MS ergibt bei näherer Betrachtung kein Problem einer Doppelbestimmung des Willens einmal durchs Sittengesetz (KpV) und einmal durch Zwecke (MS), sondern der in der MS präsentierte oberste Satz der Tugendlehre stellt eine vernunftteleologische Variante des Kategorischen Imperativs und somit auch des Sittengesetzes dar. Diese deontologisch-vernunftteleologische 358

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Doppelstrategie als Artikulationsform unbedingter moralischer Sollensforderungen findet sich in nuce bereits in der GMS (s. SZF) und verweist auf eine Zusammengehörigkeit von vernünftigen Pflichten und Zwecken, nicht jedoch auf eine pauschale Verabschiedung der klassischen Interpretationsperspektive: Das für Kant maßgebliche Modell der Willensbestimmung besteht in dessen unmittelbarer Determination durch das Sittengesetz 48 und rechtfertigt unter Berücksichtigung sowohl der vernunftteleologischen Reflexionen der MS als auch der axiologischen Qualifizierung des Sittengesetzes (s. Kap. V.3.1.1.4) daher seine Einordnung als schwach-deontologisches Strukturmoment.

VI.3.2 Die Ableitung des höchsten Guts Die Idee des höchsten Guts stellt Kant zufolge eine synthetische Struktur dar, d. h. ihre beiden Elemente der Sittlichkeit und Glückseligkeit werden nach einem kausalen Modell verknüpft gedacht, wobei er zwar die Begierde nach Glückseligkeit als Ursache für sittliche Maximen ausschließt, die umgekehrte Variante – Sittlichkeit als Ursache für Glückseligkeit – jedoch insofern für möglich hält, als man einen moralischen Welturheber annimmt, der die Welt moralkompatibel geschaffen hat und somit die Möglichkeit der genannten Kausalrelation garantiert (vgl. dazu Kap. V.2.2.1 dieser Studie). In dieser Perspektive ist der Akteur nicht nur befugt, sich als gesetzgebendes Glied einer noumenalen Welt zu betrachten, sondern das Sittengesetz stellt darüber hinaus einen »rein intellectuellen Bestimmungsgrund meiner Causalität (in der Sinnenwelt)« 49 dar. Von diesem Faktum ausgehend und auf seine mögliche Bestimmung der Handlungen des Menschen in der SinnenDie kantische Identifikation der Idee des Sittengesetzes und der unbedingt werthaften Persönlichkeit in der RGV scheint mir auch hinsichtlich der diesbezüglich virulenten axiologischen Implikationen kein Argument gegen eine deontologische Klassifizierung der Willensbestimmung als solche darzustellen, da es sich hierbei um den Fall deontisch vermittelter Normativität handelt: Auch wenn man die Idee des Sittengesetzes als ursprüngliche Wertidee auffasst, resultiert auf der Ebene der sittengesetzlichen Willensbestimmung eine deontologische Argumentationsgestalt (allerdings nur in abgeschwächter Form). Komplexer stellt sich dagegen die in Kap. VIII noch genauer zu untersuchende Faktums- bzw. Achtungslehre dar, weil Wertbegriffe dort auch auf der Ebene der konkreten moralphilosophischen Motivationstheorie eine m. E. unmittelbar bzw. unvermittelt relevante Rolle spielen. 49 S.: KpV AA V, S. 115. 48

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welt verweisend, sei es »nicht unmöglich« 50 , dass eine sittliche Gesinnung die zwar nur mittelbare, durch die Annahme eines moralischen Gottes bedingte, aber dennoch notwendige Ursache für Glückseligkeit darstellen könne. Der hier in Anschlag gebrachte Grundgedanke stellt sich demnach in praktisch-geltungstheoretischer Sicht dergestalt dar, dass das Sittengesetz als praktisches Ableitungsfundament für die Idee des höchsten Guts dient. Aufgrund ihres unmittelbaren vernünftigen Gebotenseins sei die Beförderung des höchsten Guts in der kritischen Ethik 51 eine objektive Pflicht für jeden Akteur, welche ohne alle weiteren Zwecksetzungen gelte. Allerdings besteht, wie schon in V.2.2.1 erwähnt, nach einer einschlägigen Passage aus der KpV dem Wortlaut nach keine ein-, sondern eine wechselseitige Bestimmungsrelation zwischen Sittengesetz und höchstem Gut: Da […] die Beförderung des höchsten Guts, […], ein a priori nothwendiges Object unseres Willens ist und mit dem moralischen Gesetze unzertrennlich zusammenhängt, so muß die Unmöglichkeit des ersteren auch die Falschheit des zweiten beweisen. Ist also das höchste Gut nach praktischen Regeln unmöglich, so muß auch das moralische Gesetz, welches gebietet dasselbe zu befördern, phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch sein. 52

Die hier angesprochene Bedingungsrelation ist implizit wechselseitig, da die zu Beginn des Zitats angesprochene apriorische Notwendigkeit 53 der Beförderung des höchsten Guts von der unbedingten Geltung des Sittengesetzes abhängt. Daher ist die hervorgehobene Bedingung der praktischen Wahrheit des Sittengesetzes durch die Möglichkeit des höchsten Guts als Explikation des praktisch-teleologischen Verwirklichungshorizonts des Sittengesetzes selbst zu rekonstruieren: Die moS.: KpV AA V, S. 115. Dies stellt sich in der theoretischen Philosophie wohlgemerkt noch anders dar: In der KrV fungiert das höchste Gut, obzwar schon als vernünftige Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit gedacht, nicht als Objekt sittlicher Verpflichtung, sondern als Element einer zu erhoffenden Welt; vgl.: KrV B 832 ff.; vgl.: Milz 2002, S. 100. 52 S.: KpV AA V, S. 114. 53 Wenn Kant mit der Beförderung des höchsten Guts zuerst eine Handlungsweise als apriori notwendiges Objekt des Willens skizziert, dann wenig später lediglich vom höchsten Gut spricht, bedeutet dies keine interne Inkonsistenz oder Ähnliches. Das höchste Gut als Glückswürdigkeit ist zwar ein Zustand, doch impliziert er Aktivität zu seiner Aufrechterhaltung. 50 51

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ralisch (nach praktischen Regeln) gebotenen Handlungsweisen und -zwecke können nach Kant apriori nicht unmöglich sein, da sie andernfalls schlichtweg praktisch sinnlos wären. Die Möglichkeit einer Sinnlosigkeit des sittengesetzlich Geforderten ist jedoch immer schon durch die in der Faktumslehre dargelegte Selbstevidenz der Verbindlichkeit des Moralgesetzes für den rationalen Akteur ausgeschlossen. 54 Bei diesem Zitat handelt es sich streng genommen nicht um eine Argumentation für eine spezifische These, sondern Kants Ausführung stellt vielmehr einen generellen Kontext für seine moralphilosophischen Argumentationen dar, die ohne die Verwirklichungsmöglichkeit des Moralgesetzes keine Überzeugungskraft besäße. Abgesehen von der Frage, ob die soeben thematisierte Relation von Sittengesetz und höchstem Gut überhaupt als Ausdruck einer spezifischen Argumentationsstrategie verstanden werden sollte, handelt es sich nicht um eine konsequentialistische Beziehung beider Elemente zueinander und daher genauso wenig um eine Relativierung sittengesetzlicher Verbindlichkeit. Das höchste Gut fungiere sowohl als Bestimmungsgrund des Willens 55 als auch als rationales Objekt der praktischen Vernunft. Dies könnte in ethiktypologischer Hinsicht für Verwirrung sorgen, da eine unmittelbare Bestimmung des Willens durchs Gesetz traditionell als deontisches, eine moralisch vorgeschriebene Hinordnung auf ein zu verwirklichendes Objekt dagegen als teleologisches Moment gedeutet werden müsste. Handelt es sich also beim höchsten Gut um eine in sich widersprüchliche Struktur, da ihr deontische wie auch teleologische Eigenschaften zugeschrieben werden? Dies wäre sicherlich eine verzerrte Sicht der Dinge, da ihr eine unangemessene Relationsbestimmung von Sittengesetz und höchstem Gut zugrunde liegt. Letztlich stellt Kant mit der Annahme der Idee des höchsten Guts keine immanent exotische These auf, sondern das höchste Gut ist nichts anderes als die begriffliche Fixierung der Koexistenz der unbedingten moralischen Sollensforderung des Sittengesetzes und des natürlich implementierten Glücksstrebens im Rahmen der menschlichen Existenz. Nach Kant ist entscheidend, dass die Beförderung des höchsten Guts praktisch nieDie Geltung des Sittengesetzes kann in kantischem Verständnis nicht von einem praktisch-außermoralischen (z. B. rein emotionalen) Standpunkt, aber ebenso wenig aus theoretischer Perspektive sinnvoll bestritten oder gar widerlegt werden. Der Verweis auf prinzipiell nicht bewirkbare, jedoch gebotene Folgen der Gesetzbefolgung wäre allerdings theoretischer Natur. 55 Vgl.: KpV AA V, S. 109 f. 54

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mals etwas anderes impliziert als die Befolgung des Sittengesetzes als solches. Zwischenfazit Insgesamt muss hinsichtlich der Ableitung des höchsten Guts zur Kenntnis genommen werden, dass mit dem menschlichen Glücksstreben eine naturteleologische Komponente berücksichtigt wird, welche in diesem Fall speziell der menschlichen Seinsweise zugeschrieben wird. Da daraus jedoch keine geltungsmodale Modifikation des Sittengesetzes resultiert, weil die Kategorizität des Sittengesetzes davon nicht tangiert wird, ergibt sich aus der Strukturanalyse der Ableitung des höchsten Guts keine Argumentation für eine primär teleologische oder konsequentialistische Deutung, sondern der Interpret der kantischen Ethik ist vielmehr wieder auf das Basisproblem einer ethiktypologischen Klassifikation der Willensbestimmung durchs Sittengesetz verwiesen, welche einen schwach-deontologischen Charakter aufweist. Allgemein lassen sich demnach vier typologisch unterschiedliche Momente ausmachen: 1. Die Konstituierung (Ableitung) des höchsten Guts ist schwach-deontologisch, da diese Idee unmittelbar vom Sittengesetz ausgeht. 2. Die Funktion dieses Konzepts ist vernunftteleologisch, weil es als Objekt der reinen praktischen Vernunft und als exponierter Zweck vernünftigen Handelns fungiert. 3. Als objektive Pflicht stellt die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts ein deontisches Element dar. 4. Die Glückseligkeit stellt als dem Menschsein eigener Naturzweck ein naturteleologisches Moment dar. Indem das höchste Gut zum einen deontologisch prinzipiiert wird und seine Beförderung eine objektive Pflicht ist, zum anderen jedoch eine teleologische Funktion innehat und ein naturteleologisches Element umfasst, stellt es neben dem Selbstzweckkonzept das typologisch vielschichtigste Element der kantischen Ethik dar. An dieser Stelle bleibt speziell in argumentationsrekonstruktiver Hinsicht festzuhalten, dass es trotz seiner teleologischen Funktion deontologisch bestimmt und gerechtfertigt wird. 56 Vor dem Hintergrund der in Kapitel V.3.1.1.4 Der Tatsache der vernunftteleologischen Funktion des höchsten Guts wird in vorliegender Studie dadurch Rechnung getragen, dass dieses Konzept im Abschnitt der teleologischen Begriffe behandelt wird, während die kantische Argumentation für die Not-

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aufgedeckten axiologischen Implikationen des Sittengesetzes und in Entsprechung zum Resultat der Paradoxon-Analyse muss allerdings auch hier berücksichtigt werden, dass eine der D-These gemäße, demnach antiaxiologische Auffassung der Ableitungsgrundlage des höchsten Guts von Kant her nicht belegbar und somit insgesamt eine schwach-deontologische Klassifikation adäquat ist.

VI.3.3Die Funktion der praktischen Vernunft Nach der Vorrede zur GMS beginnt Kant in GMS I gleich nach der ersten Charakterisierung des guten Willens mit einem nur schwer zugänglichen 57 Abschnitt über die Funktion der praktischen Vernunft, wobei der systematische Übergang von gutem Willen zur praktischen Vernunft mittels einer auf naturteleologische Überlegungen Bezug nehmenden Frage bewerkstelligt wird: Es könnte ja der Fall sein, dass zwar der absolute Wert des guten Willens unbezweifelbar sei, der tiefere Zweck dieses vernunftgeleiteten Willens und der praktischen Vernunft als solcher, den die Natur mit ihrer Implementierung in die menschliche Natur verfolgte, dennoch verkannt würde. 58 Die darauf folgenden Reflexionen leitet Kant mit einer Aussage ein, die nicht nur für diesen eingeschränkten Rahmen der GMS für ein Verständnis seiner Naturauffassung von Bedeutung ist: 59 In den Naturanlagen eines organisirten, d. i. zweckmäßig zum Leben eingerichteten, Wesens nehmen wir es als Grundsatz an, daß kein Werkzeug zu irgendeinem Zwecke in demselben angetroffen werde, als was auch zu demselben das schicklichste und ihm am meisten angemessen ist. 60

Alles in der Natur habe demnach einen Zweck, und dementsprechend sei es zulässig, auch über alle besonderen Naturgaben zu mutmaßen,

wendigkeit der Annahme des höchsten Guts nicht selbst primär auf einen Zweck, sondern das Sittengesetz bezogen ist. 57 Vgl. zu den interpretatorischen Schwierigkeiten dieser Passage: Horn 2006, insbes. S. 45 ff. 58 Vgl.: GMS AA IV, S. 394 f. 59 Dies steht nicht im Widerspruch zur Aussage von Schönecker und Wood, dass diese Prämisse innerhalb der GMS keine weitere systematisch tragende Funktion besitze; vgl.: Schönecker/Wood 2002, S. 52. 60 S.: GMS AA IV, S. 395. A

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welchem Zweck sie wohl dienlich sein könnten. 61 Da der naturgegebene Instinkt den Menschen weitaus zielsicherer zu seinem physischen Glück führen könne als die Vernunft, scheide die Beförderung der Glückseligkeit als Zweck der Vernunft eindeutig aus. 62 Da nun die Vernunft nicht der Glückssuche dienlich sei, gleichwohl aber uns Vernunft als praktisches Vermögen, d. i. als ein solches, das Einfluß auf den Willen haben soll, dennoch zugetheilt ist: so muß die wahre Bestimmung derselben sein, einen nicht etwa in anderer Absicht als Mittel, sondern an sich selbst guten Willen hervorzubringen, wozu schlechterdings Vernunft nöthig war, wo anders die Natur überall in Austheilung ihrer Anlagen zweckmäßig zu Werke gegangen ist. 63

Während also im ganzen übrigen Bereich der Natur diese selbst die spezifische Zweckmäßigkeit aller Naturdinge und natürlichen Werkzeuge bestimme, könne man den Zweck der (praktischen) Vernunft Diese Annahme der teleologischen Beschaffenheit der organismischen Natur findet sich bei Kant z. B. auch in: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht AA VIII, S. 18, zit. Idee AA VIII; vgl. dazu: Horn 2006, S. 51. In dieser Schrift kann vor allem die Rede von gezielten Aktivitäten der Natur zur Erreichung eines bestimmten Zwecks verwundern; vgl. z. B. die These, dass die Natur den Menschen durch Kriege zum Übergang vom gesetzlosen Zustand in einen Völkerbund treibe: Idee AA VIII, S. 24. Auch in der Friedensschrift spricht Kant z. B. davon, dass die Natur die Bevölkerung der Erde durch den Menschen über den Weg kriegerischer Auseinandersetzungen bewerkstelligt habe; vgl.: Zum ewigen Frieden AA VIII, S. 364. Vgl. zu den naturteleologischen Prämissen in beiden genannten Schriften: Meinhardt 2004, S. 287 ff. 62 Der von Johnson konstatierte Widerspruch zwischen den kantischen Charakterisierungen des Glücks als frei gesetzter Handlungszweck (MS AA VI, S. 385) und als notwendig aus der menschlichen Natur resultierender Zweck (MS AA VI, S. 388) kann durch die Annahme der Primärrelevanz der ersten Aussage entschärft werden: Zwar mag der Impuls zur Glückssuche eine natürliche Anlage des Menschen darstellen, doch kann man nach Kant streng genommen nicht von einem tatsächlich unvermeidbaren Eingehen des Menschen auf diesen Impuls sprechen, da dies eine Form des Naturdeterminismus wäre. Insofern man die Glücksorientierung wie z. B. auch den offenbar biologisch angelegten Drang zur regelmäßigen Nahrungsaufnahme nicht als besonderen Zweck, sondern eher als empirische Rahmenbedingung der endlichen Existenz versteht, zu der man sich frei verhalten kann, scheint es mir gegen Johnson nicht notwendig zu sein, hierin einen manifesten Widerspruch zu sehen; vgl. Johnson 2002, S. 317 f. Dennoch kann man nicht bestreiten, dass Johnson mit der Koexistenz von freier Zwecksetzung und anthropologisch begründeter Naturteleologie einen nicht nur typologisch relevanten, sondern allgemein näherer Klärung bedürftigen Aspekt der kantischen Ethik anspricht. 63 S.: GMS AA IV, S. 396. 61

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nicht durch einen Rekurs auf natürliche Gegebenheiten, sondern allein mittels der Vernunft selbst ermitteln – allerdings immer noch vor dem Hintergrund der zitierten naturteleologischen Grundauffassung. Indem Kant den guten Willen zu Beginn der GMS als absolut wertvoll und unbedingt schätzenswert einführt, ergibt sich die Zuständigkeit der Vernunft für die eigene Zweckbestimmung insofern notwendig, als nichts Nicht-Vernünftiges Selbstzweck sein bzw. Würde besitzen und der Vernunft ihr eigener Selbstzweck nicht von der Natur gegeben oder vorgeschrieben werden kann. Es bestehe ein substantieller Unterschied zur natürlichen Empfindung des Glücks, weil die Vernunft, die ihre höchste praktische Bestimmung in der Gründung eines guten Willens erkennt, bei Erreichung dieser Absicht nur einer Zufriedenheit nach ihrer eigenen Art, nämlich aus der Erfüllung eines Zwecks, den wiederum nur Vernunft bestimmt, fähig ist, sollte dieses auch mit manchem Abbruch, der den Zwecken der Neigung geschieht, verbunden sein. 64

Der Zweck der praktischen Vernunft muss diesen Ausführungen zufolge in der Etablierung eines guten Willens gesehen werden, wobei dieser Sachverhalt durch die Vernunft selbst und nicht durch naturteleologische Reflexionen einsichtig gemacht werden soll. Es scheint mir daher verkürzt zu sein, diese Passage einfach unter der Kategorie der abermaligen naturteleologischen Argumentation 65 abzuhandeln, da es sich de facto um zwei zwar verbundene, nicht aber identische oder logisch zusammenhängende Argumentationsmuster handelt: Genuin und explizit (natur-)teleologisch argumentiert Kant nur für die Thesen, dass 1. die Vernunft einen Zweck besitzen müsse 66 und 2. dieser Zweck der praktischen Vernunft nicht in der Glücksbeschaffung und seiner Sicherung bzw. Bewahrung liegen könne, 67 doch dass er in der Gründung eines guten Willens liegen müsse, wird unter Rekurs auf das schon vorher vorgestellte Konzept des guten Willens und somit mit systematischem Bezug auf rein vernünftige Reflexionen behauptet. 68 S.: GMS AA IV, S. 396. Vgl. die entsprechenden Passagen bei Schönecker und Wood in: Schönecker/Wood 2002, S. 52. 66 Vgl. zur hier bestehenden Beziehung zum stoischen Weltbild: Horn 2006, S. 53. 67 Naturteleologisch ist diese Argumentation insofern, als hier von einer natürlich eingerichteten Optimierungsstrategie ausgegangen wird. 68 Dabei vorausgesetzt wird zwar offenbar die zusätzliche Annahme, dass der Zweck der Vernunft entweder in der Herstellung von Glück oder eines guten Willens zu suchen sei, doch ist dies ethiktypologisch nicht relevant, sondern kann vielmehr als Ausdruck 64 65

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Zwischenfazit Es fällt nicht ganz leicht, die Struktur des Arguments für den Zweck der praktischen Vernunft über das bisher Gesagte hinaus zu bestimmen, da Kant an dieser Stelle der GMS keine weiteren diesbezüglichen Überlegungen anstellt, sondern den Zweck des guten Willens letztlich einfach konstatiert, ohne ihn explizit in eine systematisch nachvollziehbare Verbindung zur Naturteleologie zu stellen. Hier ist man noch mehr als bei der Rekonstruktion anderer Argumente auf die direkte Berücksichtigung der allgemeinen moralphilosophischen Systematik Kants verwiesen. Vor diesem Hintergrund legt sich der Schluss nahe, dass der naturteleologische Zugang zur allgemeinen Zweckmäßigkeit der praktischen Vernunft im Vergleich mit der auch in genetischer Hinsicht vernünftigen Konstatierung des guten Willens als Bestimmung der Vernunft nur als typologisch untergeordnet relevant beurteilt werden kann, wenn man nicht eine tatsächlich naturalistische und somit kaum plausible Kant-Rekonstruktion verteidigen will. Daher gilt: Die Naturteleologie gewinnt nur aus der Perspektive der ihr praktisch vorgeordneten Vernunftteleologie des Vernunftwesens einen mit anderen ethiktheoretischen Hauptaussagen Kants kompatiblen Sinn und ist nicht als konstitutives, sondern allein regulatives Argumentationsmoment aufzufassen. 69

VI.4 Die Ableitung von Pflichten Der Terminus der ›Pflichtbestimmung‹ steht im partiellen Unterschied zur Willensbestimmung nicht nur für den Akt der Festlegung von Pflichten, sondern darüber hinaus für den Prozess ihrer Ableitung vom Kategorischen Imperativ. Zwar werden die jeweiligen Pflichten in letztgenanntem Prozess auch inhaltlich festgelegt, doch impliziert das Konzept der direkten Ableitung aus einem übergeordneten Prinzip zudem einen expliziten Rekurs auf den ihnen unmittelbar zugrundeliegenden Geltungsgrund. Dieser wurde bei der Frage nach der ethikeiner grundsätzlicheren kantischen Differenzierung der Welt und der durch sie gewährten Handlungsmöglichkeiten in natürliche (naturgesetzlich bestimmte) und somit auf Glück hingeordnete und vernünftige (sittengesetzlich bestimmte) und daher auf Moralität abzielende Ausdrucksbereiche menschlichen Daseins verstanden werden. 69 Vgl.: Horn 2006, S. 65; vgl. dazu auch Kants explizite Überordnung des homo noumenon gegenüber der Naturteleologie in der dritten Kritik: KU AA V, S. 435 f.

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typologischen Struktur der Willensbestimmung insofern nicht thematisch, als der Wille als exponierte Form praktischer Vernunft nicht auf einen ihn bedingenden Geltungsgrund verweist, sondern vielmehr selbst praktische Geltungsansprüche fundieren soll. 70 Ebenso wie der Kategorische Imperativ wird die praktische Autorität der Pflichten oft als untrügliches Anzeichen für eine eindeutig deontologische Struktur dieser Moralphilosophie gewertet. 71 Im Mittelpunkt des Interesses stehen dabei naheliegenderweise nicht die juridischen (äußeren), sondern die genuin ethischen (inneren) Pflichten. Kategorischer Imperativ und Pflicht müssen dabei als auf struktureller Ebene eng verbunden angesehen werden, da sich die praktische Normativität der Pflichten der unbedingten Nötigung des endlichen Vernunftwesens durch den KI verdankt. Im Hinblick auf letzteren wird Kant bis in die Zeit seiner Spätwerke hinein nicht müde zu betonen, dass der Vernunftimperativ ohne Berücksichtigung von Zwecken gebietet. 72 Die Idee der Pflicht stellt seines Erachtens unter praktisch-geltungstheoretischer Perspektive genau genommen nichts grundlegend Verschiedenes vom KI dar, sondern vielmehr diejenige Struktur, in welcher der empirisch gesättigte Handlungsbezug des moralisch-praktischen Gesetzes konkrete Gestalt gewinnt: »Pflicht ist diejenige Handlung, zu welcher jemand verbunden ist. Sie ist also die Materie der Verbindlichkeit, und es kann einerlei Pflicht (der Handlung nach) sein, ob wir zwar auf verschiedene Art dazu verbunden werden können.« 73 »Der Wille ist […] das Begehrungsvermögen, nicht sowohl (wie die Willkür) in Beziehung auf Handlung, als vielmehr auf den Bestimmungsgrund der Willkür zur Handlung betrachtet, und hat selber vor sich eigentlich keinen Bestimmungsgrund, sondern ist, sofern sie die Willkür bestimmen kann, die praktische Vernunft selbst.« S.: MS AA VI, S. 213. 71 Vgl.: Lenk 1998, S. 34; Ott 2001, S. 78; Düsing 2005, S. 16. 72 »Der kategorische (unbedingte) Imperativ ist derjenige, welcher nicht etwa mittelbar, durch die Vorstellung eines Zwecks, der durch die Handlung erreicht werden könne, sondern der sie durch die bloße Vorstellung dieser Handlung selbst (ihrer Form), also unmittelbar als objectiv=nothwendig denkt und nothwendig macht; dergleichen Imperativen keine andere praktische Lehre als allein die, welche Verbindlichkeit vorschreibt (die der Sitten), zum Beispiele aufstellen kann.« S.: MS AA VI, S. 222. Dieses Zitat aus der MS verdeutlicht unmissverständlich, wie sehr Kant auch in demjenigen Werk, in welchem er die z. B. von Wood als eindeutig teleologisch klassifizierte Tugendlehre bzw. Lehre von den Tugendpflichten entwickelt und zudem die Moralphilosophie als ein ›System der Zwecke‹ beschreibt, auf der Idee einer Sittlichkeitslehre als einer Lehre der reinen und strengen, d. h. unmittelbaren Verbindlichkeit beharrt. 73 S.: MS AA VI, S. 222. 70

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Sowohl ›Pflicht‹ als auch ›Verbindlichkeit‹ seien Begriffe, »welche die objective praktische Nothwendigkeit gewisser Handlungen ausdrücken« 74 , wobei die benannte objektive praktische Notwendigkeit Konsistenz, d. h. Widerspruchsfreiheit der Pflichten garantieren soll. 75 Die Pflichten müssen insofern als deontisches Moment eingeordnet werden, als ihre praktische Verbindlichkeit ohne jeden unmittelbaren Zweckbezug und ohne die Erwägungen von Handlungsfolgen Bestand hat. Dagegen könnte eingewendet werden, dass bei primärer Betrachtung der SZF sehr wohl eine zweckbestimmte Ableitung der Pflicht vorliege, doch die Ableitung der Pflichten ist auf der einen Seite in demjenigen Sinne nicht durch Zweckvorstellungen bedingt, als es dazu keiner über den KI hinausgehenden Zwecke bedarf, auf der anderen Seite stellt der Selbstzweck der Menschheit einen sehr spezifischen Zweck dar, welcher nicht ohne Weiteres als Anfechtung einer deontologischen (wohl jedoch einer rein formalen oder streng deontologischen) Klassifikation geltend gemacht werden kann. Die grundsätzliche Idee Kants besteht darin, dass die Pflichten unmittelbar von ihrem Prinzip, d. h. dem Kategorischen Imperativ, abgeleitet werden müssen 76 und die strenge, uneingeschränkte und unbedingte Normativität des Vernunftimperativs bruchlos und durch keine zwischengeschalteten, nicht-vernünftigen Elemente abgeschwächt an die konkreten Pflichtbestimmungen ›weitergegeben‹ wird. Zwar könne moralisches Handeln z. B. im Rahmen des Eudaimonismus auch mit der Erwartung von Glück verbunden sein, doch müsse der Akteur bei einer wirklich moralischen Handlung von allen möglichen Folgen dieser Handlung absehen und allein die Pflicht als ihre Triebfeder zulassen. In der Diskussion um den kantischen Ethiktyp sind immer wieder diejenigen Beispiele analysiert worden, anhand derer in der GMS verdeutlicht werden soll, was unter inhaltlich bestimmten Pflichten zu verstehen ist und inwiefern diese auf das oberste praktische Gesetz zuS.: MS AA VI, S. 224. Dagegen sei es sehr wohl möglich, dass sich in einem durch Leidenschaften und Gefühle bestimmten Willen widersprechende Maximen finden ließen; vgl.: KpV AA V, S. 19. Hare weist dagegen auf die Möglichkeit hin, dass auch sich widersprechende Präskriptionen mit universellem Anspruch denkbar seien; vgl. Hare 1981, S. 178 f.; vgl. dazu ebenfalls die diesbezüglichen Bedenken von Aune, in: Aune 1979, S. 195 ff.; vgl. zur Differenzierung von faktischen Widersprüchen und divergierenden Interessen der Vernunft: French 1969, S. 377. 76 Vgl.: GMS AA IV, S. 421. 74 75

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rückzuführen sind. Diese Beispiele werden im Folgenden keineswegs erschöpfend, sondern allein im Hinblick auf ihre ethiktypologisch relevante Struktur analysiert.

VI.4.1 Selbstmord aus Lebensmüdigkeit Bei dem Beispiel des Selbstmords aus Lebensmüdigkeit kann Kants Kernargument folgendermaßen rekonstruiert werden: Wenn sich ein Akteur aufgrund einer durch bestimmte Lebensumstände bzw. Widerfahrnisse verursachten Hoffnungslosigkeit 77 dazu genötigt fühle, seinem Leben ein Ende zu setzen, müsse er zu dem Schluss kommen, dass dieser Selbstmord aus der genannten Motivation (den Antrieben der Selbstliebe) insofern moralisch unzulässig sei, als diese Handlung der Selbsttötung im Widerspruch zur ureigenen Funktion dieser Selbstliebe stehen würde, welche darin bestehe, das Leben zu befördern und zu erhalten. 78 Kant betrachtet den der Selbstliebe zugeschriebenen Konflikt demnach in implizitem Anschluss an die Ausführungen des Aristoteles zu den Bedingungen eines Widerspruchs: Falls ein solcher Selbstmord moralisch zulässig wäre, kämen der Selbstliebe in ein und derselben Hinsicht (unter dem Aspekt der Funktion für das Leben) gerechtfertigterweise einander entgegengesetzte Prädikationen (dem Leben förderlich und nicht förderlich zu sein) zugleich zu. Vor dem Hintergrund der NF resultiert, dass eine Maxime, sein Leben aus Lebensüberdruss selbst zu beenden, unmöglich zu einem Naturgesetz erhoben werden könne und somit unmoralisch sei. An dieser Stelle endet Kants Erläuterung dieses Beispiels, ohne dass über die Konstatierung des genannten Widerspruchs hinaus eine positive Pflichtbestimmung vollzogen wurde. Das Resultat dieser Reflexionen aus der GMS besteht streng genommen nur in der Erkenntnis, dass Selbstmord aus Lebensmüdigkeit moralisch unzulässig ist. Bei einer Hinterfragung der Bedingungen für das Zustandekommen des skizzierten Widerspruchs wird schnell deutlich, dass diese nicht nur akzidentell, sondern in entscheidender Weise naturteleologischen Charakters sind: Die der Selbstliebe zugeschriebenen Prädikationen stehen allein deswegen im WiderDiese Hoffnungslosigkeit besteht genauer in der Erwartung einer Dominanz unangenehmer Erlebnisse bzw. Empfindungen für den weiteren Fortgang des eigenen Lebens. 78 Vgl.: GMS AA IV, S. 421 f. 77

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spruch zueinander, weil Kant von der empirischen Prämisse der Lebensdienlichkeit der Selbstliebe ausgeht. 79 Falls man dies so interpretiert, dass sich aus der Widersprüchlichkeit und somit der moralischen Unzulässigkeit der Selbstmord-Maxime die Pflicht zur Lebenserhaltung ergeben soll, kann von einer deontologischen Argumentation für diese Pflicht keine Rede sein, da sie an dieser Stelle nicht direkt aus dem KI folgt, sondern nur unter der Voraussetzung einer naturteleologischen These resultiert. Darüber hinaus muss man mit Schönecker und Wood konstatieren, dass dieser Widerspruch logisch vollkommen unabhängig von der vorgenommenen Universalisierungsprozedur entsteht, da der problematische (da immanent widersprüchliche) Naturgesetz-Status der entsprechenden Maxime nicht aufgrund des Generalisierungsexperiments, sondern allein der teleologischen Prämisse zustande kommt. 80 Sowohl das Verbot des Selbstmords als auch die (an dieser Stelle im Text nicht explizit genannte) Pflicht der Erhaltung des eigenen Lebens setzen in der GMS eindeutig eine naturteleologische Struktur voraus. Allerdings ist dies nicht das letzte Wort zur Frage der Rationalität der Pflicht der Selbsterhaltung des moralischen Akteurs, denn in der MS greift Kant dieses Thema im Rahmen der Erörterung der Pflichten gegen sich selbst erneut und unter Rekurs auf eine andere Argumentationsstruktur wieder auf. Er argumentiert dort nicht vor dem Hintergrund einer vorausgesetzten Naturteleologie, sondern führt die Selbstzweckhaftigkeit der Person als normativen Maßstab an: Der Persönlichkeit kann der Mensch sich nicht entäußern, so lange von Pflichten die Rede ist, folglich so lange er lebt, und es ist ein Widerspruch, die Befugniß zu haben, sich aller Verbindlichkeit zu entziehen, d. i. frei so zu handeln, als ob es zu dieser Handlung gar keiner Befugniß bedürfte. Das Subject der Sittlichkeit in seiner eigenen Person zernichten, ist eben so viel, als die Sittlichkeit selbst ihrer Existenz nach, so viel an ihm ist, aus der Welt vertilgen, welche doch Zweck an sich selbst ist; mithin über sich als bloßes Mittel zu ihm beliebigen Zweck zu disponiren, heißt die Menschheit in seiner Daher wird nicht unmittelbar deutlich, warum Schwemmer die Begründung des Selbstmordsverbots für kaum rekonstruierbar hält; vgl.: Schwemmer 1971, S. 146. Diese Aussage ist nur nachvollziehbar, wenn man Schwemmer die These unterstellt, dass Kant kein rein vernünftiges, sondern eben ein nur naturteleologisches Argument anbiete. Selbst dann muss man das Argument als rekonstruierbar, wenn auch nicht als überzeugend bezeichnen. 80 Vgl.: Schönecker/Wood 2002, S. 130 ff.; vgl. ebenso: Wimmer 1980, S. 340 ff. 79

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Person (homo noumenon) abwürdigen, der doch der Mensch (homo phaenomenon) zur Erhaltung anvertrauet war. 81

Man sieht recht deutlich, worin sich beide Herangehensweisen an das Selbstmord-Problem unterscheiden: In der MS existiert keinerlei Bezug mehr auf die Empfindung der Selbstliebe, weshalb auch keine diesbezügliche (und auch keine andere) naturteleologische Prämisse systematische Relevanz besitzt. 82 Während in der GMS eine externe Inkonsistenz der Maxime behauptet wird – sie ist nicht unmittelbar selbstwidersprüchlich, sondern nur in Bezug auf eine kontingente, da empirische Prämisse –, scheint Kant in der MS auf den Punkt abzuzielen, dass willentlicher Selbstmord schon streng person- und vernunftintern zu einem manifesten Widerspruch bzw. Selbstwiderspruch führen muss. Hier wird wieder (zumindest implizit) Kants bereits erwähnte Überzeugung von der internen Konsistenz objektiv-praktischer Notwendigkeit virulent: Die willentliche Selbstauslöschung eines Vernunftwesens bedeute die Vernichtung eines freien Lebewesens, das ein Zweck an sich selbst ist. Da für die Beurteilung einer Handlung unter moralischen Gesichtspunkten notwendigerweise vorausgesetzt werden muss, dass sie aus praktischer Freiheit geschehen ist, würde die Selbsttötung eines freien Wesens nichts anderes bedeuten als die Inanspruchnahme der Möglichkeit der freien Selbstbestimmung zum Zwecke ihrer totalen Negation, nämlich der Auslöschung der Freiheit und somit der Sittlichkeit selbst. Der Akt des Selbstmords bedeutet in dieser Perspektive demnach nichts anderes als eine zukünftige Selbstverunmöglichung der Freiheitsausübung unter notwendigem Rekurs auf das Vermögen der freien Handlung. Den aus dem Selbstmord resultierenden Widerspruch kann man daher auch als werttheoretischen Selbstwiderspruch rekonstruieren: Einerseits muss der moralische Akteur seine Fähigkeit zur Wert- und Zwecksetzung (die praktische Freiheit) wertschätzen und als maßgeblich ansehen, um sich umzubringen, da er durch diese Handlung implizit seine Wertschätzung für diese seine Entscheidung ausdrückt – niemand kann nach Kant von einem anderen Wesen zur Setzung eines

S.: MS AA VI, S. 422 f. Dies kann verwundern, wenn man die MS als das exponierte Werk zur Frage der Anwendung moralischer Prinzipien auf die menschliche, durch alltagsteleologisches oder sogar -konsequentialistisches Denken geprägte Lebenswirklichkeit ansieht.

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Zwecks oder Anerkennung eines Werts 83 gezwungen werden; andererseits nimmt sich der Selbstmörder durch seine Tat die Möglichkeit, auch in Zukunft seine Wertschätzung für sich, andere Vernunftwesen und allgemein für die Idee der Freiheit und Sittlichkeit auszudrücken und somit seinem eigentlichen Selbst zu entsprechen. Daher widerspricht sich der in der Handlung des Selbstmordes zum Ausdruck kommende Wertsetzungsvollzug gewissermaßen selbst, da er zwar einen affirmativen Akt darstellt – weshalb sollte der Akteur seinen Wertentscheidungen sonst so viel Beachtung schenken, dass er dementsprechend handelt? –, jedoch zugleich negativ auf sich selbst bezogen ist. Sogar im Selbstmord erkennt sich das Vernunftwesen als freies und moralisches Wesen implizit an, es verfehlt allerdings seine vernünftige Bestimmung, indem es sein wahres, intelligibles Selbst und dessen in der kontingenten Endlichkeit der empirischen Welt bewahrenswerte Würde verkennt. Wenn man diese wertorientierte Interpretation des Selbsttötungsverbots akzeptiert, stellt sich die diesbezügliche Argumentationsform nicht als naturteleologische, sondern vielmehr als axiologische dar. Nicht der Verweis auf eine Naturteleologie, wohl jedoch auf ein praktisch unhintergehbares sowie apriorisches Wertkonzept stellt dann den begründungstheoretischen Kern des SelbstmordBeispiels dar. Um die Analyse des ersten Beispiels zu beschließen, soll in der gebotenen Kürze auf den letzten Teil des zitierten Arguments aus der MS reflektiert werden: Der Mensch würde sich durch den Suizid selbst auf eine unzulässige, da an beliebigen Zwecken ausgerichtete Weise instrumentalisieren und damit seine ursprüngliche Würde negieren. Auch dieser Teil der Argumentation deutet auf die Plausibilität einer axiologischen Lesart hin: Indem der Mensch sich in seinem Handeln Eigentlich müsste man sich dieser Thematik in Form einer Frage annähern, da sich Kant speziell zur Wertfrage nicht explizit geäußert hat: Kann man zur Anerkennung eines Werts gezwungen werden? Allerdings dürfte die Antwort trotz des erwähnten Mangels an deutlichen Ausführungen Kants zu dieser Thematik seriös zu beantworten sein, da die Fähigkeit zur Wertsetzung seines Erachtens offenbar ebenso einen Gegenstand moralischer Beurteilung darstellt wie die Wahl der Zwecke und alles unter moralischen Gesichtspunkten Beurteilbare praktische Freiheit und moralische Verantwortlichkeit voraussetzt. Demnach scheint er davon ausgegangen zu sein, dass nicht nur Zwecke, sondern ebenso Werte allein aus freier und autonomer Willensbestimmung gesetzt und anerkannt werden können, da die subjektiven Einstellungen zu Werten sowie deren Setzung innere und keine äußere (und damit durch einen Fremden erzwingbare) Handlungen sind.

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nicht als Selbstzweck sieht, sich daher nicht unbedingt wertschätzt und somit nicht seiner Würde angemessen (aus genuin moralischen Motiven) handelt, drückt er in der freien Konfiguration der Bestimmungsgründe seines Willens nicht den absoluten moralischen Wert aus, welcher ihm jedoch unabhängig von seinen konkreten Handlungen qua Vernunftwesen immer schon zukommt. 84

VI.4.2 Nicht-Einhalten von Versprechen Das zweite Beispiel 85 kann wie folgt zusammengefasst werden: Wenn sich jemand nur unter der Bedingung der bewussten Vortäuschung künftiger Rückzahlungsfähigkeit eine bestimmte Summe Geld borgen kann und dies trotz besseren Wissens tut, handele er unmoralisch, da sich bei der Verallgemeinerung der dieser Handlung zugrundeliegenden Maxime folgendes Problem ergebe: […] die Allgemeinheit eines Gesetzes, daß jeder, nachdem er in Noth zu sein glaubt, versprechen könne, was ihm einfällt, mit dem Vorsatz, es nicht zu halten, würde das Versprechen und den Zweck, den man damit haben mag, selbst unmöglich machen, indem niemand glauben würde, daß ihm was versprochen sei, sondern über alle solche Äußerungen als eitles Vorgeben lachen würde. 86

Am Ende der entsprechenden Passage konstatiert Kant, dass der homo phaenomenon dem homo noumenon »zur Erhaltung anvertrauet« wurde; s.: MS AA VI, S. 423. Diese Aussage ist nun wieder in gewissem Sinne naturteleologisch rekonstruierbar: Der intelligible Aspekt des Vernunftwesens habe, zumindest unter anderem, den Zweck, für die Bewahrung des sinnlichen Aspekts zu sorgen. Doch auch unter der Voraussetzung der Angemessenheit dieser Lesart wäre es widersinnig, die Erhaltung des physischen Aspekts des Vernunftwesens als Zweck des homo noumenon im emphatischen Sinne zu deuten, da letztlich unstrittig sein dürfte, dass Kant grundsätzlich von der Bedingtheit des Werts der Erhaltung des menschlichen Körpers durch den übergeordneten Zweck der moralischen Lebenswandels bzw. der Freiheitsausübung ausgegangen ist, wozu ein raum-zeitlicher Organismus notwendig ist; vgl. zur Abhängigkeit des Werts des Lebens von den Taten des Vernunftwesens: KU AA V, S. 434 Anm.; vgl. dazu: Horn 2006, S. 69. Die bestmögliche Erhaltung des eigenen Körpers hat demnach primär einen instrumentellen Wert, denn der physische Organismus des Vernunftwesens fungiert als Mittel zum Zweck der Verwirklichung der Moral. 85 Vgl. zu einer systematisierten Darstellung diesbezüglicher Interpretationen: Klemme 2004a. 86 S.: GMS AA IV, S. 422. 84

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Daher tauge die Maxime: »wenn ich mich in Geldnoth zu sein glaube, so will ich Geld borgen und versprechen es zu bezahlen, ob ich gleich weiß, es werde niemals geschehen« 87 nicht zu einem allgemeinen Naturgesetz. Die Universalisierung der Maxime des unwahrhaftigen Versprechens wirke sich auf zwei unterschiedliche Weisen aus: Sowohl das Versprechen als auch der mit der Idee des Versprechens verbundene Zweck werde durch die Verallgemeinerung dieses Grundsatzes als unmögliches Gesetz erwiesen, wobei die hier virulente Unmöglichkeit sowohl als kausale als auch als logische (im reinen Denken bestehende) Unmöglichkeit verstanden werden kann. 88 Dieses Beispiel wird nicht selten als exemplarischer Fall einer in Wirklichkeit sozialteleologischen Argumentationsweise gedeutet. Kutschera etwa sieht hier einen eindeutigen Fall eines letztlich ungerechtfertigten Bezugs auf eine gewisse Art von Konsenswissen, welches zum Inhalt habe, dass der Zweck wahrhaftiger Versprechen in der Erhaltung dieser intersubjektiven Praxis bestehe. 89 Die soziale Institution des Versprechens funktioniere demnach nur unter der Bedingung der Wahrhaftigkeit, und der von Kant konstatierte Widerspruch bzw. die damit zusammenhängende moralische Unzulässigkeit des unwahrhaftigen Versprechens sei allein unter dieser Voraussetzung nachvollziehbar. Offen bleibe jedoch, warum die Institution des Versprechens aus vernünftiger Sicht als derart relevanter Zweck betrachtet werden sollte, dass er als Maßstab für die moralische Zulässigkeit von Maximen dienen könne. Diese sozialteleologische Rekonstruktion nimmt implizit auf die kausale Unmöglichkeit des Versprechens Bezug. Eine zweite Interpretationsstrategie, die auf einen logischen Widerspruch90 rekurriert, rekonstruiert das Beispiel dergestalt, dass die prinzipielle Unwahrhaftigkeit bei der Versprechenspraxis den Bedingungen der Möglichkeit dieser Praxis widerspreche: Da ein falsches Versprechen strukturell betrachtet nichts anderes als eine Lüge sei S.: GMS AA IV, S. 422. Vgl.: Brinkmann 2003, S. 167. 89 Allgemein vertritt Kutschera die These, dass eine gewisse Gemeinschaft von kantischer und regelutilitaristischer Ethik bestehe; vgl.: Kutschera 1982, S. 197 Anm. 27. Auch Ewing sieht Kants Ablehnung der Lüge in der Ablehnung ihrer Folgen begründet; vgl.: Ewing 1947, S. 88. 90 Vgl. dazu: Schönecker/Wood 2002, S. 134 f. Broad dagegen kann bei diesem Beispiel überhaupt keinen formalen Widerspruch ausmachen, sondern sieht nur einen Konflikt divergierender Wünsche vorliegen; vgl.: Broad 1934, S. 130. 87 88

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und eine Lüge grundsätzlich den Glauben an die Wahrhaftigkeit der Aussagen anderer Menschen voraussetze, dieser Glaube jedoch durch die Universalisierung des Lügens unterminiert werde, sei eine notwendige Voraussetzung für unwahrhaftige Versprechen nicht mehr gegeben. Dieser logische Widerspruch setzt keine naturteleologischen oder lebenspraktischen Prämissen voraus, sondern kann allein unter Bezug auf die interne Struktur der Idee des Versprechens und seiner Bedingungen entwickelt werden. Der logische Widerspruch entsteht vor dem Hintergrund der NF allerdings nur unter der Bedingung, dass tatsächlich immer gelogen würde, wenn man sich in Geldnot befinde, da sonst nur eine Wahrscheinlichkeitsproblematik resultieren würde. 91 Darüber hinaus besteht wie auch im Fall des ersten Beispiels die Möglichkeit einer wertorientierten Rekonstruktion des Widerspruchs, wobei im Falle dieser Möglichkeit zum einen der skizzierte logische Widerspruch impliziert ist und zudem das Problembewusstsein der naturteleologischen Variante berücksichtigt wird. Man könnte an die zweite Interpretation durchaus die weiterführende Frage stellen, warum die Verunmöglichung von Versprechen (abgesehen von der bedingten internen Widersprüchlichkeit) ein manifestes moralisches Problem darstellen soll. In dieser Perspektive wird der Wert des Versprechens selbst thematisiert und hinterfragt, was insofern zulässig ist, als man, unter Absehung von der sozialteleologischen Rekonstruktion, nicht ohne Weiteres plausibel machen kann, warum die Praxis des Versprechens bzw. die Wahrhaftigkeit von fundamentaler moralphilosophischer Relevanz sein soll. Selbst bei Unterstellung der Selbstaufhebung der VerNatürlich kann man argumentieren, dass schon der Begriff des ›Versprechens‹ bzw. der ›bewussten Täuschung‹ sinnlogisch die Möglichkeit des Vertrauens in den Versprechensgeber und damit seiner Wahrhaftigkeit voraussetze, doch wäre es möglich, dieses zuzugestehen und besagten Widerspruch dennoch mit dem Verweis auf andere empirische Annahmen über das diesbezügliche menschliche Verhalten als fiktive Gefahr auszuschließen: Kant sage ja nur, dass das fiktive Unwahrhaftigkeitsgesetz die vorsätzliche Täuschung erlaube, weshalb allein dadurch die Möglichkeit von Wahrhaftigkeit noch nicht logisch ausgeschlossen werden könne. Das entscheidende Moment bestünde dann in einer regel-konsequentialistischen Struktur, da hier die erwartete Folge der regelmäßigen Unwahrhaftigkeit zum Widerspruch führen müsste und die vorausgesetzte Idee des Versprechens die bezweifelbare empirische Annahme implizierte, dass allgemeine Unwahrhaftigkeit notwendigerweise die Versprechenspraxis verunmögliche. Diese Annahme wäre zwar plausibel, doch änderte dies nichts daran, dass in diesem Fall primär nicht-begriffliche Bedingungen angeführt würden, die entsprechend nicht zu einem logischen Widerspruch führen können.

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sprechenspraxis im Falle ihrer Universalisierung kann von einer Common-Sense-kritischen Position aus immer noch gefragt werden: Was ist daran problematisch, dass es keine Versprechen mehr gibt? Eine werttheoretische Rekonstruktion greift diese Bedenken auf und versucht, eine entsprechende Antwort durch den Rückgriff auf den Wert zu geben, den Kant der Freiheit und freien Selbstbestimmung, damit aber auch den vielfältigen Selbstverwirklichungsoptionen zuschreibt. In dieser Perspektive entsteht durch die Universalisierung der Maxime des falschen Versprechens ein Widerspruch zwischen dem Wert der Freiheit als Inbegriff aller freien Selbstbestimmungsakte und damit auch der Handlungsmöglichkeiten auf der einen Seite, und der notwendigen Beschränkung eben dieser freiheitlichen Wahl- und Verwirklichungsmöglichkeiten durch die Aufhebung der Möglichkeit von Versprechensakten auf der anderen Seite. Indem die Praxis des Versprechens durch den immanent-logischen Widerspruch unmöglich gemacht wird, beraubt sich der moralische Akteur bestimmter Handlungsmöglichkeiten, wobei er durch Unwahrhaftigkeit darüber hinaus nicht nur irgendwelche Möglichkeiten des freien Handelns negiert, sondern auf fundamentaler Reflexionsebene den Wert dieser zur Disposition stehenden Handlungsfreiheit missachtet. 92 Da die Freiheit und die größtmöglichen moralisch adäquaten Handlungsoptionen in jeder Handlung des Akteurs als wertvoll geachtet und daher bewahrt werden sollen, widerspricht die willentliche Selbstbeschränkung zukünftiger Handlungsspielräume durch eine moralisch zumindest nicht geforderte oder gar gebotene Handlung unmittelbar den axiologischen Voraussetzungen der kantischen Ethik, sodass der Akt der Unwahrhaftigkeit in Analogie zur Behandlung des Selbstmords in der MS den notwendigerweise vorauszusetzenden axiologischen Bedingungen dieses Akts selbst zuwider läuft. Eine werttheoretische Rekonstruktion des Widerspruchs beim zweiten Beispiel wäre in Strukturanalogie zum logischen Widerspruch demnach letztlich als eine Form des Selbstwiderspruchs zu charakterisieren. Auch wenn Kant seine Darstellung des zweiten Beispiels nicht damit beschließt, die Pflicht zur Wahrhaftigkeit explizit aufzustellen, laufen seine Ausführungen doch auf genau dies hinaus. Nach der kurzen Rekapitulation der verschiedenen Deutungsarten scheint die sozialteleologische, auf den Common Sense bezogene Variante auf einer 92

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Vgl.: Klemme 2004b, S. 81 f.

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verkürzten Perspektive zu beruhen, da gar nicht erst angestrebt wird, die kantische Position möglichst stark zu machen, indem man auf fundamentale Theorieelemente seiner Ethik rekurriert und diese in dem Beispiel systematisch-funktional zu verorten versucht. Die Konstatierung eines logischen Widerspruchs und noch mehr die daran anschließende, jedoch in einem entscheidenden Punkt darüber hinausgehende Rekonstruktion des praktisch-axiologischen Widerspruchs zwischen den werttheoretischen Voraussetzungen der Handlung und ihrer diesbezüglichen Implikationen erweist sich dagegen als plausibler, da nicht nur die Frage nach dem Wert der Versprechenspraxis thematisiert und damit eine beim sozialteleologischen Ansatz bestehende argumentative Lücke geschlossen wird, sondern die Analyse zudem auf ein breiteres Spektrum von kantischen Lehrstücken zurückgreift, was m. E. grundsätzlich als ein hermeneutisch seriöseres Vorgehen angesehen werden sollte. In der MS findet sich ebenfalls eine Erläuterung des Lasters der Lüge. Kant bezieht sich dort einerseits unmittelbar auf den Widerspruch, der sich im Falle der Unwahrhaftigkeit in Bezug auf den absoluten moralischen Wert der Menschheit ergeben soll, andererseits jedoch zugleich auf eine Konzeption natürlicher Zweckmäßigkeit, die sich auf die Fähigkeit zur Kommunikation bezieht: Die Lüge ist Wegwerfung und gleichsam Vernichtung seiner Menschenwürde. Ein Mensch, der selbst nicht glaubt, was er einem Anderen […] sagt, hat einen noch geringeren Werth, als wenn er blos Sache wäre; denn von dieser ihrer Eigenschaft etwas zu nutzen, kann ein anderer doch irgend einen Gebrauch machen, weil sie etwas Wirkliches und Gegebenes ist; aber die Mittheilung seiner Gedanken an jemanden durch Worte, die doch das Gegentheil von dem (absichtlich) enthalten, was der Sprechende dabei denkt, ist ein der natürlichen Zweckmäßigkeit seines Vermögens der Mittheilung seiner Gedanken gerade entgegen gesetzter Zweck, mithin Verzichtthuung auf seine Persönlichkeit und eine blos täuschende Erscheinung vom Menschen, nicht der Mensch selbst. 93

In der MS wird keine explizite rationale Beziehung zwischen beiden Strategien konstruiert – Kant begnügt sich im Falle des werttheoretischen Arguments mit der einfachen Konstatierung eines Widerspruchs von Unwahrhaftigkeit und Würde und präsentiert die naturteleologische Rechtfertigung der moralischen Unzulässigkeit der Lüge eher als 93

S.: MS AA VI, S. 429. A

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Zu- oder Nachsatz denn als Abschluss einer längeren, beide Teilabschnitte übergreifenden Argumentationssequenz. 94 Demnach stellt sich m. E. der werttheoretische Selbstwiderspruch als stärkstes Argument für die moralische Unzulässigkeit der verallgemeinerten Unwahrhaftigkeit dar, da sich dieser Ansatz direkt auf den Wert des Vernunftwesens bezieht und nicht von der Beurteilung einer kontingenten Sozialpraxis bzw. eines erläuterungsbedürftigen Eigenzwecks der Institution des Versprechens oder einer leicht anfechtbaren Naturteleologie abhängt.

VI.4.3Entwicklung der Talente Im dritten Beispiel konstruiert Kant die Vorstellung, dass ein talentierter, mit guten Gaben gesegneter Mensch lieber dem diesen Talenten entgegenstehenden Hedonismus nachgehen will und sich fragt, ob eine Maxime des Vorzugs der Vergnüglichkeit vor der z. B. geistig-kulturellen Selbstentwicklung denn auch seiner Pflicht entsprechen könne. Zwar wäre es dem grundsätzlichen (Weiter-)Bestehen der Natur nicht substantiell abträglich, wenn das Vorziehen der Bequemlichkeit gegenüber der Talententwicklung zum Gesetz erhoben würde, doch könne dieser Mensch unmöglich wollen, daß dieses ein allgemeines Naturgesetz werde, oder als ein solches in uns durch Naturinstinct gelegt sei. Denn als ein vernünftiges Wesen will er nothwendig, daß alle Vermögen in ihm entwickelt werden, weil sie ihm doch zu allerlei möglichen Absichten dienlich und gegeben sind. 95

In gewisser Weise unterstützen diese Ausführungen nachträglich unsere axiologisch orientierte Rekonstruktion des ersten Beispiels, da Kant an dieser Stelle noch einmal expliziert, dass ein Vernunftwesen Es gibt allerdings eine Möglichkeit, die axiologischen und teleologischen Reflexionen dieser Passage als systematische Aspekte eines umfassenderen Gedankens zu verstehen. In diesem Modell ergibt sich der Widerspruch zwischen Nicht-Wahrheit und Würde des Vernunftwesens unmittelbar aus der Idee des Vernunftwesens selbst: Als Vernunftwesen ist der Akteur immer schon – quasi entelechial – auf Wahrheit hingeordnet bzw. agiert als praktisches Wesen dementsprechend prinzipiell unter der aus seiner Vernunftnatur resultierenden normativen Idee der Wahrhaftigkeit. Unter den vor allem bei Korsgaard angesetzten, genuin identitätstheoretischen Auspizien ergibt sich somit ein Selbstwiderspruch im strengen, nämlich praktisch-identitätslogischen Sinne. 95 S.: GMS AA IV, S. 423. 94

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den eigenen Verwirklichungsmöglichkeiten ein notwendiges Interesse beimisst. Dieses notwendige Interesse des Vernunftwesens kann hier m. E. nur durch den Verweis auf die SZF rational einsichtig gemacht werden. 96 Die Argumentationsstruktur dieses Beispiels erweist sich auf den ersten Blick als vergleichsweise transparent, da das entscheidende Begründungsmoment offenbar allein im letzten Teil des Zitats zu finden ist und zudem von einfacher Beschaffenheit zu sein scheint: Der Akteur könne die Vernachlässigung seiner guten Anlagen nicht wollen, da er ein vernünftiges Wesen sei, womit Kant die Annahme des notwendigen Interesses an der Entwicklung der eigenen Talente analytisch aus dem Begriff des Vernunftwesens entwickelt. Im Folgenden werde ich die These des Vernunftwesenseins als Grund für die Pflicht der Entwicklung der Talente aus begriffspragmatischen Gründen als ›Wesensthese‹ (W-These) bezeichnen. Doch handelt es sich bei diesem letzten Abschnitt des Beispiels streng genommen nicht nur um eine Begründung, sondern um zwei verschachtelte Argumente, da auch noch begründet werden soll, warum ein Vernunftwesen das besagte Interesse besitzt und sich nicht mit der bloßen Reflexion auf die Eigenschaften bzw. die handlungstheoretischen Implikationen des Vernunftwesens begnügt. Die Notwendigkeit des Interesses an der Talententwicklung bestehe deswegen, weil die zu entwickelnden Fähigkeiten dem Akteur ermöglichten, verschiedene seiner Absichten zu verwirklichen. Wenn man nach der letztgültigen und ausschlaggebenden Rechtfertigung der anvisierten Etablierung der Pflicht zur Talententwicklung fragt, muss man zuerst dieses letztgenannte Argument betrachten, welches zur Erläuterung der W-These dient. Das Argument der Zweckdienlichkeit der Talententwicklung zur Verfolgung von Absichten des Akteurs legt eine allgemein teleologische Charakterisierung nahe, wobei eine explizite Spezifikation besagter Intentionen unterlassen wird. Dieser Zweck der umfassenderen Möglichkeiten der Verfolgung eigener Zielsetzungen scheint allerdings eng mit dem Begriff des Vernunftwesens verbunden zu sein, sodass sich schon hier der bereits erwähnte Rückbezug auf die W-These nahe legt. Paton sieht in diesem Beispiel ebenfalls eine besonders deutliche Manifestation von bestimmten zweckbezogenen Annahmen Kants, 97 96 97

Vgl. zur hier virulenten Defizienz der NF: Schönecker/Wood 2002, S. 135 Anm. 50. Dies treffe auch auf die (reine) praktische Vernunft selbst zu: »Hinter allem, was er A

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wobei er darauf verweist, dass dem Text zufolge vor allem diejenigen Talente ausgebildet werden sollten, welche den Menschen vom Tier unterscheiden.98 Festzuhalten bleibt dementsprechend, dass es sich beim Argument der Erweiterung der Absichtsverfolgungsmöglichkeiten um ein grundsätzlich teleologisches Argument mit implizitem axiologischen Bezug auf das für an sich wertvoll erachtete Vernunftwesen handelt. Auch das zweite Argument nimmt konstitutiv auf Zwecksetzungen Bezug: Das Interesse des Vernunftwesens an der Talententwicklung sei darin begründet, dass ihm die Talente zu diesem Zweck zuerkannt wurden. Das teleologische Moment bezieht sich bei diesem Argument also auf den Zweck der Vergabe der Talente. Nun wird an dieser Stelle nicht expliziert, ob der Zweck der Talententwicklung ein Vernunft- oder ein Naturzweck ist bzw. wer oder was dem Vernunftwesen diesen Zweck gegeben hat. Die kantische Formulierung legt expressis verbis in einem ersten Reflexionsschritt nur nahe, dass die guten Anlagen eines Menschen nicht beliebig zur Verfügung stehen, sondern als solche auf eine bestimmte Entfaltungsrichtung hin strukturiert sind. Letztlich besteht der eigentliche Ausgangspunkt des Arguments in der sowohl axiologisch als auch vernunftteleologisch aufgeladenen Akteuridentität – ›als Vernunftwesen‹ könne man die Verkümmerung der eigenen Gaben nicht wollen. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der mangelnden Plausibilität einer primär naturteleologischen Deutung der kantischen Funktionsbestimmung der praktischen Vernunft (s. Punkt VI.3.3) muss man demnach davon ausgehen, dass der argumentative Bezug auf die Seinsform ›Vernunftwesen‹ als Indikator für die Primärrelevanz vernunftteleologischer Normativität verstanden werden muss. Der unmittelbar gegebene Zweck des Vernunftwesens als Vernunftwesen ist immer der Zweck des freien Wesens, und der Zweck des freien Wesens muss in der Ausübung und Bewahrung seiner ureigensten Freiheit als exponierte Form der Verwirklichung seiner praktischen Identität liegen. Zusammengefasst handelt es sich daher in diesem Fall um eine vernunftteleologische Argumentationslinie, da die Ausbildung der Talente der an sich mora-

sagt, steht die eine fundamentale Voraussetzung, daß die praktische Vernunft, und zwar die reine praktische Vernunft, sich mit der Verwirklichung der menschlichen Zwecke und ihrer Zusammenstimmung befaßt.« S.: Paton 1962, S. 186. 98 Dies geht m. E. in dieser Deutlichkeit aus dem Argument selbst jedoch nicht hervor, auch wenn diese Annahme natürlich plausibel ist.

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lisch wertvollen Freiheitsverwirklichung dienlich und als Ausdruck der wertvollen Handlungsfreiheit auch an sich zu bejahen ist. 99

VI.4.4 Gleichgültigkeit gegen das Schicksal anderer Menschen Das vierte Beispiel handelt von einem Menschen, der anderen Menschen in Not nicht helfen will, obwohl er dazu aufgrund seiner eigenen guten Position in der Lage wäre. 100 Es handelt sich um eine unvollkommene Pflicht gegen andere Vernunftwesen. Kants diesbezügliches Argument besagt, dass man sich zwar ein entsprechendes Naturgesetz der Gleichgültigkeit denken könne und demnach auch eine Maxime, die solcherart Verhalten affirmieren würde, der gleichgültige Mensch ein solches Gesetz jedoch nicht wollen könne, da es seinem eigenen Interesse an Unterstützung durch andere, auf die er vielleicht bald, vielleicht in ferner Zukunft angewiesen sein könnte, widerspreche. Es geht dabei um die Grundsatzfrage, ob man als rationaler Akteur prinzipiell wollen kann, dass man sich für immer der Möglichkeit beraubt, Hilfe zu bekommen. Kant geht bei diesem Beispiel offenbar von der empirischen These aus, dass Menschen für ein erfolgreiches und zufriedenstellendes Leben auf die Kooperation mit anderen Menschen angewiesen sind. Daher sei die Annahme unvernünftig, dass man ein vollkommen isoliertes, aber dennoch gutes Leben führen könne, obwohl dies in Einzelfällen durchaus denkbar wäre. Die Art des hier konstruierten Widerspruchs ist daher nicht streng vernünftiger Natur, sondern ergibt sich allein vor dem Hintergrund der besagten empirischen Voraussetzung. 101 Ohne die empirische These von der allgemeinen Bedürfnisstruktur des Menschen könnte Kant in dieser Perspektive nicht strikt begründen, warum Gleichgültigkeit moralisch verwerflich sein soll. Dies folgt hier nicht unmittelbar aus dem Sittengesetz, wird jedoch ebenfalls nicht als Zweck oder eigenständiger Wert postuliert.

Auch wenn die Talententwicklung in letzter Konsequenz auch nicht-moralischen Zwecken dienen könnte, ist sie vor dem kantischen Hintergrund schon als solche aus moralischen Gründen zu befördern, da ihre Negation stets eine moralisch nicht legitimierte Beschränkung der moralisch wertvollen Handlungsfähigkeit bzw. Freiheitsausübung bedeutet. 100 Vgl.: GMS AA IV, S. 423 f. 101 Vgl.: Wetterström 1986, S. 214. 99

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Neben dieser strategisch-egoistischen Variante 102 bestehen allerdings noch zwei andere Möglichkeiten der Rechtfertigung der Pflicht zur Hilfeleistung, welche auf das Würdekonzept bzw. die Bedingungen der Zwecksetzung Bezug nehmen. Nach der ersten Variante muss nach Kant argumentiert werden: Indem ich grundsätzlich bereit bin, anderen Menschen zu helfen, anerkenne ich damit die (moralisch zumindest legitimen) Zwecke anderer Vernunftwesen und handele insofern in gesinnungshafter Übereinstimmung mit der Idee der Moralität, da ich den Anderen über diese Anerkennung seiner Zwecke als Selbstzweck schätze. 103 In dieser Rekonstruktionsperspektive lässt sich eine Pflicht zur Bedürftigenhilfe demnach unter Rekurs auf die axiologische Grundlage der kantischen Ethik bzw. SZF begründen. In der zweiten Variante wird konstatiert, dass die selbstveranlasste Beraubung der Mittel zur Verfolgung eigener Zwecke unmöglich gewollt werden kann, da dies unmittelbar dem Prinzip der Zweckrationalität widerspricht. Die willentliche Negation von Mitteln bedeutet dabei letztlich auch die Negation von Zwecken und Zwecksetzungen, da man nach Kant keinen Zweck ohne die zu seiner Verfolgung notwendigen Mittel wollen kann. 104 Über diesen argumentativen ›Umweg‹ über die Mittel gelangt man in dieser Rekonstruktionsperspektive demnach zur Konstatierung eines tiefergreifenden (letztlich performativen) Widerspruchs zwischen der praktischen Inanspruchnahme des Willensvermögens als Zwecksetzungsfähigkeit und der impliziten Negation der Zweckverfolgungsmöglichkeit in der Zukunft. Dieser Widerspruch resultiert demnach aus der inneren Logik der Zwecksetzung und stellt kein unmittelbar axiologisches Problem dar. 105 Kant scheint in diesem Fall zwar – wie schon in den Beispielen zuvor – auf das Problem der Verkennung der Menschenwürde abzu102 Dieser Rekonstruktionsansatz wird z. B. von Sidgwick vertreten; vgl.: Sidgwick 1907, S. 389 Anm. 103 Steigleder spricht dementsprechend von einer Würdigung des Status der Handlungsfähigkeit anderer Menschen; vgl.: Steigleder 2003, S. 251; vgl. ebenfalls: Klemme 2004b, S. 83. 104 Vgl.: Wimmer 1980, S. 353 ff. 105 Es besteht allerdings die Möglichkeit, in der Negation der Zweckrationalität einen indirekten Widerspruch zum Wert der freien Selbstbestimmung zu sehen, da Zwecksetzung bei Kant als konkrete Ausübung der unvergleichlich wertvollen Freiheit des Vernunftwesens begriffen wird.

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zielen, doch setzt er in diesem Fall bei der Handlungsfähigkeit des Akteurs in ihrer Eigenschaft als Ausdruck dieser Würde und nicht bei letzterer selbst an. Dennoch gilt: Die willentliche Nicht-Achtung der Zwecke und Verwirklichungsmöglichkeiten anderer Personen erweist sich in dieser Perspektive nicht aufgrund rein prudentieller Reflexionen, 106 sondern wegen der ihr impliziten Negation des Werts der freien Ausübung der zwecksetzenden Vernunft als moralisch falsch.

VI.4.5 Das Verbot der Selbstschändung Die Argumentation für das Verbot der wollüstigen Selbstschändung findet sich in der Tugendlehre der MS im Kontext der Erläuterung der Pflichten gegen sich selbst als einem animalischen Wesen. Dort schließt Kant unmittelbar an die bereits dargestellte Argumentation für die Pflicht der Selbsterhaltung bzw. das Selbstmordverbot an: So wie die Liebe zum Leben von der Natur zur Erhaltung der Person, so ist die Liebe zum Geschlecht von ihr zur Erhaltung der Art bestimmt; d. i. eine jede von beiden ist Naturzweck, unter welchem man diejenige Verknüpfung der Ursache mit einer Wirkung versteht, in welcher jene, auch ohne ihr dazu einen Verstand dazu beizulegen, diese doch nach der Analogie mit einem solchen, also gleichsam absichtlich Menschen hervorbringend gedacht wird. 107

Der Zweck der geschlechtlichen Liebe bestehe demnach in der Fortpflanzung, wobei es sich dabei nicht um einen Vernunftzweck, sondern um eine natürliche Gegebenheit handele. Es existiere jedoch auch die Möglichkeit, die Benutzung der Geschlechtsorgane allein auf der Ebene der tierischen Lust zu vollziehen, 108 und es sei fraglich, ob die geschlechtsreife Person über den Naturzweck hinaus nicht auch noch der Pflicht zu einer diesem Zweck entsprechenden Benutzung ihrer geschlechtlichen Anlage unterstehe. Eine daran anschließende Fragestellung rekonstruiert Kant unter unmittelbarem Rekurs auf das axiologische Konzept des moralischen Werts der Menschheit: »Hier […] ist die Frage: ob in Ansehung dieses Genusses eine Pflicht des Menschen geVgl.: Schönecker/Wood 2002, S. 136. S.: MS AA VI, S. 424. 108 Zudem führt Kant die unnatürliche Wollust an, welche in einer sexuellen Reizung allein durch eine entsprechende Vorstellung und nicht einen tatsächlichen andersgeschlechtlichen Partner etc. zustande komme; vgl.: MS AA VI, S. 424 f. 106 107

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gen sich selbst obwalte, deren Übertretung eine Schändung (nicht bloß Abwürdigung) der Menschheit in seiner eigenen Person sei.« 109 Obwohl eine intuitive Abneigung vorhanden sei, über zweckwidrige Geschlechtsliebe zu sprechen, gesteht Kant die Schwierigkeit des Nachweises ihrer rein vernünftigen Unzulässigkeit zu. Dennoch konstruiert er unmittelbar nach dieser Überlegung das seiner Ansicht nach schlagende Argument: Ein dem Naturzweck entgegengesetzter Gebrauch des Geschlechts impliziere die Aufgabe der Persönlichkeit bzw. der personalen Würde, da sich der Akteur durch diesen Akt »zum Mittel der Befriedigung thierischer Triebe braucht.« 110 Er versucht auf diese Weise, dem zuvor natürlich fundierten Zweck eine vernünftig-moralische Rechtfertigung zur Seite zu stellen bzw. ihre Konvergenz zu erweisen. 111 Ein unmittelbarer bzw. strukturell begründeter Selbstwiderspruch lässt sich im Falle dieses Beispiels nicht konstruieren – einzig der von Kant selbst genannte, durch die unangemessene Benutzung des Fortpflanzungstriebes resultierende Konflikt mit der Menschenwürde scheint als vernünftig-moralisches Argument in Frage zu kommen. Zwar nennt er auch ein naturteleologisches Argument, doch gibt er sich damit im Gegensatz zum Beispiel des Selbstmords nicht zufrieden. – Die eigentliche, d. h. immanent betrachtet strengste Begründung für eine dem Naturzweck entsprechende Benutzung der Geschlechtlichkeit ist aufgrund des Entwürdigungsarguments rein axiologischer Natur, auch wenn sie aufgrund des Mangels zusätzlicher Erläuterungen recht knapp ausfällt. Die ›Übertretung‹ der Pflicht bedeutet hier eine radikale Entwertung der Menschheit in der eigenen Person und aufgrund dessen eine Selbstnivellierung auf die Ebene der bloß tierischen Daseinsform, sodass das hier entscheidende Argument auf der SZF und der allgemeinen Menschenwürde basiert.

S.: MS AA VI, S. 424. S.: MS AA VI, S. 425. 111 Im Vergleich mit der Tat der Selbsttötung sei die wollüstige Selbstschändung noch verwerflicher, da der Selbstmord wenigstens noch ein bestimmtes Maß an Mut erfordere, die Selbstschändung dagegen jedoch ein schwächliches Nachgeben gegenüber den rein animalischen Impulsen sei; vgl.: MS AA VI, S. 425. Zudem setze die Eigenschaft des Mutes eine gewisse Achtung vor der Menschheit voraus. 109 110

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VI.4.6 Die Selbstbetäubung durch Genuss- und Nahrungsmittel Die Mäßigkeit bei der Nahrungsaufnahme und dem Verzehr von Genussmitteln gehört ebenfalls den Pflichten gegen sich selbst als einem physischen Wesen an. In diesem Zusammenhang hebt Kant hervor, dass nicht die kurz- oder langfristige Beschädigung des physischen Wohlbefindens, sondern die Frage nach der Etablierung eines Pflichtprinzips zur Debatte stünde. Das entscheidende Problem in Bezug auf die Maßlosigkeit beim Genuss von Nahrungsmitteln sieht er in der Minderung der Fähigkeit zur Wahrnehmung derjenigen auf Nahrung bezogenen Handlungsmöglichkeiten, die für den Menschen als Vernunftwesen charakteristisch sind und ihn daher über das Niveau rein animalischer Betätigungen erheben: »Die thierische Unmäßigkeit im Genuß der Nahrung ist der Mißbrauch der Genießmittel, wodurch das Vermögen des intellectuellen Gebrauchs derselben gehemmt oder erschöpft wird.« 112 Als Betrunkener sei der Mensch nicht mehr als Person, sondern eher wie ein Tier zu behandeln, und als jemand, der sich zu viele Speisen zugeführt hat, sei der Betreffende kaum dazu in Lage, komplexere und geistig anspruchsvolle Tätigkeiten zu vollziehen. Kant stellt in den darauf folgenden Ausführungen kein Argumentationsmodell zur Verfügung, welches Anlass zu grundsätzlich verschiedenartigen Deutungen geben könnte, sondern bezieht sich direkt auf die Evidenz der Pflichtwidrigkeit: »Daß sich in einen solchen Zustand zu versetzen Verletzung einer Pflicht wider sich selbst sei, fällt von selbst in die Augen.« 113 Sowohl die Trunksucht als auch die Gefräßigkeit könnten dazu führen, dass sich der Mensch nicht nur auf ein rein animalisches, sondern sogar darunter liegendes Niveau begeben würde, wobei im Falle einer gemeinsamen Mahlzeit mehrerer Personen immerhin noch die Möglichkeit bestünde, durch die intellektuelle Handlung des Gesprächs einen sittlichen Zweck zu verfolgen. Letzteres werde jedoch durch die Unverhältnismäßigkeit der aufgenommenen Speisen unmöglich gemacht. Zudem hätte der Genuss von Suchtmitteln, z. B. der Mohnpflanze, die nachteilige Folge einer zwanghaften Notwendigkeit, den Genuss der jeweiligen Substanzen zu wiederholen und sogar hinsichtlich ihrer Intensität zu steigern. Darüber hinaus deutet Kant das damit verbundene Problem des Verlustes eines gesun112 113

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den Realitätssinns an, wenn sich der wodurch auch immer Berauschte von Sorgen des Alltags frei zu sein wähnt. Auch wenn nicht genauer erläutert wird, worin über das Gesagte hinaus die Pflichtverletzung bestehen soll, bietet es sich vor dem Hintergrund der Beispiele der Selbstschändung und der Entwicklung der Talente an, das zugrundeliegende Wertkonzept als ausschlaggebenden Grund auszumachen, welche Annahme Kant mehrmals durch den Verweis auf den moralisch zu vermeidenden Status des rein animalischen Trieblebens nahe legt: Die tierische Unbewusstheit im Verhalten und die Leitung der Handlungen durch den bloßen Trieb zur Nahrungsaufnahme und zum sinnlichen Genuss stehen im Widerspruch zur Würde der Person, welche dieser durch rationales und an nicht-sinnlichen, moralischen Maßstäben ausgerichtetes Handeln Ausdruck verleihen sollte. Allerdings muss in einem zweiten Reflexionsschritt ebenfalls zur Kenntnis genommen werden, dass im Falle des Drogenkonsums zumindest auch (nicht nur) vernunftkonsequentialistisch argumentiert wird, 114 indem Kant auf die moralisch problematischen Folgeerscheinungen verweist: Durch diese spezielle Form der Lustverschaffung werde eine Art physiologischer Zwangsmechanismus in Gang gesetzt, welcher – dies erwähnt er nicht explizit – der freien und gerade gegenüber sinnlichen Antrieben unabhängigen Selbstbestimmung des Willens in ihrer empirischen Verwirklichung tendenziell abträglich sein könnte. Zudem verhindere die Unmäßigkeit die Verwirklichung des sittlichen Zwecks des Essens, sofern es in Gemeinschaft vollzogen werde. 115 Die hier relevante Argumentation umfasst demnach insgesamt drei Aspekte: Den Verweis 1. auf den grundsätzlichen Widerspruch der Unmäßigkeit zur Würde der Person, 2. auf die negativen Folgen des Drogenkonsums für die freie Handlungsbestimmung und 3. auf 114 Da Kant sowohl von einer Zweckmäßigkeit der Natur als auch der Vernunft ausgeht, kann die Erhaltung und Verwirklichung der freien Handlungsfähigkeit prinzipiell vernunft- und naturteleologisch rekonstruiert werden, wobei der angesetzte Freiheitsbegriff im Falle der naturteleologischen Rekonstruktion wohlgemerkt als physiologisch bestimmter Aktionsraum des Organismus verstanden werden muss. Freie Handlungsfähigkeit wird von Kant jedoch meistens nicht unter diesem, sondern vielmehr dem moralischen Gesichtspunkt verstanden, sodass m. E. der moralische Aspekt der Handlungsfähigkeit aufgrund seines engen Bezugs zur Freiheitsidee als auch in diesem Kontext primär relevant angesehen werden sollte. 115 Vgl.: MS AA VI, S. 428.

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den moralisch zweckwidrigen Einfluss der Folgeerscheinungen des maßlosen Essens auf die Gestaltung gemeinsamer Mahlzeiten. Während der zweite Aspekt aufgrund des Zusammenhangs von Personenwürde und freier Selbstbestimmung/Handlungsfähigkeit plausibel als Unterpunkt des ersten Grundsatzarguments gedeutet werden kann, da die Einschränkung der freien Handlungsfähigkeit als Freiheitsminderung letztlich ein moralisches Problem darstellt, verweist der letzte Punkt auf einen moralischen Zweck, welcher in letzter Konsequenz ebenfalls auf die axiologisch-normative Grundstruktur des rationalen Werts des freien Vernunftwesens rückführbar ist, jedoch bestimmter Zusatzüberlegungen 116 bedarf, um das Ende einer adäquaten Reflexionssequenz bilden zu können. Expliziter und impliziter systematischer Bezugspunkt aller drei Aspekte ist daher das normative Menschenbild des freien und würdevollen Akteurs (axiologische Reflexionsebene), der sich nicht zu ihm unangemessenen Verhaltensweisen verleiten lassen sollte (Ebene der Pflichten). Fazit Wenn man sich alle untersuchten Argumentationsweisen Kants unter strukturellem Aspekt vor Augen führt, muss konstatiert werden, dass von einer einheitlichen Argumentationsstrategie keine Rede sein kann. Kants Ethik ist sowohl von deontologischen, natur- bzw. sozial- und vernunftteleologischen sowie vor allem axiologischen Argumenten bestimmt. Auffällig ist dabei, dass Kant nicht selten zwei oder mehr verschiedenartige Argumente für ein und denselben Sachverhalt anführt, wobei er oft mit natur- oder sozialteleologischen und axiologischen Ansätzen arbeitet. So wird das Verbot des Selbstmords aus Lebensmüdigkeit zum einen naturteleologisch (GMS), zum anderen axiologisch (MS) begründet, wobei die letztere Begründungsvariante m. E. insofern stärker gewichtet werden sollte, als der im Falle der Selbsttötung im Kontext der UF auftretende Widerspruch im Vergleich mit dem werttheoretischen Widerspruch in der MS über weniger Anbindung an die übrige kantische Systematik verfügt und schon Kant immanent unter geltungstheoretischem Gesichtspunkt schwächer er116 Ich denke hierbei z. B. an die empirische Annahme, dass Menschen im Rahmen eines gemeinsamen Mahls tatsächlich besonders kommunikativ sind und eine solche Veranstaltung für die Verwirklichung des von Kant erwähnten Zwecks des intellektuell wertvollen Austauschs prädestiniert ist.

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scheint. 117 Auch im Falle des Verbots der Nicht-Einhaltung von Versprechen verfolgt Kant eine begründungstheoretische Doppelstrategie, wobei letztlich auch hier die naturteleologische Argumentationskomponente gegenüber der axiologischen eher als Zusatzreflexion in Erscheinung tritt. Im Zusammenhang mit einer letzten Gewichtung der in diesem Kapitel angeführten Argumentationsformen müssen gewisse systematische Kontextbedingungen mitbedacht werden, um Fehlschlüsse zu vermeiden. Dies gilt insbesondere für die naturteleologischen (a) und axiologischen (b) Argumente. Ad a) Hier ist zu beachten, dass natur- und sozialteleologische Argumentationsbeispiele zwar durchaus nicht vollkommen irrelevant und in einer Gesamtschau der kantischen Vorgehensweise bei der rationalen Untermauerung seiner jeweiligen Positionen dementsprechend zu erwähnen und gewichten sind, 118 doch muss zugleich erörtert und genau expliziert werden, inwiefern das jeweils thematisierte Beispiel tatsächlich von grundlegender systematischer und damit typologischer Relevanz für dasjenige Gebilde ist, was man unter dem Begriff der ›kantischen Ethik‹ verstanden haben will. Wenn man dies akzeptiert und als sinnvollen Ausgangspunkt für eine Rekonstruktion der Reichweite der jeweiligen Ausführungen Kants ansieht, muss man m. E. zu dem Schluss kommen, dass die verschiedenen naturteleologisch fundierten Argumente innerhalb des Gesamtkonzepts der kantischen Systematik eher einen unterstützenden Hilfscharakter besitzen 117 Eine gewisse Verbindung von naturteleologischer und axiologischer Begründung könnte dergestalt konstruiert werden, dass die Selbstliebe aufgrund ihrer Lebensdienlichkeit indirekt auch der Beförderung bzw. Verwirklichung des unbedingten Werts der Person zuträglich ist. Allerdings dürfte diese Argumentationsvariante nicht allzu belastbar sein, da Leben bei Kant nur eine notwendige, keineswegs jedoch hinreichende Bedingung für verwirklichte Moralität darstellt und Selbstliebe als solche auch ein unmoralisch gestaltetes Leben befördern würde. Der Grad der angesprochenen Indirektheit ist dementsprechend so hoch, dass er sich negativ auf die Überzeugungskraft des auf ihr beruhenden Arguments auswirkt. 118 Auch wenn die entsprechende Problematik an dieser Stelle nicht hinreichend erläutert werden kann, ist es m. E. plausibel, speziell in den naturteleologischen Reflexionen des späten geschichtsphilosophischen Denkens Kants einen gewissen Vorgriff auf das von Hegel postulierte Verhältnis von Natur und Vernunft zu sehen, was letztlich darauf hinausliefe, dass Naturzwecke den vernünftigen Zwecken nicht entgegenstehen, sondern erstere als Verwirklichung von letzteren fungieren würden. Der Komplexität einer diesbezüglichen Verhältnisbestimmung von Kant und Hegel soll hier jedoch nicht weiter nachgespürt werden.

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und dementsprechend häufiger im Kontext von Reflexionen relevant werden, welche einen stärkeren Bezug zur Empirie aufweisen. 119 Entscheidend für eine ausgewogene und sachlich angemessene Betrachtung ist daher die Berücksichtigung der jeweils thematischen Reflexionsebene: Zwar haben wir in den vorherigen Ausführungen gleich mehrere Argumente dargestellt, in denen Kant zumindest unter anderem unmittelbar auf naturteleologische Gründe rekurriert, doch muss zugleich zur Kenntnis genommen werden, dass Kant bis auf eine einzige Ausnahme keinerlei naturteleologische Argumente in Anspruch nimmt, wenn es sich um die unhintergehbaren Fundamente bzw. um unverzichtbare Basisprämissen seiner Moralphilosophie handelt. Im Gegenteil muss man mit Blick auf das ›Paradoxon der Methode‹ aus der KpV sowie den Beginn der GMS konstatieren, dass Kant in seinen expliziten Ausführungen zur eigenen Vorgehensweise keinen Zweifel an dem praktisch-geltungstheoretischen Vorrang des durchs Sittengesetz Gebotenen gegenüber spezifisch natürlichen bzw. nicht-moralischen Konzepten des Guten lässt. Kant spricht sich damit grundsätzlich für eine Argumentationsfigur aus, welche klassischerweise als primäre Methode einer deontologischen Ethik angesehen wird. Die erwähnte Ausnahme stellt Kants Argumentation für den Zweck der Vernunft in der GMS dar. Da sich Kant im Falle dieser Argumentation mit hinreichender Eindeutigkeit äußert und daher kein gerechtfertigter Anlass für eine Interpretationsstrategie existiert, die den naturteleologischen Aspekt des Arguments negiert, muss man diese Passage aus der GMS gesondert betrachten. Allerdings wäre es zugleich verfehlt, diese eine Passage aus der GMS als das kantische Hauptargument im Kontext der Zweckbestimmung der Vernunft zu rekonstruieren, da dies letztlich auf nichts anderes hinauslaufen würde, als zu behaupten, dass Kant den Zweck des gesamten Projekts der eigenen Moralphilosophie mit einem genuin theoretischen und zudem von ihm an anderen Stellen seines Werks in seiner unkritischen, klassischontologischen Form abgelehnten Argument begründen wolle. 120 Im Kontext der Erörterung dieser Problematik ist weiterführend auf den 119 Kant hält nicht zuletzt in der KU explizit fest, dass teleologische Aussagen nicht der bestimmenden, sondern der reflektierenden Urteilskraft zugeordnet müssen; vgl.: KU AA V, S. 379. 120 Dementsprechend lehnt auch Horn in seiner jüngeren Studie zu diesem problematischen Argument die mögliche Unterstellung eines moralischen Naturalismus hinsichtlich Kant mit guten Gründen ab; vgl.: Horn 2006, S. 62.

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systematischen Konnex der Zweckbestimmung der Vernunft (wohlgemerkt verstanden als genitivus objectivus), der Charakterisierung der Struktur der Vernunft selbst und der Stellung naturteleologischer Reflexionen vor allem der dritten Kritik zu verweisen: In der KU entwickelt Kant die These, dass sich das Vernunftwesen Mensch eine wissenschaftlich-rationale Untersuchung der Natur und ihrer Mechanismen nur unter der Annahme einer hypothetischen Zweckbestimmung, einer ›Als-ob-Teleologie‹ natürlicher Entitäten ermöglichen könne. Dies behauptet er jedoch nicht unter Rekurs auf eine tatsächlich in der Natur vorzufindende, ontologische Zweckhaftigkeit, sondern, in Übereinstimmung mit seiner kritischen Erkenntnistheorie der KrV, im Ausgang von der Struktur der Vernunft, welche im Prozess der Betrachtung der Natur spezifische kategoriale Akte vor allem über den Weg des Vermögens der selbst wieder binnendifferenzierten Urteilskraft vollziehe und somit bestimmte, u. a. hierarchische Ordnungshinsichten geltend mache. Demnach könnte eine verstärkte Betonung der Relevanz des naturteleologischen Arguments für den Zweck der Vernunft in der GMS zur Unterstellung eines allzu plumpen Zirkels führen, 121 insofern man seine diesbezüglich wichtigen Reflexionen aus der KrV und vor allem der KU in den Prozess der Gewichtung dieses Arguments mit einbezieht, wobei mir letzteres weniger eine Möglichkeit, als vielmehr eine hermeneutisch gebotene Notwendigkeit zu sein scheint. Eine derartige Rekonstruktion würde behaupten, dass Kant im Falle der Klärung der bedeutenden Frage nach der letzten Zweckbestimmung der Vernunft primär von der Leitidee bestimmter gegebener Naturzwecke ausgegangen sei und damit – im Hinblick auf Struktur und Telos der praktischen Vernunft – eine prinzipielle, da schon strukturell manifeste Heteronomie postuliert hätte. Im Kontext einer rationalen Rekonstruktion der naturphilosophischen und kritisch-teleologischen Hauptgedanken der KU würde sich darüber hinaus – allgemein formuliert und unter der Annahme der weitreichenden Geltung des naturteleologischen Arguments für die Bestimmung der Vernunft im kantischen Gesamtkonzept – ergeben, dass Kant den Zweck der Vernunft (guter Wille als Inbegriff des Guten und damit der Moralität des endlichen 121 Dies müsste man auch dann zugeben, wenn man nicht vorrangig an einer möglichst zirkelfreien und somit vielleicht künstlich-harmonisierenden Rekonstruktion interessiert wäre.

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Vernunftwesens) in der GMS im Ausgang von einer natürlichen Gegebenheit angenommen und diese Naturteleologie in der späteren KU in scheinbar kritischem (da erkenntnistheoretisch restringierten) Sinne aus der Struktur der Vernunft gewonnen hätte, de facto jedoch unzulässigerweise etwas bereits in der für den Gedankengang der KU als Prämisse Vorausgesetztes als Ergebnis präsentierte: Wenn man schon vorher von einer teleologischen Beschaffenheit der Natur auf eine zweckmäßige Struktur der Vernunft schließt, ist es keine Kunst und darüber hinaus logisch falsch, von der Struktur der Vernunft wieder auf die Natur bzw. ihre vernunftgegebene Erkenntnis- oder Beurteilungsform zu schließen – und sei es angeblich nur in dem kritischen Sinne einer hypothetisch anzunehmenden Teleologie. Allerdings ist zu beachten, dass selbst bei einer explizit positiven Gewichtung der naturteleologischen Zweckbestimmung der Vernunft nicht behauptet würde, dass Kant nicht nur die zweckmäßige Verfasstheit der Vernunft überhaupt, sondern darüber hinaus auch die Materialität des Vernunftzwecks aus Naturgegebenheiten ableiten wolle. Naturteleologisch abgeleitet wird in der GMS allein die Annahme, dass auch die Vernunft einen Zweck besitzen müsse und dieser nicht in der Glückseligkeit bestehen könne, und auch diese These sollte nicht als Bedingung der Rechtmäßigkeit der Annahme einer inneren Zweckbestimmtheit praktischer Vernunft, sondern als nur flankierendes Plausibilisierungsargument eingestuft werden, wenn man Kant nicht grundsätzlich auf der Ebene eines wolffschen Reflexionsansatzes rekonstruieren will. 122 Ad b) Der zweite klärungsbedürftige Aspekt der Argumentationsanalyse besteht darin, dass fast alle Pflichten und Verbote primär mit werttheoretischen Argumenten begründet werden. Die hier bestehende Problematik lässt sich anhand der Behandlung zweier Fragen auf den Punkt bringen: 1. Wie kann man bei den kantischen Beispielen unterscheiden, ob es sich um eine nur axiologische oder zudem vernunftteleologische Argumentation handelt? 2. Was bedeutet das Faktum der primär axiologischen Argumentationsweise Kants für die Plausibilität der D-These? Ad 1) Mit Ausnahme der mit guten Gründen vernunftteleologisch zu 122 Vgl. dementsprechend zur personalen Teleologie als Basis der kantischen Naturteleologie: Horn 2006, S. 65.

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rekonstruierenden Pflicht zur Entwicklung der Talente ist der systematische Kern vieler der untersuchten Pflichtableitungen vor allem axiologischer Natur, ohne dass Kant explizit von Widersprüchen zu Vernunftzwecken oder dem Sittengesetz spricht. Daher wäre es ohne jeglichen Kommentar für eine typologische Untersuchung dieser Argumente wenig hilfreich, bei einer bloßen Konstatierung dieses Sachverhalts zu verharren, auch wenn letzterer als solcher für die Beurteilung der These der Irrelevanz werttheoretischer Aspekte von Belang ist (s. dazu Punkt 2). Der hier zu berücksichtigende Gesichtspunkt besteht darin, dass es sich nach Kant bei den axiologisch begründeten Pflichtableitungen um Anwendungsbeispiele des Kategorischen Imperativs handeln soll. Dies bedeutet, dass sich eine Rekonstruktion des argumentativen Bezugs auf die Würde des Vernunftwesens oder den Wert seiner Handlungsfähigkeit qua Freiheit insofern nicht primär als Rekurs auf den Selbstzweck als Geltungsgrund des KI nahe legt, als axiologische Begründungsmodelle im Rahmen von Pflichtbestimmungen auf die SZF als Prinzip der Pflichten bezogen werden müssen. SZF ist diejenige KI-Formulierung, welche sowohl die axiologisch als auch vernunftteleologisch zentrale Idee des Selbstzwecks der rationalen Natur jedes Vernunftwesens in aller Deutlichkeit auch in der ethischen Theorie Kants zur Geltung bringt und ihr auch anwendungsbezogene Relevanz verschaffen soll. Da in diesem Fall die Möglichkeit einer metaethischen Funktion der Selbstzweckkonzeption ausscheidet – Kant argumentiert in keinem der angeführten Beispiele für die Geltung des Sittengesetzes bzw. KI selbst, sondern setzt diese jeweils voraus –, bleibt nur die Funktion des Selbstzwecks als höchster Vernunftzweck, der, vermittelt über andere konkrete Zwecksetzungen und -verwirklichungen, in allen Handlungen verfolgt werden soll. Auch in dieser Perspektive ist der Selbstzweck als besonderes Wertkonzept zu verstehen, doch fungiert er zugleich als der absolute Zweck der Verwirklichung des Werts reiner praktischer Vernunft als solcher, d. h. als der Zweck der Verwirklichung des eigentlichen intelligiblen Selbst des Vernunftwesens. Diesem obersten Vernunftzweck wird sowohl in der Vernachlässigung der Talente als auch im Selbstmord oder der Unwahrhaftigkeit zuwider gehandelt, was genauer dadurch bezeichnet werden kann, dass die jeweils in diesen Handlungen verwirklichten Werte nicht auf den Wert der Vernunft, sondern auf subjektiv-kontingente Begehrlichkeiten von Individuen zurückführbar sind. Die angeführten Beispiele zur Pflichtableitung stellen in dieser Sicht konkrete, in ver392

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schiedene Situationen eingebettete Variationen des einen Grundgedankens dar, dass die Achtung des absoluten Werts der Menschheit in jeder Person – sowohl als punktuelle Verwirklichung als auch als kontinuierliches Anstreben des Selbstzwecks des Vernunftwesens – den allgemeinen Inhalt moralischer Handlungsgrundsätze darstellt. Wie in Kapitel VIII noch genauer ausgeführt wird, begreift Kant unter ›Achtung‹ zum einen unmittelbar verwirklichte Moralität und schreibt ihr zum anderen als moralische Triebfeder den Vernunftzweck der vollkommenen Implementierung des Sittengesetzes in das Maximengefüge zu. 123 Wie der Selbstzweck der rationalen Natur weist demnach konsequenterweise auch die Achtung eine axiologisch-vernunftteleologische Doppelstruktur auf, welche aus der teleologischen Reifizierung des Werts praktischer Vernünftigkeit resultiert. Somit ergibt sich insgesamt, dass die axiologischen Begründungen der Pflichtableitungen aufgrund ihres Zusammenhanges mit der SZF und der Achtungskonzeption die Funktion vernunftteleologischer Argumente besitzen. Ad 2) Eine Grundthese stark-deontologischer Interpretationen besteht nicht nur in der Ablehnung der Relevanz nicht-moralischer Konzepte des Guten als Moralbasis, sondern zudem in der vollständigen Dependenz von Wertbegriffen überhaupt vom Moralgesetz und den Pflichten. Doch auch wenn man dezidiert deontologischen Rekonstruktionen gegenüber eine gewisse Milde walten lassen will, zeigt sich angesichts der weitgehend eindeutig axiologischen Begründung der Pflichten mit aller Deutlichkeit, dass nicht nur die metaethische KI-Begründung in der GMS, sondern auch viele der Rechtfertigungen empirisch orientierter Sollensforderungen ohne den argumentativ relevanten Bezug auf Wertmaßstäbe bei Kant nicht funktionieren. Im Falle einer streng wörtlichen Auffassung der D-These müsste Kant allerdings jede Pflicht allein unter Rekurs auf das von selbst einleuchtende Sittengesetz ableiten, ohne auf in dieser Perspektive schlicht überflüssige axiologische Reflexionen angewiesen zu sein. Die Tatsache, dass Kant nachweislich und unverhohlen anders verfährt, weist nun zwar m. E. in der Tat auf die Unfähigkeit der D-These hin, eine adäquate Integration der kantischen Wertkonzepte zu leisten. Dennoch ist zugleich zu fragen, wieso Kant im durchaus grundlegend relevanten Methodenparadoxon in der KpV eine geradezu klassisch-deontologisch anmutende Ableitung des moralisch Guten allein vom Sittengesetz und 123

Vgl.: KpV AA V, S. 76 und S. 79. A

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nicht vom Selbstzweck der rationalen Natur etc. vornimmt, wenn er zum einen eine Handlung aus Pflicht als Handlung aus Achtung des Werts der Person/des Sittengesetzes bestimmt und zum anderen die meisten Pflichten von der SZF ableitet. Beim Paradoxon ist das Sittengesetz, bei den Pflichtableitungen der Selbstzweck das systematisch entscheidende normative Element. Welche allgemeine Beziehung besteht nun zwischen diesen Konzepten? Beide Elemente besitzen zwar insofern nicht dieselbe Bedeutung, als ersteres ein Gesetz, letzteres ein Wert- bzw. Zweckbegriff ist, doch steht schon im Ausgang von der SZF selbst fest, dass sie nach Kant über eine enge Verbindung miteinander verfügen, da die Selbstzweckformel des KI die imperativische Form des Sittengesetzes darstellt. Die SZF kann daher dem Sittengesetz nicht einfach gegenübergestellt werden, auch wenn Kant nur in der SZF und RZF und nicht im Paradoxon explizit wertbezogen reflektiert. Wenn die durch das Selbstzweckkonzept begrifflich artikulierte Würdeidee einen inhaltlichen Aspekt des KI ausmacht, müsste dasselbe unter der Voraussetzung immanenter Konsistenz in letzter Konsequenz auch für das Sittengesetz behauptet werden. 124 Und in der Tat: In Kapitel V.3.1.1.4 wurde herausgearbeitet, dass Kant sowohl in der frühen Vorlesung Kaehler als auch der reifen KpV sowie der RGV von der ›Heiligkeit‹ des Sittengesetzes spricht, und in der GMS 125 fungiert das Moralgesetz als Gegenstand der Achtung. Diese in der SZF offensichtliche axiologische Dimension des Sittengesetzes bleibt beim Paradoxon zwar implizit, doch wird dadurch nicht revidiert, dass die Idee des Sittengesetzes nach Kant eine aus der Vernunft stammende Wertidee ist: Nicht nur ist der gute Wille unbedingt gut und hat das Vernunftwesen absoluten Wert, sondern auch das Sittengesetz ist aufgrund der Reinheit seiner praktischen Geltung heilig zu nennen. So muss man abschließend zu diesem Punkt konstatieren, dass zwischen dem schwach-deontologischen Paradoxon und den primär axiologischen Argumentationen für viele Pflichten kein immanenter Widerspruch besteht, da 1. Sittengesetz und Selbstzweck in der SZF eine Einheit bilden und die axiologische Tiefendimension des Sitten124 Dies würde nur dann nicht gelten, wenn durch die Imperativform gegenüber dem indikativischen Sittengesetz ein tatsächlich neuer, axiologischer bzw. vernunftteleologischer Gehalt hinzukommen sollte. Diese Position ist jedoch von Kant her nicht belegbar. 125 Vgl.: GMS AA IV, S. 400.

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gesetzes im Paradoxon nur implizit bleibt, dadurch jedoch nicht negiert wird, und dies 2. bedeutet, dass nach Kant eine wertbasierte Pflichtableitung trotz dieses normativ konstitutiven Wertbezugs über den Weg der SZF folgerichtig auf das vermeintlich rein deontologische Sittengesetz rekurrieren kann. Auf der metaethischen und obersten Prinzipienebene findet sich im Falle des Paradoxons eine schwach-deontologische Struktur; auch die Argumente für die Struktur der Willensbestimmung und der Ableitung des höchsten Guts sind deontologisch mit axiologischen Implikationen. Die meisten Argumentationen für das deontische Musterelement der Pflicht rekurrieren auf den Wert der rationalen Natur in jeder Person, sodass die Erfüllung der Pflicht in der Willensbestimmung aus Achtung des Selbstzwecks der Person und moralisch unzulässige Grundsätze dementsprechend auf seiner Verkennung beruhen. In gewisser Weise stellen diese Pflichtableitungen anhand der SZF eine strukturelle Spiegelung der metaethischen KI-Begründung in der GMS auf der Ebene der Ethiktheorie dar, sodass man von einer zumindest partiellen Symmetrie grundlegender Argumentationsfiguren in Metaethik und Ethik sprechen kann. Der typologisch relevante, wenn auch nicht kategoriale Unterschied besteht allerdings darin, dass die bei den Pflichtableitungen konstitutive Wertachtung vor dem Hintergrund der SZF als praktische Affirmation eines übergeordneten Vernunftzwecks und nicht allein als nicht-teleologische Begründungsrelation verstanden werden muss. Insgesamt zeigt die Argumentationsanalyse, dass Kants konkrete Vorgehensweise einerseits eine Reihe typologisch unterschiedlicher Strukturen umfasst, was gegen eine einseitige Klassifikation spricht; andererseits kann man dennoch einen systematischen Vorrang schwach-deontologischer und axiologischer bzw. vernunftteleologischer Argumentationen gegenüber natur- und sozialteleologischen sowie konsequentialistischen Ansätzen festhalten. Die in VI.3.3 behandelte Frage nach Struktur und Zweckbestimmung der Vernunft ist nicht allein im soeben erörterten Kontext von Bedeutung, sondern für eine umfassendere ethiktypologische Betrachtung der kantischen Ethik aufgrund des engen Konnexes von Wille und praktischer Vernunft auch in grundsätzlicher Art und Weise relevant. Zudem bleibt auch unabhängig von der Argumentationsanalyse zu A

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untersuchen, ob nicht die allgemeine kantische Struktur- und Funktionsbestimmung der Vernunft einen größeren Einfluss auf die Gestalt seiner Moralphilosophie besitzt, als man im Ausgang von den in der aktuellen Diskussion vorherrschenden Topoi schließen könnte. Dieser Frage nach typologisch relevanten Merkmalen der kantischen Vernunftkonzeption wird dementsprechend im folgenden Kapitel nachgegangen.

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VII. Kants Konzeption der Vernunft

Bei genauerer Analyse vieler derzeit vertretener ethiktypologischer Positionen fällt auf, dass die Begriffe der ›Pflicht‹, des ›Zwecks‹ oder des ›guten Willens‹ häufig im Mittelpunkt der Rekonstruktionen stehen, nicht jedoch die vernunfttheoretischen Prämissen Kants, 1 welche sich auch für die genannten Begriffe als implikationsreich erweisen können, auch wenn sie vor allem in seinem theoretischen Hauptwerk zu finden sind. 2 Dieser Gesichtspunkt wird vor allem im Falle der kriDies gilt zumindest hinsichtlich einer ethiktypologisch evaluierten Explikation der entsprechenden kantischen Charakterisierung der Struktur von theoretischer und praktischer Vernunft. 2 Für eine umfassendere Erörterung der Struktur von theoretischer und praktischer Vernunft und insbesondere ihres Zusammenhangs müsste zudem die dritte Kritik herangezogen werden, da sich in ihr die vielleicht pointiertesten Ausführungen zu dieser Problematik finden lassen. Es ist allerdings umstritten, inwiefern die KU im Verhältnis zur KrV hinsichtlich der vernunfttheoretischen Basisannahmen wirklich Neuland betritt. Der wichtigste Gegenstand der Diskussion scheint mir dabei die Frage nach der systematischen Relation und Funktion vom regulativen, auf einen focus imaginarius bezogenen Vernunftgebrauch in der KrV und dem Konzept der reflektierenden bzw. teleologischen Urteilskraft der KU zu sein. Während Hogrebe in der transzendentalen Dialektik der KrV einen eindeutigen Vorgriff auf die teleologische Urteilskraft sieht, hält Bartuschat dagegen, dass der für die reflektierende Urteilskraft charakteristische Bezug auf das Einzelne/Besondere in der transzendentalen Dialektik noch nicht relevant sei; vgl.: Hogrebe 1974, S. 144; vgl.: Bartuschat 1972, S. 52. Bartuschats Auffassung der Gegenstandsorientierung der reflektierenden Urteilskraft ist wiederum von Mertens dahingehend kritisiert worden, dass auch die logisch reflektierende Urteilskraft nicht das Besondere als solches (unabhängig von jeglichem Allgemeinheitsbezug), sondern in ihrer Verfasstheit als grundsätzlich unter ein Allgemeines Subsumierbares thematisiert; vgl.: Mertens 1975, S. 37. Zudem habe Kant selbst niemals eine ähnliche Gleichsetzung beider Vermögen vollzogen, was auf ein in der KrV noch nicht hinreichend entwickeltes, in der KU jedoch anzutreffendes Problembewusstsein hinweise; vgl.: Mertens 1975, S. 143. Konhardt stimmt einerseits Bartuschat zu, indem er darauf verweist, dass »sich die reflektierende Urteilskraft, anders als die regulativen Ideen der Vernunft, nicht auf die Verstandesleistungen, sondern auf die Fülle des sinnlich Gegebenen be1

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Kants Konzeption der Vernunft

tischen Analyse der starken Teleologiethese Leists virulent, da dessen Schluss von der grundlegenden Relevanz des Willensbegriffs und somit auch der Konzeption der praktischen Vernunft auf den eindeutig teleologischen Charakter der kantischen Ethik zwar sehr pointiert formuliert ist und als durchaus voraussetzungsvoll bezeichnet werden muss, jedoch nicht allein durch den bloßen Verweis auf die komplexe strukturelle Verwobenheit des Willensbegriffs mit anderen systemarchitektonisch relevanten Elementen entkräftet werden kann. Geprüft werden soll daher im Folgenden, welche ethiktypologischen Implikationen Kants Vernunfttheorie 3 besitzt. Zu diesem Zweck wird in einem zieht.« S.: Konhardt 1979, S. 161. Zugleich spricht er sich für eine auf inhaltliche Kontinuitäten von KrV und KU abzielende und somit Hogrebe unterstützende Interpretation aus, da das Prinzip der Zweckmäßigkeit in beiden Werken (und zudem in der KpV) in seiner Funktion der obersten Einheitsstiftung zur Anwendung komme und die Frage, ob nun die Vernunft als allgemeines Vermögen oder als reflektierende Urteilskraft dabei gebraucht würde, von eher sekundärer Relevanz sei; vgl.: Konhardt 1979, S. 162 sowie S. 172 Anm. 154. Da Kant auch in der dritten Kritik keinen Zweifel an dem schon in der KrV zu konstatierenden Primat der praktischen Vernunft aufkommen lässt und die reflektierende Urteilskraft in der Tat die vormals – noch vergleichsweise undifferenziert, da nur auf die Einheit der Welt und nicht von Natur und Freiheit abzielend, in der Sache jedoch zumindest an einem strukturanalogen Problem orientiert – der praktischen Vernunft zugeschriebene Aufgabe der Einheitsstiftung von Verstand (Reich der Natur) und Vernunft (Reich der Freiheit) übernehmen soll, scheint mir Konhardts Position in dieser Frage der Problemlage angemessen zu sein. 3 Im Gegensatz zur Wertproblematik scheint es mir gerechtfertigt zu sein, von einer kantischen Theorie der Vernunft zu sprechen, da man die ersten beiden Kritiken durchaus als kritische Beiträge zu einer Theorie der theoretischen und praktischen Vernunft verstehen kann. Aus dieser Perspektive ist freilich die Frage nicht geklärt, ob Kant der angestrebte und vor allem in der dritten Kritik unternommene Versuch eines Aufweises der rational nachvollziehbaren Einheit beider Vernunftvermögen gelungen ist. Dieses Problem steht in engem Zusammenhang mit demjenigen der zuweilen anzutreffenden Konstatierung des Mangels einer hinreichend ausgearbeiteten Prinzipientheorie bei Kant, wobei mit diesem Begriff die reflektierte Relation derjenigen obersten rationalen Grundsätze bezeichnet werden soll, welche weder allein zur theoretischen noch zur praktischen Vernunft gezählt werden können, sondern auf deren Reflexionsebene diese Binnendifferenzierung der Vernunft erst instanziiert und einsichtig gemacht wird. Vgl. dazu die Feststellung Henrichs: »Es ist ein und dieselbe Vernunft, die sich in beiden Dimensionen äußert. Aber das theoretische Wissen ist aus dem praktischen ebenso wenig abzuleiten wie das praktische aus dem theoretischen. Auch gibt es keinen schon vorgängig bestimmten Sinn von Vernunft, aus dem ihre beiden Formen zu verstehen wären.« S.: Henrich 1973, S. 226 f.; vgl. zum Problem der Unterbestimmtheit des kantischen Vernunftbegriffs: Zeidler 1992, S. 161. Der in der KU unternommene Versuch einer Vermittlung beider Gebrauchsweisen der Vernunft setzt den Primat des Praktischen schon voraus und begründet ihn nicht seinerseits. Zwar weist Konhardt zu Recht

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Theoretische und praktische Vernunft

ersten Schritt die kantische Differenzierung von theoretischer und praktischer Vernunft skizziert, um in der darauffolgenden Analysestufe auf die Bedeutung der entsprechenden Aussagen insbesondere zu den teleologischen Strukturmomenten der Vernunft in ihren beiden unterschiedlichen, nach Kant jedoch letztlich auf eine Einheit bezogenen Vollzugsmodi zu reflektieren.

VII.1 Theoretische und praktische Vernunft Kants Ausführungen zur Vernunft sind von zwei grundlegenden Annahmen abhängig: Zum einen sei zwischen einem theoretischen und einem praktischen Gebrauch der Vernunft zu differenzieren, zum anderen handele es sich dabei nur um eine einzige Vernunft, die dabei auf zwei unterschiedliche Weisen zur Anwendung komme. 4 Die Differenzierung in ein theoretisches und ein praktisches Vernunftvermögen zeigt jedoch trotz der zugleich postulierten Einheit beider eine streng auseinanderzuhaltende Verfasstheit der Vernunft an, 5 welche nach Kant auf die beiden zugrundeliegenden Vermögen des Verstandes (theoretische Vernunft) und des Willens (praktische Vernunft) rückführbar ist. Kant vertritt neben den bereits angeführten spezifischeren Aussagen auch allgemeinere Thesen über die Vernunft als solche, ohne direkt auf ihre Binnendifferenzierung und ihre dennoch bestehende Einheit Bezug zu nehmen: In der transzendentalen Dialektik der KrV darauf hin, dass erst in der KU der Primat des Praktischen aufgrund des verstärkten Bezugs auf die Idee eines Endzwecks der Welt in seiner systematischen Reichweite vollends zum Tragen komme, doch können die genuin praktischen Voraussetzungen der KU nicht in ihr selbst verortet werden, sondern die dritte Kritik muss zu diesem Zweck zusammen mit der GMS, der Vorlesung Kaehler und der KpV betrachtet werden. Im Ausgang von dieser Verhältnisbestimmung stellt sich die Konzeption der KU und ihrer Resultate eher als systemimmanenter Erweis der Fruchtbarkeit und Berechtigung des zuvor bereits eingenommenen und in mehreren Anläufen fundierten praktischen Standpunkts dar. Ohne diese komplexe Problematik hier zu diskutieren, kann doch darauf verwiesen werden, dass der Primat der praktischen Perspektive auch in Bezug auf die Vereinigung von Naturgesetzlichkeit und Freiheit zumindest im Kontext einer immanent verfahrenden Rekonstruktion des kantischen Systems einer gewissen Konsistenz nicht entbehrt. 4 »[…] so ist es doch immer nur eine und dieselbe Vernunft, die, es sei in theoretischer oder praktischer Absicht, nach Principien a priori urtheilt […].« S.: KpV AA V, S. 121; vgl. dazu: Hutter 2003, S. 152 ff. 5 Vgl.: KrV B 661. A

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wird die Vernunft als das »Vermögen der Principien« 6 bestimmt, welches sich insofern von dem für die Erfahrung konstitutiven Verstand unterscheidet, als es nicht auf die Erfahrung, sondern auf den Verstand selbst bezogen ist. 7 Kant bestimmt die Funktion der Vernunft ganz konkret als Stiftung einer apriorischen Einheit der Verstandesregeln durch Begriffe, weshalb er auch von einer Vernunfteinheit 8 sprechen kann. Im Unterkapitel zu den transzendentalen Ideen 9 in der KrV führt er zur Vernunfteinheit aus, dass sich die Vernunft auf den Verstandesgebrauch nicht in erfahrungskonstitutiver Hinsicht bezieht, »sondern um ihm die Richtung auf eine gewisse Einheit vorzuschreiben, von der der Verstand keinen Begriff hat, und die darauf hinaus geht, alle Verstandeshandlungen in Ansehung eines jeden Gegenstandes in ein absolutes Ganzes zusammen zu fassen.« 10 Vernunft hat in dieser Perspektive demnach die Aufgabe, dem ihr untergeordneten Vermögen des Verstandes durch die Ermöglichung von dessen Einheit eine Hinordnungsrichtung seiner Ausübung vorzugeben. Die Bedeutungskomponente der normativen Richtungsanzeige verweist bereits auf einen Grundzug der kantischen Auffassung von der Funktion der Vernunft, der nicht zuletzt in praktischer Hinsicht für die Frage nach der Stichhaltigkeit der T-These von einiger Relevanz ist: Vernunft ist nach Kant vor allem anderen ein Vermögen der Zwecke, 11 und die Funktion der Einheitsstiftung muss dementsprechend vor dem Hintergrund dieser Grundsatzbestimmung verstanden werden. 12 S.: KrV B 356. Vgl.: KrV B 359. 8 In den theoretisch relevanten Kategorien des Verstandes drücke sich entsprechend eine Verstandeseinheit aus; vgl.: KrV B 383; vgl. zur Vernunfteinheit als Zweckeinheit in allen drei kantischen Kritiken: Konhardt 1979, S. 11. 9 Vgl. zu diesem Begriff: »Ich verstehe unter der Idee einen nothwendigen Vernunftbegriff, dem kein congruirender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann. Also sind unsere jetzt erwogene reine Vernunftbegriffe transcendentale Ideen.« S.: KrV B 384. 10 S.: KrV B 384. 11 Vgl. zur Ordnung der Zwecke als dem Gebiet der Vernunft: KrV B 425. In der zweiten Kritik findet sich dieselbe Definition mit Bezug auf den Willen: »[…] so daß man auch den Willen durch das Vermögen der Zwecke definiren könnte, indem sie jederzeit Bestimmungsgründe des Begehrungsvermögens nach Principien sind […].« S.: KpV AA V, S. 58 f.; vgl. ebenso: Kant 1924, S. 600; vgl. darüber hinaus: MS AA VI, S. 395; vgl. dazu: Paton 1962, S. 186. 12 Dieses Resultat hat auch Konhardt in seiner Studie zum Verhältnis von theoretischer und praktischer Vernunft bei Kant fixiert: »In der KrV ist Zweckmäßigkeit, […], ein 6 7

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Dieser Sachverhalt schlägt sich auch in Kants Erörterung der Anwendung des transzendentalen Vernunftbegriffs nieder, wobei im Unterschied zum bisher Gesagten nicht nur die Einheitsfunktion in ihrer rein formalen Dimension, sondern auch eine fundamentale materiale Bestimmung des strukturellen Einheitspunkts der Vernunft relevant wird: Der transzendentale Vernunftbegriff gehe »jederzeit nur auf die absolute Totalität in der Synthesis der Bedingungen, und endigt niemals, als bei dem schlechthin, d. i. in jeder Beziehung, Unbedingten.« 13 Diese Vernunftausrichtung ist natürlich ihrerseits ebenfalls im Vergleich zu konkreten Einzelzwecken menschlichen Handelns formal, 14 geht jedoch über die davor getroffene Aussage inhaltlich hinaus, da nun eine erste Spezifikation der Ausrichtung der Vernunft vollzogen wurde. Nach Kant sind reine Vernunftbegriffe Ideen, und in der KrV lässt er keinen Zweifel daran, dass Vernunftideen erstens nicht kontingent seien und zweitens stets mit dem Ganzen oder dem Maximum einer Sache in Verbindung stünden. 15 Die Ideen der Vernunft müssen demVernunftprinzip für die Einheit der Welt, ja es ist das ausgezeichnete Einheitsprinzip der Vernunft.« S.: Konhardt 1979, S. 161. Dies macht er (m. E. zu Recht) nicht nur für den Bereich der theoretischen Vernunftauffassung, sondern darüber hinaus für die Frage nach dem Zusammenhang von theoretischer und praktischer Vernunft geltend: »[…]: wenn theoretischer und praktischer Gebrauch der Vernunft nicht vollends auseinanderklaffen sollen, sondern, wie Kant ihren Zusammenhang wenigstens im Ansatz immer wieder beschrieben hat, als zwei verschiedene Weisen des Gebrauchs ein und derselben Vernunft verstanden werden müssen, so muß Zweckmäßigkeit als Ausdruck jeglichen Systematisierungsstrebens der Vernunft, also auch der praktischen, gelten können.« S.: Konhardt 1979, S. 162. 13 S.: KrV B 383. Diese vernünftige Systematisierungsbestrebung zum Unbedingten hin nimmt dabei stets Bezug auf Bedingtes: »Wenn also ein Bedingtes gegeben ist, versucht die Vernunft die Wahrheit dieses Bedingten durch das Aufsteigen zu den letzten Bedingungen zu beweisen, und es gibt genauso viele transzendentale Aufgaben, wie es Typen von Relationen zwischen einem Bedingten und seiner Bedingung gibt.« S.: Piché 1984, S. 32. 14 Vor dem Hintergrund der kantischen Auffassung der Vernunft als einem Vermögen der Zwecke bezeichnet Kant die »zweckmäßige Einheit der Dinge« dementsprechend als die »höchste formale Einheit«, die auf reinen Vernunftideen beruhen könne; s.: KrV B 714. Der Begriff des Unbedingten wird damit einerseits immer noch als formales Prinzip eingeführt, da es sich nicht um eine explizit materiale Teleologie handelt, andererseits wird dadurch diejenige inhaltliche Bestimmung vollzogen, dass das vormals nur Unbedingte nun als durch Zweckhaftigkeit charakterisierte Einheitsidee beschrieben und umgekehrt besagte Einheit auf das Unbedingte bezogen wird. 15 Vgl.: KrV B 384. Die Ideen seien »Begriffe der reinen Vernunft; denn sie betrachten A

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nach als der Vernunft notwendigerweise zukommende, strukturell inhärente Entitäten verstanden werden und bilden somit einen festen Bestandteil der kantischen Vernunftauffassung. 16 Neben den theoretischen Ideen führt Kant zudem die praktischen Ideen an, wobei er die Idee der praktischen Vernunft insofern hervorhebt, als sie »die unentbehrliche Bedingung jedes praktischen Gebrauchs der Vernunft« 17 darstelle und »in Ansehung der wirklichen Handlungen unumgänglich nothwendig« 18 sei. Die Ideen der theoretischen Vernunft (Gott, Unsterblichkeit und Freiheit) besitzen innerhalb des theoretischen Kontextes nur eine regulative, die bereits durch den Verstand zustande gebrachten Erkenntnisse19 ordnende und ausrichtende Funktion und können somit nicht den geltungstheoretischen Rang einer objektiven Erkenntnis nach Prinzipien für sich beanspruchen, doch in der Moralphilosophie sind sie für die Gegenstände der praktischen Vernunft von konstitutiver Relevanz: Indem der Wille nach der Verwirklichung von Vorstellungen strebt und auch tatsächlich einige Vorstellungen zur Anleitung seines Handelns annimmt bzw. graduell wirklich macht, beweist er seine Kausalität nicht zuletzt durch entsprechende Handlungsakte. Die Konstitutivität der Vernunftideen in praktischer Hinsicht trägt dabei dem Umstand Rechnung, dass der Mensch ein erkennendes und handelndes Wesen ist. Die grundsätzliche, d. h. aus ihrer eigenen Verfasstheit resultiealles Erfahrungserkenntniß als bestimmt durch eine absolute Totalität der Bedingungen. Sie sind nicht willkürlich erdichtet, sondern durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben und beziehen sich daher nothwendigerweise auf den ganzen Verstandesgebrauch.« S.: KrV B 384. 16 In der transzendentalen Methodenlehre der KrV verweist Kant zudem auf den systematischen Konnex von Vernunftidee und Systembegriff: »Ich verstehe […] unter einem Systeme die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee. Diese ist der Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen, so fern durch denselben der Umfang des Mannigfaltigen so wohl, als die Stelle der Theile untereinander a priori bestimmt wird.« S.: KrV B 861. 17 S.: KrV B 385. 18 S.: KrV B 385. 19 Konhardt parallelisiert in diesem Zusammenhang die vernünftige Erkenntniseinheit mit derjenigen des Organismus, welcher von Kant in der dritten Kritik bekanntlich hinsichtlich seiner zweckmäßigen Ordnung hervorgehoben wird: »Die Vernunft stiftet mithin organologische Einheit unter allen Erkenntnissen, indem sie diese nach Maßgabe des Zweckprinzips miteinander verbindet.« S.: Konhardt 1979, S. 167; vgl. dazu die kantische Differenzierung zwischen der »articulatio« und »coacervatio« des Ganzen in Parallele zum animalischen Körper, in: KrV B 861.

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Das Interesse der Vernunft

rende Ausrichtung der Vernunft auf das Unbedingte stellt einen der Vernunft und somit auch dem endlichen Vernunftwesen eigenen Möglichkeitshorizont dar – eine strukturimmanente Potentialität, 20 welche in kantischer Perspektive nicht als bloß faktisch zu verstehende Option einer Form des kontingenten Selbstentwurfs, sondern vielmehr als normativ zu verstehende Potentialität zur Selbstvollendung und damit, als praktisches Vermögen, zur vollkommenen moralischen Selbstverwirklichung aufgefasst werden soll. 21 Im Folgenden wird sich zeigen, dass Kant diese der Vernunft eigene und zudem strukturnotwendige Ausrichtung auf Zweckmäßigkeit auf eine Art und Weise begrifflich fixiert hat, welche die Klassifizierung seines Konzepts der Vernunft in ethiktypologischen Termini zum einen erleichtert, zum anderen bestimmte Fragen aufwirft, die vor allem die Rechtmäßigkeit einer streng deontologischen Interpretation betreffen.

VII.2 Das Interesse der Vernunft Kant schreibt der Vernunft in ihrer jeweils theoretischen und praktischen Verfasstheit ein entsprechendes theoretisches und praktisches Interesse zu, 22 worunter er die in diesem Vermögen angelegten Bestrebungen zur Erklärung (Angabe einer Ursache als Element einer geschlossenen Kausalkette in der Natur) bzw. zur moralphilosophischen Fundierung (Angabe eines dem Sittengesetz angemessenen Beweggrundes für das menschliche Handeln) versteht. An anderer Stelle der KrV spricht er von einem »dringenden Bedürfnis der Vernunft, etwas vorauszusetzen, was dem Verstande zu der durchgängigen Bestimmung seiner Begriffe vollständig zum Grunde liegen könne« 23 »Die Vernunft würde nie vollenden, nie das Erkenntnis nach seiner Möglichkeit ganz umfassen, wenn sie nicht zum Unbedingten überginge, zu dem Grunde, der von keinem andern abhängt.« S.: Kant 1924, S. 573. 21 Vgl. dazu: Konhardt 1979, S. 180 f. 22 Vgl. zu einer Entwicklung der Gesamtstruktur der kantischen Vernunftkritik im Ausgang vom Begriff des Interesses der Vernunft: Hutter 2003. 23 S.: KrV B 612; vgl. auch B 615. Die kantische Rede von einem »Bedürfnis […] der Vernunft« stellt dabei in entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht keinen Grundbegriff seines Denkens dar, wie frühere Passagen nahelegen. So sei nach Refl. 4571 die Idee einer höchsten Vollkommenheit und eines regierenden Gottes »nöthig aus Bedürfnis, aber nicht nothwendig aus Vernunft«; s.: Handschriftlicher Nachlass: Metaphysik AA XVII, S. 598; vgl. ebenso: Abhandlungen nach 1781 AA VIII, S. 139 Anm. Hutter verweist in 20

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und charakterisiert diese Vernunfttendenz als die natürliche Funktionsweise 24 jeder menschlichen Vernunft. Durch die immanente Ausrichtung der Vernunft auf das Unbedingte ist eine Tendenz der Vernunft zur systematischen Ordnung der Erkenntnisse angelegt, 25 welche sich nach Kant in einem architektonischen Interesse 26 der Vernunft äußert. Grundsätzlich bestimmt er das moralische Interesse als die »Abhängigkeit eines zufällig bestimmbaren Willens […] von Prinzipien der Vernunft« 27 . Der Begriff des ›Interesses‹ sei dabei in praktischem Verständnis in seinem unmittelbaren Konnex zum Konzept der Triebfeder zu verstehen: »Aus dem Begriffe einer Triebfeder entspringt der eines Interesse, welches niemals einem Wesen, als was Vernunft hat, beigelegt wird und eine Triebfeder des Willens bedeutet, so fern sie durch Vernunft vorgestellt wird.« 28 Über diese Verhältnisbestimmung von Interesse und Triebfeder hinaus wird dargelegt, wie dieser Prozess des Ursprungs des Interesses aus einer Triebfeder zu rekonstruieren sei: Um von einer bloßen Triebfeder zur Etablierung eines Interesses gelangen zu können, müsse die jeweilige Triebfeder in die übergeordnete Struktur eines subjektiv verbindlichen und daher handlungsleitenden Grundsatzes aufgenommen, demnach einer Maxime inkorporiert werden. Dadurch werde die Triebfeder insofern zu einem Interesse, als sie einen durch vernünftige Reflexion angeleiteten, nicht jedoch a priori vernünftigen Bestimmungsgrund des Willens darstelle. Die Vernünftigkeit der Triebfeder kann innerhalb des kantischen Sys-

diesem Zusammenhang darauf, dass nach Kant ein Bedürfnis der Vernunft einzig und allein aus vernunftnotwendigen Problemen des endlichen Vernunftwesens erwachsen könne; vgl.: Hutter 2003, S. 66. 24 Vgl. darüber hinaus zur Naturanlage der Vernunft: Hutter 2003, S. 39 f. 25 Vgl. zur Teleologie des theoretischen Erkenntnisinteresses: Rosales 1989, S. 392. 26 Vgl.: KrV B 503. Während sich die kantische Rede von einem architektonischen Interesse der Vernunft als Angabe allein einer Strebenstendenz auffassen lässt, betont Kant auch in anderen Passagen, dass dieses Interesse der Vernunft auf die Verwirklichung dessen angelegt sei, was immer schon (apriori) in ihrer Idee gedacht werde: »Die ursprüngliche Idee einer Philosophie der reinen Vernunft […]; […] ist also architektonisch, ihren wesentlichen Zwecken gemäß, und nicht bloß technisch, nach zufällig wahrgenommenen Verwandtschaften und gleichsam auf gut Glück angestellt, eben darum aber auch unwandelbar und legislatorisch.« S.: KrV B 875. 27 S.: GMS AA IV, S. 413. 28 S.: KpV AA V, S. 79.

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Das Interesse der Vernunft

tems nur dann behauptet werden, wenn sie in der Achtung vor dem Sittengesetz als rein vernünftiger Struktur besteht. 29 So wie Kant von einer grundsätzlich bestehenden Einheit der Vernunft und zwei unterschiedlichen Gebrauchsweisen dieses Vermögens ausgeht, schreibt er ihr in der KrV ein ›einiges‹, demnach einheitliches Interesse zu, wobei dies aufgrund der an der Unterscheidung von theoretischem und praktischem Gebrauch orientierten Binnendifferenzierung zweier Arten des Vernunftinteresses in entsprechend strukturierten subjektiven Handlungsgrundsätzen seinen genuinen Ausdruck finden können soll. Kant belässt es allerdings nicht bei der Konstatierung dieser beiden Ausrichtungen des Vernunftinteresses und der Postulierung einer prinzipiellen Einheit der Vernunft, sondern geht insbesondere in zwei wichtigen Punkten darüber hinaus: Zum einen stellt er die Behauptung auf, dass (a) alles Vernunftinteresse letztlich praktisch sei, zum anderen sieht er (b) die Vernunft in einem einzigen, höchsten Zweck vereinigt. Zu (a): Die These, dass das vernünftige Interesse stets praktischmoralischer Natur sei, wird bei Kant in beiden möglichen Formen aufgestellt: einerseits als empirische, d. h. als die tatsächlich existierende Situation des Menschen betreffende und somit deskriptive Behauptung, 30 andererseits auch in normativer Hinsicht, d. h. als vernunftVgl. treffend dazu: Hutter 2003, S. 150. Im Abschnitt zum Interesse der Vernunft im Anschluss an die kosmologischen Antinomien kommt er etwa zu dem Schluss, dass der Mensch bestimmte Annahmen auch entgegen theoretisch unbefriedigenden Einsichten für wahr halten wolle, insofern es z. B. seiner jeweiligen noetisch-voluntativen Gesamtkonstitution sowie seinen Denkgewohnheiten entspreche: »Zuletzt aber verschwindet alles speculative Interesse bei ihm vor dem praktischen, und er bildet sich ein, das einzusehen und zu wissen, was anzunehmen oder zu glauben, ihn seine Besorgnisse oder Hoffnungen antreiben.« S.: KrV B 502. Ohne jedes jeweils vorherrschende praktische Interesse wäre der Mensch aufgrund seiner notwendigen Angewiesenheit auf bloß theoretische Gründe dazu verdammt, »in einem unaufhörlich schwankenden Zustande« zu sein, da die theoretische Vernunft allein nicht darüber entscheiden könne, ob z. B. sein Wille frei oder unfrei sei; vgl.: KrV B 503. Die Entstehung einer solchen Problemlage würde allerdings dadurch verhindert, dass der Mensch praktischen Handlungsgründen den Vorrang einräume: »Wenn es nun aber zum Thun und Handeln käme, so würde dieses Spiel der bloß speculativen Vernunft, wie Schattenbilder eines Traums verschwinden, und er würde seine Principien bloß nach dem praktischen Interesse wählen.« S.: KrV B 503 f. Darüber hinaus argumentiert Kant in der GMS, dass auch das logische Vernunftinteresse eine bestimmte Absicht des Gebrauchs der theoretischen Vernunft präsupponiere; vgl.: GMS AA IV, S. 459 Anm.

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theoretisch begründete Forderung, dass alles Vernunftinteresse auch logisch folgerichtig praktisch sein müsse. Letztere Hinsicht ist hier die vorrangig interessante, da herausgestellt werden soll, inwiefern die vernunfttheoretischen Annahmen Kants in ethiktypologischer Hinsicht relevant sind und somit Argumente für oder gegen eine der zu Beginn dieser Studie klassifizierten Interpretationsperspektiven liefern können. Die These des primär praktischen Charakters des Vernunftinteresses ist direkt mit derjenigen der Existenz eines obersten Zwecks der Vernunft verbunden, sodass These (a) in These (b) mündet. Zu (b): Kant unterscheidet am Ende der KrV zwischen den bei den wissenschaftlichen Anstrengungen eines Logikers oder Naturforschers handlungsleitenden Zwecksetzungen und denjenigen des Philosophen, der nach dem allumfassenden Zweck der Welt und dem menschlichen Vernunftwesen, damit aber nach dem für die »systematische Einheit aus dem Standpunkte der Zwecke« 31 notwendig zu eruierenden Endzweck aller Dinge fragt. Aufgrund der unabweisbaren Dringlichkeit der Beantwortung der genuin philosophischen Frage nach dem höchsten Zweck, welche aufgrund der Notwendigkeit eines systematischen Einheitspunkts aller auch einzelwissenschaftlichen Erkenntnisse bestehe, ergebe sich der vernünftige Schluss auf die nur untergeordnete Relevanz aller Zwecksetzungen, welche nicht auf den höchsten Zweck gerichtet seien. 32 Der höchste Zweck der kantischen Vernunft in praktischer Hinsicht ist letztlich nichts anderes als die Verwirklichung von Vernünftigkeit selbst (d. h. ihrer eigenen Natur) in Form der vernünftigen Willensbestimmung als Resultat des Interesses der praktischen Vernunft an moralischer Selbstbestimmung. 33 Das Interesse der S.: KrV B 868. »Wesentliche Zwecke sind darum noch nicht die höchsten, deren (bei vollkommener systematischer Einheit der Vernunft) nur ein einziger sein kann. Daher sind sie entweder der Endzweck, oder subalterne Zwecke, die zu jenem als Mittel nothwendig gehören. Der erstere ist kein anderer, als die ganze Bestimmung des Menschen, und die Philosophie über dieselbe heißt Moral.« S.: KrV B 868 f. Während die theoretische Vernunft nur dazu in der Lage sei, regulative Ideen für die Einheit aller durch Verstandesleistungen erbrachten Erkenntnisse zu bilden und zum entsprechenden Gebrauch bereitzustellen, sei die praktische Vernunft dasjenige Vermögen, welches den Menschen aus innerer praktischer Notwendigkeit zur Konstatierung moralisch notwendiger Annahmen und zur Ausführung adäquater Handlungen anleite und damit auch das genuin praktische Interesse der Vernunft am letzten Zweck des Daseins über das theoretische Bedürfnis nach logisch-kausaler Rekonstruktion stelle; vgl.: KrV B 846. 33 Vgl.: Konhardt 1979, S. 220 f. und S. 240. 31 32

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Vernunft ist dabei wohlgemerkt als ein Interesse des vernünftigen Akteurs und nicht einer abstrakten Instanz namens ›Vernunft‹ zu verstehen. 34 Zum Schluss unserer Betrachtung der kantischen Vernunftauffassung muss nun geklärt werden, was die Rede von einem ›Interesse der Vernunft‹ am jeweils theoretisch bzw. praktisch bestimmten Unbedingten unter dem Primat des praktischen Interesses für die Bestimmung des kantischen Ethiktyps zu bedeuten hat. Dabei wird sich zeigen, dass die bereits an mehreren Stellen unserer Untersuchung relevant gewordene Problematik der Relation von Zweck, Selbstzweck und Wert auch bei der Frage nach den ethiktypologischen Implikationen der Struktur der Vernunft eine wichtige Rolle spielt.

VII.3 Entelechiale Vernunft, Deontologie und transzendentale Axiologie Das ethiktypologisch primär Interessante an Kants Vernunftauffassung ist m. E. nicht allein die Konstatierung ihrer Zweckbezogenheit als solche, sondern vielmehr die These, dass es der Vernunft inhärente, daher apriori notwendige Zwecke gebe, die die Vernunft bzw. das Vernunftwesen verfolge. 35 Die systematische Darstellung der allgemeinen kantischen Thesen zur Struktur der Vernunft hat bestimmte Annahmen als grundlegend ausgewiesen, welche eine ›entelechial‹ zu nennende Charakterisierung der Vernunft nahe legen: Zum einen bestimmt er die Vernunft vor allem als ein Vermögen der Zwecke, 36 zum anderen In diesem Sinne betont Heimsoeth ganz zu Recht, dass dasselbe auch für die Redewendung der »Autonomie der Vernunft« geltend gemacht werden müsse: »Die Selbstgesetzgebung ist nicht etwa nur Autonomie ›der‹ Vernunft, wie man es gerne deutet, sondern vor allem individuell-persönlicher Vollzug des einzelnen Subjekts.« S.: Heimsoeth 1956, S. 253. 35 Da Kant die Vernunft als ein System mit einem bestimmten obersten Einheitspunkt konzipiert hat, resultiert die Zweckmäßigkeit der Vernunft sowie die Zuschreibung von Zweckmäßigkeit anderen Entitäten gegenüber in gewisser Hinsicht schon rein formal aus der in ihr stattfindenden wechselseitigen Bezogenheit von Ganzem und Teil; vgl.: Rosales 1989, S. 389. 36 Da Kant die Vernunft nicht nur als Vermögen der Zwecke, sondern zugleich als Vermögen der Prinzipien begreift, könnte man ihm vielleicht vorschnell unterstellen, mit dieser doppelten Bestimmung insofern sowohl deontologischen als auch teleologischen Interpretationen eine gewisse, bereits vernunfttheoretisch zu begründende Berechti34

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stellt er die Behauptung auf, dass die Inanspruchnahme dieses Zweckvermögens selber durch dessen notwendige Hinordnung auf den obersten Zweck des Unbedingten geregelt sei. Es bleibt nun näher zu erörtern, inwiefern der strukturell bedingte Bezug der Vernunft auf die von ihr selbst hervorgebrachte Idee des Unbedingten in vor allem praktischer Ausprägung schon als vernunfttheoretisch grundgelegtes Argument für eine teleologische bzw. vielmehr vernunftteleologische Deutung der kantischen Ethik verstanden werden kann oder sogar muss. In einer gewissen Entsprechung zur auf das Willenskonzept bezogenen Argumentationsweise Leists könnte man z. B. darauf bestehen, dass ein Interesse stets auf eine mehr oder weniger konkrete Form von Gegenständlichkeit gerichtet sein müsse und sich daraus zumindest eine allgemeine These des Primats von Zweckstrukturen (wie immer diese dann näher spezifiziert werden müssten) ableiten ließe. 37 Allerdings stellt sich die Situation als nicht ganz so eindeutig dar, denn bei Konhardt findet man eine bedenkenswerte Bestimmung des Interesses der Vernunft, welche überraschenderweise weniger für eine teleologische o. ä. Klassifizierung der kantischen Ethik spricht, sondern vielmehr eine deontologische Einordnung nahezulegen scheint. Konhardt führt aus, dass bei Kant mit dem Interesse der Vernunft nichts anderes gemeint ist als der für die moralische Willensbestimmung unabdingbare Geltungsanspruch der praktischen Vernunft, der sich im Sittengesetz oder dessen Formulierung als kategorischer Imperativ artikuliert. 38

gung und damit selbst Anlass für die so kontrovers geführte aktuelle Diskussion gegeben zu haben, als Prinzipienfundiertheit und Zweckbezug oftmals als für beide genannten Ethiktypen jeweils charakteristisch angesehen werden. Allerdings würde im Falle einer solchen Argumentation verkannt, dass es sich bei den beiden besagten Bestimmungen der Vernunft nicht um gegensätzliche Aussagen handelt, da Kant das Prinzip der Zweckmäßigkeit als für die Vernunft maßgeblich herausstellt, sodass in diesem Falle – in aller Deutlichkeit im apriorischen Prinzip der Urteilskraft – Prinzipienstruktur und Zweckbezug eine systematische Einheit bilden. Somit wäre es zumindest das Resultat einer nur oberflächlichen Reflexion, Prinzipienstruktur und praktische Zweckkonstitutivität als sich im kantischen Ansatz wechselseitig ausschließende Elemente zu rekonstruieren. 37 Dies scheint auch durch Äußerungen von Konhardt unterstützt zu werden, wenn dieser von der durchgängigen Bedeutung der teleologischen Implikate der praktischen Philosophie Kants für dessen Werk schon seit der KrV spricht; vgl.: Konhardt 1979, S. 300. 38 S.: Konhardt 1979, S. 27. Damit kann die kantische Identifikation von moralischem

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Entelechiale Vernunft, Deontologie und transzendentale Axiologie

Diese Aussage rückt das Konzept des Interesses der Vernunft zumindest dahingehend in eine gewisse Nähe zur mehrdeutigen Konzeption des Faktums der Vernunft, als dass es mit der Etablierung moralisch relevanter Normativität gleichgesetzt wird. Das deontische Moment an der Deutung des Vernunftinteresses als eines strengen Geltungsanspruchs besteht genauer darin, dass es sich um einen unbedingten, demnach auch nicht durch irgendeine Zwecksetzung restringierten Anspruch handeln soll. 39 Es ist jedoch noch genauer zu erweisen, ob diese Charakterisierung des Vernunftinteresses durch Konhardt wirklich das hier von Kant Intendierte adäquat beschreibt, denn genau genommen scheint es sich weniger um den tatsächlichen Geltungsanspruch des Sittengesetzes selbst zu handeln, sondern vielmehr um eine vernunfttheoretische Bedingung der subjektiven Anerkennung dieses bereits bestehenden Anspruchs durch den jeweiligen Akteur, wenn man sich Kants Bestimmung des moralischen Interesses als Abhängigkeit der Willkür von Vernunftprinzipien in Erinnerung ruft. 40 Allerdings muss auch und gerade in diesem Rahmen zum Tragen kommen, dass es sich sowohl beim Konzept des moralischen Vernunftinteresses als auch bei der Faktumslehre um Aussagen aus der Perspektive praktischer Selbstverhältnisse handelt, deren begriffliche Artikulation in materialer Hinsicht 41 nicht nur selber eine von theoretischen AusInteresse und der Achtung vor dem Sittengesetz in Einklang gebracht werden; vgl.: GMS AA IV, S. 401. 39 Eben diese von Kant kontinuierlich betonte Unbedingtheit des praktischen Geltungsanspruchs des Kategorischen Imperativs spielt zumindest in der starken DeontologieThese eine konstitutive Rolle, wenn es sich um den Erweis von dessen Unabhängigkeit von Zwecksetzungen handelt. 40 Vgl.: GMS AA IV, S. 413. Kant spricht an dieser Stelle von einem zufällig bestimmbaren Willen und meint vor dem Hintergrund der MS das Vermögen der Willkür und nicht des stets sittengesetzlich bestimmten Willens. 41 Mit dieser begrifflichen Spezifikation soll der These Patzigs Rechnung getragen werden, dass die Differenz von kategorischen und hypothetischen Imperativen nicht formaler, sondern materialer Natur sein müsse, da man in formaler Hinsicht kategorische Imperative in hypothetische überführen könne; vgl.: Patzig 1983, S. 109 ff. Allerdings kann man dennoch kritisch fragen, ob die zuzugebende logisch-formale Möglichkeit hypothetischer Umformulierungen von kategorisch geltenden Strukturen bereits ausreicht, um die praktischen Sätze Kants hypothetisch und dennoch sinnvoll rekonstruieren zu können, denn die Pointe der kantischen Ethik besteht nicht zuletzt in der These, dass eine hypothetische Formulierung des Kategorischen Imperativs witzlos wäre, weil die in der hypothetischen Formulierung eingeführte Bedingungsstruktur als hypothetische streng genommen eben gar nicht sinnvoll anzunehmen ist: Der Satz ›Wenn du A

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sagen kategorial differierende urteilstheoretische Gestalt aufweisen, sondern zudem eine andere Deutung erfordern. Diese Aussagen sind ihrerseits nicht als theoretische Aussagen über ein distanziertes Objekt zu verstehen, wie Korsgaard pointiert formuliert: »Kant’s arguments are not about us; they are addressed to us.« 42 Wenn man allein die Konzeption des praktischen Vernunftinteresses betrachtet, kann man demnach berechtigterweise zu der Auffassung gelangen, dass es de facto keinen Unterschied zwischen dem Geltungsanspruch des Sittengesetzes und seiner Anerkennung durch einen Akteur gibt, da der genuin praktische Charakter einer Aussage und somit auch ihres Anspruchs auf Gültigkeit im entsprechenden Handlungsbezug besteht und dieser Bezug ohne den praktischen Anerkennungsakt des Subjekts nicht gestiftet werden kann. 43 Dies darf nun jedoch nicht so verstanden werden, dass es nach Kant in unserer Gewalt stünde, ob wir ein praktisches Vernunftinteresse besitzen und wir uns als moralisch verantwortliche Wesen auffassen. Seine Charakterisierung des praktischen Vernunftinteresses lässt keinen Zweifel daran, dass dieses Interesse keine Option, sondern ein der Vernunft als solcher inhärentes und daher notwendiges Strukturmoment darstellt: Vernunftwesen als solche müssten nach dem theoretisch und praktisch Unbedingten streben. Daher kann man im Kontext der kantischen Vernunfttheorie von einer entelechialen Form struktureller Selbstreferenz sprechen, da der zweckhafte Bezugspunkt des jeweils theoretisch oder praktisch Unbedingten, auf den die Vernunft prinzipiell ausgerichtet sein soll, in der moralisch sein willst, dann achte den Selbstzweck jedes Vernunftwesens‹ verkennt insofern die transzendental-anthropologische Tiefenstruktur der kantische Ethik, als es nach Kant – wie im Verlauf dieser Untersuchung auf verschiedene Art und Weise erwiesen wurde – geradezu zur ureigensten Definition des moralischen Vernunftwesens überhaupt gehört, dass ein solches als eigentliches Selbst des phänomenal-noumenal verfassten, endlichen Wesens a priori durch ein rationales Streben charakterisiert ist. Das Vernunftwesen wolle daher eigentlich immer schon moralisch sein bzw. setze sich als Akteur immer schon einen unbedingten Zweck, denn andernfalls müsse man von der Idee einer bösartigen Vernunft ausgehen, welche Vorstellung Kant mit aller Vehemenz unter Verweis auf ihre innere Widersprüchlichkeit in der Religionsschrift ablehnt; vgl.: RGV AA VI, S. 34 f.; vgl. dazu die Kants spätere These, dass der gesetzgebende Wille nicht frei sei: MS AA VI, S. 226. 42 S.: Korsgaard 1996a, S. XII. 43 Demnach kann es als eine Eigenart praktischer Sätze aufgefasst werden, dass die Frage nach dem Grund für unsere Kenntnis von praktischen Regeln und derjenigen nach dem Grund für ihre Befolgung zusammenfallen; vgl.: Korsgaard 1996a, S. XII.

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Vernunft selbst liegt bzw. von ihr selbst gesetzt wird. 44 Indem die Vernunft nach dem Unbedingten strebt bzw. dieses als letzten Orientierungspunkt der Reflexion setzt, ist sie auf nichts anderes als auf die Vernunftidee ihres eigenen qualitativen Maximums ausgerichtet. 45 Fazit Die beiden Charakterisierungen des Interesses der Vernunft als zweckbezogener Selbstvollzug und als unbedingter Geltungsanspruch der praktischen Vernunft bei Konhardt widersprechen sich nicht, sondern sind umgekehrt Ausdruck der komplexen Struktur der kantischen Vernunftkonzeption, die vielmehr durch eine wechselseitige Bedingung bzw. Konstitution von unbedingtem Zweck und kategorischem Geltungsanspruch charakterisiert ist: Weil die praktische Vernunft von ihrer intelligiblen Natur aus nach dem praktisch unbedingten Zweck strebt und den Grund einer solchen Idee darstellt, kann sie nicht nur hypothetisch, sondern kategorisch gebieten bzw. dem Sittengesetz gemäß willensbestimmend sein. Der unbedingte und insofern zumindest auch als ›deontisch‹ zu bezeichnende Geltungsanspruch der praktischen Vernunft hat selbst keinen Zweck, durch den er etwa von außen noch einmal auf etwas anderes hin ausgerichtet werden könnte – dies

Man kann hier durchaus von einer sowohl selbst- als auch fremdbezüglichen Kohärenzfunktion der Generierung der Idee des Unbedingten sprechen, da sich die Vernunft als Zweckvermögen zum einen selbst mit dem Unbedingten einen höchsten Zweck als finalen Fokus der eigenen Funktionsweise setzt, zum anderen dem Verstand einen ordnungsfunktionalen Vereinheitlichungspunkt seiner Reflexionsakte und -resultate bereitstellt. Fremdbezüglichkeit ist hier also nur in einem relativen, da auf den Verstand bezogenen Sinn zu verstehen. 45 Anders gewendet, kann man die leitende Vernunftidee der Unbedingtheit nicht nur als Indikator ihrer Selbstreferenz, sondern darüber hinaus als deren vernunftnotwendiges Resultat verstehen: Wenn das Vernunftwesen auf die eigenen praktisch-geltungstheoretischen Bedingungsstrukturen – m. a. W. auf die Bedingungen seiner Identität als eines vernünftigen Akteurs – reflektiert, muss resultieren, dass reine praktische Vernunft nur sich selbst bedingen kann, daher also durch Unbedingtheit charakterisiert ist. In entwicklungsgeschichtlicher Perspektive ist es dementsprechend auch kein Zufall, sondern ein systematisch plausibel rekonstruierbarer Befund, dass der frühe Kant in der Preisschrift weder die Möglichkeit der moralphilosophischen Etablierung strenger moralischer Verbindlichkeit verteidigt, noch die Idee der Autonomie ausgearbeitet hat. Nur die Auffassung des Vernunftwesens als absoluter Geltungsgrund moralischer Sollensforderungen und Zwecksetzungen ist im Rahmen der kantischen Systematik in der Lage, apriorisch gültige Normativitätsstrukturen zu etablieren. 44

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Kants Konzeption der Vernunft

verhält sich jedoch nur deshalb so, weil er selbst schon als Ausdruck des höchsten (unbedingten) Vernunftzwecks der Vernunftverwirklichung verstanden werden muss. 46 Von der kantischen Begrifflichkeit her dominiert jedoch insgesamt das teleologische bzw. entelechiale Moment, sodass seine Vernunfttheorie trotz der deontischen Aspekte vor allem als ein Argument für die T-, ST- sowie SD-These gewertet werden kann. Umgekehrt bleibt festzustellen, dass sich die Negation der Relevanz teleologischer Strukturmomente der Vertreter der D-These nicht mit dem Verweis auf Kants Vernunftkonzept rechtfertigen lässt. Während Kant in den primär vernunfttheoretischen Reflexionen der KrV, KpV und KU die Ausrichtung der Vernunft auf das Unbedingte herausarbeitet und das Prinzip der Zweckmäßigkeit grundsätzlich als die oberste einheitsstiftende Vernunftstruktur bestimmt, wird in der GMS das Konzept des absoluten Werts des Vernunftwesens als praktischer Ermöglichungsgrund des Kategorischen Imperativs als notwendig anzunehmende Voraussetzung eingeführt. Eine primär praktische Auffassung des Selbstzwecks in der GMS kann jedoch nur als plausibel bezeichnet werden, insofern man die dort entwickelte Axiologie im Sinne der Interpretation Korsgaards nicht als redundanten, metaphysischen Fremdkörper im kantischen Gesamtwerk versteht: Treating others as ends-in-themselves is not a matter of discovering a metaphysical fact about them – that they are free and rational, and so have value – and then act accordingly. […] To respect others as ends-in themselves is to treat them as fellow inhabitants of the standpoint of practical reason. 47

Aufgrund der handlungsteleologischen Voraussetzungen der kantischen Ethik muss ein praktischer Geltungsanspruch über einen ausweisbaren Zweckbezug verfügen, sodass eine strikt antiteleologische Rekonstruktion kategorischer Sollensforderungen unplausibel erscheint. 47 S.: Korsgaard 1996a, S. XI. Im Rahmen einer solchen Interpretation nähern sich teleologische und axiologische Strukturen insofern einander an, als Kant mit dem Konzept des Selbstzwecks auf der einen und der Selbstzweckformel des KI auf der anderen Seite zwei vom Begriff her auf Zwecksetzungen bezogene Strukturen entwickelt, deren jeweilige Anwendungsbeispiele am plausibelsten mit auf Wertsetzungen bezogenen Argumenten rekonstruiert werden können. Dabei scheinen die Achtung des Selbstzwecks des Vernunftwesens und die Anerkennung von dessen absolutem Wert hinsichtlich ihrer Funktion letztlich nichts grundsätzlich Verschiedenes zu sein. Dementsprechend identifiziert Korsgaard mit Bezug auf GMS AA IV, S. 431 Zweck- und Wertsetzung als Ausdruckshandlungen der rationalen Natur von Akteuren: »Rational beings are the determiners of ends – the ones who set value on things.« S.: Korsgaard 1996a, S. 22. 46

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Entelechiale Vernunft, Deontologie und transzendentale Axiologie

Wenn Korsgaard darüber hinaus darauf verweist, dass die kantische Wertkonzeption insofern eine realistische 48 Wertauffassung affirmiere, als sie notwendigerweise wertzuschätzende Strukturen impliziere, 49 verweist sie der Sache nach auf ein ähnliches systematische Komplexitätsmoment wie Konhardt, wenn dieser das auf das Unbedingte gerichtete Streben und den unbedingten Geltungsanspruch der praktischen Vernunft im Interesse der Vernunft vereinigt sieht. 50 Diese wert- und zugleich handlungstheoretisch orientierte Lesart scheint mir insofern einige Plausibilität für sich beanspruchen zu können, als Kant sich der Wertthematik nicht nur, wie weitgehend angenommen, in der GMS, sondern nicht zuletzt in der KpV – allerdings auf andere Art und Weise als in der GMS – annimmt. Dies scheint keinesfalls immer in der entsprechenden Forschungsliteratur berücksichtig zu werden, sondern der Fokus vieler diesbezüglicher Veröffentlichungen liegt auf dem Metaphysik-Vorwurf gegenüber der Deduktion in der GMS und der als metaphysisch weniger belastet verstandenen Faktumslehre. Die das folgende Kapitel leitende, übergeordnete Hintergrundfrage ist diejenige nach der Relation von Axiologie und Deontologie in Kants reiferem Konzept der Ethikfundierung, wobei dahingehend nicht zuletzt von Interesse sein wird, inwiefern sich das bisher heraus-

Dennoch muss ihr sehr weites Verständnis von Realismus an dieser Stelle als potentiell irreführend kritisiert werden, da eine antimetaphysische Interpretationsstrategie der Axiologie der ›Grundlegung‹ letztlich auch eine antirealistische sein muss – besteht doch die Pointe dieser Rekonstruktion gerade in dem Verweis auf die logische Unabhängigkeit von Geltungsobjektivismus und der Realismus-/Antirealismusdebatte. Doch auch die abgeschwächte These des Geltungsobjektivismus scheint nicht völlig vor antimetaphysisch orientierter Kritik sicher zu sein, wenn man Apels und Niquets Vorwurf der in der GMS angeblich vorherrschenden Geltungsmetaphysik betrachtet, vgl.: Apel/ Niquet 2002, S. 164. 49 S.: Korsgaard 1996a, S. X. 50 Die Rede von der ›Freiheit als ratio essendi des Sittengesetzes‹ in der Reziprozitätsthese der KpV wäre vor dieser Hintergrundannahme Korsgaards dahingehend in Annäherung an die GMS als praktisch-axiologische These zu deuten, dass das Sein der Freiheit (KpV) ebenso wie das Dasein von etwas mit absolutem Wert (GMS) als Bedingungen des Kategorischen Imperativs keine metaphysisch-spekulativen und somit leicht zu bestreitenden Prämissen seien, sondern vielmehr als die weniger leicht zu negierende Voraussetzungen der unbedingten Selbstschätzung von Vernunftwesen als Akteuren verstanden werden müssen. 48

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Kants Konzeption der Vernunft

gearbeitete Verhältnis von Teleologie und einer entsprechenden Axiologie in Kants Vernunfttheorie auch im motivationstheoretischen Urteils-Internalismus der KpV wiederfinden lässt.

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VIII. Die Achtungslehre der KpV als praktische Axiologie

Der Begriff der ›Achtung‹ wurde zwar bereits an früherer Stelle dieser Untersuchung (Kapitel V.2.2.2) in bestimmter Hinsicht untersucht, doch bleibt anhand einer pointierten Nachzeichnung des kantischen Originaltextes zu klären, inwiefern die auf diesem Begriff fußende Theorie der Anerkennung des Sittengesetzes mit guten Gründen von einer der in Kapitel III skizzierten Interpretationsrichtungen für sich vereinnahmt werden kann, oder ob sie sich, ähnlich wie die kantische Vernunfttheorie, durch eine weitreichende ethiktypologische Komplexität auszeichnet. Die Achtungstheorie stellt den Kern der Faktumslehre der KpV dar, 1 doch ist ihre Interpretation darüber hinaus auch für die Diskussion ihres ethiktypologischen Profils von Bedeutung, da die Bestimmung der Relevanz der axiologischen Aussagen der GMS in ihrem Verhältnis zur Achtungstheorie und Faktumslehre der KpV durchaus folgenreich für eine entsprechende Klassifikation sein kann. 2 Autoren wie Ross, 3 Düsing, 4 Williams 5 oder Milz 6 sehen gegen McCarthy 7 und

Daher kann ich die Abwertung der Achtungstheorie bei Leist nicht nachvollziehen; vgl.: Leist 2000, S. 251 Anm. 4. 2 Während z. B. Herman ihre antideontologische Interpretation mit einer Betonung der explizit auf die Wertfrage bezogenen Thesen der GMS beginnen lässt, bietet es sich für deontologisch orientierte Interpreten an, auf die Primärrelevanz der Faktumslehre der KpV zu verweisen. Hermans Argument, dass die Wertthesen der GMS gegen eine deontologische Deutung sprächen, könnte von Deontologen durch die Behauptung in Frage gestellt werden, dass die vorrangig relevante Faktumslehre der KpV eine deontologische Neufundierung der kantischen Ethik darstellt und die axiologischen Elemente der GMS zu vernachlässigen sind. 3 Vgl.: Ross 1954, S. 86 f. 4 Vgl.: Düsing 2002, S. 231 f. 5 Vgl.: Williams 1986, S. 101 f. 6 Vgl.: Milz 2002, S. 308 Anm. 120. 7 Vgl.: McCarthy 1983, S. 185 ff. 1

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Die Achtungslehre der KpV als praktische Axiologie

Baumanns 8 in der Faktumslehre eine grundsätzliche Abkehr von den begründungstheoretischen Elementen der GMS. Wie bereits im Verlauf dieser Studie angedeutet wurde, muss allerdings die Akzeptanz eines Wandels der begründungstheoretischen Vorgehensweise Kants nicht unbedingt gleichbedeutend mit der Affirmation der These sein, dass gar keine Kontinuitäten zwischen GMS und KpV existieren, was die Idee der werttheoretischen Grundstruktur der kantischen Ethik anbetrifft. Dementsprechend soll an dieser Stelle anhand einer Analyse des kantischen Textes nachgezeichnet werden, welche ethiktypologischen Implikationen die Achtungstheorie besitzt und wie diese in ein mit der übrigen kantischen Systematik kompatibles Verhältnis gebracht werden können. Der exponierte Ort für die Achtungslehre innerhalb der KpV ist das dritte Hauptstück der Analytik der praktischen Vernunft. Die Aufgabe dieses Abschnitts besteht nach Kant darin, »sorgfältig zu bestimmen, auf welche Art das moralische Gesetz Triebfeder werde, und was, indem sie es ist, mit dem menschlichen Begehrungsvermögen als Wirkung jenes Bestimmungsgrundes auf dasselbe vorgehe«. 9 Festzuhalten bleibt an dieser Stelle, dass Kant in dieser und ebenso anderen Passagen 10 des Kapitels explizit vom Sittengesetz als der moralischen Triebfeder spricht – eine Redeweise, welche noch im Folgenden mit im Wortlaut davon abweichenden Aussagen zur Triebfederkonzeption in Einklang gebracht werden muss. Dazu kommt der bereits früher angesprochene Punkt, dass sich die Achtung nach Kant sowohl auf das Sittengesetz als auch auf Personen bezieht. 11 Offenbar geht Kant davon aus, dass der Effekt des Sittengesetzes auf das Gemüt endlicher Vernunftwesen in struktureller Hinsicht notwendigerweise stets derselbe sei, da er von einer apriorisch zu ermittelnden Wirkung des Moralgesetzes spricht, was wiederum gravieVgl.: Baumanns 2000, S. 98. S.: KpV AA V, S. 72. Diese Aussage dürfe jedoch nicht dahingehend missverstanden werden, als ob damit eine theoretische Erklärung der Möglichkeit des freien Willens bezeichnet sei, sondern die Bestimmung des Sittengesetzes als Triebfeder bzw. subjektiver Motivationsgrund könne nur auf diejenige Art und Weise geschehen, dass dessen Wirkung auf das menschliche Bewusstsein »a priori anzuzeigen« sei; s.: KpV AA V, S. 72. 10 Vgl.: KpV AA V, S. 71 f. und S. 88. 11 Vgl. zur Achtung vor dem Sittengesetz: KpV AA V, S. 73, S. 75 und S. 79 f.; vgl. zur Person als Achtungsobjekt: KpV AA V, S. 76 und S. 78. 8 9

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rende individuelle Varianzen der Wirkungsweise moralischer Sollensforderungen ausschließt. 12 Eine inhaltliche Kernaussage der Achtungslehre besteht daher in der These, dass das Sittengesetz nicht nur »formaler Bestimmungsgrund der Handlung ist, […], so wie es zwar auch materialer, aber nur objectiver Bestimmungsgrund der Gegenstände der Handlung unter dem Namen des Guten und Bösen ist« 13 , sondern zudem als subjektiver, motivierender Handlungsgrund fungiere. Die praktische Rekonstruktion der Wirkung des Sittengesetzes als Triebfeder sei dabei insofern von zentraler Bedeutung, als ihre Struktur den jeweiligen moralischen Wert der mit ihr verbundenen Handlung bestimme. Dieser Sachverhalt wird zu Beginn des Triebfederkapitels in aller Deutlichkeit benannt: »Das Wesentliche alles sittlichen Werths der Handlungen kommt darauf an, daß das moralische Gesetz unmittelbar den Willen bestimme.« 14 Dieser kurze Satz beinhaltet eine Reihe von Elementen, welche für die Achtungstheorie charakteristisch sind und ihre Rekonstruktion in ethiktypologischer Hinsicht so komplex machen: Es handelt sich genauer um eine systematische Verhältnisbestimmung von moralischem Handlungswert, Sittengesetz und Willensbestimmung. Kant lässt keinen Zweifel daran, dass prinzipiell keinerlei empirisch fundiertes Gefühl als Voraussetzung der subjektiven Annahme des Sittengesetzes als Triebfeder dienen dürfe, wenn es sich um Moralität handeln soll. 15 Demnach gilt, dass auch kein positiv wertendes Gefühl für das Moralische bzw. das Sittengesetz als dispositionelles Konditional der moralischen Willensbestimmung zulässig ist, denn jedes Gefühl steht für Kant in enger Verbindung zu individuellen Neigungen. 16 Der Wille müsse »als freier Wille, mithin nicht blos ohne MitVgl. dazu auch die folgende Aussage: »Achtung ist ein Tribut, den wir dem Verdienste nicht verweigern können, wir mögen wollen oder nicht; wir mögen allenfalls äußerlich damit zurückhalten, so können wir doch nicht verhüten, sie innerlich zu empfinden.« S.: KpV AA V, S. 77. 13 S.: KpV AA V, S. 75. 14 S.: KpV AA V, S. 71. 15 »Geschieht die Willensbestimmung zwar gemäß dem moralischen Gesetze, aber nur vermittelst eines Gefühls, welcher Art es auch sei, das vorausgesetzt werden muß, damit jenes ein hinreichender Bestimmungsgrund des Willens werde, mithin nicht um des Gesetzes willen: so wird die Handlung zwar Legalität, aber nicht Moralität enthalten.« S.: KpV AA V, S. 71. 16 Die hier zum Ausdruck kommende Ablehnung jeglicher gefühlsmäßiger Vermittlung des Sittengesetzes für den Willen wird dementsprechend von Trampota gegen die wert12

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wirkung sinnlicher Antriebe, sondern selbst mit Abweisung aller derselben und mit Abbruch aller Neigungen, so fern sie jenem Gesetz zuwider sein könnten, blos durchs Gesetz bestimmt werden.« 17 Diesen Abbruch der Neigungen versteht Kant entsprechend als negative Form der Wirkung des Sittengesetzes als Triebfeder, wobei dieser sich – als Implikation der Prämisse, dass alle sinnlichen Beweggründe notwendigerweise mit Gefühlen verbunden bzw. auf sie gegründet sind – in Form eines Gefühls artikuliere, »welches Schmerz genannt werden kann, […].« 18 Dieser Schmerz erweise sich dabei als das einzige Gefühl, welches apriori in seinem Zusammenhang zu seiner Ursache bestimmbar sei. Die Wirkung des Gewahrseins des Moralgesetzes auf das menschliche Neigungssystem 19 wird von Kant dahingehend differenziert, dass die Eigenliebe als Wohlgefallen gegen sich selbst aufgrund der Begrenzung durch das Sittengesetz zu vernünftiger Selbstliebe verwandelt und somit in dieser bestimmten Hinsicht zumindest partiell zugelassen werde, während der durchweg negative Eigendünkel als moralisch vollkommen abzulehnen charakterisiert wird, da Kant unter diesem letzten Begriff explizit »Ansprüche der Selbstschätzung, die vor der Übereinstimmung mit dem sittlichen Gesetze vorhergehen« 20 begreift. theoretische Lesart Hermans und Guyers angeführt: Unmittelbare Willensbestimmung bedeute nach Kant konsequenterweise auch die Unabhängigkeit dieser Bestimmung von Wertgefühlen, -intuitionen etc.; vgl.: Trampota 2003, S. 13. 17 S.: KpV AA V, S. 72. In dieser Aussage und den damit zusammenhängenden Ausführungen kann man eine gewisse Vorwegnahme der These aus der MS sehen, dass allein die Abwesenheit neigungsbasierter Zwecke nicht hinreicht, sondern den natürlichen Zwecken genuin moralische Zwecke entgegengesetzt werden müssen. 18 S.: KpV AA V, S. 73. Das unangenehme Gefühl des Schmerzes sei im Grunde auch nicht selten dafür verantwortlich, dass das Sittengesetz als Objekt natürlicher Neigungen verstanden und dessen Würde negiert werde, um der ernüchternden Zerstörung der nicht-moralischen Selbstschätzungsimpulse entgehen zu können; vgl.: KpV AA V, S. 77. 19 In der MS differenziert Kant darüber hinaus zwischen der Achtungsthematik und einer Ästhetik der Sitten, welche eine subjektive Darstellung einer Metaphysik der Sitten sein soll und »die Gefühle, welche die nöthigende Kraft des moralischen Gesetzes begleiten, jener ihre Wirksamkeit empfindbar machen (z. B. Ekel, Grauen etc., welche den moralischen Widerwillen versinnlichen), um der blos=sinnlichen Anreizung den Vorrang abzugewinnen.« S.: MS AA VI, S. 406. Besagte nötigende Kraft des Sittengesetzes sei hier bereits vorhanden und könne durch kultivierbare und die moralische Gesinnung befördernde, da konkurrierende nicht-moralische Gefühlsregungen abweisende Empfindungen flankiert, nicht aber ersetzt etc. werden. 20 S.: KpV AA V, S. 73; vgl. auch S. 74.

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Der negative Aspekt der Wirkung des Sittengesetzes auf das menschliche Gefühl ist allerdings nicht der Kern der Achtungslehre, sondern dieser besteht vielmehr in der Erfassung des moralischen Gesetzes als etwas Positives, als »Form einer intellectuellen Causalität, d. i. der Freiheit« 21 bzw. als »Grund eines positiven Gefühls, das nicht empirischen Ursprungs ist und a priori erkannt wird.« 22 Das Sittengesetz wird als intelligible Ursache verstanden, welche einerseits notwendigerweise auf immer dieselbe restriktive Art und Weise auf den sinnlich-phänomenalen Teil des endlichen Vernunftwesens wirkt, andererseits jedoch auch über die vernünftige ›Verwaltung‹ und Ordnung der bereits bestehenden sinnlichen Phänomene hinausgeht, indem diese Ordnung als Beschränkung der Eigenliebe und Zerstörung des Eigendünkels durch ein eigenes, ohne die praktisch-kausale Einwirkung des Sittengesetzes unmögliches Gefühl der moralisch begründeten Demütigung 23 konstituiert werden soll. Es existiere zwar kein direkt auf das Sittengesetz als Positivum bezogenes Gefühl, doch der Vernunftakt bzw. das Vernunfturteil der Anerkennung des Sittengesetzes als den pathologischen Gefühlsantrieben vorzuziehender Bestimmungsgrund des Willens bewirke die Überwindung der der Moralität hinderlichen Neigungsimpulse, wobei »die Wegräumung eines Hindernisses einer positiven Beförderung der Causalität gleichgeschätzt wird.« 24 Neben dem Abbruch der Neigungen gibt es auch ein positives, den Menschen als intelligible Existenz betreffendes Moment der Erhebung, welches

S.: KpV AA V, S. 73. S.: KpV AA V, S. 73. 23 Vgl.: KpV AA V, S. 74 f. 24 S.: KpV AA V, S. 75. Das Phänomen der Achtung weist in dieser Hinsicht auffällige strukturelle Assonanzen zum kantischen Konzept des Selbstzwecks auf, da letzteres ebenso wie die Hochschätzung des Sittengesetzes eine axiologische Komponente darstellen soll und sich zudem hinsichtlich seiner empirischen Beförderung bzw. Verwirklichung primär als Restriktion der Maximensetzung und somit primär indirekt oder negativ in Form der ausnahmslosen Abweisung aller nicht apriorisch-moralischen Triebfedern manifestiert. Diese strukturelle Parallele wird von Kant selbst zumindest implizit auf den Punkt gebracht, wenn er als das alleinige Objekt der Achtung die Person nennt; s.: KpV AA V, S. 76. In Übereinstimmung mit unserer Interpretation der Selbstzweckkonzeption in der SZF charakterisiert er auch die Achtung als sich auf sinnlichphänomenaler Ebene zwar negativ manifestierendes Phänomen, tatsächlich aber – der nur indirekten Wirkungsweise zum Trotz – als positiven Akt der Anerkennung des Sittengesetzes; vgl.: KpV AA V, S. 78 f. 21 22

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zum Phänomen der Selbstbilligung als Anerkennung der moralischen Adäquatheit der eigenen Handlung führe. 25 In der weiteren Bestimmung der Achtung spiegelt sich der besondere Charakter der kantischen Moralitätskonzeption, indem Achtung als nicht auf einen anderen Zweck hingeordneter Akt, sondern vielmehr als Verwirklichung des letzten Zwecks selbst fungiert. Demnach sei Achtung einerseits »nicht Triebfeder zur Sittlichkeit, sondern sie ist die Sittlichkeit selbst, subjectiv als Triebfeder betrachtet«, 26 andererseits diene sie »nicht zur Beurtheilung der Handlungen, oder wohl gar zur Gründung des objectiven Sittengesetzes selbst, sondern blos zur Triebfeder, um dieses in sich zur Maxime zu machen.« 27 Wenn Achtung ein praktisch-gewirktes Gefühl sein soll, dann kann sie kein Mittel zur Erreichung von etwas anderem darstellen, sondern muss ihren Zweck schon in sich selbst tragen. Zwar spricht Kant an verschiedenen Stellen sowohl vom Sittengesetz als auch von der Achtung als moralischer Triebfeder, sodass man angesichts seiner Konzeption möglicher Handlungsursachen einerseits mit Beck darauf verweisen muss, dass das Sittengesetz »nicht in die Klasse der Gegenstände, die als Triebfeder in Betracht kommen« 28 gehört, andererseits jedoch Scarano Recht geben muss, wenn er – Becks Einwand zustimmend, ihn zugleich jedoch relativierend – die von Kant behauptete Untrennbarkeit von Sittengesetz und Achtung betont: Das Sittengesetz übernimmt indirekt 29 die Funktion einer Triebfeder, insofern die Achtung als das dem Sittengesetz apriori anhängende Gefühl fungiert. 30 Vgl.: KpV AA V, S. 80 f. S.: KpV AA V, S. 76. 27 S.: KpV AA V, S. 76; vgl. auch S. 79. 28 S.: Beck 1974, S. 208. 29 Dies bedeutet allerdings keineswegs, dass es sich in typologischer Hinsicht nur um eine vermittelte Triebfederfunktion des Sittengesetzes handelt, da kein zum Sittengesetz hinzukommender Zweck oder Wert notwendig ist, sondern Kant bestimmt die Unmittelbarkeit der Einflussnahme des Sittengesetzes vielmehr als Achtungsvollzug und identifiziert auf diese Weise beide Momente miteinander. 30 Vgl.: Scarano 2002, S. 143. Am Ende des Triebfederkapitels heißt es dementsprechend: »So ist die ächte Triebfeder der reinen praktischen Vernunft beschaffen; sie ist keine andere als das reine moralische Gesetz selber, so fern es uns die Erhabenheit unserer eigenen übersinnlichen Existenz spüren läßt und subjectiv in Menschen, die sich zugleich ihres sinnlichen Daseins und der damit verbundenen Abhängigkeit von ihrer so fern sehr pathologisch afficirten Natur bewußt sind, Achtung für ihre höhere Bestimmung wirkt.« S.: KpV AA V, S. 88. Im Rahmen der kantischen Relationsbestimmung von Sittengesetz, moralischem Gefühl und Triebfederfunktion existiert zwar in 25 26

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Das Triebfederkapitel der KpV erweist sich m. E. insofern als Kernstelle für eine ethiktypologische Rekonstruktion des reifen kantischen Ethikmodells, als in ihm zwar eher sukzessiv, aber dennoch im Resultat mit hinreichender Deutlichkeit die enge Verwobenheit von axiologischen und deontischen Strukturmomenten dargelegt wird, was insbesondere in der zweiten Hälfte des Abschnitts zu Tage tritt: Nachdem Kant die Achtung als kausale Bedingung des moralischen Interesses charakterisiert, 31 bestimmt er die Pflicht als praktische Nötigung vermittelst der unmittelbaren Bestimmung des Willens durch das Moralgesetz, welche ihrerseits das moralische Gefühl ermögliche. 32 Pflicht in ihrer Bezogenheit auf Achtung (demnach auf den subjektiven Grund der Anerkennung des Sittengesetzes) sei dabei das Kriterium für den moralischen Wert oder Unwert von Handlungen: Nur eine Handlung aus Achtung vor dem Sittengesetz bzw. aus Pflicht, d. h. als Resultat der unmittelbaren Willensbestimmung durch das Sittengesetz verfüge über moralischen Wert. Diese kantischen Aussagen bedeuten für die Relationsbestimmung von axiologischen und deontischen Elementen in letzter Konsequenz, dass sich die Pflicht auf der Reflexionsebene des konkreten Akteurs nicht als Ergebnis einer ihr vorausgehenden Werteinsicht irgendwelcher Art rekonstruieren lässt, da innerhalb der kantischen Systematik eine Ableitung oder Vermittlung der Willensbestimmung durch etwas anderes als das Sittengesetz (und sei es durch einen kognitiven Akt – welcher Art dieser auch immer sei) offenbar ausgeschlossen wird. Nicht das Achtungsgefühl, sondern die unmittelbare Willensbestimmung durch das Moralgesetz mache das Primärmoment der moralischen Triebfederkonstituierung aus, was insofern konsistent zu sein scheint, als die Achtung selbst die moralische Triebfederfunktion innehaben soll: Zuerst bestimmt das moralische Gesetz objectiv und unmittelbar den Willen im Urtheile der Vernunft; Freiheit, deren Causalität blos durchs Gesetz bestimmbar ist, besteht aber eben darin, daß sie alle Neigungen, mithin die der Tat eine begriffliche Ungenauigkeit, doch zeigt sie keinen logischen Widerspruch an; vgl.: Scarano 2002, S. 143. 31 Diese kausale Bedingtheit des moralischen Interesses durch die Achtung stimmt insofern mit der im vorherigen Kapitel erwähnten Definition des besagten Interesses überein, als durch das zum Achtungsvollzug gehörige Vernunfturteil (vgl.: KpV AA V, S. 78) die für das moralische Interesse charakteristische Verbindung von Willkür und Sittengesetz etabliert wird. 32 Vgl.: KpV AA V, S. 80 f. A

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Schätzung der Person selbst auf die Bedingung der Befolgung ihres reinen Gesetzes einschränkt. Diese Einschränkung thut nun eine Wirkung aufs Gefühl, und bringt Empfindung der Unlust hervor, die aus dem moralischen Gesetze a priori erkannt werden kann. 33

Kant hebt hier unmissverständlich hervor, dass das primäre Konstitutionsmoment der Ermöglichung moralischer Handlungen ein den Willen bestimmendes Vernunfturteil sei und die im Achtungsvollzug geschehende Restriktion der neigungsbasierten Selbstschätzungsakte samt dem unvermeidlichen Gefühl der Unlust bzw. Demütigung nur eine Folge und nicht Bedingung dieses Vorgangs darstelle. Allerdings wird mit der Ablehnung einer Interpretation, welche die kantische Ethik in die Nähe einer materialen Werterfahrungstheorie rückt, dem subtilen Zusammenhang von Wertstiftung, Wertanerkennung und deontischen Strukturen im Kontext der Achtungstheorie nicht hinreichend Rechnung getragen, da Kant die Wertthematik eben nicht nur empirisch-aposteriorisch behandelt, sondern ebenso (und zudem an weitaus wichtigerer Stelle im Ganzen der kantischen Moralphilosophie) den zwar oft implizit bleibenden, dennoch systematisch durchaus relevanten transzendental-apriorischen Zugang zu dieser Reflexionsdimension wählt. Insofern man die Achtungstheorie sowohl unter der Perspektive der von Kant behaupteten transzendental-anthropologischen Doppelaspektivität als auch der Frage nach der Relation von Wertkonstitution und Wertanerkennung rekonstruiert, ergibt sich daher folgendes Bild: Zwar solle die Willensbestimmung durchs Sittengesetz nicht aufgrund von vorausgesetzten Wertgefühlen etc., sondern auf Veranlassung durch ein Vernunfturteil hin vollzogen werden – andernfalls würde offenbar eine nur empirische These resultieren –, doch handelt es sich bei der in der Achtungstheorie explizierten These der unmittelbaren sittengesetzlichen Willensbestimmung um eine Aussage, welche sich zwar nicht auf das z. B. auch moralpsychologisch einzuordnende Thema der Wertanerkennung, wohl jedoch auf die fundamental-axiologische Frage nach für moralisches Handeln unhintergehbaren und zudem praktisch relevanten Wertstiftungen bezieht. Die kantische Idee der praktischen Vernunftautonomie manifestiert sich dabei im Rahmen der Achtungstheorie unter axiologischen Gesichtspunkten in derjenigen These, dass der vernünftige Akteur in Entsprechung zur praktischen Bedingtheit von Zwecksetzungen keinen 33

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S.: KpV AA V, S. 78.

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Wert empirisch (durch die Vermittlung von Gefühlen) anerkennen könne, den er nicht selbst – als intelligibles bzw. eigentliches Selbst – schon vorher gesetzt bzw. gestiftet habe. Ohne die praktisch-apriorische Annahme, dass Vernünftigkeit (Menschheit/rationale Natur) den absoluten Wert darstellt, wäre es für endliche Vernunftwesen prinzipiell unmöglich, sich überhaupt in demjenigen Sinn als moralisch verantwortliche bzw. freie Wesen zu betrachten und ihr Handeln – und das heißt immer auch: ihre konkreten Wertsetzungen und Wertverwirklichungsakte – danach auszurichten, wie es Kant insbesondere in der Faktumslehre expliziert. Denn aufgrund seiner Ablehnung der durch sinnliche Antriebe bestimmten Neigungen verbietet sich die radikalere Annahme einer grundsätzlichen Möglichkeit für den Menschen, sich für oder gegen das Sittengesetz und somit letztlich zwischen moralischer Verantwortlichkeit und entsprechender Indifferenz entscheiden zu können. 34 Letzteres würde vor dem Hintergrund der kantischen Prämissen 35 u. a. zu einer bizarr anmutenden Heteronomie führen, da die einzig verbleibende Entscheidungsgrundlage sinnlich basierte Motive und Interessen sein könnten. Die unbedingte Normativität der deontischen Struktur der Pflicht wird in der Achtungstheorie nicht als freischwebendes Absolutum, sondern umgekehrt als von der vernunftnotwendigen, genuin praktischen Voraussetzung des absoluten Werts der moralischen Verantwortlichkeit endlicher Vernunftwesen bedingt skizziert. Dies ist der tiefere Grund für den von Kant immer wieder betonten Sachverhalt, dass allein eine Handlung aus unmittelbarer Bestimmung des Willens Dementsprechend äußert sich Kant auch in der Einleitung zur Tugendlehre, wenn er in struktureller Parallele zur Erörterung der Probleme der Idee einer ersten Annahme moralischer Maximen in der Religionsschrift einen menschlichen Entscheidungsakt zur Tugend als letztlich einen infiniten Regress implizierend charakterisiert: »Die Tugend, in ihrer ganzen Vollkommenheit betrachtet, wird also vorgestellt, nicht wie der Mensch die Tugend, sondern als ob die Tugend den Menschen besitze: weil es im ersteren Falle so aussehen würde, als ob er noch die Wahl gehabt hätte (wozu er alsdann noch einer andern Tugend bedürfen würde, um die Tugend vor jeder anderer angebotenen Waare zu erlesen).« S.: MS AA VI, S. 406. Kant konstatiert den regressus ad infinitum an dieser Stelle zwar nicht explizit, doch folgt er notwendig aus seiner Aussage. 35 Dies muss an dieser Stelle betont werden, da es z. B. im Sinne Reinholds und Prauss’ möglich ist, bestimmte Prämissen Kants zu relativieren oder zu verabschieden, um daraus etwa eine möglicherweise fruchtbare(re) und moralphilosophisch weniger implikationsreiche Freiheitskonzeption entwickeln zu können; vgl. dazu: Prauss 1983. 34

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durchs Sittengesetz moralischen Wert besitzen könne: Nur ein unmittelbar sittengesetzlich bestimmter Wille entspricht in struktureller Hinsicht dem apriorischen Moment der praktischen Konstitution des absoluten Werts praktischer Vernunft, wie Kant sie als ersten Schritt im Gesamtprozess des Achtungsvollzugs in der KpV beschreibt. Die hier relevante praktische Freiheit als primärer Wert- und Konstitutionsgrund der Akteuridentität und moralischer Handlungen stellt somit eine Form praktischer Urteilsfreiheit dar, welche ihre praktisch primäre Manifestation im Vernunfturteil findet, dass das Sittengesetz den Willen bestimmt. Die These der apriorischen Willensbestimmung durch das Sittengesetz und der subjektiven Notwendigkeit des Achtungsgefühls liefert daher insofern gute Gründe für eine deontologische Interpretation, als die jeweils resultierenden moralischen Forderungen in dieser Konzeption ohne einen vorausgesetzten Zweckbezug und allein im Ausgang von einem als unbedingt gedachten Vernunfturteil konstituiert werden. Dieses unhintergehbare Vernunfturteil stellt nun neben dem bereits erwähnten deontischen Moment zugleich ein axiologisches Moment dar, weil allein die unmittelbare sittengesetzliche Willensbestimmung als exponierte Form der Verwirklichung von Freiheit innerhalb der praktisch-noetischen Struktur des Subjekts ebendieses Subjekt als Adressat moralischer Forderungen bzw. als Akteur und somit als wert- und zwecksetzendes Wesen qualifiziert: Nur aufgrund dieser sittengesetzlichen Willensbestimmung kann sich der Mensch nach Kant als Person, als freies und moralisch verantwortliches Wesen auffassen. 36 Unter Berücksichtigung des in Kapitel V.2.2.2 dieser Studie eingenommenen Gesichtspunkts der Differenzierung zwischen Achtungsakt als Tätigkeit der praktischen Vernunft aus objektiven Gründen und Achtungsresultat als durch diese Tätigkeit bewirktes Gefühl kommt hinsichtlich des ersten Moments zudem ein teleologischer, da handlungsbezogener Aspekt der Achtung hinzu, dessen Gewicht je-

Man könnte einwenden, dies sei doch allenfalls ein Argument für die transzendentalkonstitutive Funktion des durch die apriorisch-moralische Willensbestimmung bedingten Personseins, nicht jedoch ein genuin axiologisches Moment des kantischen Ethikmodells. Wenn sich dies jedoch wirklich so verhalten würde, dürfte Kant weder der Menschheit noch der Person oder der Freiheit axiologische Prädikate zuschreiben, was jedoch – wie in Unterkapitel V.3.1.1 aufgezeigt wurde – durchaus in vielen Variationen der Fall ist und von Kant mit Nachdruck in verschiedenen Wendungen betont wird.

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doch unmittelbar von der Radikalität der Auslegung der kantischen Handlungsteleologie abhängt. Kants Achtungstheorie stellt zudem in empirisch-aposteriorischer Hinsicht eine Theorie der praktischen Wertschätzung dar, wenn im Kontext der bewusstseinsphänomenologischen Dialektik von Demütigung und Erhebung durch das Gewahrsein des Moralgesetzes die Demütigung als »Herabsetzung der Ansprüche der moralischen Selbstschätzung«, 37 die Achtung vor dem Sittengesetz dagegen als »Erhebung der moralischen, d. i. der praktischen Schätzung des Gesetzes selbst« 38 skizziert wird. Fazit Wenn Kant bei der Erläuterung des Achtungskonzepts von einer Reduzierung der moralischen Selbstschätzung und einer gleichzeitigen Erhebung durch die praktische Schätzung des Sittengesetzes spricht, behandelt er empirische Wertschätzungsakte eines phänomenal-noumenal verfassten Akteurs. In dieser Perspektive stellt sich der nach Kant empirisch notwendige, da apriorisch bestimmbare Akt der unbedingten Wertschätzung des Sittengesetzes als kausale Folge der vorhergehenden Bestimmung des Willens durch das Moralgesetz dar. 39 Dies impliziert eine gewisse textbasierte Rechtfertigung der aus Sicht der deontologischen Interpretationsrichtung betonten These, dass in der Achtungstheorie und daher auch der Faktumslehre eindeutig auf die Zweckunabhängigkeit und damit auf einen antiteleologischen Charakterzug des begründungstheoretischen Kerns der kantischen Ethik verwiesen werde. Diese Rekonstruktionsperspektive expliziert jedoch nicht den ganzen ethiktypologisch relevanten Gehalt des Achtungskonzepts. Diesbezüglich ist einerseits festzustellen, dass die Funktion der unmittelbar sittengesetzlichen Willensbestimmung nach Kant nicht explizit als Wertstiftung beschrieben wird – an keiner Stelle im Triebfederkapitel ist von einem direkten Wertbezug dieses apriorischen Willensbestimmungsakts die Rede –, und doch muss man andererseits konstatieren, S.: KpV AA V, S. 79. S.: KpV AA V, S. 79. 39 Mit besagter empirischer Notwendigkeit der Anerkennung des Moralgesetzes ist natürlich nicht gemeint, dass jeder Mensch notwendigerweise moralisch sei, sondern diese Notwendigkeit bedeutet das unausweichliche moralische Verantwortungsbewusstsein jedes Vernunftwesens. 37 38

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dass sich eine strikte Trennung des apriorischen und empirischen Aspekts der Achtungslehre trotz ihrer notwendigen Differenzierung aus systematischen Gründen verbietet. Kant postuliert nämlich eine enge kausale Verbindung zwischen beiden Strukturen: Das moralische Gefühl der Achtung, d. h. die dem Menschen eigene unbedingte Wertschätzung des Sittengesetzes soll die notwendige Wirkung der sittengesetzlichen Willensbestimmung darstellen. Achtung sei kein pathologisches, sondern ein praktisch-gewirktes Gefühl. Die unmittelbare moralische Willensbestimmung erweist sich daher als apriorische Bedingung der menschlichen Wertschätzung des moralisch Gebotenen. Doch kann man bei einer axiologisch indifferenten Rekonstruktion dieses apriorischen Willensbestimmungsakts nicht stehen bleiben, da die grundsätzliche Bestimmung des Willens durch das Moralgesetz bei Kant letztlich nichts anderes bedeutet, als dass der Mensch frei ist: frei von den natürlichen Triebfedern und zudem frei zum sittengesetzlich adäquaten Handeln bzw. einer entsprechenden Maximenbildung. Dies ist der Sinn der kantischen Rede vom ›Sittengesetz als ratio cognoscendi der Freiheit‹ in der KpV. Wenn man dieses oft deontologisch gedeutete Moment des apriori willensbestimmenden Sittengesetzes 40 demnach nicht unter Rekurs auf Wertbegriffe interpretiert, verkennt man implizit die weitreichenden Implikationen der zahlreichen Wertzuschreibungsakte, die Kant selbst in Bezug auf die Freiheit unternimmt. Was sich hinter dieser vielleicht axiologisch neutral anmutenden Rede der apriorischen sittengesetzlichen Regelung des Willens verbirgt, ist demnach nichts anderes als das Vermögen praktischer Freiheit, d. h. das Vermögen zur Zweck- und Wertsetzung. Gerade dieses Vermögen ist es jedoch, welches Kant unter den Begriffen der ›rationalen Natur‹ oder auch des ›Selbstzwecks der Menschheit‹ zum Gegenstand expliziter und zudem unbedingter Wertschätzung erhebt. Eine wichtige systematische Pointe des Triebfederkapitels besteht nicht zuletzt in der kantischen Rekonstruktion der praktisch-transzendentalen Bedingungsstrukturen der Identität des Subjekts als eines handelnden Wesens: Die Akteuridentität impliziert beim kritischen Kant den Vollzug eines praktischen Selbstverhältnisses, welches durch das moralische Interesse und die Idee der Selbstzweckhaftigkeit bzw. des absoluten Werts der praktischen Existenzform charakterisiert ist. Der 40

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Vgl. dazu: Cummiskey 1996, S. 125.

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unhintergehbare Konstitutionsgrund der Akteuridentität ist nach Kant dementsprechend immer auch ein Wertgrund bzw. axiologisch niemals neutral. Reine praktische Vernunft erweist sich demnach vor allem anderen als das fundamental wertstiftende und den Menschen dadurch zur freien Wertsetzung und -anerkennung sowie Zwecksetzung befähigende Vermögen: Die Bedingung unbedingter menschlicher Wertschätzung des Sittengesetzes als vernunftnotwendiges Moment der praktisch-internen Struktur des Menschen als einem moralisch verantwortlichen Wesen stellt nach Kant selbst einen apriorischen Gegenstand unbedingter Wertschätzung dar. 41 Wenn er zudem von der strukturell-funktionalen Identität einer Handlung aus Pflicht und einer Handlung aus der Achtung vor dem Sittengesetz ausgeht, ergibt sich ein differenzierteres und komplexeres Bedingungsgefüge von (a) deontischen und axiologischen bzw. auch (b) deontischen und teleologischen Elementen, als die verbreiteten deontologisch orientierten Interpretationen suggerieren. Zu (a): Ebenso wenig wie das Phänomen der Achtung kann man das Konzept der Pflicht im Sinne Kants rekonstruieren, wenn man nicht berücksichtigt, dass es keine Pflicht und ein demgemäßes Handeln geben kann, insofern keine Freiheit bzw. kein sittengesetzlich bestimmter Wille gegeben ist. Dieser an sich unstrittige Sachverhalt bedeutet aber für ein tieferes Verständnis des kantischen Pflichtbegriffs, dass eine Handlung aus Pflicht als eine Handlung aus unbedingter Wertschätzung des Sittengesetzes bestimmt werden muss. Pflicht als Handlung aus Achtung vor dem Sittengesetz bzw. der Person kann zwar auch vor dem Hintergrund einer explizit praktisch-axiologischen Lesart immer noch als deontisches Element verstanden werden, da es das zweckunabhängige Gebotensein bestimmter Handlungsweisen impliziert, doch zeigt die Achtungskonzeption in ihrer binnendifferenzierten Rekonstruktion als Wertstiftungs- und -anerkennungstheorie, dass nicht nur in der SZF, sondern auch im Kontext der kantischen Motivationstheorie das Wertkonzept der Person 42 unmittelbare Relevanz für die Struktur und Kohärenz der ethischen Theorie besitzt. Steigleder beschreibt das hier Intendierte mit der Formulierung, dass reine praktische Vernunft unter Freiheit von der Sinnlichkeit praktische Wertungen vollzieht; vgl.: Steigleder 2002, S. 60. 42 Vgl.: KpV AA V, S. 76. 41

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Zwar erweist sich in dieser Perspektive auch eine streng axiologische Rekonstruktion der Achtungstheorie als plausibel, doch stellt das Achtungsmoment weder als apriorische Wertstiftungs- noch als aposteriorische Wertanerkennungstheorie ein schlagendes Argument gegen eine deontologische Lesart als solche dar. Zu (b): Das vor allem in der GMS hervorgehobene Konzept des Selbstzwecks des vernünftigen Akteurs bzw. seiner vernünftigen Natur (Menschheit) hat sich im Verlauf unserer Analyse auch als eine mittels reflexiv angewandter teleologischer Terminologie formulierte Konzeption absoluten Werts erwiesen. Der Zusammenhang zur Achtungstheorie muss dementsprechend dergestalt rekonstruiert werden, dass Kant in seiner in der KpV aufgestellten These der notwendigen Bezogenheit der Achtung auf Personen exakt diesem Umstand Rechnung trägt: Achtung ist demnach dasjenige Gefühl, welches durch die Anerkennung des Selbstzwecks des autonomen Akteurseins bewirkt wird. Indem der Selbstzweck der vernünftigen Natur als anzustrebender Zweck verstanden wird, vollzieht sich eine Form der teleologischen Reifizierung von ursprünglich axiologisch reifizierten und zudem apriorischen Bedingungen der Möglichkeit von Sittlichkeit. Diese teleologische Reifizierung des Selbstzwecks steht natürlich weiterhin unter der praktischen Bedingung der Annahme des Selbstzwecks des Akteurs, doch erscheint eben dieser Selbstzweck zugleich als eine praktische Idee, welche der auch empirisch verfasste Mensch als erstrebenswerte moralische Norm begreifen und als höchste Zielvorstellung all seinem Handeln zugrunde legen kann. Der Akteur kann dabei den Selbstzweck der rationalen Natur empirisch nur anstreben, weil dieser Selbstzweck auf noumenaler Ebene immer schon verwirklicht ist bzw. das Akteursein als ein Intelligibles letztlich nichts anderes ist als das kontinuierliche Verwirklichen 43 der eigenen rationalen Wesenskomponente. – Der heilige Wille (und einen solchen besitzt der intelligibel betrachtete Akteur) will ausnahmslos immer das Gute und fungiert damit immer schon zugleich als Inbegriff des Guten selbst. Die Achtungstheorie erscheint in dieser teleologischen Hinsicht als Garant für die Möglichkeit der empirischen Verwirklichung dessen, was durch den Unter Rekurs auf den Freiheitsbegriff formuliert Kersting dementsprechend: »Freiheit ist kein Gegenstand, sondern etwas, das nur im Tätigkeitsein vernünftiger Subjekte Wirklichkeit gewinnt, das nur aus der Binnenperspektive handelnder Menschen verstanden werden kann.« S.: Kersting 2004, S. 277.

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Kategorischen Imperativ geboten wird – für die Behandlung der Menschheit in jeder Person auch als Selbstzweck. Wie schon im Unterkapitel V.1.1.2 zum Ursprung der Pflichten in dieser Studie angemerkt wurde, geht Kant gegen Ende des Triebfederkapitels auf die Frage ein, welches die letzte Wurzel sei, von der die Pflichten abstammen »und von welcher Wurzel abzustammen, die unnachlaßliche Bedingung desjenigen Werths ist, den sich Menschen allein selbst geben können«. 44 Die nachfolgenden Ausführungen, in denen Kant die so emphatisch gestellte Frage nach dem Grund der Pflichten beantwortet, erinnern – allen Thesen der grundsätzlichen Verschiedenheit von GMS und KpV zum Trotz – an eben diejenigen Passagen aus der GMS, in denen er seine These von der axiologischen Superiorität der Verstandeswelt gegenüber der Sinnenwelt entwickelt. Demnach könne der Ursprung der Pflichten nichts Minderes sein, als was den Menschen über sich selbst (als einen Theil der Sinnenwelt) erhebt, was ihn an eine Ordnung der Dinge knüpft, die nur der Verstand denken kann, und die zugleich die ganze Sinnenwelt, mit ihr das empirisch bestimmbare Dasein des Menschen in der Zeit und das Ganze aller Zwecke (welches allein solchen unbedingten praktischen Gesetzen als das moralische angemessen ist) unter sich hat. 45

Dasjenige, was den Menschen über sich als sinnliches Wesen erhebe und somit Sittlichkeit praktisch bedinge bzw. ermögliche, ist die Persönlichkeit als Freiheit von sinnlichen Antrieben und das Vermögen zur Selbst(sitten-)gesetzgebung. Diese praktisch qualifizierte Freiheit als Persönlichkeit stellt aber nun nichts anderes dar als das spezifische Identitäts- und Konstitutionsmerkmal des Akteurs als praktischem Grund des Kategorischen Imperativs, wie es schon in der GMS unter explizit axiologischem Gesichtspunkt skizziert wurde. Ganz konsequent spricht Kant dementsprechend auch im Triebfederkapitel von der »Achtung erweckenden Idee der Persönlichkeit« 46 und greift damit grundsätzlich auf sein schon weit früher konzipiertes Modell des absoluten Werts der autonomen Person zurück. Die Momente der apriorischen Wertstiftung und der aposteriorischen Wertanerkennung im Phänomen der Achtung werden daher nicht adäquat beschrieben, insofern man sie einfach nur als kantische Ausdrucksweise des Bewusst44 45 46

S.: KpV AA V, S. 86. S.: KpV AA V, S. 86 f. S.: KpV AA V, S. 87. A

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seins der Geltung des Sittengesetzes versteht – ›es gibt eben das Bewusstsein der Ansprüche des Sittengesetzes und mehr kann man nicht dazu sagen‹ –, sondern in der Achtungstheorie verdeutlicht Kant vielmehr, was sein Konzept unbedingter praktischer Geltung praktisch voraussetzt und inwiefern jegliche damit verbundene Pflichtbestimmung von apriorisch-axiologischen Konstitutionsakten abhängig ist. Das Achtungsgefühl wird in Kants eigener Rekonstruktion der Triebfederfunktion der Achtung zwar als Bewusstsein des Sittengesetzes skizziert, doch basiert es auf Vernunftakten, die eine Strukturanalogie zu freien Werturteilen aufweisen. 47 Die Achtungstheorie kann demnach zwar berechtigterweise einen Platz in schwach-deontologischen Rekonstruktionen einnehmen, doch liefert sie gute Gründe gegen die These, dass es sich bei ihr um ein werttheoretisch implikationsloses Lehrstück streng-deontologischen Zuschnitts handelt.

Dies gilt insbesondere unter Berücksichtigung der axiologischen Eigenschaften des Sittengesetzes.

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IX. Kritik der Klassifikationen der kantischen Ethik in der aktuellen Diskussion

In den folgenden Ausführungen wird ein ausführlicher kritischer Rückblick auf die bereits dargestellten Interpretationsansätze der kantischen Ethik unternommen. Dabei wird untersucht, wie sich die von den jeweiligen Autoren aufgestellten Thesen zu unserer systematischen Verhältnisbestimmung der entsprechenden Hauptelemente verhalten. Zudem wird die bereits in Kap. III partiell behandelte Frage Beachtung finden, in welcher Beziehung die verschiedenen Positionen der Diskussion ihrerseits zueinander stehen, wobei dieses Projekt vor allem im Falle der werttheoretisch orientierten Ansätze wie z. B. von Guyer, Herman, Wood und Korsgaard nicht gerade einfach, zugleich jedoch insofern aufschlussreich ist, als die unterschiedlichen Modelle werttheoretischen Zuschnitts zumindest partiell zutreffende Einsichten sowohl in die ethische Oberflächen- als auch metaethische Tiefenstruktur der kantischen Ethik vermitteln können. Im Verlauf dieser Untersuchung sollte anhand der Analyse der Vielzahl von typologisch unterschiedlich interpretierbaren Aspekten und Lehrstücken der kantischen Ethik hinreichend deutlich geworden sein, dass ein allein am Pflichtbegriff oder auch der Willenskonzeption orientierter Klassifikationsansatz ihrer strukturellen Komplexität insofern nicht gerecht werden kann, als man dabei die diesbezüglich konstitutiven, im Werk allerdings oft implizit bleibenden systematischen Relationen entweder nicht berücksichtigt oder gar hinsichtlich ihrer typologischen Relevanz bestreitet. Eine einseitig auf Begriffen wie ›Wert‹, ›Pflicht‹, ›Zweck‹ oder ›Willen‹ basierende Strukturrekonstruktion kommt dabei zwar einem Bedürfnis nach Einfachheit und Klarheit entgegen, doch entzieht sich Kants Ethik jeglichem Zugriff mittels weniger Schlagworte. Positiv formuliert, vereint die kantische Ethik sowohl axiologische als auch deontologische sowie teleologische Strukturkomponenten und stellt sich demnach auf den ersten Blick im Sinne Krämers als Form A

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einer ›Mischethik‹ dar. Dieser Befund könnte nun vielleicht den Schluss nahe legen, dass jegliche weitere Klassifikationsdebatte vor dem Hintergrund primär subjektiv-kontingenter Gewichtungsreflexionen stattfinden müsse, da man in eine Mischethik offenbar viel typologisch Heterogenes ›hineininterpretieren‹ könne und keinerlei seriös belegbarer Anhaltspunkt für die vorrangige Plausibilität einer Klassifikationsthese gegenüber anderen bestehe. De facto verhält es sich jedoch so, dass die kantische Ethik zwar durchaus einen berechtigten Anlass für bestimmte divergierende Klassifikationen liefert und insofern auch einen umfassenderen Gewichtungsspielraum als andere Ethiken zulässt, doch sind diese Spielräume keineswegs unbegrenzt. Es existieren gute Gründe dafür, wenigstens grundsätzlich zwischen plausibleren und unplausibleren Klassifikationsansätzen zu differenzieren, wie im Folgenden en détail aufgewiesen wird.

IX.1 Kritische Analyse der D-These Die stark-deontologische These stellt einen besonders traditionsträchtigen und einflussreichen Ansatz dar, der in einigen Punkten durchaus der strukturellen Originalität der kantischen Ethik Rechnung tragen kann. Doch besteht ein Hauptproblem dieses Zugangs darin, dass er sie von Grund auf unterkomplex und einseitig rekonstruiert, dadurch in struktureller Hinsicht simplifiziert und somit unverhältnismäßig dezidiert von teleologischen (vor allem antiken) und auch wertfundierten Ethikmodellen absetzt. Die folgenden Ausführungen behandeln als Hauptgesichtspunkte (a) die axiologischen Aspekte, (b) die begründungstheoretische Dimension, (c) die Funktion des Sittengesetzes, (d) den Vernunftbegriff, (e) die Relation von Pflichten und Zwecken sowie (f) die Willensbestimmung und Willensausrichtung. Ad (a): Ein grundsätzliches Problem der D-These besteht in ihrer Negation jeglicher nennenswerten Relevanz von Wertkonzepten, was sich nicht zuletzt in einer unzureichenden Rekonstruktion und Integration der Wertthesen der GMS und der in axiologischer Hinsicht zurückhaltenden Analyse der Achtungstheorie manifestiert. Wenn Trampota als geradezu mustergültiger Vertreter der D-These gegen die neueren werttheoretisch orientierten Interpretationen von Guyer und Herman argumentiert, dass Kant an keiner Stelle von einer motivationstheoretischen Schlüsselrolle irgendeiner Form von Werterfah432

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rung oder -erkenntnis ausgeht, 1 ist ihm in dieser Hinsicht zwar zuzustimmen, denn die Binnenstruktur der Achtungs- und Faktumskonzeption erweist die empirischen Elemente aufgrund ihres Wirkungscharakters konstitutionstheoretisch (nicht motivationsfunktional) eindeutig als sekundär, doch schießt Trampota insofern über das Ziel hinaus, als die metaethische und prinzipientheoretische Irrelevanz von Werterfahrungen keineswegs die Irrelevanz von Wertkonzeptionen anderer Beschaffenheit und anderer Funktionalität bedeuten muss und tatsächlich im kantischen Kontext bedeutet. 2 Trampota schließt mit seiner empiristisch eingeschränkten Auffassung möglicher Wertbegründungen gerade diejenigen axiologischen Komponenten vor allem der GMS und KpV aus, welche auch für die deontischen Normativitätsansprüche als fundierend angesehen werden müssen, da sie letztere in transzendental-apriorischer Perspektive ermöglichen. Im Rahmen des stark deontologischen Rekonstruktionsparadigmas muss man den Eindruck gewinnen, dass eine primär deontologische Deutung im Widerspruch zur These der Wertrelevanz stehen muss, obwohl – wenn auch entgegen Kants eigenen Beteuerungen – in der kantischen Ethik von genuin vernünftigen Werten und entsprechenden Wertsetzungsakten die Rede ist. Dementsprechend besteht das allgemeine Problem der stark deontologischen Interpretation in axiologischer Hinsicht sowohl in der These der subordinierten oder ganz fehlenden Relevanz von Werten (D6) als auch, damit zusammenhängend, im genaueren Profil der These des Primats deontologischer Restriktionen (D1) sowie in ihrer einseitig nicht-teleologischen Auffassung des Selbstzwecks »Im Gegensatz zu einigen teleologischen Deutungen seiner Moralphilosophie, die trotz Unterschieden in der Durchführung dieses Interpretationsansatzes darin übereinstimmen, dass sie in seinen moralphilosophischen Schriften eine von der normativ-kategorischen Dimension seiner Ethik unabhängige Werttheorie auszumachen versuchen, welche die Akzeptanz und die Motivationskraft einschränkender ethischer Forderungen plausibel machen soll, behaupte ich, dass es bei Kant keinen als Moral-externe Motivationsquelle für sittliches Handeln in Frage kommenden Begriff der Vernünftigkeit oder der Freiheit jenseits des unbedingten Anspruchs der Moral gibt.« S.: Trampota 2003, S. 13. 2 Abgesehen von seiner expliziten Ablehnung der Relevanz von Werterfahrungen spricht Trampota dennoch von einer praktischen Erfahrungstatsache als Grund der kantischen Ethik und meint damit das Bewusstsein der moralischen Verpflichtung; vgl.: Trampota 2003, S. 32. Den Aufweis des genauen und belastbaren Unterschieds zwischen dieser offenbar zulässigen Art der Erfahrung und dem abgelehnten Gewahrsein des absoluten Werts der rationalen Natur bleibt er letztlich schuldig. 1

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(D4). Der Primat von Vernunftrestriktionen gegenüber neigungsbasierten Willensbestimmungsakten (D1) ist tatsächlich nicht der Dreh- und Angelpunkt der kantischen Ethik, sondern vielmehr nur die andere, negative Seite der auch positiven Idee des Selbstzwecks der rationalen Natur, welche ihrerseits durch D4 insofern nicht adäquat rekonstruiert wird, als der Selbstzweck der Menschheit allein als Instanz zur praktischen Konstitution unmittelbar verbindlicher Normativität, 3 nicht aber zugleich als höchstes materiales ›telos‹ des moralisch bestrebten Akteurs und als im Kontext der Pflichtbestimmung auch anwendungspraktisch grundlegende Wertidee in Erscheinung tritt. Zwar ist D4 dahingehend zutreffend, dass die Selbstzweckidee als ursprünglich normativitätskonstituierendes Moment jeder Willensbestimmung nicht zugleich als Objekt desselben Willens fungieren kann, doch geht es in Kants Ethik im Grunde um eine Verwirklichung dieser vernunftpraktischen Wertidee und damit in letzter Konsequenz um die Selbstverwirklichung des vernünftigen als eines moralischen Wesens, da dies gleichbedeutend ist mit der Realisierung reiner praktischer Vernunft. Da man unter ›Verwirklichung‹ oder ›Realisierung‹ in Bezug auf den Menschen jedoch stets eine Form von Handlung begreifen muss und Kant unmissverständlich von einer bestimmten Handlungsteleologie ausgeht, bleibt der daher notwendigerweise herzustellende systematische Konnex von Handlung und (Selbst-)Verwirklichung der Person bei der D-These aufgrund von D4 unterbestimmt. Dabei ist bemerkenswert, dass eine Geringschätzung von Werten und Zwecken gar nicht notwendig mit allen streng-deontologischen Teilthesen inkompatibel sein muss und auch Trampotas Negation einer bei Kant angeblich vorhandenen Trennung des Werthaften vom Normativen durchaus einen wichtigen Punkt anspricht, denn erstens lässt die vollständige Zwar wird von deontologischer Seite zuweilen der Eindruck vermittelt, dass die Instanziierung unbedingter praktischer Geltung bereits irgendeinen strukturellen Zusammenhang mit deontologischen Ethiken aufweisen würde, doch dies ist keineswegs der Fall und wird auch nirgends in der untersuchten typologisch relevanten Literatur nachgewiesen. Nicht selten scheint es sich dabei um eine nur unzureichend reflektierte Übernahme des von Kant mit einer gewissen Regelmäßigkeit vorgebrachten Diktums der Unmöglichkeit der Etablierung von strenger moralischer Verbindlichkeit durch Werte und Zwecke zu handeln, welchem schon Kant-immanent nur in Form seiner Auffassung als auf nicht-vernünftige und aposteriorische Wert- und Zwecksetzungen bezogene These ein konsistenter Sinn verliehen werden kann. Einer solchen Sichtweise liegt demnach eine grundsätzlich verkehrte Relationsbestimmung von geltungs- und gegebenheitsmodalen Aspekten einer Theorie zugrunde.

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Kritische Analyse der D-These

Abhängigkeit aller Werte vom sittlich Richtigen (dies impliziert D6) immer noch die Möglichkeit einer axiologischen Qualifizierung dieses Sittlichen zu, 4 und zweitens impliziert auch die bei Kant in der Tat nicht immer mit hinreichender Deutlichkeit etablierte Trennung von Wert und Norm keineswegs, dass mit der Subordination aller nichtvernünftigen Wert- und Zwecksetzungen gegenüber dem PraktischVernünftigen die Unmöglichkeit einer werttheoretisch strukturierten (metaethischen) Begründung der obersten moralischen Prinzipien behauptet wird oder werden müsste. Dieser Kritikpunkt kann dahingehend präzisiert werden, dass eine axiologisch oder auch vernunftteleologisch orientierte Rekonstruktion von deontologischer Seite nicht einfach im Sinne Trampotas mit dem Verweis auf die Faktumslehre in Frage gestellt werden kann, da auch die Faktums- und Achtungslehre zum einen konstitutive axiologische Momente aufweisen und zum anderen Kerngehalte der kantischen Vorstellung von moralischem Handeln beinhalten, damit jedoch immer auch in unmittelbarer Verbindung zu moralisch relevanten Wert- und Zwecksetzungen stehen. Das entscheidende Moment einer typologisch qualifizierten Rekonstruktion der Faktumslehre besteht in der Verhältnisbestimmung von Anerkennungsakten und einen Zweck verfolgenden Handlungen. Diesbezüglich wird im Kontext der D-These betont, dass die unmittelbare (unvermittelte) Anerkennung moralischer Sollensforderungen streng von einer über eine bestimmte Zweckvorstellung vermittelten Handlung unterschieden werden müsse. Tatsächlich liest sich Kant zunächst so, dass es sich beim Faktum der Vernunft nicht um eine Handlung handelt, welche als Mittel zur Erreichung eines ihr übergeordneten oder inhärenten Zwecks dienen soll, doch bedeutet dies nicht, dass die Bestimmung des Willens durch reine Vernunft samt ihres Kausaleffekts des moralischen Gefühls keinen Zweck- oder Wertbezug aufweist. In der Achtungstheorie als Kern der Faktumslehre tritt schließlich der Aktaspekt der Achtung – das Vernunfturteil als apriorisches Moment jeder Willensbestimmung – zutage, welcher die Funktion eines allgemeingültigen Werturteils inne hat, da sich der Mensch als auch empirisches Wesen allein durch die ihm eigene Wertschätzung seines praktischen Vernunftvermögens unter dem unbedingten Anspruch des Sittengesetzes weiß. Eine Handlung aus Pflicht ist letztlich Tatsächlich spricht Kant an verschiedenen Stellen vom ›heiligen‹ Sittengesetz; s. Kapitel V.3.1.1.4 dieser Studie.

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nichts anderes als eine Handlung aus unbedingter Wertschätzung der (eigenen und fremden) Person, und diese Wertschätzung ist als intelligible Vernunfttätigkeit (als Ausdruck rationalen Wollens) zugleich der Kern des Personseins. Somit ist nicht nur mit Schönecker und Wood fragwürdig, warum die divergent auslegbaren Wertthesen aus der GMS in der D-These keine Rolle spielen, sondern darüber hinaus ist ernsthaft zu bezweifeln, dass eine Rekonstruktion der Faktums- und Achtungslehre der KpV ohne Integration der von Kant selbst explizit reflektierten axiologischen Dimension diesen Lehrstücken in ihren Grundgedanken gerecht werden kann. Während die in der GMS zur Begründung des KI angeführte Argumentation mit guten Gründen als metaethische Komponente eingestuft werden kann und daher auch nicht zwingend gegen eine streng deontologische Interpretation sprechen muss, stellt sich die Situation im Falle der Achtungslehre insofern anders dar, als es sich hier um die eindeutig in die ethische Theorie implementierte Motivationstheorie Kants handelt. Ad (b): Die Verkennung der Strukturrelevanz axiologischer Komponenten (insbesondere des Selbstzwecks der Menschheit) wirkt sich zudem negativ auf die Verortung der kantischen Ethikbegründung aus. Für das Profil der starken Deontologie-These ist von Belang, dass, wie es z. B. Trampota zumindest tendenziell und Ricken in aller Deutlichkeit 5 unternehmen, nicht selten so argumentiert wird, als ob mit der Konstatierung des Primats von deontologischen Strukturen in der konkreten ethischen Theorie eigentlich schon alles in begründungstheoretischer Perspektive Relevante gesagt sei. In diesem Sinne spricht Trampota auch von einer »deontologischen Grundlegung der Ethik« 6 durch Kant, während später von einem »deontologischen Profil der Ethik Kants« 7 die Rede ist. Anders als z. B. Korsgaard, die die deontologische Normativität in einer untrennbaren Verbindung zur axiologischen Problematik sieht, scheinen Trampota sowie Taylor, Kerner und Niquet letztlich davon auszugehen, dass die Anerkennung des moralphilosophischen Primats von handlungsrestringierenden Pflichten bereits eng mit der Begründungsproblematik der kantischen Ethik verVgl.: Ricken 2003, S. 271. S.: Trampota 2003, S. 23. An anderer Stelle spricht Trampota auch von einer starken, d. h. transzendentalphilosophischen deontologischen Grundlegung der Ethik; vgl.: Trampota 2003, S. 62. Ebenfalls dort findet sich auch die Formulierung von deontologischen und teleologischen Moralbegründungen. 7 S.: Trampota 2003, S. 27. 5 6

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knüpft bzw. mit ihr identisch sei. Diesbezüglich muss festgehalten werden, dass Ethikbegründung, Ethiktheorie und Ethiktyp zwar in einem systematischen Konnex miteinander stehen können, deswegen jedoch nicht zu vermischen sind. Dementsprechend ist die Grundlegung einer Ethik im Sinne ihrer Begründung (und dies scheint mir durchaus ein naheliegendes und plausibles Verständnis dieses Terminus zu sein) etwas anderes als die ethische Theorie selbst, da die Frage nach der Ethikbegründung eine metaethische, diejenige nach der Struktur und den Merkmalen der konkreten ethischen Theorie jedoch eine die Ethik selbst betreffende und somit eine auch ethiktypologische ist. Die Trennung von Begründung und Struktur ethischer Theorien bewahrt einerseits den Sinn der Konstitution der ethiktypologischen Klassifikationstermini, den Broad mit diesem Unternehmen verbunden hat, während sie andererseits die Unterscheidung von theoretischen und genuin praktischen Elementen eines moralphilosophischen Ansatzes unterstützt. Ein ethiktypologischer Terminus wie ›deontologisch‹ bezeichnet daher einen deskriptiven Klassifikationsbegriff und kein begründungstheoretisches Konzept irgendwelcher Art. 8 Hätte Kant seine Ethik im Sinne einer Absolutsetzung der Pflichten wirklich ›deontologisch begründet‹, würde dieses Unternehmen letztlich auf die knappe Aussage hinauslaufen, dass wir unsere Pflicht tun sollen, weil es unsere Pflicht ist. 9 Dies mag auf den ersten Blick genau der Kern des kantischen Mo»›Echt‹ deontologisch ist […] etwa folgende Formulierung: ›X darf man nie tun, weil man das nicht darf‹, ›… weil dies gegen den Willen Gottes verstößt‹, ›… weil dies in sich schlecht ist‹, ›… weil ich dazu nicht berechtigt bin‹ – ›trotz aller Folgen.‹ Das sind nun aber gerade keine normativen Formulierungen davon, weshalb es gegen den Willen Gottes verstößt, in sich schlecht ist, man dazu nicht berechtigt ist usw. Das ›Deontologische‹ ist hier nur eine Applikation von Urteilen über das Gutsein von Handlungen bzw. von normativen Aussagen auf konkrete Handlungsvollzüge. […]. Weshalb aber x-tun in sich schlecht oder unrichtig ist (bzw. die Begründung einer Norm), das ist kein Urteil des Gewissens und es kann deshalb auch nicht deontologisch formuliert werden. Würde man in diesem Fall x dennoch tun, so würde man das nicht, weil man über das Gutsein der Handlung eine falsche Auffassung hätte, sondern weil man gegen das Gewissen handelte. Der ›teleologischen‹ eine ›deontologische‹ Auffassung der Normenbegründung entgegenzustellen entspringt demnach einer Verwechselung von zwei verschiedenen Kategorien praktischer Urteile.« S.: Rohnheimer 2001, S. 344. Dementsprechend spricht Casas auch von einer »Kantischen Begründung einer deontologischen Moral«, wobei allerdings zweifelhaft ist, ob diese Begründung bei Kant, wie Casas annimmt, durch den KI geschehen soll; s.: Casas 1996, S. 23; vgl. zudem Düsings Frage nach einer Begründung deontologischer Ethiken in: Düsing 2003, S. 243. 9 In gewisser Weise wird dieser Aspekt der kantischen Ethik in MacIntyres geschichts8

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ralverständnisses sein, da z. B. in der Gesetzes- und Naturgesetzformel des Kategorischen Imperativs auf keine weiteren Zwecke der Pflichterfüllung verwiesen wird und somit die Gefahr einer Instrumentalisierung der Moralität (die andernfalls keine echte Moralität wäre) gebannt scheint. Der von Kant immer wieder betonte Selbstzweckcharakter des Moralischen scheint durch diese Zirkelantwort in seiner ganzen Eigentümlichkeit zu einem adäquaten Ausdruck gebracht zu sein. Genau dies ist aber der Punkt: Der einfache Verweis auf den Primat von Pflichten und somit von deontischen Elementen spielt sich immer noch vor einem weitgehend implizit bleibenden Hintergrund ab, der sowohl axiologische als auch vernunftteleologische Aspekte beinhaltet, welche in Beziehung zueinander stehen. Die Pflichten und auch der Kategorische Imperativ stehen bei Kant nicht im ›wertleeren‹ Raum, sondern müssen auch und vor allem in ihrer wertexpressiven und normativitätsvermittelnden Funktion verstanden werden, wenn man die KI-Begründung in der GMS, die SZF und die axiologische Auszeichnung der Freiheit ernst nehmen will. Die eigentliche Antwort auf die Frage nach der Verbindlichkeit der Pflichten müsste demnach mindestens zwei Sätze umfassen und lauten: ›Wir sollen unsere Pflicht tun, weil es unsere Pflicht ist. Das pflichtgemäße Handeln aus Pflicht ist aber unsere Pflicht, weil moralisch-praktische Rationalität als Inbegriff des autonomen Selbstbezugs absolut werthafter, endlicher Vernunftwesen Selbstzweck ist und wir uns als selbstzweckhafte Vernunftwesen betrachten müssen.‹ Die Rede von einer ›deontologischen Begründung‹ der kantischen Ethik ist also insgesamt aus zwei unterschiedlichen Gründen problematisch: Zum einen liegt ein kategorialer philosophischem Werk aufgegriffen, wobei er versucht, dem scheinbar grundlosen Geltungsanspruch der Pflichten einen alltagsmoralisch fundierten, pragmatischen Sinn zu geben: »Der kategorische Imperativ wird durch keine Bedingung eingeschränkt. Er hat einfach die Form: ›Du sollst das und das tun.‹ Eine Version des kategorischen Imperativs kommt mit Sicherheit in alltäglichen moralischen Äußerungen in unserer Gesellschaft vor. Du sollst das tun! – Warum? – Es gibt keinen Grund dafür. Du sollst ganz einfach. – Der Sinn von ›Es gibt keinen Grund dafür‹ soll den Gegensatz zu den Fällen herausstellen, wo man etwas tun soll, weil es zum eigenen Vergnügen oder Vorteil dient oder ein gewünschtes Resultat herbeiführt.« S.: MacIntyre 1984, S. 180. Zwar ist der Sinn der Negation eines rein subjektiven Grundes für die Befolgung einer vom KI gebotenen Pflicht zutreffend, doch würde diese Aussage allein letztlich bedeuten, dass es keinerlei positiven Aspekte der Pflichtbegründung, kein zugrundeliegendes und mit auf Neigung und Selbstliebe basierten Zwecken konkurrenzfähiges Wert- bzw. Zweckkonzept in Kants Ethik gäbe.

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Fehler im Bereich der Differenzierung praktischer Urteile vor, zum anderen erscheint die Behauptung mehr als zweifelhaft, dass Kant der Ansicht war, seine Ethik sei durch die Pflicht oder das Moralgesetz begründet. Ad (c): Eine weitere und mit dem soeben Konstatierten eng zusammenhängende Schwäche der D-These besteht darin, dass man von ihr ausgehend Begriff und Funktion des Sittengesetzes nicht adäquat rekonstruieren kann. Im Kontext der D-These wird das Sittengesetz einzig als transzendental-deontologische Handlungsbedingung aufgefasst, wobei damit tatsächlich eine wichtige Funktion benannt ist. Nur bedingt zutreffend ist dagegen die in D3 getroffene Aussage, dass das Sittengesetz keinem übergeordneten Zweck dienen kann, da andernfalls die Gefahr der Heteronomie drohen würde: Die imperativische Formulierung des Sittengesetzes in Form der SZF ist von Kant offenbar dergestalt konzipiert, dass in ihr keinerlei substantielle oder geltungsmodale Modifikation gegenüber der indikativischen Urform stattfinden soll; – dennoch fungiert die Idee der rationalen Natur/der Persönlichkeit in der SZF als höchststufiger objektiver Handlungszweck, und spätestens vor dem Hintergrund der in der KpV vollzogenen Identifikation von der Idee des Sittengesetzes (samt Achtung) und der Persönlichkeit bzw. der intellektuellen Idee der Menschheit (samt aller axiologischen Implikationen) ergibt sich die Notwendigkeit einer Verhältnisbestimmung von Sittengesetz und Selbstzweck, deren Differenziertheit über das in der D-These Explizierte hinausgeht: Zwar müssen Handlungen als exponierte Gegenstände praktischer Urteile allein nach Maßgabe des Sittengesetzes bewertet werden, sodass letzteres in dieser Perspektive in der Tat kein Mittel zur Erreichung irgendeines anderen Zwecks darstellt, doch benutzt Kant die Redeweise von der Idee des Sittengesetzes m. E. ganz gezielt, um die ursprüngliche Wert- und somit Selbstzweckidee des rationalen Wesens des Menschen zu bezeichnen. 10 Demnach ist es kein Zufall oder philosophischer Zaubertrick, wenn Kant nach der UF und der NF plötzlich den Selbstzweck Natürlich sind ›Wert‹ bzw. ›Zweck‹ einerseits und ›Gesetz‹ andererseits unterschiedliche Begriffe mit verschiedenen funktionalen Profilen, doch wenn man die Idee des Sittengesetzes als den rein intellektuellen Gehalt der gesetzlich formulierten Aussage begreift, dass Moralität prinzipiell in der handlungsbestimmenden Achtung des Selbstzwecks der Menschheit besteht, kann man zwar immer noch keine strikte Identität, jedoch eine größere inhaltliche Annäherung beider Konzepte konstatieren, als es die oberflächliche Terminologiedifferenz vermuten lässt.

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der Menschheit aus dem Sittengesetz gewinnt, 11 weil dieses nicht nur als deontologisch-restriktives Prinzip der Pflichten, sondern in Form der durch das Sittengesetz explizierten Idee des obersten Moralgesetzes immer schon als positiv qualifizierter Inbegriff moralischen Werts fungiert. Das Sittengesetz dient als Mittel zur Verwirklichung des Selbstzwecks der Menschheit und somit immer auch der Idee seiner selbst, und da aus der selbstreferentiellen Struktur des Selbstzwecks die Unmöglichkeit einer strengen Unterscheidung von Anstrebungsund Verwirklichungsakten resultiert, kann eine Handlung aus Achtung des Sittengesetzes in erststufiger Reflexion durchaus vollkommen nicht-teleologisch anmuten. Im Falle der Zweckdienlichkeit des Sittengesetzes spiegelt sich letztlich der Kerngehalt der Selbstzweckformel in gegebenheitsmodal modifizierter (da indikativischer) Form wider: Das Sittengesetz fungiert niemals als Mittel, ohne zugleich in Form seiner eigenen Idee als (Selbst-)Zweck zu dienen. 12 Die in der D-These vollzogene Herausstellung der geltungstheoretischen Unabhängigkeit des Sittengesetzes von nicht-vernünftigen Zwecksetzungen ist somit zweifellos adäquat, doch werden sowohl Selbstzweck als auch Sittengesetz primär unter Reflexion auf diesen abgeleiteten, da als Unabhängigkeit von Kontingentem nur negativ bestimmten Sekundäraspekt beider Begriffe rekonstruiert. Dies hat zur Folge, dass weder die typologisch brisante Binnenstruktur des Selbstzwecks und die meist implizit bleibende Wertdimension des Sittengesetzes noch der strukturelle Zusammenhang beider Kernkonzeptionen untereinander auf den unterschiedlichen Reflexionsebenen der kantischen Ethik mit hinreichender Deutlichkeit zur Geltung kommen können. Ad (d): Ein in der Regel von den meisten Vertretern alternativer Positionen vernachlässigtes Problem der D-These stellt Kants Vernunftbegriff bzw. eines seiner grundlegenden Merkmale dar: Sowohl in der theoretischen als auch in der praktischen Philosophie spricht Das Argument, dass Kant den Selbstzweck eben nicht aus dem Sittengesetz, sondern dem KI ›gewinnt‹, da die Notwendigkeit einer teleologischen Terminologie erst durch den Bezug auf das endliche Vernunftwesen resultiert, ist zwar als Rekonstruktion der konkreten kantischen Vorgangsweise, nicht jedoch als systematisch hinreichende Pointe zutreffend, denn Kant führt die Selbstzweckidee in der GMS bereits in seiner Erläuterung des Grunds des KI an, welcher selbst in Form von thetischen und nicht imperativischen Sätzen skizziert wird. 12 Dieser Sachverhalt kann ausschließlich indikativisch formuliert werden, da an das Sittengesetz keine Forderungen ergehen können. 11

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Kant an mehreren Stellen von einem ›Interesse der Vernunft‹, welches kein akzidentelles, sondern ein substantielles Moment der Vernunft darstellen soll. Kants wiederholter Rekurs auf das Vernunftinteresse und die damit einhergehende Betonung der Idee des Unbedingten bzw. der Vollkommenheit als der Vernunft inhärenter Strebensfokus legt keine deontologische Interpretation seiner Ethik nahe, sondern kann durchaus als Gegenargument ins Feld geführt werden. Interessant ist dabei, dass erklärte Vertreter der D-These wie z. B. Trampota diesen Punkt keineswegs ignorieren, sondern ebenfalls von einer der Vernunft inhärenten moralischen Bestimmung sprechen, die von Kant gegen die Möglichkeit einer Instrumentalisierung der Vernunft im Dienste der Klugheit angeführt werde. Allerdings wird die hier konstatierte Problematik als solche nicht in den Blick genommen, sondern offenbar vor dem Hintergrund der als deontologisch klassifizierten Faktumslehre entsprechend eingeordnet. Das Interesse der Vernunft kann allerdings mit guten Gründen als konstitutives Element einer teleologischen bzw. entelechialen Theorie der Vernunft aufgefasst werden, die der Philosophie Kants als solcher und damit auch seiner Ethik zugrunde liegt. Die Vertreter der D-These müssten demnach die Kompatibilität eines streng deontologischen Verständnisses der Ethik mit dem kantischen Vernunftkonzept aufweisen können, wenn sie Kant nicht zumindest tendenziell eine gewisse Inkonsistenz unterstellen wollen, denn auch wenn eine Vereinbarung von entelechialem Vernunftbegriff und deontologischer Ethik in diesem Kontext nicht ohne jede Pointe ist, erscheint eine dem fundierenden Vernunftbegriff strukturanaloge Ethikdeutung unter Perspektiven z. B. der kantischen Systemarchitektonik bzw. Systemorganizität als mindestens ebenso plausibel. Dies gilt, weil das Konzept des Vernunftinteresses sowohl ein deontisches als auch ein entelechiales Moment aufweist, die beide darüber hinaus durch eine spezielle Bedingungsrelation verknüpft sind: Zum einen impliziert das Vermögen der praktischen Vernunft einen sich im Sittengesetz bzw. KI explizierenden unbedingten moralischen Geltungsanspruch an das endliche Vernunftwesen – dies kann man als deontisches Moment auslegen –, zum anderen ist die Vernunft auf die von ihr selbst generierte Vernunftidee des Unbedingten als ihren höchsten Zweck ausgerichtet – dieser Aspekt weist eine entelechiale bzw. vernunftteleologische Struktur auf. Beide Aspekte hängen jedoch insofern zusammen, als das deontische Moment durch das entelechiale bedingt ist, denn nur aufgrund der der praktischen Vernunft inhärenten funkA

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tionalen Hinordnung auf die Idee moralischer Vollkommenheit als das praktisch Unbedingte ist es ihr möglich bzw. wesenseigen, unbedingt verbindliche Sollensforderungen zu etablieren. 13 Kant bringt diesen Sachverhalt mit den einfachen, aber – wie soeben deutlich geworden sein sollte – implikationsreichen Worten zum Ausdruck, dass das moralische Sollen eigentlich ein Wollen sei. Dies bedeutet wohlgemerkt, dass die der Vernunft eigene Hinordnung auf die selbstgenerierten kategorischen Geltungsansprüche nicht als kausale oder logische Folge, sondern als Expression ihrer Verfasstheit zu verstehen ist. Die Vereinnahmung des Vernunftinteresses durch die D-These setzt demnach eine konsequente, dadurch jedoch erst recht inakzeptable Ausblendung der Reflexionsebene des ›Eigentlichen‹ voraus 14 und erfasst letztendlich nur einen Teilaspekt dieser von Kant selbst differenzierter charakterisierten Konzeption. Ad (e): Der deontische Kernbegriff der ›Pflicht‹ hat sich auf doppelte Art und Weise als mit Konzepten zusammenhängend erwiesen, welche eigentlich aus nicht-deontologischen Ethiktraditionen stammen: Zum einen soll eine Handlung aus Pflicht aus unbedingter Wertschätzung der rationalen Natur geschehen, zum anderen dient das Konzept der ›Pflicht‹ der auf neigungsaffizierte Wesen ausgerichteten Formgebung ursprünglich zweckhafter Normgehalte. In dieser Perspektive tritt der in der D-These (in D1) als für die kantische Ethik so zentral präsentierte Pflichtbegriff weniger als systematisch eigenständige und zudem grundlegende Ableitungsbasis anderer Elemente und Strukturen, sondern eher als seinerseits von teleologischen Konzepten abhängige und axiologische Annahmen voraussetzende Konstruktion in Erscheinung, um den eigentlich nicht-deontisch verfassten normativen Gehalt der Idee der Persönlichkeit effektiv in die noetisch-voluntaIn einer deontologischen ›divine command theory‹ wird die funktionale Rolle der unbedingten praktischen Autorität dagegen nicht von der Vernunft, sondern Gott eingenommen. 14 Dies gilt zumindest unter derjenigen Bedingung, dass man das rationale Wollen nicht gänzlich auf die typologisch nicht unmittelbar relevante Reflexionsebene der metaethischen Begründung ›verbannen‹ will. Ein solcher Ansatz wäre zwar insofern partiell berechtigt, da der reine Wille/die reine praktische Vernunft in Form der ursprünglichen Generierung der Idee der Persönlichkeit in der Tat die entscheidende Begründungsleistung zu erbringen hat, doch sind ethische Strukturkomponenten wie die SZF oder auch die Faktums- und Achtungslehre untrennbar mit den besagten metaethischen Voraussetzungen verbunden, sodass das Argument der typologischen Irrelevanz der Willenskonzeption allein schon aus diesen Gründen problematisch erscheint. 13

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tive Verfasstheit endlicher Vernunftwesen integrieren zu können. Wenn in der Tugendlehre der MS betont wird, dass die dort angeführten Tugendpflichten Zwecke seien, welche zugleich als Pflichten betrachtet werden müssen, dann gilt dieses Schnittmengenmodell von Pflichten und Zwecken nicht auch umgekehrt, da zwar nicht alle Zwecke Pflichten, wohl jedoch alle Pflichten eigentlich Zwecke sind. 15 All diese Gesichtspunkte lassen eine Verteidigung des streng deontologischen Charakters der kantischen Ethik auf Grundlage der Berufung auf den Pflichtbegriff als problematisch erscheinen. Ad (f): Ein etwas positiveres Bild von D1 ergibt sich, wenn man Kants Kernaussagen zur Willensbestimmung und deren Relation zur Zweckorientierung des Willens betrachtet. Die diesbezügliche Sachlage ist dabei allerdings komplizierter, als es z. B. das dezidiert formulierte ›Paradoxon der Methode‹ suggeriert, weil Kant zwar in der GMS und der KpV im Grunde keinen Zweifel an der vollständigen Zweckunabhängigkeit der Willensbestimmung aufkommen lässt, in der späteren RGV hingegen von einem notwendigen Interesse der Vernunft an den Folgen des rechten Handelns spricht. Dort widerruft er zwar nicht die Grundaussage des Paradoxons, relativiert durch die angedeutete Aufwertung der Bedeutung der Willensausrichtung für die Willenskonstituierung jedoch die in früheren Werken stärker betonte Irrelevanz von Zwecken. 16 Dieses in der RGV angesprochene notwendige Interesse an den Handlungsfolgen bedeutet jedoch nicht, dass der späte Kant die These der Abhängigkeit des obersten Moralprinzips oder gar des Fundamentalwerts der reinen praktischen Vernunft von deren Fähigkeiten zur Herbeiführung bestimmter Handlungsfolgen abhängig macht. – Bei besagter Notwendigkeit der Interessensnahme handelt es sich nicht um eine genuin moralische Notwendigkeit, sondern Kant sieht (wie auch schon in den früheren Hauptwerken) das Interesse des In gewisser Weise spiegelt sich diese implizite Zweckbezogenheit der Pflichten auch in ihrem Prinzip (dem KI), wenn durch die imperativische Form der Eindruck absoluter geltungstheoretischer Eigenständigkeit vermittelt wird, das Moralprinzip selbst jedoch tatsächlich – als in der noumenalen Natur gegründetes – keine praktische Geltung ex nihilo etablieren kann, sondern seinerseits die Funktion der Vermittlung noch grundlegenderer Ideen innehat. 16 Unabhängig von einer rein systematischen Auswertung dieses Sachverhalts muss darauf verwiesen werden, dass die RGV vor allem durch die Anerkennung der menschlichen Gebrechlichkeit und Endlichkeit geprägt ist, sodass die dort vorhandene Anerkennung der menschlichen Angewiesenheit auf konkrete Handlungszwecke auch vor diesem Hintergrund erklärt werden kann. 15

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Menschen an den Folgen seines moralischen Handelns als ein natürliches Bedürfnis an, seine moralische Gesinnung und demgemäße Handlungsvollzüge mit seinem unabweisbaren Glücksstreben in Einklang zu bringen. Diesem Sachverhalt wird mit der Konzeption des ›höchsten Guts‹ 17 als dem ausgezeichneten Objekt der (reinen) praktischen Vernunft Rechnung getragen, welche zwar mit der Glücksempfindung ein empirisches Element enthält, die Binnenstruktur des höchsten Guts jedoch durch die Maßgabe charakterisiert ist, dass allein das Sittengesetz und nicht natürlich-kontingente Neigung dem Willen als Bestimmungsgrund dienen kann. Kant lässt auch in der RGV keinen Zweifel daran, dass die moralische Willensbestimmung zwar eine notwendige Beziehung auf Zweckvorstellungen besitzt, doch nicht als Grund der Maximensetzung, sondern als deren Folge. In der praktischen Idee des höchsten Guts findet demnach eine Vereinigung der Zweckmäßigkeit aus Freiheit und derjenigen der Natur statt, welche als praktische Idee eines Endzwecks zwar einen »besonderen Beziehungspunkt der Vereinigung aller Zwecke« 18 herstellt, doch wird durch diese Orientierung der Moral an einem Natur und Freiheit berücksichtigenden Endzweck keinerlei neue, nicht allein schon aus dem Sittengesetz resultierende Pflichtbestimmung generiert. Die stark deontologische Rekonstruktion der Relation von Willensbestimmung und Willensausrichtung ist demnach insofern adäquat, als die sittengesetzliche Bestimmung des Willens die Grundlage jeglicher Berücksichtigung von Handlungsfolgen darstellt und durch letztere nicht modifiziert werden kann. Das ›Paradoxon der Methode‹ stellt neben der Rekonstruktion der Willensbestimmung das stärkste Argument für die D-These dar. In struktureller Parallele zur Willensbestimmung konstatiert Kant in der KpV, dass die Begriffe des ›Guten‹ und ›Bösen‹ allein nach Maßgabe des Sittengesetzes bestimmt werden dürfen und nicht umgekehrt. Dies impliziert, dass er schon in der Erläuterung seiner moralphilosophisch grundlegenden Methodik eine praktisch-konstitutive Relevanz der jeweiligen Handlungsfolgen sowie eine vorausgesetzte Zweckabhängigkeit der Bestimmung des Guten auszuschließen bestrebt ist. Zwar muss das ›Paradoxon der Methode‹ durchaus als durch die zugrundeliegende Wertidee des Selbstzwecks der rationalen Natur bedingt aufgefasst

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Vgl.: RGV AA VI, S. 5. S.: RGV AA VI, S. 5.

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werden, doch ändert dies nichts an der Tatsache, dass weder der moralische Wert der Person noch derjenige ihrer Handlungen grundsätzlich nach Maßgabe eines der Vernunftidee des Moralischen vorgelagerten, demnach in der sinnlichen Natur des Vernunftwesens begründeten Zwecks bestimmt wird. Die ebenfalls vorhandenen naturteleologischen Argumente z. B. für den konstitutiven Zweckbezug der Vernunft in der GMS können die Berechtigung dieses Urteils vor dem Hintergrund der Betrachtung der gesamten Systematik Kants insofern nicht signifikant in Frage stellen, da er die entelechiale Struktur der Vernunft schon in der KrV ohne Bezug auf naturteleologische Annahmen entwickelt und letztere in der KU grundsätzlich als Resultate einer vernunftbestimmten Perspektive auf die Natur, nicht aber als ontologisch gegeben aufgefasste Grundlagen von Annahmen bezüglich der inneren Beschaffenheit der Vernunft verstanden hat. Diese allgemeinen Äußerungen zur Rolle naturteleologischer Strukturen in der kantischen Ethik ersetzen zwar keinesfalls eine minutiöse Rekonstruktion ihrer jeweils durchaus unterschiedlichen Funktionen und Relevanzgrade, doch scheinen sie mir insofern in dem hier fokussierten Kontext der Frage nach der Haltbarkeit der starken Deontologie-These hinreichend zu sein, als sich aus ihren von Kant grundsätzlich zuerkannten Geltungsansprüchen keine ernsthafte Infragestellung des Grundgedankens des Methodenparadoxons ableiten lässt. Allerdings kann auch ein unmittelbarer Bezug von Maximen auf das Sittengesetz nicht als wirklich überzeugendes Argument für die D-These ins Feld geführt werden, da es sich bei einer solchen Beziehung nach Kant nicht um eine axiologisch neutrale Relation handelt, sondern auch das Moralgesetz in werttheoretischer Hinsicht ausgezeichnet wird. Die ihm von Kant zugesprochene Heiligkeit stellt dabei m. E. kein ›axiologisches Epiphänomen‹ dar, sondern ist die Bezeichnung seiner reinen Vernünftigkeit und strengen Verbindlichkeit, sodass die diesbezüglichen Wertzuschreibungen ethiktheoretisch relevant sind. Kritisches Fazit zur D-These Grundsätzlich stellt sich die D-These als überpointierte und einseitige Verzerrung der tatsächlich weitaus subtileren und typologisch vielschichtigeren Gestalt der kantischen Ethik dar. Im Ausgang von der zu Recht betonten antikonsequentialistischen Bestimmung des Guten und des moralischen Personen- und Handlungswerts werden einerseits die strukturelle Relevanz der vernunftteleologischen Aspekte und andererA

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seits die begründungs- und ethiktheoretische Bedeutung axiologischer Prämissen und daraus folgender Wertthesen verkannt. Insbesondere die Auffassung des Selbstzwecks der rationalen Natur allein als nichtteleologische Handlungsrestriktion benennt zwar eine zentrale Funktion dieses Konzeptes, doch tritt die damit verbundene positive Auszeichnung des Selbstzwecks als höchststufiger Vernunftzweck bzw. zu verwirklichender absoluter Wert auf eine Weise in den Hintergrund, welche im Widerspruch zu zentralen kantischen Aussagen nicht nur der kritischen Hauptwerke steht. Die bloße Hervorhebung antikonsequentialistischer Aspekte impliziert noch keine Widerlegung der Konstitutivität von vernunftteleologisch vermittelter Normativität, und auch wenn sich die D-These zur möglichst drastischen Verdeutlichung der Unterschiede von kantischer Ethik und naturteleologischen oder utilitaristischen Modellen eignen mag, bleibt der schwerwiegende Vorwurf der unzulässigen Simplifizierung bestehen.

IX.2 Kritische Analyse der T-These Die starke Teleologie-These stellt zwar (zumindest in klassischer Perspektive auf den Teleologiebegriff) die exponierte Gegenthese zur starken Deontologie-These dar, doch wird dieser durch die begriffsgeschichtliche Tradition vermittelte Eindruck im Kontext der ethiktypologischen Kant-Diskussion insofern etwas entschärft, als die hier behandelten Vertreter der T-These den Primat vernunft- und nicht naturteleologischer Aspekte behaupten. Im Vergleich zur D-These wird demnach auch in der T-These weder eine substantielle, noch eine geltungsmodale Modifikation der kantischen Grundidee von Moralität oder auch des Sittengesetzes bzw. des KI konstatiert. Die maßgeblichen Dissenspunkte stellen dagegen neben (a) dem Widerspruch von T1 zu D1 die Beantwortung der Fragen nach (b) der Funktion des Selbstzwecks der rationalen Natur, (c) der Relevanz von Wertbestimmungen sowie (d) der Gegebenheitsweise des Sittengesetzes dar. Ad (a): Die offensivste Form der T-These wird von Leist vertreten, der sie im unmittelbaren Ausgang von einer eigentlich semantischen, jedoch typologisch ausgelegten Implikationsanalyse des Willensbegriffs entwickelt. Auch wenn insbesondere seine Ausführungen zur axiologischen Dimension der kantischen Ethik (abgesehen von seinen eigenständigen Weiterführungen) den Finger in eine Wunde der 446

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D-These legen, 19 erweist sich die einseitige Konzentration auf den Willensbegriff als Grundlage seiner T-These insofern als problematisch, als es angesichts der Vielschichtigkeit der kantischen Moralphilosophie in methodischer Hinsicht simplifizierend ist, sie typologisch auf einen einzigen Begriff zu reduzieren und damit den Ausweis auch anderer wichtiger Grundbegriffe und Lehrstücke als wenigstens nichtdeontologisch schuldig zu bleiben. Ein schwerwiegenderer inhaltlicher Kritikpunkt an Leists Rechtfertigung speziell von T1 allein durch den Verweis auf die teleologischen Implikationen des Willensbegriffs gründet sich sowohl auf den weiterreichenden systematischen Kontext als auch auf bestimmte Aspekte des Willensbegriffs: Einerseits kann die Ausrichtung des Willens aufgrund seiner Identität mit der auf das praktisch Unbedingte ausgerichteten Vernunft nur als strukturelle Voraussetzung der handlungswirksamen Etablierung des unbedingten Geltungsanspruchs des Sittengesetzes und somit eines oft deontologisch ausgelegten Aspekts rekonstruiert werden – als Mittel zum Zweck –, andererseits könnte man zwar eine teleologische Verfasstheit des Willens zugeben, zugleich jedoch auf den deontologisch anmutenden Charakter der moralisch adäquaten Willensbestimmung und deren Konstitutivität für die Idee der Willensautonomie verweisen. Beide Punkte würden noch nicht notwendigerweise die bloße Falschheit einer teleologischen Willensauffassung implizieren, sehr wohl jedoch empfindliche Einschränkungen der Reichweite ihres Geltungsanspruchs. Leist kann mit seiner Ausarbeitung der T-These weder dem ersten noch dem zweiten Einwand überzeugend begegnen, da er keine ernsthaften Versuche unternimmt, mit dem kategorischen Sollen und den Pflichten den ebenfalls vorhandenen, mittels deontischer Terminologie formulierten Strukturstrang der kantischen Ethik in den Blick zu nehmen und die von Kant selbst immer wieder angedeuteten oder gar klar benannten Wechselbeziehungen der beiden Ebenen des Wollens und des Sollens zu reflektieren. Mit der soeben erwähnten Einseitigkeit ist dabei nicht nur eine für Leist spezifische Schwäche der T-These, sondern ein ihr grundsätzlich zukommendes Manko benannt, welches sich jedoch im Falle Guyers Insbesondere der Verweis auf die verbreitete Überschätzung des Kategorischen Imperativs als eines primär formalen Widerspruchstest-Verfahrens und die dagegen ins Feld geführte Betonung der zentralen Bedeutung des Konzepts der praktischen Vernunft sind hier zu nennen.

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und Hermans an von Leist abweichenden Rekonstruktionsaspekten festmachen lässt. Bevor wir auf problematische Details der Klassifikationsansätze der beiden anderen Autoren zu sprechen kommen, soll zuerst auf das fundamentale Problem der T-These in Form ihrer Gewichtung von Pflichten und Zwecken reflektiert werden, da seine nur unzureichende Beachtung bei Guyer und Herman im Vergleich zu Leist schwerwiegendere Folgen hinterlässt. Die für die T-These in ihrer Grundgestalt charakteristische These T1 ist inhaltlich im Vergleich zu D1 insofern gemäßigt, als nicht die generelle Irrelevanz deontologischer Aspekte, sondern allein deren eindeutige Subordiniertheit gegenüber vernunftteleologischen Elementen behauptet wird. Doch auch diese ›weichere‹ Subordinationsthese ist grundsätzlich mit demselben Problem belastet, welches auch der D-These anhaftet, denn sie suggeriert im Grunde eine Form von Gegensätzlichkeit von Zwecken und Pflichten und eine daraus zumindest indirekt gefolgerte Dominanznotwendigkeit einer der beiden typologischen Elemente, die sich in dieser Form bzw. auf dieser Reflexionsebene nicht aus der kantischen Systematik ergibt. Insofern vernünftige und nicht natürliche Zwecksetzungen fokussiert werden, wie es in der T-These geschieht, kommt man auf kantischem Boden nicht umhin, die andere Seite der Medaille, nämlich den stets mit zu reflektierenden Pflichtcharakter fast aller Vernunftzwecke zu berücksichtigen. Daher scheint das systematische Potential und auch die vermeintliche Originalität der Behauptung der Primärrelevanz von Vernunftzwecken gegenüber Pflichten (nicht unbedingt der T-These samt all ihrer Subthesen) geringer zu sein, als man im Ausgang von den Ausführungen mancher Vertreter der T-These (insbesondere Herman) vermuten könnte, denn auch wenn im Kontext der D-These in der Tat das Problem der Vernachlässigung der Relevanz von teleologischen Aspekten besteht, wäre es einem Vertreter der D-These zumindest möglich, die typologische (nicht notwendigerweise systematische) Irrelevanz von Vernunftzwecken mit dem Hinweis zu rechtfertigen, dass nach Kant nahezu alle Vernunftzwecke ohnehin als Pflichten, nämlich als unbedingt gebotene Handlungsweisen in Erscheinung treten. 20 Falls die Vertreter der T-These nun antworteten, dass dies nicht für die D-, sondern die T-These spräche, liefe diese Diskussion langfristig auf die Frage hinaus, ob nun das Wollen oder das Sollen bei Kant primär sei. Angesichts der von Kant her aufweisbaren Zusammengehörigkeit von Wollen und Sollen kann man jedoch nachvollziehen, wieso

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Allerdings sind die typologischen Implikationen von T1 nicht ganz so zahnlos, wie man nun denken könnte, denn es zwar bleibt festzuhalten, dass dem soeben skizzierten prodeontologischen Argument eine grundsätzliche Legimitation nicht abzusprechen ist, doch gewinnt T1 erst unter Berücksichtigung von T4 ihre volle Schlagkraft, da unter dieser veränderten Reflexionsbedingung nicht irgendein Vernunftzweck, sondern auch der Selbstzweck der Menschheit zur Debatte steht. Ad (b): T4 stellt dabei insofern eine berechtigte Konkretisierung von der im Übrigen nicht überzeugenden These T1 dar, als der Selbstzweck der rationalen Natur selbst als apriorischer Wertgrund nicht ohne Weiteres als Pflicht, sondern einzig als ein durch Pflichtbeachtung zu Affirmierendes verstanden werden kann, da diese dem Vernunftwesen apriori eigene Wertidee für jegliche Pflichtetablierung vorausgesetzt werden muss und nicht selbst als zu erfüllende Pflicht aufgegeben ist. Dies kann anhand der Nachzeichnung der Argumentationsstruktur der kantischen Äußerungen zur Unmöglichkeit einer deontischen Reifizierung des moralischen Gefühls sowie des Gewissens in der MS verdeutlicht werden: Weder könne man zum Besitz des moralischen Gefühls noch des Gewissens verpflichtet sein, da zum einen das moralische Gefühl erst das Bewusstsein von Verpflichtung ermögliche, und zum anderen das Gewissen als praktische Vernunft selbst und somit als unhintergehbare Voraussetzung jeglicher moralischer Qualifizierbarkeit zu verstehen sei. 21 Insbesondere die Implikationen des Gewissenskonzepts machen deutlich, dass für Kant nicht alle moralisch relevanten Strukturmomente seiner Ethik deontisch reifiziert werden können: Eben so [wie das moralische Gefühl, Einfügung C. B.] ist das Gewissen nicht etwas Erwerbliches und es gibt keine Pflicht, sich eines anzuschaffen; sondern jeder Mensch, als sittliches Wesen, hat ein solches ursprünglich in sich. Zum Gewissen verbunden zu sein, würde so viel sagen als: die Pflicht auf sich zu haben, Pflichten anzuerkennen. 22

Dementsprechend kann es nur die Pflicht zur Kultivierung des Gewissens geben, welche stets eine bestimmte Form von dessen Gegebenheit das soeben skizzierte Szenario wenig zu einer umsichtigen Klassifikation beizutragen in der Lage sein dürfte. 21 Vgl.: MS AA VI, S. 399 f. 22 S.: MS AA VI, S. 400. A

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präsupponiert. In Strukturanalogie dazu wäre es widersinnig, im wörtlichen Sinne von einer Pflicht zum Selbstzweck der rationalen Natur zu sprechen, da es sich auch hier – speziell im Rahmen der SZF – nur um die Pflicht zur Beförderung und Explikation dieses unbedingten Werts handeln kann. 23 Der Selbstzweck der Menschheit ist daher nur in demjenigen Sinne Pflicht, als er vernunftnotwendig in allen Handlungen geachtet werden soll – insofern man also nicht von der apriorischen Gegebenheit der Menschenwürde24 ausgeht, gibt es auf kantischem Boden keine Möglichkeit, diesem Wert bzw. Zweck von einem diesbezüglich externen Standpunkt aus handelnd Rechnung zu tragen. T1 ist demnach hinsichtlich ihres strengen Geltungsanspruchs allein in Form von T4 überzeugend zu verteidigen, da man im Falle der Selbstzweckkonzeption in der Tat nicht nur von einer Primärrelevanz, sondern darüber hinaus von einer Irreduzibilität vernunftteleologischer Strukturen sprechen kann. T4 ist daher nicht nur für die Klärung des Verhältnisses von T1 und D1, sondern mindestens ebenso im Kontext der Debatte um den soeben bereits angesprochenen Status des Selbstzwecks der Menschheit von entscheidender Bedeutung. So wie im vorhergehenden Abschnitt konstatiert wurde, dass die Bezeichnung des Selbstzwecks als Pflicht eine genauere Spezifizierung dieser Redeweise erfordert, so muss dies auch gegenüber der Kernaussage von T4 geltend gemacht werden. Der vernunftteleologische Charakter des Selbstzwecks der rationalen Natur erschließt sich bei Kant nicht aus allen oder auch nur der Mehrheit seiner diesbezüglichen Äußerungen, sondern tritt nicht zuletzt in exemplarischer Form in der Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs zutage. Als Bestandteil des obersten Prinzips der Pflichten fungiert die materiale Idee der Würde der Persönlichkeit nicht als inhaltliche Bestimmung des Grunds des Kategorischen Imperativs. Vielmehr markiert sie auf dieser Reflexionsebene der kantischen Ethik den höchsten zu verfolgenden Vernunftzweck, der aufgrund seines allumfassenden Charakters in Bezug auf niedrigstufigere Einzelzwecke zwar als formales Kriterium der moralischen Angemessenheit bzw. praktischen Konsistenz fungieren kann, unabhängig von Das Vernunftwesen soll nicht nach Würde streben, sondern der schon bestehenden Würde entsprechend leben. 24 Genauer ausgedrückt, müsste man von der Notwendigkeit der Selbstzuschreibung der Menschenwürde für den Akteur sprechen. 23

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dieser Bezugnahme jedoch als gegebenheitsmodale (teleologisch reifizierte) Modifikation der materialen Wertidee der Person als Zweck an sich in seiner begründungstheoretischen Gestalt in der GMS bestimmt werden muss. In dieser Rekonstruktionsperspektive kann man T4 nicht absprechen, ein im Kontext der stark deontologischen Auslegung entweder zu Unrecht vernachlässigtes oder gar ignoriertes und zudem zentrales Moment des vernunftteleologischen Strukturstranges der kantischen Ethik hervorzuheben. Abgesehen von dieser partiellen Berechtigung von T4 darf allerdings nicht übersehen werden, dass selbst dieses Zugeständnis nicht die vollkommene Inadäquatheit der unter Punkt (a) angesprochenen (und verkürzten) Redeweise vom ›Selbstzweck der Menschheit als Pflicht‹ impliziert, denn letztere stellt vielmehr die ebenfalls zulässige deontologische Formulierung desselben, ursprünglich axiologisch bestimmten Sachverhalts dar: Während die rationale Natur in ihrer deontischen Reifizierung als in allen Handlungen zu achtende Restriktion der moralisch zulässigen Maximen fungiert, ist es vor dem Hintergrund der Rückbindung der Pflichten an das vernünftige Wollen nicht nur tolerabel, sondern vielmehr notwendig, sie als Vernunftzwecke zu verstehen. Die Verfolgung des Selbstzwecks der rationalen Natur besteht in nichts anderem als in der bedingungslosen Achtung des rationalen Wesens des Menschen und ist somit vernunftteleologisch und deontologisch zugleich. Von Kant her ist es genau genommen nicht möglich, typologisch-kategorial zwischen der Achtung vor der Person/Menschheit sowie der Pflichterfüllung einerseits und der Beförderung und Verwirklichung des Selbstzwecks und vernünftiger Einzelzwecke andererseits zu differenzieren. 25 Daher erfasst T4 immer nur eine Teilwahrheit und kann streng genommen, aller Kontraintuitivität zum Trotz, nicht überzeugend gegen, sondern nur als Ergänzung von D4 ins Feld geführt werden. Ad (c): Die Teilthese T6 stellt sowohl eine entscheidende Stärke als auch Schwäche der T-These dar. Während sie im Gegensatz zur äußerst problematischen Behauptung der Irrelevanz von axiologischen Aspekten durch D6 vehement auf deren unhintergehbare Bedeutung verweist und damit eine grundsätzlich notwendige Korrektur der D-These darstellt, muss zugleich kritisch hinterfragt werden, ob insbesondere Dies bedeutet jedoch nicht, dass diese Einsicht für die Affirmation der Diffusionsperspektive der Komplexitätsthese spricht; vgl. dazu Kap. IX.4 dieser Untersuchung.

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Hermans Deklaration der konstatierten Wertrelevanz als schlagendes Argument gegen deontologisch orientierte Interpretationen uneingeschränkt haltbar ist. Diesbezüglich ist allgemein festzuhalten, dass Hermans Argumentation zwar durchaus hinsichtlich starker deontologischer Ansätze, nicht jedoch gemäßigter Varianten stichhaltig sein kann, da letztere nicht notwendigerweise eine Negation werttheoretischer Aspekte implizieren. Zudem ist auch eine stark deontologische Interpretation insofern allein aufgrund ihres typologischen Profils noch nicht zwingend auf eine vollständige Verbannung werttheoretischer Bestimmungen festgelegt, als der Terminus ›Deontologie‹ nicht als Begründungsmethode, sondern als metaethisch neutraler typologischer Klassifikationsbegriff verstanden wird, sodass auch eine strikt deontologische Lesart der kantischen Ethik mit einem axiologischen Begründungsfundament kompatibel sein kann. Daher muss zwar nicht an der vernunftteleologischen Rekonstruktion des Selbstzwecks der Menschheit, wohl jedoch an der in der T-These vorherrschenden Rekonstruktion der funktionalen Rolle der apriorisch-axiologischen Aspekte dieser Idee unter einem Gesichtspunkt Kritik geübt werden, welcher auch durch das in b) Konstatierte 26 noch nicht genügend berücksichtigt werden konnte: Auch wenn die Betonung der axiologischen Aspekte der Selbstzweckidee als kontra-deontologisches Moment durchaus eine bedingte Rechtfertigung für sich in Anspruch nehmen kann, darf nicht verkannt werden, dass der Selbstzweck der Menschheit, wie er in der GMS expliziert und als Grund des Kategorischen Imperativs eingeführt wird, als absoluter Wert von praktischer Vernünftigkeit nicht nur in gegebenheitsmodaler Form eines objektiv verbindlichen Vernunftzwecks (vor allem in der SZF), sondern auch als Quelle der Normativität ebenfalls deontisch rekonstruierbarer Elemente und Strukturen in Erscheinung tritt. Hinsichtlich der geltungsmodalen Eigenschaften gibt es keine Unterschiede zwischen axiologischer, deontologischer und teleologischer Perspektive auf den Selbstzweck, sodass das vernunftteleologische Projekt der typologischen Vereinnahmung der axiologischen Begründungsfunktion unter den genannten Gesichtspunkten als fragwürdiges, da tendenziell willkürliches Unternehmen erscheint. Ad (d): Die Axiologie-Problematik steht in enger Verbindung zur Im Unterschied zu Punkt b) handelt es sich hier nicht um den Pflichtcharakter, sondern die begründungstheoretische Funktion des Selbstzwecks.

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Teilthese der teleologischen Gegenständlichkeit des Sittengesetzes insbesondere in der Version der T-These Guyers, und auch Herman vertritt die These der Zulässigkeit einer zweckhaften Auffassungsmöglichkeit des Sittengesetzes. Beide Ansätze scheinen daher in diametralem Gegensatz zur deontologischen These des Sittengesetzes als einer nur deontisch reifizierbaren Restriktionsbedingung moralisch zulässiger bzw. gebotener Zwecke zu stehen. Guyers und Hermans diesbezügliche Abweichungen von der stark deontologischen Auffassung können dahingehend präzisiert werden, dass das Sittengesetz bei Guyer vor allem als Mittel zum Zweck der Verwirklichung des Werts der Freiheit fungiert und somit auf eine spezifische Weise instrumentell aufgefasst wird (d1), während Hermans Rekonstruktionsbestrebungen das Moralgesetz nicht primär als Mittel, sondern selbst als Zweck erweisen sollen (d2). Da beide Autoren ihrer gemeinsamen Klassifikationsthese zum Trotz hinsichtlich der Bestimmung der Funktion eines objektivierten Sittengesetzes voneinander abweichen, werden beide Ansätze im Folgenden getrennt betrachtet, bevor die Angemessenheit der T-These als ganze beurteilt wird. Ad (d1): Guyers Rekonstruktion der Relation von Freiheit und Rationalität bzw. Sittengesetz ist, wie schon in Kap. III.2.3.2 festgestellt wurde, auf den ersten Blick durch eine begriffliche und argumentative Unschärfe belastet: Einerseits hebt er unter Verweis auf Kants kurz vor Veröffentlichung der GMS gehaltenen Naturrechtsvorlesungen explizit auf die dort getroffene Differenzierung von Freiheit und Rationalität samt der postulierten axiologischen Subordinierung der Rationalität ab, andererseits gesteht er eine wechselseitige Bedingung von Freiheit und Sittengesetz zu, welche Freiheit im scheinbaren Gegensatz zur erstgenannten Perspektive nicht als eigenständiges, d. h. von der Idee sittengesetzlicher Rationalität unabhängiges Element skizziert. Dieser Gegensatz ist allerdings nur deswegen ein scheinbarer, da die These der Unabhängigkeit der Freiheit von Rationalität eine andere Form der Eigenständigkeit behauptet als die, welche in der These ihrer sittengesetzlichen Bedingtheit behandelt wird: Freiheit ist in dieser Perspektive allein hinsichtlich ihres absoluten Werts und somit ihrer unhintergehbaren Maßstabsfunktion für moralische Maximen etc., nicht aber in Bezug auf ihre empirische Verwirklichung bzw. Beförderung vom Sittengesetz unabhängig. Da der Wert der Freiheit zudem nicht durch die Möglichkeit seiner Verwirklichung bedingt sein soll, liegt aufgrund verschiedener Reflexionshinsichten diesbezüglich keine A

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Inkonsistenz bei der guyerschen Verhältnisbestimmung von Freiheit und Sittengesetz vor. Neben der These der axiologischen Unabhängigkeit der Freiheit vom Sittengesetz wird letzteres von Guyer im Unterschied zu Herman weniger als notwendiger Zweck, sondern vielmehr als Ausdruck von Freiheit verstanden, sodass Freiheit ihren absoluten Wert auch unabhängig von Vernunftzwecken besitzen soll. Eine kritische Bewertung von Guyers Verhältnisbestimmung von Freiheit und Sittengesetz muss demnach bei der These der prinzipiellen Unabhängigkeit des Werts der Freiheit vom Sittengesetz sowie der Abhängigkeit des Werts des Sittengesetzes von der Freiheit ansetzen, weshalb beide Punkte im Folgenden nacheinander diskutiert werden. Nicht nur in der von Guyer herangezogenen Naturrechtsvorlesung, sondern auch in der Vorlesung Kaehler finden sich klar formulierte Passagen, welche zumindest auf eine definitorische Nicht-Identität von Wert und moralisch verbindlicher Normativität schließen lassen. Guyer ist demnach grundsätzlich zuzugeben, dass Kant explizit nicht das Sittengesetz oder die Pflicht, sondern die Freiheit als ›inneren Wert der Welt‹ bezeichnet – dies impliziert allerdings nicht, dass Guyers davon ausgehenden Schlussfolgerungen uneingeschränkt legitim sind. Das primäre Problem bei Guyers Auslegung der absoluten Unabhängigkeit der Freiheit besteht m. E. darin, dass Kant – in aller Deutlichkeit in der Vorlesung Kaehler – Freiheit ohne sittengesetzliche Regelung zweifellos nicht als moralisch indifferent, sondern konsequent verwerflich und gefährlich charakterisiert. Das von Kant diesbezüglich angeführte Argument, dass bloße Freiheit ohne Gesetz leicht zur Selbst- und Naturzerstörung führen könnte, kann zwar immer noch als vernunftbezogenes Selbsterhaltungsargument ausgelegt werden, da es nur um die Erhaltung und Beförderung von den der Verwirklichung der Freiheit zuträglichen Bedingungen geht, doch kann es typologisch irreführend erscheinen, dass Kant die moralische Gefahr einer ungesetzlichen Freiheit mit einer konsequentialistischen Argumentation, nämlich den schlechten Folgen eines anomischen Freiheitsgebrauchs zu begründen scheint. De facto weist er schon in der frühen Vorlesung Kaehler auf die nur didaktische Hilfsfunktion konsequentialistischer Reflexionen hin, doch überlegen wir ein wenig weiter, was im Falle des Fehlens dieser deutlichen Aussagen zu bedenken wäre. Wenn Freiheit als solche einerseits absolut wertvoll und andererseits ihr unmittelbarer bzw. ungesetzlicher und somit unvermittelter Gebrauch aufgrund seiner Folgen dennoch abzulehnen sein soll, scheint die 454

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Funktion des Sittengesetzes mit Guyer in der Tat nicht in der Verleihung moralischen Werts, sondern allein in der pragmatischen Umsetzung der unabhängig vom Sittengesetz feststehenden Gehalte zu bestehen. Allerdings ist zugleich in einem zweiten Reflexionsschritt offensichtlich, dass Kants Verhältnisbestimmung von Freiheit und Sittengesetz unter dem Niveau seiner übrigen Systematik einzuordnen wäre, wenn Guyers Rekonstruktion tatsächlich in allen Aspekten zuträfe. Bisher muss es nämlich nicht nur rätselhaft bleiben, warum er entgegen seinen übrigen Argumentationsansätzen gerade im Falle eines solch bedeutsamen Elements wie der Freiheit konsequentialistisch verfahren soll, sondern darüber hinaus, wie er zu der negativen Bewertung von bestimmten kausalen Effekten des unreglementierten Freiheitsgebrauchs kommen könnte, wenn dieser Gebrauch erstens auf der Basis von etwas absolut Wertvollem geschieht und zweitens – dies ist hier entscheidend – das Sittengesetz keinerlei intrinsischen Wert und damit letztlich auch keine dem Wert der Freiheit ›ebenbürtige‹ Verbindlichkeit besitzen kann. Kurz: Wie ist es möglich, dass, anders als z. B. im Falle des guten Willens als Inbegriff des Guten zu Beginn der GMS, etwas von absolutem Wert missbraucht werden kann und dieser Missbrauch durch ein Element ohne eigenständigen Wert zu verhindern sein soll? Die Analyse dieses problematischen Aspekts von Guyers T-These erfordert die Klärung der Frage nach Wert und Funktion des Sittengesetzes und führt uns daher zum zweiten Diskussionspunkt. Auch wenn die Differenzierung von moralischem Wert der Freiheit und ihrer Ordnung durch das Sittengesetz als kantisch bezeichnet werden muss und die guyersche Auffassung des Sittengesetzes als Ausdruck eines objektiv notwendigen Zwecks zwar präzisierungsbedürftig, jedoch nicht einfach falsch ist, greift Guyer mit seiner rein instrumentellen Auffassung des Sittengesetzes zu kurz und verkennt den nicht nur in der KpV, sondern auch in der Vorlesung Kaehler zugestandenen Eigenwert des Sittengesetzes. Das Sittengesetz fungiert definitiv nicht nur als theoretisch entbehrliches und primär praktisch nützliches Instrument für die Verwirklichung der an sich gesetzlosen Freiheit, da nicht zuletzt die Identifizierung der Idee des Sittengesetzes mit der Persönlichkeit in der RGV und die in Form der SZF explizierte Anbindung des Moralgesetzes an die Selbstzweckidee auf eine konstitutive und nicht nur nebensächliche Rolle des Moralgesetzes verweisen. Der grundsätzliche Nachteil an Guyers Variante der T-These beA

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steht daher in der Überbetonung der Freiheit und der zugleich bestehenden Vernachlässigung des Sittengesetzes, aber auch in der Auffassung der Funktion der Selbstzweckidee der rationalen Natur und ihrer ethiktypologischen Implikationen. Anstatt vom umfassenderen Konzept des Selbstzwecks der rationalen Natur in seinen unterschiedlichen Funktionen auszugehen, welches durchaus die Aspekte des Werts der Freiheit, des Sittengesetzes und objektiver Zwecke in den Blick nehmen lässt, ohne jedoch den Fehler Guyers zu provozieren, Freiheit und Sittengesetz auseinander zu reißen und vor diesem Hintergrund ein einseitig pejoratives Bild des Moralgesetzes zu entwerfen, rekonstruiert Guyer das Sittengesetz in einer allzu losen Verbindung zum übrigen System. Die systematische Verknüpfung des Sittengesetzes mit axiologischen und vernunftteleologischen Elementen und Strukturen kann eher durch das Ansetzen bei der voll entwickelten Idee von Moralität und deren Binnenstruktur und nicht durch die primäre Betrachtung vor allem bestimmter Vorlesungen des frühen bis mittleren Kant erfasst werden, sodass man neben der systematischen Kritik auch auf die partielle Begrenztheit der philologischen Basis zumindest einiger Kernaussagen Guyers verweisen muss. Die Bezeichnung der Freiheit als ›innerer Wert der Welt‹ impliziert bei Kant nicht die These des allein extrinsischen Werts des Sittengesetzes, sondern das Sittengesetz bzw. der Kategorische Imperativ stellt einen exponierten Ausdruck der vernünftigen Moralitätsidee in Prinzipienform dar, da diese fundamentale Wertidee der Menschenwürde materialiter strenge universale Geltung (als Prinzip: Gesetzmäßigkeit) impliziert. Ad (d2): Hermans Auffassung des Sittengesetzes als Zweck impliziert nicht nur die These der Zulässigkeit seiner teleologischen Reifizierung, sondern ist zudem mit der Behauptung verbunden, dass es nicht rein formal, sondern durch einen spezifisch rationalen Inhalt bestimmt sei. Während die letztgenannte Behauptung vor allem unter Verweis auf die SZF plausibel erscheint, muss dagegen angesichts der ersten These geklärt werden, auf welche Weise eine Rekonstruktion des Sittengesetzes als ›telos‹ des Willens möglich sein kann. Nach Herman handelt es sich beim Moralgesetz nicht um ein Objekt im klassischen Sinne des Wortes, sondern die bei ihr postulierte Form teleologischer Gegenständlichkeit charakterisiert das Sittengesetz als Quelle von praktischer Normativität, sodass hier unter der Ausrichtung auf das Sittengesetz die bloße Akzeptierung des gesetzlich verfassten Standards für die Moralität von Handlungen bzw. deren Maximen verstan456

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den werden muss. Demnach geht es ihr nicht um eine bestimmte empirische Verwirklichungsform von sittengesetzlich Gebotenem, sondern tatsächlich um das Sittengesetz selbst in seiner oft von deontologischer Seite her vereinnahmten Funktion als Grund von Handlungsnormen. Die teleologische Reifizierung des Sittengesetzes als Normgrund fungiert bei Herman jedoch nicht als isolierte antideontologische Feststellung, sondern muss in den übergeordneten Kontext ihrer These der rationalen Natur als unbedingt wertvoller Handlungsgrund und ebenso verbindlicher Handlungszweck eingeordnet werden. Der eigentliche End- bzw. Selbstzweck ist nach Herman demnach nicht das Sittengesetz, sondern die kantische Menschheitsidee, und nur aufgrund der engen strukturellen Zusammengehörigkeit von Sittengesetz und rationaler Natur, welche darin besteht, dass die rationale Natur nur unter der Bedingung Selbstzweck sein kann, dass der Wille autonom ist, kann man in ihrer Variante der T-These gerechtfertigterweise von der Zweckhaftigkeit des Sittengesetzes sprechen. Die rationale Natur und damit auch implizit das Sittengesetz könnten demnach nur als (Selbst-) Zweck fungieren, insofern erstere den primären Bestimmungsgrund des Willens als ihr eigenes Prinzip, d. h. das Moralgesetz als Grundsatz der konstitutiven Handlungsnormen impliziere. Anders als bei Guyer wird die Verhältnisbestimmung von Sittengesetz und Wert im Falle Hermans zum einen im Ausgang von der Selbstzweck- und nicht allein der Freiheitskonzeption entwickelt, 27 und zum anderen schreibt Herman dem Sittengesetz nicht vollständige geltungstheoretische Dependenz, sondern umgekehrt eine verbindliche Bedingungsfunktion gegenüber dem Selbstzweckcharakter der rationalen Natur zu, womit sie (vielleicht ungewollt) demonstriert, dass das vermeintlich deontologische Kernelement des Sittengesetzes auch in axiologisch/teleologisch orientierten Rekonstruktionen eine wichtige Rolle spielen kann. Die vielleicht dem ersten Eindruck nach spektakulär erscheinende These einer teleologischen Gegenständlichkeit des Sittengesetzes in seiner Funktion als Ursprung moralischer Handlungsnormen stellt genau besehen eine gewöhnungsbedürftige Formulierung der vergleichsweise weniger exotisch anmutenden Behauptung dar, dass der Selbstzweck der rationalen Natur nach Kant als objektiver handlungsleitender Zweck betrachtet werden kann, insofern er als untrennbar Letztlich findet man m. E. bei Herman jedoch keine zufriedenstellende Relationsbestimmung von Selbstzweck und Freiheit.

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mit der sittengesetzlichen Willensbestimmung verbunden rekonstruiert wird. Dies bedeutet, dass Herman entgegen einem andernfalls möglicherweise evozierten Eindruck nicht behauptet, dass die Verwirklichung des Sittengesetzes etwa von einem außermoralischen Standpunkt her – und somit aus nach Kant für die Willkür moralisch unzulässigen Motiven – angestrebt werden sollte. Allerdings erweitert sie in diesem Kontext das semantische Feld des Gegenstandsbegriffs derart großzügig, dass man berechtigterweise fragen kann, ob sie nicht eigentlich auf den recht banalen Sachverhalt abhebt, dass alles überhaupt Denkbare (und sei es die Idee der Ungegenständlichkeit) zum (auch praktischen) Reflexionsobjekt werden kann, denn wenn nicht nur die Vernunftzwecke, sondern zudem auch ihre apriorischen Bedingungen als reifizierte Strebensfoki betrachtet werden, ist die Frage nach unterschiedlichen gegebenheitsmodalen Eigenschaften bestimmter typologisch relevanter Elemente, damit aber zugleich einer der ohnehin schon wenigen Unterschiede von deontologischen und vernunftteleologischen Kant-Rekonstruktionen letztlich hinfällig geworden. Dies wiederum aber hätte die auch für Herman selbst sicherlich kaum erstrebenswerte Folge, dass ihrer eigenen antideontologischen Argumentationsrichtung die Pointe genommen würde. Mit den Vertretern der starken Deontologie-These müsste man dagegen auf die gegebenheitsmodale Besonderheit von apriorischen Handlungsnormen verweisen, welche in dieser Funktion nicht selbst als moralisch adäquates Handlungsobjekt fungieren können, da sie den Bereich solcher Handlungsgegenstände selbst erst instanziieren. Zwar könnte man wiederum mit Herman auf die von deontologischer Seite vernachlässigte axiologische Dimension dieser apriorischen Handlungsnormen als motivierende Handlungsgründe auch und vor allem im Rahmen moralischer Urteilsbildung verweisen, doch stellt dies ein (philologisch fundiertes) Argument allein für die axiologische Auszeichnung, nicht jedoch für eine genuin vernunftteleologische Verfasstheit des Sittengesetzes dar. Ebenso verhält es sich mit dem Kategorischen Imperativ: Auch im Falle der SZF handelt es sich nach Kant nicht um die Sollensforderung, den KI selbst anzustreben, sondern ihn vielmehr allen Strebensakten zugrunde zu legen. Allein bezüglich des Selbstzwecks der Menschheit scheint es Sinn zu machen, sowohl von einem apriorischen Handlungsgrund als auch vom obersten anzustrebenden Vernunftzweck zu sprechen. Daher ist die Hermans teleologischer Reifizierung des Sittengesetztes zugrunde liegende Rekonstruktionsperspektive 458

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nicht einfach verfehlt, die ihr inhärente semantische Entgrenzung des Gegenstandsbegriffs jedoch irreführend und für gegebenheitsmodale Analysen insofern nachteilig, als sie dadurch in letzter Konsequenz unterminiert werden. 28 Kritisches Fazit zur T-These Insgesamt kommt zwar sowohl Leist als auch Herman und Guyer das Verdienst zu, anschlussfähige Versuche der Integration sowohl vernunftteleologischer als auch axiologischer Elemente in typologisch qualifizierenden Rekonstruktionen der kantischen Ethik vorgelegt zu haben, doch erweisen sich ihre Argumente gegenüber differenzierteren deontologischen Gegenargumenten als nicht vollkommen lückenlos. Von einer gemäßigteren Perspektive auf das Verhältnis der typologisch relevanten Aspekte bei Kant aus betrachtet, müsste dies besagten Positionen nicht unmittelbar zum Nachteil gereichen, doch wenden sich alle drei Autoren zwar graduell unterschiedlich, in ihrer Grundaussage jedoch hinreichend dezidiert gegen eine deontologische Auffassung der kantischen Moralphilosophie, sodass der Geltungsanspruch ihrer Thesen nur partiell aufrechtzuerhalten ist. Während Leist Kants gesamte Ethik ohne differenziertere Begründungsansätze allein auf den Willensbegriff zurückführt, können bei Guyer insbesondere seine abstrakt-instrumentalistische Auffassung des Sittengesetzes und dessen Relation zum Freiheitsbegriff nicht überzeugen. Hermans These des vernunftteleologischen Charakters des Selbstzwecks kann dabei mehr Evidenz für sich in Anspruch nehmen als ihre strikte, mit dem Verweis auf werttheoretische Elemente gerechtfertigte Verabschiedung jeder deontologischen Klassifikationsperspektive, denn auch wenn die D-These in axiologischer Hinsicht tatsächlich zu kurz greift und Herman nicht ohne Grund auf dieses Defizit hinweist, scheint sie weder die Möglichkeit der eingeschränkten Zulässigkeit einer ausgewogenen, Gegebenheitsmodale Analysen besitzen dabei natürlich keinen Eigenwert, sondern stellen nur ein begriffliches Werkzeug zur Differenzierung von deontischen, teleologischen und axiologischen Elementen dar: Ein Zweck kann angestrebt werden, eine Pflicht kann man dagegen nur erfüllen und einen Wert sowohl anerkennen und/oder verwirklichen. Wie allerdings die vorliegende Untersuchung zeigt, findet die Diskussion um den kantischen Ethiktyp fast ausnahmslos vor dem Hintergrund divergierender gegebenheits- und nicht geltungsmodaler oder gar substantieller Spezifikationen bzw. Modifikationen statt, welcher Umstand eine möglichst genaue Nachzeichnung eben dieser Aspekte erforderlich macht.

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d. h. schwach deontologischen, noch diejenige einer axiologisch begründeten, gegebenenfalls auch stark deontologischen Interpretation in Betracht zu ziehen. Damit soll ihrer exklusivistischen Sichtweise auf Deontologie und Axiologie und der daraus resultierenden Kritik an bestimmten Grundannahmen der D-These keineswegs jede Berechtigung abgesprochen werden – auch in unserer eigenen Kritik der D-These wird im Anschluss u. a. an Schönecker auf die Verkennung der Bedeutung axiologischer Strukturmerkmale aufmerksam gemacht –, doch bleibt sie in letzter Konsequenz eine über die Definitionsfrage hinausgehende Begründung ihrer radikalen Position schuldig. Die T-These stellt zwar in ihrem Verständnis als materiale Komponente einer komplexeren Rekonstruktion eine notwendige Ergänzung zur D-These dar, muss jedoch allein genommen ebenso wie diese als der kantischen Ethik nicht gerechte, sie auf nur einen der beiden vom Selbstzweck der rationalen Natur ausgehenden Strukturstränge reduzierende und daher insgesamt defiziente Klassifikationsthese zurückgewiesen werden.

IX.3 Kritische Analyse der K-These Die nun folgende Kritik der K-These konzentriert sich zwar nicht ausschließlich, aber doch primär auf Cummiskeys Variante, da diese m. E. als die in der neueren Diskussion raffinierteste und zudem vielleicht radikalste Form der Negation bestimmter Grundannahmen der Dund partiell auch der T-These bezeichnet werden kann. Die K-These stellt den nicht nur aus deontologischer, sondern auch vernunftteleologischer Sicht kontroversesten Klassifikationsansatz der kantischen Ethik dar, da sie zwar die Teilthesen K1 und K2 inhaltlich mit der T-These teilt, sich aber vor allem aufgrund K5 in einem entscheidenden Aspekt von dieser absetzt. Insbesondere K1 und K5 beinhalten die sowohl teleologische als in diesem Fall auch konsequentialistische Behauptung, dass in Kants Ethik im Zweifelsfall die Verfolgung objektiver Zwecke normativen Vorrang gegenüber der Pflichtbefolgung besitzt und der Zweck somit bis zu einem gewissen Grad die Mittel zu seiner Verwirklichung rechtfertigt. Im Falle der K-These ist es notwendig, genauer auf die in ihr präsupponierte Relation von Selbstzweck, höchstem Gut und Sittengesetz zu reflektieren und zu prüfen, in welchem Verhältnis sich diese zur entsprechenden Relationsbestimmung 460

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in Hermans T-These positioniert (a). Einen direkt damit verbundenen Punkt stellt die axiologische Verrechenbarkeitsthese dar, welche besagt, dass aufgrund des von Kant postulierten absoluten Werts aller Vernunftwesen diese alle denselben Wert besäßen und daher auch diesbezüglich vergleichbar seien bzw. letztlich als Elemente eines werttheoretischen Kalküls fungieren könnten. Darüber hinaus behauptet Cummiskey, dass Kant von der Primärrelevanz der Forderung nicht nur der Achtung von Vernunftwesen, sondern ihrer Maximierung ausgeht, sodass mit der Idee von Minima und Maxima der Vernunftachtung auch in diesem Punkt ein moralphilosophisches Komparationsmoment von Bedeutung ist (b). K5 impliziert schließlich über K1 und K4 hinaus die für das eigenständige Profil der K-These ausschlaggebende und in von Cummiskey leicht abweichender Form auch von Hare vertretene Kernthese, dass sich nach Kant eine moralische Handlung durch das Hervorbringen von für die Verwirklichung des höchsten Guts bzw. des Selbstzwecks der Menschheit förderlichen Konsequenzen auszeichne (c). Zudem ist zu erörtern, inwiefern Hares Verständnis der SZF primär als Achtung der Zwecke bzw. Präferenzen anderer Menschen angemessen ist (d). Ad (a): Das kantische Hauptkriterium für die moralische Beurteilung einer Handlung besteht nach Cummiskey nicht primär in der Angemessenheit der Bestimmungsgründe des Willens an das rein formal bestimmte Sittengesetz, sondern in der Tauglichkeit der jeweiligen Handlung zur erfolgreichen Verfolgung des Zwecks der Beförderung der Menschheit. Das Pflichtmotiv wird von Cummiskey im Einklang mit Herman als nur limitierende, die jeweiligen Zwecksetzungen einschränkende Hintergrundbedingung, nicht aber als notwendigerweise primärer Handlungsgrund gewichtet, sodass ein gewisser Spielraum für diejenigen Zwecksetzungen besteht, welche nicht mit der Pflicht identisch sind. Angesichts objektiver Vernunftzwecke wäre es in Cummiskeys Interpretation demnach grundsätzlich mit Kants Ausführungen kompatibel, dass 1. die der Beförderung eines vernunftgebotenen Zwecks dienlichen Handlungen dem Sittengesetz widersprechen können, und 2. dieser Widerspruch moralisch insofern unbedenklich, ja vielmehr gerechtfertigt ist, als er aus der Bemühung um die Befolgung einer moralisch notwendigen Zwecksetzung durch die praktische Vernunft resultiert. Das Vertrackte an dieser Situation besteht nun in Folgendem: Wenn die SZF eine imperativische Form des Sittengesetzes darstellt und deren Gehalt in der Beförderung des Zwecks der MenschA

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heit besteht, stellt z. B. die Opferung eines Menschen zum Zweck der Rettung mehrerer anderer Vernunftwesen keinen Widerspruch zum sittengesetzlich Gebotenen dar, da es unter Einbezug der von Cummiskey vorgeschlagenen konsequentialistischen Option gar nicht dem Sittengesetz widerspricht, ein Vernunftwesen für ein übergeordnetes Gutes zu töten bzw. sterben zu lassen. Was sind nun die impliziten strukturellen Prämissen, die zu einer solchen Deutung führen? Cummiskey geht offenbar davon aus, dass Vernunftzwecke über eine gewisse normative Eigenständigkeit verfügen bzw. Pflichtbestimmungen so schwach gedeutet werden können, dass ihnen stärker zu gewichtende und daher übergeordnete Zwecke gegenübergestellt werden dürfen oder aus moralischen Gründen sogar müssen. 29 Darin liegt allerdings eine Verkennung der normativen Bedingungsstrukturen, die wir im Grundbegriffe- und Argumentationsteil dieser Untersuchung explizit gemacht haben: Das höchste Gut sowie alle auf dieser Reflexionsebene angesiedelten Zwecke sind nach Kant allein deswegen praktisch-vernünftig, weil sie vom Sittengesetz dergestalt abhängen, dass sie aus dem obersten Moralgesetz für den Menschen folgen. Dies bedeutet auch eine entsprechende normative Abhängigkeit dieser Vernunftzwecke, sodass sie hinsichtlich ihrer praktisch-geltungstheoretischen Autorität bzw. Verbindlichkeit nicht von ihrem Fundament isoliert werden dürfen, wenn ihr streng moralisch verpflichtendes Profil erhalten bleiben soll. Cummiskey scheint jedoch der Ansicht zu sein, dass es vom Zweck der Beförderung der rationalen Natur her möglich sei, diese Beförderung dem durch bloße Pflicht Geforderten gegenüberzustellen und diesem hinsichtlich der moralischen Verbindlichkeit sogar überzuordnen. Das Fundament seiner These der von Kant her zumindest zulässigen Opferung eines Menschen im Dienste eines vorrangig zu verfolgenden Zwecks soll den in der SZF festgesetzten Selbstzweck nicht verletzen, da sich aus dieser Bestimmung des KI die prinzipielle Gleichwertigkeit jedes Vernunftwesens ableiten ließe. Daraus folge jedoch nicht die oft konstatierte Unvergleichbarkeit und unmögliche Verrechenbarkeit von Menschenleben, sondern im Gegen-

Zwar deutet er die von Kant in der RGV konstatierte Falschheit des Sittengesetzes im Falle der Unmöglichkeit des höchsten Guts nicht explizit als geltungstheoretische Dependenzrelation konsequentialistischer Provenienz, doch erweist sich seine Perspektive auf Kants Ethik in dieser Frage als substantiell antideontologisch.

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teil deren Vergleichbarkeit, da ja alle Menschen als Vernunftwesen denselben Status besäßen. Wenn man diese Auslegungstendenz nun auf ihre vernunfttheoretischen Prämissen hin untersucht, ergibt sich aufgrund der vorher schon konstatierten Selbstreferenz der praktischen Vernunft das Resultat, dass Cummiskeys Ansatz letztlich auf die Hintergrundprämisse einer der praktischen Vernunft inhärenten Widerspruchsmöglichkeit bzw. Selbstwiderspruchsmöglichkeit hinausläuft. Wenn z. B. die Opferung eines Vernunftwesens als Mittel zur Erreichung eines vernunftnotwendigen Zwecks als moralisch geboten verstanden wird, steht dies zwar auf den ersten Blick nicht im Widerspruch zur Beförderung der Menschheit als allgemeiner Vernunftidee, da aufgrund eines Vernunftzwecks und nicht einer kontingenten Neigung gehandelt wird, wohl jedoch im Widerspruch zum Gebot der Achtung der Menschheit in jeder einzelnen Person, da die Opferung dieser einen Person eine Auslöschung eines individuellen moralischen Möglichkeitsraums und in dieser Hinsicht eine Negation ihres Selbstzwecks bzw. absoluten Werts bedeutet. 30 Cummiskey greift dabei implizit das Problem möglicher Kollisionen von moralisch geforderten Handlungen bzw. Maximen auf, wobei Kant selbst offenbar der Ansicht war, dass vom Sittengesetz nichts Widersprüchliches, sondern stets Konsistentes gefordert würde. Cummiskeys Interpretation kann nicht überzeugen, da seine Überlegungen in letzter Konsequenz implizieren, dass nach Kant Handlungen wie Mord, Unwahrhaftigkeit oder auch Selbstmord moralisch geboten oder zulässig sein können, wenn sie nur der Erhaltung und Beförderung der Menschheit dienen. Die Argumentation Cummiskeys setzt offenbar die Möglichkeit voraus, dass der Zweck der Menschheit die durch die UF und die NF etablierte, primär formale Universalisierbarkeitsforderung abschwächen oder sogar außer Kraft setzen kann. Auch wenn man die SZF als über die UF und die NF hinausgehende KI-Formulierung auffasst, müsste zur Aufrechterhaltung der Position Cummiskeys gezeigt werden, dass die Beförderung des Selbstzwecks der Menschheit im Widerspruch zum pflichtmäßig Geforderten als formal Universalisierbarem stehen kann. Zwar könnte man die Idee der Selbstrelativierung des unbedingten Geltungsanspruchs der Pflichten in einer gewissen Perspektive mit dem kantischen Autonomiekonzept Kant geht bekanntlich so weit, die Tötung eines Menschen als Vernichtung der Sittlichkeit aufzufassen; vgl.: MS AA VI, S. 422 f.

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kompatibel rekonstruieren, 31 doch wäre ein solches Vorgehen keinesfalls ohne Weiteres durch diesbezügliche Kernaussagen Kants gedeckt und stünde zudem in Konflikt mit der internen Konsistenz und Kohärenz der (reinen) praktischen Vernunft. Die Annahme des normativen Vorrangs des Selbstzwecks der Menschheit und des höchsten Guts gegenüber dem Verbot der Auslöschung von Vernunftwesen mit absolutem Wert setzt eine gewisse Trennung von dem der Zweckverwirklichung Dienlichen und sittengesetzlich Gebotenen voraus. Zwar schließt sich Cummiskey explizit Hermans Interpretation des Pflichtmotivs als restriktiver Hintergrundbedingung an, doch bei ihr fungiert das Sittengesetz aufgrund seiner strukturellen Einbindung in die Selbstzweckidee immer noch als kategorisches und nicht potentiell hypothetisches Gesetz, während Cummiskeys Verhältnisbestimmung suggeriert, dass nur etwas durch das Sittengesetz Gebotenes verbindlich sein könne, das nicht der Beförderung des höchstens Guts abträglich sei, was auf nichts anderes als auf eine nur bedingte Geltung des bei Kant doch eigentlich reinen und ›heiligen‹ Gesetzes hinausläuft. Meine bisher skizzierte Argumentation gegen den Vorrang der Vernunftzwecke gegenüber Pflichten ist jedoch insofern präzisierungsbedürftig, als Cummiskey die Trennung von Sittengesetz und Vernunftzwecken eleganterweise direkt aus dem Sittengesetz selbst entwickelt, indem er die Zweckbestimmungen aus dem Kategorischen Imperativ in Form der SZF ableitet. Daher ergibt sich in seiner Perspektive auch kein Widerspruch von Sittengesetz und der vorrangigen Beförderung der rationalen Natur, da letztere vom Sittengesetz selbst geboten sei. Aufgrund des unmittelbaren Zusammenhangs von Sittengesetz und Kategorischem Imperativ bedeutet dies, dass Cummiskeys Diese Perspektive könnte auf einer ursprünglich von Reinhold, neuerdings vor allem von Prauss in die Diskussion eingebrachten Auffassung des Freiheitsvermögens basieren, nach der – allgemein ausgedrückt – Freiheit nicht notwendigerweise untrennbar mit dem Sittengesetz und somit a priori festgelegten moralischen Standards verbunden und ein in diesem Sinne freies Wesen nicht automatisch kategorischen Sollensforderungen unterstellt ist. Auch in dieser Sichtweise müsste allerdings begründet werden, inwiefern der Akt der Relativierung von Pflichtverbindlichkeit von einer moralneutralen Freiheit aus anders als bizarr konstruiert auf Kant zurückgeführt werden kann und keinen Fall von Heteronomie darstellen soll. Abgesehen von dieser Möglichkeit scheint die Annahme einer mehr oder weniger willkürlichen Relativierung der Geltung moralischer Gebote zugunsten eines als ebenfalls moralisch verbindlich begriffenen Zwecks erst recht nicht plausibel zu verteidigen zu sein.

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Differenzierung zwischen Sittengesetz und Selbstzweck als eine Unterscheidung von Form und Gehalt des Sittengesetzes rekonstruiert werden kann, welche vor dem Hintergrund der Prämisse der Unterschiedenheit der UF (Primat: Form der Gesetzmäßigkeit/Universalisierungsmöglichkeit) und der SZF (Primat: Gehalt des Selbstzwecks der Menschheit) in letzter Konsequenz zur Konstatierung der These der Möglichkeit eines Gegensatzes von durch die UF und durch die SZF bestimmten Maximen führt. Eine solche Annahme würde nicht nur mit der umstrittenen kantischen Verhältnisbestimmung beider Formen des KI konfligieren, sondern auch dahingehend über die in vorliegender Untersuchung vorgeschlagene (materiale) Differenzierung der UF und der SZF hinausgehen, dass die SZF nicht nur einen gegenüber der UF abweichenden, sondern ihr potentiell widersprechenden Inhalt aufweisen soll. 32 Insofern man mit z. B. Anzenbacher 33 eine Verletzung der UF primär mit dem Widerspruch im Denken und der SZF mit demjenigen im Wollen verbindet, würde dies bedeuten, dass im Kontext der K-These ein höherstufiger Widerspruch zwischen beiden Widersprüchen möglich sein müsste. Doch auch unabhängig von dieser spezifischen Interpretationslinie würde Cummiskeys Ansatz die Unterstellung der Möglichkeit einer über das Verhältnis von formalen und materialen Implikationen vermittelten Selbstwidersprüchlichkeit des Sittengesetzes implizieren. Diese Unterstellung müsste jedoch zum einen expliziter als These der immanenten Widersprüchlichkeit des Sittengesetzes reflektiert und zum anderen präziser begründet werden, denn nicht allein die Gründung des Kategorischen Imperativs im Zweck an sich der Person (GMS), sondern vor allem die enge Verbindung der Ableitung der Pflichten von der Idee der Menschenwürde (MS) und nicht zuletzt die von Cummiskey (und letztlich auch Guyer) vernachlässigte Letztfundierung des Sittengesetzes in der Idee der universalen Menschenwürde 34 weisen auf eine enge und harmonische Verbindung von Sittengesetz, Pflichten und Selbstzweck hin. Eine abschließende Kritik der allgemeinen These des normativen Während man m. E. mit guten Gründen behaupten kann, dass die Menschheitsidee materialiter über das in der UF und der NF Konstatierte hinaus geht, die SZF in dieser Perspektive den Gehalt der UF dennoch impliziert und weder in formaler noch materialer Hinsicht negiert, ist dagegen die These der Unabhängigkeit der Selbstzweckidee von der Gesetzmäßigkeit weitaus radikaler und von Kant her nicht nachvollziehbar. 33 Vgl.: Anzenbacher 1992, S. 59. 34 Im Kontext von Punkt a2 werden wir sehen, dass in Cummiskeys Fall nicht nur eine 32

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Vorrangs von Zwecken gegenüber dem Sittengesetz bzw. der Pflicht muss über das bereits Angeführte hinaus die unterschiedlichen Implikationen der Behauptungen (a1) des Vorrangs des höchsten Guts und (a2) des Selbstzwecks beachten, da Cummiskeys Ansatz beide Subthesen umfasst. 35 Ad (a1): Das Hauptproblem der These des normativen Primats des höchsten Guts gegenüber dem Sittengesetz besteht in der von Kant explizit konstatierten, dieser Behauptung direkt widersprechenden Abhängigkeit des höchsten Guts vom Sittengesetz. Danach verleiht das Moralgesetz dem höchsten Gut als gebotener moralischer Zweck seine gesamte normative Verbindlichkeit, während umgekehrt keinerlei Normativitätskonstitution stattfinden kann. Diese Normativitätspriorität des Sittengesetzes kann dabei allein schon deshalb nicht mit einem Verweis auf die einschlägige KpV-Passage angezweifelt werden, in der Kant von der Unmöglichkeit des höchsten Guts im Falle der Falschheit des Sittengesetzes spricht, da eine konsequentialistische Deutung dieser Aussage in diesem speziellen Zusammenhang die Abhängigkeit der Geltung des Sittengesetzes von der Annahme der Existenz Gottes implizierte, welche Deutung die von Kant skizzierten praktisch-konstitutionstheoretischen Relationen von Sittengesetz und Postulatenlehre auf den Kopf stellen und damit auch die Pointe der gesamten Ethikotheologie schon im Grunde verfehlen würde. 36 Im Unterschied zu den Vernachlässigung, sondern eine manifeste Fehldeutung dieser kantischen Fundamentalidee vorliegt. 35 Cummiskey spricht an bestimmten Kernstellen seines Werks allgemein von der maximalen Beförderung des ›Guten‹, was bei Kant u. a. das höchste Gut, den guten Willen sowie auch den Selbstzweck umfasst; vgl. z. B.: Cummiskey 1996, S. 59. Das höchste Gut wird insbesondere dann fokussiert, wenn er auf die Notwendigkeit der maximalen Beförderung der rationalen Natur und des Glücks unter dem Primat der rationalen Natur reflektiert; vgl.: Cummiskey 1996, S. 99. 36 Auch wenn die oben genannten Folgen kein streng gültiges Argument gegen Cummiskeys Zugang darstellen, lädt er sich damit unter der Hand eine nicht unerhebliche Beweislast auf. Zudem stellt das höchste Gut in seinem Verständnis als Glückswürdigkeit nichts vollkommen anderes dar als das Sittengesetz, da letzteres im Akt des Anstrebens des höchsten Guts als Bestimmungsgrund des Willens fungieren soll. In seiner Gegebenheitsform als Bestimmungsgrund ist es selbst zwar kein Strebensobjekt, wohl jedoch der durch es zulässige bzw. gebotene Gehalt. Die These des Vorrangs der Beförderung des höchsten Guts vor dem Sittengesetz könnte also (plakativ) übersetzt werden in die These des Vorrangs der Verwirklichung des Sittengesetzes unter den Bedingungen der Endlichkeit (des Glücksstrebens) vor dem allein durch das Sittengesetz Gebotenen – was nicht zufälligerweise wenig Sinn zu machen scheint, da überhaupt nur end-

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Vertretern der T-These nimmt Cummiskey in seiner Interpretation nicht nur eine gegebenheits-, sondern eine geltungsmodale Modifikation des Sittengesetzes vor, auch wenn er diese Vorgehensweise selbst wieder mit der unbedingten Verbindlichkeit des moralisch Gebotenen rechtfertigt: Indem das höchste Gut der durch das Sittengesetz gebotenen Achtungspflicht gegenüber dem Leben jeder einzelnen Person übergeordnet wird, wird das nach Kant eigentlich Bedingte zur Bedingung und die Bedingung zum Bedingten. Auch wenn Cummiskey daher im Gegensatz zu einigen Vertretern der D-These den objektiven Zwecken grundsätzlich zu Recht eine größere Bedeutung beimisst, bleibt festzuhalten: Ohne die Annahme der unbedingten Verbindlichkeit des Sittengesetzes ist zwar Vieles möglich, aber nichts kantisch. Ad (a2): Die Behauptung des normativen Primats des Selbstzwecks gegenüber dem Sittengesetz bzw. der durch es bestimmten Pflichten kann nicht (wie in Punkt a1) unmittelbar mit dem Verweis auf die unbedingte Verbindlichkeit des Sittengesetzes kritisiert werden, da letztere gerade den Grund für die Verbindlichkeit auch des Selbstzwecks in der SZF darstellt und die Argumentation Cummiskeys gegen eine deontologische Restriktion des Guten bei Kant auf die Annahme einer starken Verbindlichkeit des Kategorischen Imperativs (insbesondere der SZF) kaum verzichten kann. Während das höchste Gut nach Kant aus dem Sittengesetz folgen soll (jenes also dieses schon voraussetzt), stellt die Selbstzweckidee zum einen den Grund des KI, zum anderen den materialen Aspekt desselben dar und folgt somit nicht aus dem Sittengesetz, 37 sondern inhäriert ihm. Wenn man Cummiskeys diesbezüglicher Gedankenentwicklung folgt, kann man sie pointiert dadurch charakterisieren, dass mit dem Sittengesetz gegen das Sittengesetz argumentiert wird. Seine Ausführungen basieren dagegen auf der These, dass im Falle der Verfolgung eines unbedingten Vernunftzwecks auch durch die damit verbundene Akzeptanz des Todes eines Unschuldigen keine Verletzung von dessen Menschenwürde gelichen (nicht-vollkommenen) Wesen etwas geboten werden kann und eine in diesem Sinne bedingungslose Verwirklichung des Sittengesetzes mit gutem Grund kein Thema der kantischen Ethik darstellt. 37 Trotz der auf Maximen- und Zwecksetzung bezogenen Restriktionsfunktion des Sittengesetzes/des Kategorischen Imperativs kann nicht einfach behauptet werden, dass die Selbstzweckidee aus dem Sittengesetz folgt, sondern allein das Gebot, jedes Vernunftwesen immer auch als Selbstzweck zu achten und zu behandeln, ist aus diesem abzuleiten. A

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schehe, weil dies einem moralischen und nicht kontingenten Zweck diene und Kant zudem zwar bestimmte Zwecke, nicht aber jeden einzelnen Weg zu ihrer adäquaten Verfolgung bzw. Verwirklichung als geboten deklariert habe. In dieser Sicht handelte es sich bei dem von mir konstatierten Konflikt zwischen Selbstzweck und Sittengesetz demnach um ein Missverständnis, da sich die Inkaufnahme der Vernichtung von Vernunftwesen als Mittel zur Maximierung eines Vernunftzwecks in Übereinstimmung mit der SZF befinden soll. Es ist offensichtlich, dass Cummiskey an dieser Stelle in oberflächlicher Betrachtung (und zudem vielleicht unbewusst) von den Implikationen der selbstreferentiellen Struktur des Selbstzwecks für die Verhältnisbestimmung von Mittel und (Selbst-)Zweck profitiert, indem seine Interpretation der Grundstruktur der kantischen Ethik durch die Belastung des daraus resultierenden Sachverhalts zu entsprechen vorgibt, dass ein der Verwirklichung des Selbstzwecks förderliches Mittel immer auch schon eine Form von dessen Verwirklichung, d. h. auch von dessen Achtung darstellt. Ein wichtiger Grund dafür, dass es sich bei der soeben skizzierten Argumentation Cummiskeys nur in oberflächlicher Perspektive um eine gerechtfertigte Inanspruchnahme der Verbindlichkeit des Selbstzwecks handeln kann, besteht in der ihr zugrundeliegenden und durchaus eigentümlichen Interpretation des absoluten Werts der einzelnen Person. Ad (b): Während es zur Aufdeckung der Implikationen der These der normativen Überordnung des Selbstzwecks mehrerer Reflexionsschritte bedarf, liegt der axiologischen Verrechnungsthese ein schlichtes und direktes Missverständnis zugrunde. Wenn Kant in seinen Ausführungen in aller Schärfe zwischen Preis und Würde unterscheidet und Personen im Gegensatz zu Sachen absoluten Wert zuschreibt, meint er damit offenbar nicht nur die Gleichwertigkeit aller Vernunftwesen, sondern deren unverrückbar feststehende Unvergleichbarkeit im Zusammenhang etwa von Wertsummenkalkülen. Die semantischfunktionale Pointe des Prädikats ›absolut‹ besteht in diesem Kontext gerade darin, das durch es Bezeichnete durch die Eigenschaft uneingeschränkter Nicht-Relativität auszuzeichnen, was weder eine wie auch immer konzipierte Quantifizierung noch Abwägung dieses Werts im Verhältnis zu anderen wertvollen Entitäten impliziert. Absoluter Wert oder Würde ist in dieser Sicht streng genommen nicht als Spitze einer graduell abgestuften Wertskala, sondern als unverfügbarer Grund einer solchen aufzufassen, was aus Kants Auffassung des Vernunft468

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wesens als wert- und zwecksetzender Akteur resultiert. 38 Natürlich sind nach Kant alle Vernunftwesen in dieser Hinsicht gleich, aber – gegen Cummiskey – hinsichtlich ihrer Unvergleichbarkeit. Die unbedingte Achtungspflicht gegenüber einer Person kann daher nach Kant nicht erfüllt werden, wenn oder gar indem letztere einem ›höheren Zweck‹ geopfert wird, weil es keinen solchen gibt. Ad (c): Um die Kritik speziell an Cummiskeys Version der K-These abzuschließen, muss die spezifisch konsequentialistische Pointe seines Ansatzes analysiert werden. Vor dem Hintergrund sowohl der Trennung von Sittengesetz und Selbstzweck als auch der axiologischen Verrechnungsthese versteht Cummiskey unter einer praktisch-rational gerechtfertigten Handlung im Kontext des Beispiels der Opferung Unschuldiger eine solche, welche auch von den im negativen Sinne Betroffenen affirmiert werden kann: »If the sacrifice of the innocent is rationally defensible to the sacrificed, then it is also consistent with In gewissem Sinne kann Cummiskeys Kritik an Korsgaard als Ausdruck der Skepsis gegenüber der kantischen These auslegt werden, dass sich das wertsetzende Vernunftwesen hinsichtlich seiner Akteuridentität immer schon selbst eine Form des Werts zuschreibt bzw. zuschreiben muss, um gerechtfertiger- oder auch nur nachvollziehbarerweise anderen Entitäten Werte zuschreiben zu können; vgl.: Cummiskey 1996, S. 77. Dies wird vor allem durch die folgenden Ausführungen deutlich: »Since Kantian value is not ontological, rational beings do not need to be full of value to be a condition of value. Since prior to rational choice there is no value, it would be preferable to say that value is the result of the exercise of rational nature«; s.: Cummiskey 1996, S. 77. Man kann Cummiskey zwar nicht absprechen, in diesen Reflexionen einen erläuterungsbedürftigen Aspekt des Verhältnisses von ontologischen und handlungstheoretischen Momenten der kantischen Fundamentalaxiologie zu thematisieren, doch scheint er seinerseits insofern von einer problematischen Prämisse auszugehen, als er die gesamte Wert- und Wertzuschreibungsfrage unter primärer Berücksichtigung aktual ausgeführter Handlungsvollzüge und nicht der dafür vorauszusetzenden transzendental-axiologischen Aspekte klären will. Zu letzteren erklärt er nur, dass sie ihm »perplexing and even a bit mysterious« anmuteten, was Korsgaards Ansatz nicht gerade überzeugend widerlegt; vgl.: Cummiskey 1996, S. 79. Werturteile fungieren bei Kant als Expression der rationalen Natur, und es macht vor diesem Hintergrund überhaupt nur Sinn, von einer (wert-)rationalen Wahl oder Handlung zu sprechen, wenn man die diesbezüglich relevante Funktion der kantischen Transzendentalideen berücksichtigt und dadurch auch vielleicht dauerhaft offen bleibende Fragen in Kauf nehmen muss. Wenn man dagegen Cummiskeys zuweilen recht lockere Bezugnahme u. a. auch auf Kants Begriff der rationalen Natur betrachtet (vgl. S. 79), kann seine Rekonstruktion der Bedingungsrelation von absolutem Wert der Person und der Idee der rationalen Natur nicht überzeugend als kantisch verstanden werden. Wenn man nun argumentierte, dass es sich bei all den genannten Ausführungen gar nicht um strikte Bezugnahmen auf Kant handelt, dann käme dies allerdings eher einem Eingeständnis denn einem Einwand gleich.

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respect for individual human dignity.« 39 Dementsprechend sei es »not at all clear why a Kantian should not sacrifice some to save many.« 40 Die von Cummiskey genannte Bedingung für die gerechtfertigte Zuschreibung des Prädikats ›rational‹ besteht an dieser Stelle primär in der Übereinstimmung des Grundsatzes einer Handlung mit dem subjektiven Aspekt des Praktisch-Vernünftigen. 41 Nur unter Vernachlässigung der nach Kant entscheidenden, objektiven Dimension dieses Begriffs kann Cummiskey zu dieser laxen Auffassung der Implikationen der rationalen Natur gelangen, denn die Opferung Unschuldiger für einen ›guten‹ Zweck mag kontingenterweise mit einem subjektiven Pflichtbewusstsein übereinstimmen – die Behauptung jedoch, dass die Auslöschung des Zwecksetzers zugunsten der Beförderung eines auch von ihm selbst gesetzten Zwecks dem objektiv verbindlichen Sittengesetz entsprechen und damit dem objektiven Selbstzweck der Menschheit in einem umfassenden Sinne förderlich sein soll, kommt nicht nur, wie bereits erwähnt, mit dem materialen Gehalt der kantischen Moralitätsidee in Konflikt, sondern impliziert eine nicht nur vernunftteleologisch, sondern darüber hinaus konsequentialistisch bestimmte Vorstellung der moralischen Handlungsqualität: Weil durch den Tod unschuldiger Vernunftwesen eine größere Menge anderer Vernunftwesen gerettet werden könne, entspreche eine solche Handlung den Forderungen des Selbstzwecks der rationalen Natur. Die in Cummiskeys Beispiel zur Debatte stehende Handlung erhält ihren Wert nicht aufgrund ihrer dem Sittengesetz entsprechenden Maxime, sondern aufgrund der konstatierten Übereinstimmung der mit ihr verbundenen Folgen mit dem Selbstzweck der rationalen Natur. Die Inkaufnahme des Todes von Vernunftwesen wird dabei nicht als besonderes wertvoll ausgezeichnet, sondern allein durch den Wert der damit erreichten Qualität der Verwirklichung praktischer Rationalität gerechtfertigt und als solche – unabhängig von den damit assoziierten Folgen – von Cummiskey gar nicht gesondert beurteilt. Ein solches Unternehmen würde auch schnell an seine Grenzen stoßen, da eine direkte VerteidiS.: Cummiskey 1996, S. 141. S.: Cummiskey 1996, S. 141. 41 Auch wenn Cummiskey mit verschiedenen, miteinander konfligierenden Verpflichtungsgründen ein durchaus ernst zu nehmendes Problem der kantischen Ethik anspricht, lesen sich einige seiner diesbezüglichen Hauptaussagen so, als ob es nicht zuletzt von der Einstimmung der Betroffenen abhinge, ob sie geopfert werden dürfen oder nicht; vgl.: Cummiskey 1996, S. 143. 39 40

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gung der praktischen Vernünftigkeit des Tötens (bekanntlich eben auch des Selbstmordes) auf kantischem Boden keine Chance auf Erfolg besitzt. Wenn man noch einmal einen Blick in die Tugendlehre wirft, so fällt auf, dass Kant sein Verbot der Selbstentleibung bzw. die entsprechende Unterlassungspflicht auf den ersten Blick allein im Hinblick auf einen beliebigen, d. h. kontingenten und nicht-vernünftigen Zweck erläutert, sodass Cummiskeys Verweis auf die andersartige Situation im Falle objektiver Zwecke in dieser Perspektive in Erwägung gezogen werden könnte. Dennoch spricht Kant diese Problematik auch auf noch grundsätzlichere Art und Weise an, und die diesbezüglich zu konstatierenden Implikationen sprechen gegen die Zulässigkeit der Annahme einer Kompatibilität von Selbstzweck und konsequentialistisch aufgefasstem Handlungswert. Kant greift hierzu das Beispiel des stoischen Weisen auf, welcher die Stärke seiner Persönlichkeit darin bewiesen sieht, ohne Gemütsbewegung aus einem Leben scheiden zu können, in welchem er nicht mehr von Nutzen sein kann. Im direkten Gegensatz zu dieser stoischen Position argumentiert Kant, dass die sich in dieser Vorstellung explizierende Stärke der Person einen Anlass zum Schluss auf die unbedingte Bewahrungsnotwendigkeit des Vernunftwesens darstelle, 42 wobei er dieses Beispiel ausdrücklich über den bei den Stoikern angeführten Grund der Nutzlosigkeit auf die Frage ausweitet, ob nicht die Ausübung der dem Vernunftwesen eigenen Fähigkeit zur Überordnung des Werts anderer Zustände etc. über das eigene Leben als eine Rechtfertigung der Selbst- oder Fremdtötung ausgelegt werden könnte. Kant begründet seine These des unbedingten Verbots der Selbstentleibung letztlich mit der Identität der Vernichtung der Person und der Vernichtung der Sittlichkeit. Diese Gleichsetzung impliziert wiederum, dass Cummiskeys Konzeption der Möglichkeit des moralischen Gebotenseins des Selbstmords bzw. Tötens anderer Vernunftwesen auf das sittliche Gebot der Vernichtung eben dieser Sittlichkeit zum Zwecke ihrer Erhaltung hinaus läuft. Letzteres würde jedoch zum einen nichts anderes als eine praktische Form negativer Selbstbedingung darstellen, welche von Kant her gerade nicht legitimerweise angenommen werden kann und sich zudem nicht zuletzt durch seine Prämisse der internen Konsistenz des moralisch Gebotenen ausgeschlossen wird, und zum anderen die von Kant angesetzten Be42

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gründungsrelationen insofern verkehren, als die Würde der eigenen Person dadurch geachtet werden soll, dass sie der Erhaltung der ›existierenden‹ Würde anderer Wesen und somit der Maximierung der Würde als solcher dient. So plausibel Cummiskeys antiontologische Auffassung des moralischen Werts bei Kant auch zu verteidigen sein mag und so kontraintuitiv bestimmte Schlussfolgerungen aus der unbedingten Unterlassungspflicht des Selbstmords erscheinen können, so irreführend ist zugleich die Auslegung, dass die Pointe der kantischen Ethik in der Maximierung eines als offenbar nur bedingt akteurrelativ verstandenen Werts zu finden sei. Cummiskey stützt seine Argumentation für die Kompatibilität von kantischer Ethik und konsequentialistischen Reflexionsstrukturen darüber hinaus auf die Annahme, dass im Falle eines Konflikts mehrerer möglicher Verpflichtungsgründe stets der Primat der Beförderung des Selbstzwecks der rationalen Natur eingeräumt werden müsse 43 und sieht die Mittel zur Beförderung des Selbstzwecks offenbar nicht in einer unmittelbaren Beziehung zu diesem stehend: »[…]; while it [der Selbstzweck der Menschheit, Einfügung C. B.] does constrain the kinds of ends we may pursue, it does not in itself constrain the methods that we use to pursue them – including the sacrifice of the innocent.« 44 Auch diese Aussage ist weder von Kant her legitimierbar noch aus konsequentialistischer Perspektive einleuchtend, denn wieso sollte die Wahl der Mittel zur Verfolgung eines Zwecks (wobei hier vollkommen irrelevant ist, als wie hoch- oder niedrigstehend dieser moralisch anzusehen wäre) im Unterschied zu allen anderen Handlungen nicht dem Sittengesetz bzw. Selbstzweck oder einem in funktionaler Hinsicht vergleichbaren Moralkriterium 45 unterstehen? Die kantische Idee des Selbstzwecks der rationalen Natur besitzt gerade auch dann einen konkreten Sinn, wenn diese als material ausgestaltete Restriktionsinstanz Er ist offenbar der Ansicht, dass man zur Etablierung eines kategorischen Tötungsverbots die Priorität der negativen gegenüber der positiven Pflichten bei Kant aufzeigen müsse; vgl.: Cummiskey 1996, S. 142. 44 S.: Cummiskey 1996, S. 143. 45 Auch im Falle einer konsequentialistischen Ethik scheint mir diese Argumentation nicht schlüssig zu sein, da man nicht ohne Zusatzprämissen zu dem Schluss kommt, dass das unbedingt gebotene Ziel zwar z. B. in einer Herstellung des größtmöglichen Glücks aller Menschen und der sich dazu anbietende Weg in Handlungen mit entsprechenden Konsequenzen bestehen soll, dieser übergeordnete Zweck zugleich jedoch für die Methode seiner Verwirklichung vollkommen unverbindlich sein kann. 43

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für einzelne Zwecke fungiert, sodass darunter auch die Zwecksetzung in Form von bestimmten Handlungen als Mittel zur Beförderung des Selbstzwecks zu subsumieren ist. 46 Vor allem bei der Analyse des Selbstzwecks wurde in vorliegender Untersuchung herausgearbeitet, dass nach Kant jeder praktische Bezug auf den Selbstzweck in seiner von Kant intendierten Form stets eine Form von dessen Verwirklichung darstellen muss. – Eine Handlung, die gerechtfertigterweise als Mittel zu seiner Beförderung zu verstehen sein soll, kann demnach unmöglich nicht durch den Selbstzweck gebunden sein. 47 Zwar kann man von Kant aus sicherlich zustimmen, wenn nur die Möglichkeit einer Varietät von moralisch zulässigen Wegen der Verwirklichung eines moralischen Zwecks behauptet wird, doch handelt es sich bei diesem Szenario um ein weitaus unspektakuläreres Anliegen. Insgesamt erweckt Cummiskeys Rekonstruktion der kantischen Idee des Selbstzwecks der rationalen Natur den Eindruck, als bestehe dieser eher in der Schaffung von rein empirischen Bedingungen der Verwirklichung von Moralität (dazu zählt offenbar auch die Anzahl von Vernunftwesen) als in dem stetigen Bemühen jedes einzelnen Akteurs um sittliche Maximen. 48 Dabei kennt Kant mit der Willkür und der übrigen (empirisch verfassten und erfassbaren) Welt zwei Ebenen der Verwirklichung des Moralischen und lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass der gute Wille als Handlungsgrundlage und -ausgangspunkt und nicht etwa die mit diesem gegebenenfalls nur lose verbundene Etablierung eines die Meinungsfreiheit garantierenden Staates moralischen Vorrang besitzt. Die Tatsache, dass Kant auch an der über die bloße Gesinnung hinausgehenden Sicherung und Beförderung Insofern ist auch Hermans Vorschlag nachvollziehbar, dass man Maximen sowohl für den Umgang mit Handlungsfolgen als auch für die Wahl der Mittel zur Erreichung eines moralischen Zwecks ausbilden müsse; vgl.: Herman 1993, S. 100 und 109. 47 Daher muss man Ricken zustimmen, wenn er als Unterschied von kantischer bzw. kantianischer und konsequentialistischer Ethik festhält: »Der Konsequentialismus schreibt ein objektives Ziel, einen Zustand der Welt, vor; eine kantische Theorie schreibt die Art und Weise vor, wie ich meine subjektiven Ziele verfolgen darf.« S.: Ricken 2003, S. 297. Der objektiv-teleologische Aspekt der kantischen Ethik besteht wiederum über das soeben von Ricken Angeführte hinaus darin, dass die Art und Weise der subjektiven Zweckverfolgung zum einen selbst als Verfolgung und zugleich Verwirklichung des Zwecks der rationalen Natur, zum anderen in Form einer (regulativen) moralischen Perfektionsvorstellung des eigenen Handelns als anzustrebender bzw. empirisch zu bewirkender Vernunftzweck fungiert. 48 Vgl.: Cummiskey 1996, S. 89. 46

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der empirischen Bedingungen für die Ausübung der Moralität Interesse genommen hat, ist in typologischer Hinsicht insofern nicht relevant, als sich dies weder allgemein in einem konsequentialistischen Argumentationsgestus noch speziell in einer derartigen Bestimmung des Moralprinzips oder Handlungswerts niederschlägt. Ein grundsätzlicher Kritikpunkt an Cummiskeys Auffassung des Selbstzwecks kann dabei von Guyers Position aus entwickelt werden, auch wenn Guyer selbst m. E. über das Ziel hinaus schießt: Cummiskey ist offenbar der Ansicht, dass mit dem Erweis der Nicht-Instrumentalisierung durch die Tötung eines Unschuldigen – der Zweck ist ja rational – bereits die vollständige Kompatibilität mit dem Gesamtkonzept des Selbstzwecks gezeigt werde, wobei er insbesondere den Aspekt der Rationalität stark macht. Bei Kant (und in diesem Falle auch Guyer) geht es jedoch nicht allein um die Vermeidung des Gebrauchs von Vernunftwesen als Mittel zur Verwirklichung nicht-vernünftiger Zwecke und um eine letztlich abstrakte Priorität einer Rationalitätsform, sondern ebenso um die uneingeschränkte Achtung und Bewahrung des wertrationalen Kernmoments aller Vernunftwesen, nämlich der Freiheit. Die praktische Freiheit wird jedoch nicht allein schon dadurch hinreichend geachtet, dass ich niemanden instrumentalisiere, da mir dennoch alle Vernunftwesen schlicht egal sein könnten, sondern Achtung ist ein dezidierter Affirmationsakt, der wesentlich über angeblich rationale Wertkalküle hinausweist. Gegen Cummiskey und mit Guyer kann man deshalb nicht einseitig davon ausgehen, dass nach Kant die Würde von Vernunftwesen gerettet sei, wenn eine Handlung rational ausweisbar sei, sondern umgekehrt ist eine Handlung praktisch-rational, wenn sie aus Achtung vor der personalisierten Menschenwürde qua Freiheit geschieht. 49 Auch Hares Auffassung des guten Willens muss sich massiver Kritik aussetzen, da er die kantische Betonung des konsequenzunabhängigen, unbedingten Werts des guten Willens schlichtweg ignoriert. Den Ausgangspunkt der konsequentialistischen Rekonstruktion des guten Willens stellt die Annahme dar, dass jede Entscheidung für eine

Letztlich handelt es sich bei der praktischen Vernunft Kants im Sinne Leists um ein wertrationales Vermögen, sodass hier Rationalität und spezifische Formen der Wertachtung untrennbar miteinander verbunden bzw. identisch sind. Gerade deswegen aber sind Formulierungen, welche den Handlungswert von seiner Rationalität abhängig zu machen scheinen, zumindest irreführend.

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Handlung zur Bildung einer Intention führt, wobei diese Intention wiederum stets auf die Herbeiführung bestimmter Konsequenzen ausgerichtet sein muss. 50 Diese Prämisse ist allerdings problematisch, da damit schon eine prokonsequentialistische Weichenstellung auf fundamentaler Begriffsebene vorgenommen wird, ohne dass dies vom kantischen Text her eine Rechtfertigung erfährt. 51 Wenn man statt ›Intention‹ den Zweckbegriff benutzt, kann man Hares Unterstellung so auf den Punkt bringen, dass nach ihm ausnahmslos jede Zwecksetzung auf die Bewirkung bestimmter Folgen abzielt. Der Zweckbegriff ist jedoch in dieser Einseitigkeit bei Kant nicht dominant, sondern sowohl das Konzept des Selbstzwecks als auch in gewisser Weise dasjenige des guten Willens zeichnen sich gerade durch das Merkmal aus, dass die ihnen gemäße Willensbestimmung für sich moralischen Wert besitzt. Bei Hares Auffassung wird dagegen die im ›Paradoxon der Methode‹ aus der KpV festgesetzte Konstitutionsbewegung des Guten nicht nur umgekehrt – das Gute bestimmt das Richtige qua Moralisches –, sondern als praktische Konstitutionsaktivität des Akteurs schlichtweg negiert, denn wenn der gute Wille aufgrund seines jeweiligen Gegenstandsbezugs gut ist bzw. wird, sind eigentlich spezifische Objekte oder Weltzustände gut und bedingen somit die moralische Qualität der auf sie gerichteten Willensakte. 52 Die vernünftige Person als autonomes wert- und zwecksetzendes Wesen im Sinne Kants, d. h. als unbzw. selbstbedingter Maßstab des moralischen Werts aller Willensobjekte und Handlungen, ist daher mit diesem Modell der heterogenen Willensbestimmung nicht zu vereinbaren. 53 Ad (d): Hares utilitaristische Kant-Rekonstruktion kann auch in einem weiteren Punkt nicht überzeugen: Seine Analyse der Struktur der SZF baut einzig und allein auf der Idee der anzueignenden Zwecke anderer Menschen auf, sodass das hier angesetzte Restriktionskrite»When we are wondering what intention to form, the intentions that are the possible candidates are all intentions to bring about certain consequences; […]. So the will itself, which is being formed in this deliberative process, is a will to bring about certain consequences.« S.: Hare 1997, S. 165. 51 Ein Verweis auf diesbezüglich einschlägige Passagen z. B. der Religionsschrift ist hier als Gegenargument uninteressant, da Kant dort nur von der Natürlichkeit menschlicher Zweckverwiesenheit ausgeht und keine strikt konsequentialistische Willens- oder Handlungstheorie entwirft. 52 Diese Auffassung liegt auch Hares Kritik an der kantischen Argumentation gegen die moralische Zulässigkeit der Unwahrhaftigkeit zugrunde; vgl.: Hare 1997, S. 154. 53 Vgl.: Rohs 1995, S. 36 f. 50

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rium rein fremdbezüglich begründet wird. Abgesehen davon, dass vor diesem Hintergrund die Ableitung selbstbezüglicher Pflichten nicht zufälligerweise Probleme bereitet, 54 wird der für die SZF zentrale Gedanke des absoluten Werts der Person und seines Freiheitsvermögens in seiner auch unabhängig von den Zwecksetzungen anderer Akteure bestehenden Bedeutung verkannt. 55 Dies hat schwerwiegende Implikationen: Das Vermögen der freien Zwecksetzung wird von Hare offenbar nicht auf das kantische Konzept des apriori rationalen Willens bezogen, sondern allein als auf interne (Einzelzwecke des Akteurs) wie externe (Einzelzwecke anderer Akteure) Konsistenz ausgerichtete Dezisionsfähigkeit verstanden, sodass weder Selbstmord noch Fremdtötung an sich moralisch verboten sind. – Es kommt bei Hare nur auf die kontingente Zwecksetzung des empirischen Willens der Einzelperson an. Die bei Kant vorfindliche, wohlgemerkt primär interne Willensinkonsistenz beim Selbstmordbeispiel kann allerdings nur adäquat rekonstruiert (und kritisiert) werden, wenn man das ganze, auch den intelligiblen Willen einbeziehende Willenskonzept berücksichtigt. Zudem ist Hares Interpretation schon rein immanent unplausibel, da ohne die Prämisse des unbedingten (apriorischen) Selbstzwecks bzw. Werts des Akteurs keine rationale Basis für die Annahme der verbindlichen Normativität bzw. Restriktionsfunktion der Zwecke anderer Vernunftwesen existiert. 56 Kritisches Fazit zur K-These Abschließend ist festzuhalten, dass sich der ›kantische Konsequentialismus‹ Cummiskeys, auch wenn der ihm eigene Anspruch der Bezugnahme auf Kant als nur schwach verstanden wird, allenfalls hinsichtlich der Vorstellung eines unbedingt verbindlichen Zwecks auf den Königsberger Philosophen berufen kann, im Übrigen jedoch so stark von dessen Auffassung z. B. der rationalen Natur, des moralischen Vgl.: Hare 1997, S. 149 und S. 155. Rohs weist in demselben Sinne auf den eigenständigen moralischen Wert der Universalisierbarkeit bei Kant hin, während universalisierbare Handlungsweisen/Handlungen im Utilitarismus allein aufgrund ihrer Eigenschaft der Nutzenmaximierung wertvoll sein könnten; vgl.: Rohs 1995, S. 39. 56 Generell muss man sich hier fragen, wie man ohne die Berücksichtigung von unbedingter Menschenwürde und dem apriori rationalen Willen überhaupt einen reflektierten Zugang zu den wert- und normativitätstheoretischen Prinzipien der kantischen Ethik gewinnen können soll. 54 55

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Handlungswerts und der Relation von Sittengesetz und Selbstzweck abweicht, dass Cummiskeys K-These nicht als gelungener Aufweis der Relevanz tatsächlich bei Kant angelegter oder vorhandener konsequentialistischer Grundstrukturen akzeptiert werden kann. 57 Im Unterschied zu Cummiskey setzt sich Hare nirgendwo ernsthaft mit dem Konzept des absoluten Werts der rationalen Natur auseinander, sondern deutet schon Kants Grundbegriffe auf empiristische und partiell individualistische Art und Weise, sodass dies in Kombination mit einer von Kant abweichenden Auffassung von Zweck und Zweckverwirklichung zu einer irreführenden Parallelisierung von Utilitarismus und kantischer Moralphilosophie führt. Beiden Autoren ist zwar zuzugestehen, dass auf der Reflexionsebene der Anwendung moralischer Maximen auf spezifische Lebenssituationen auch nach Kant Informationen empirischer Natur sowie Überlegungen konsequentialistischer Provenienz notwendig sind – so z. B. im Falle der Bestrebung der Beförderung des Glücks anderer Menschen 58 –, doch werden bei Kant auch in vermeintlich konsequentialistischer Absicht ausgeführte Handlungen nicht primär aufgrund ihrer Folgen moralisch wertvoll, 59 sondern stellen vielmehr Resultate einer zuvor vollzogenen Anerkennung eines genuin praktischen, d. h. aus Freiheit gesetzten und nicht aus Wahrscheinlichkeit antizipierten Folgenwerts dar. 60

Vgl. den kritischen Kommentar Leists: Leist 2000, S. 370 Anm. 5. Es ist hier nicht meine Aufgabe, weiterführende, nicht mehr direkt an Kant orientierte Spekulationen über einen möglichen kantischen Konsequentialismus anzustellen, doch müssen für eine solche Hybridethik m. E. schon die Grundlagen seiner Ethik stark abgewandelt werden, woran sich die Frage nach dem genuin Kantischen eines solchen Modells anschließt. 58 Um einen anderen Menschen glücklich zu machen, muss ich wissen, durch welche Handlungen ich dies bewerkstelligen kann. Daher muss ich auch berücksichtigen, ob die erwartbaren Folgen bestimmter Handlungen vor dem Hintergrund meiner Kenntnisse über die Bedürfnisse der jeweiligen Person ihren Zweck erfüllen. Diese Fragen kann man rein apriori unmöglich beantworten. Apriori kann ich nach Kant nur wissen, welche Bedürfnisse oder Zwecke des Anderen moralisch sind oder nicht. 59 Wie man darüber hinaus an den Tugendpflichten samt der ihnen impliziten moralphilosophischen Güterlehre sehen kann, bestehen auch die an manchen Stellen angeführten erstrebenswerten Handlungskonsequenzen meist nicht in Form eines bloßen Nutzens, sondern stehen unter der Leitidee der moralischen Vervollkommnung oder der ethisch legitimen Glückseligkeit. 60 Vgl. zur Beförderung des Guten allein im Rahmen des moralisch Richtigen als antiutilitaristisches Moment: Wolf/Schaber 1998, S. 51. 57

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IX.4 Kritische Analyse der SKOM-These Die schwache Komplexitätsthese hat gegenüber der D-, T- und K-These den Vorteil, mit ihrer primär charakteristischen Behauptung der strukturell signifikanten Komplexität der kantischen Ethik einen nur schwer negierbaren Aspekt in den Mittelpunkt der Rekonstruktion zu stellen. Zudem greift sie mit dem Selbstzweck ein für Kant in der Tat zentrales Element seiner Theoriebildung auf, sodass man der SKOM-These insgesamt zumindest weder eine grundsätzlich simplifizierende Rekonstruktion noch eine Verkennung der Relevanz der Selbstzweckidee vorwerfen kann. Durch diese beiden Sachverhalte bietet die SKOM-These eine im Vergleich z. B. zur D-These kleinere und vor allem diffusere Angriffsfläche, wobei darüber hinaus natürlich auch zum Tragen kommt, dass ihre Anhänger im Gegensatz zu denjenigen anderer in dieser Studie behandelten Klassifikationsansätze keine positive typologische Aussage über Kants Ethik zu verteidigen haben. 61 Dennoch kann der Punkt geltend gemacht werden, dass die Behauptung der typologischen Transkategorialität der kantischen Ethik auf halbem Weg der Analyse stehen bleibt und die SKOM-These durchaus in der Lage ist, die Bedeutung und die typologischen Implikationen der Komplexität des Selbstzwecks, nicht aber anderer wichtiger Elemente und Strukturen herauszustellen. Zwar betonen Arrington und Baumanns zu Recht die differenzierte Mischstruktur der kantischen Ethik, doch stellt insbesondere SKOM4 genau genommen ein spezifisches Simplifizierungsmoment dar, wenn von der Polyfunktionalität des Wertbegriffes auf die vollständige Unklassifizierbarkeit der entsprechenden Wertthesen geschlossen wird. Vor allem Baumanns trifft recht implikationsreiche und keineswegs leicht einsichtige Aussagen, wenn er im Ausgang von Kant keine Differenzierungsmöglichkeit zwischen dem intrinsisch und konsequentiell bestimmten Guten oder dem natürlichen und praktisch-vernünftigen Guten sieht. Um diese These genauer analysieren zu können, muss zuerst der Gebrauch der Termini bei Baumanns kommentiert werden: Offenbar versteht er unter ›Konsequentialismus‹ sachlich dasselbe wie unter der älteren Bezeichnung einer ›teleologischen Ethik‹, doch wird allein daZwar neigt Arrington einer deontologischen Deutung zu, während Baumanns eine konsequentialistische Tendenz auszumachen können glaubt, doch bleibt es im Grunde bei diesen eher vagen Tendenzangaben.

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raus noch nicht deutlich, inwiefern nach ihm alle teleologischen Ethiken auch der Sache nach insofern konsequentialistisch sind, als der Wert der Handlungsfolgen und nicht der Handlungen selbst den entscheidenden oder einzigen Maßstab für die erfolgreiche und somit moralisch geforderte Verfolgung des jeweiligen Zwecks und daher auch den Grund für die Entscheidung für bzw. gegen eine Handlung darstellt. Diesbezüglich gibt es zwei Ansatzpunkte, welche allerdings entgegengesetzte Schlüsse nahe legen: Baumanns geht erstens offenbar von einer Differenz von intrinsisch und konsequentiell bestimmtem Wert einer Handlung aus, was insofern auf eine Auffassung von ›konsequentiell‹ als prinzipielle Folgenorientiertheit schließen lässt, als eine allein teleologische Auffassung dieses Terminus keine kategoriale Differenz zwischen Wertintrinsität einer Handlung und deren Zweckbezogenheit instanziieren kann. 62 Zweitens spricht er von konsequentialistischen Aspekten, wenn er die ›seins- und vernunftinteressierte Arbeit im und am Reich der Zwecke‹ bezeichnen will, welche Formulierung entgegen der vorherigen Deutung primär für ein Verständnis von ›konsequentialistisch‹ als bloßer Zweckorientierung spricht. De facto scheint Baumanns insgesamt von einer engeren Zusammengehörigkeit von Zweck- und Handlungsfolgenorientierung auszugehen, als es in Kapitel II dieser Studie unabhängig von Baumanns Ansatz angesetzt wurde, sodass eine konsequentielle Wertbestimmung bei ihm sowohl teleologisch als auch folgenzentriert aufgefasst werden muss. Die Dichotomie des zweck- bzw. folgenunabhängigen Eigenwerts und des folgenbedingten Werts von Handlungen, deren Ununterscheidbarkeit Baumanns hinsichtlich Kant konstatiert, deckt sich demnach systematisch mit der Differenz zwischen deontischer/vernunftteleologischer und konsequentialistischer Wertvermittlung, sodass Baumanns’ These im Kern besagt, dass in Kants Ethik nicht zwischen unmittelbarem und über die Handlungsfolgen vermitteltem Handlungswert unterschieden wird. SKOM4 kann dabei streng genommen nur unter Rückbezug auf SKOM3 adäquat verstanden werden, denn das ausschlaggebende Argument der SKOM-These besteht in der dort artikulierten Behauptung der Konvergenz von deontischer und konsequentialistischer Wertkonstitution in der Selbstzweckkonzeption. In Es ist natürlich sehr wohl möglich, dass Baumanns von einer dichotomischen Relation von Teleologie und intrinsischem Wert ausgeht, doch wäre auch dies entsprechend kritikwürdig.

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dieser Perspektive muss man zugestehen, dass in Übereinstimmung mit Baumanns ein wichtiges Resultat auch der vorliegenden Studie in der These besteht, dass im Falle des Anstrebens des Selbstzwecks vermittelnde Beförderungshandlungen und unmittelbar zweckverwirklichende Handlungsvollzüge nicht ohne Weiteres unterscheidbar sind, da aufgrund der selbstreferentiellen Binnenstruktur dieses Zwecks jedes Mittel zur Verfolgung des Selbstzwecks zugleich als Zweckerfüllung verstanden werden muss. Zumindest in derjenigen Hinsicht muss man Baumanns zustimmen, dass die selbstzweckhafte Person die alles andere bestimmende Grundidee der kantischen Ethik ist und aus dieser Idee unterschiedliche Wertstrukturen abgeleitet werden. Allerdings hat sich in vorliegender Untersuchung ergeben, dass es entgegen Baumanns’ Interpretationstendenz bis zu einem gewissen Grad 63 möglich ist, im Kontext der Selbstzweckidee zwischen verschiedenen Arten und Funktionen von Wertbestimmungen zu differenzieren: Zum einen stellt die Idee des Selbstzwecks der Person als Idee der unantastbaren Menschenwürde den apriorischen Maßstab aller moralischen Handlungen dar, welcher in dieser speziellen Funktion nicht als herkömmlicher Zweck verstanden werden kann, da alle Zwecksetzungen an ihm gemessen werden sollen; zum anderen fungiert diese Idee jedoch auch als höchststufiger und auch bestimmte Handlungen leitender Zweck, der in Form entsprechender Pflichterfüllungen und Zwecksetzungen zumindest indirekt verfolgt werden kann. 64 Beide Auffassungsweisen des Selbstzwecks unterscheiden sich nicht durch eine geltungsmodale, sondern allein durch eine gegebenheitsmodale Differenz, sodass wegen der grundsätzlich identischen normativen Implikationen beider Gegebenheitsweisen leicht der Eindruck von vollkommener Ununterscheidbarkeit evoziert werden kann. Baumanns ist daher zwar zuzustimmen, dass der Selbstzweck der Person einerseits als deontisches Moment (als unbedingter, konsequenzindifferenter Maßstab und Inbegriff alles Moralischen – kurz: als zu berücksichtigende Vernunftnorm) und andererseits als teleologisches Moment (als Wir haben im Falle von Hermans teleologischer Reifizierung des Sittengesetzes in seiner Funktion als apriorische Quelle von Handlungsnormen gesehen, dass über den Bereich der zulässigen gegebenheitsmodalen Modifikationen bestimmter Elemente der kantischen Ethik keineswegs Konsens herrscht. 64 Selbst unter der (fragwürdigen, aber zulässigen) Voraussetzung der allein negativen Verfolgungsmöglichkeit des Selbstzwecks durch Unterlassungen, Restriktionen etc. muss m. E. dennoch die positive Bestimmung dieses Zwecks berücksichtigt werden. 63

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unbedingter, konsequenzindifferenter Vernunftzweck – kurz: als zu verwirklichender Vernunftwert bzw. Vernunftzweck) in geltungstheoretischer Hinsicht nicht differenziert werden kann, doch vernachlässigt er erstens die bestehenden gegebenheitsmodalen Unterschiede und differenziert zweitens nicht hinreichend zwischen teleologischen und genuin konsequentialistischen Aspekten des Selbstzwecks. Falls die hier bisher angesetzte Interpretation des baumannschen Konsequentialismusbegriffs zutrifft, muss man die kritische Frage stellen, inwieweit tatsächlich eine vollständige Konvergenz von deontischen/vernunftteleologischen und konsequentialistischen Aspekten bei Kant vorliegt. Zur differenzierten Beurteilung dieser Frage sind die Äußerungen zur Tugendlehre aus der MS heranzuziehen. Nach Baumanns zeichne sie sich dadurch aus, dass in ihr, wie er sich ausdrückt, die moralischen Subjektqualitäten mit denjenigen der den guten Willen spezifizierenden Objekte moralischen Handelns zusammenfallen, was bedeutet, dass eine Konvergenz des moralischen Werts des Grundsatzes der Maximenwahl und desjenigen der von einem guten Willen erstrebten Gegenstände vorliegen soll. Fraglich ist hier, wie man aufgrund dieses m. E. durchaus zutreffend erfassten Sachverhalts zur Behauptung der Rechtmäßigkeit einer konsequentialistischen Lesart der Tugendlehre oder auch des Selbstzwecks gelangen können soll, denn auch die Tugendlehre kann nicht sinnvoll als Revision der Grundaussage des ›Paradoxons der Methode‹ gelesen werden. Baumanns’ Formulierung kann zwar entgegen der auch in der MS angesetzten kantischen Systematik den irreführenden Schluss nahe legen, dass der gute Wille seine moralische Qualität durch seine Strebensobjekte (Güter) erhält, was nachweislich falsch wäre, doch versteht er hier unter dem Begriff der ›Spezifikation‹ des Guten/guten Willens offenbar keine praktisch-geltungstheoretische Legitimation, sondern vielmehr nur eine konkretere inhaltliche Bestimmung, sodass sich eine diesbezügliche Kritik als hinfällig erweist. Allerdings bleibt bei Baumanns die Frage letztlich unbeantwortet, warum die materiale Spezifizierung des Guten einen konsequentialistischen Charakter besitzen soll. Auch in der Tugendlehre finden in kantischer Perspektive keine genuin bzw. primär natürlichen Zwecke bzw. entsprechenden Objekte als Maßstab der Moralität von sie verfolgenden Handlungen Einlass, und auch wenn sie mehr als jedes andere Lehrstück Kants eine materiale Differenzierung von gebotenen und verbotenen Strebensobjekten bzw. Zuständen ermöglichen kann, fungieren diese Gegenstände des guten Willens nicht als von der VerA

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nunftidee der Person unabhängige Formen des Guten. Dies impliziert weder eine Verkennung der Bedeutung des höchsten Guts samt der ihm eigenen Berücksichtigung des individuellen Glücks, noch die Möglichkeit, dass man auch nach Kant eine Maxime wählen sollte, deren handelnde Verfolgung Wirkungen in der empirischen Welt zeitigt, welche vielleicht zu einer vermehrten moralischen Maximensetzung in der Zukunft beitragen könnten. Die bloße Tatsache jedoch, dass Kant nicht ausschließlich Grundsätzen der Maximenwahl und entsprechenden Maximen, sondern zudem bestimmten persönlichen Seinsformen und Weltzuständen als auch empirisch-gegenständlichen Manifestationen der Selbstzweckidee moralischen Wert zuschreibt, kann als prokonsequentialistisches Argument nicht überzeugen. Mit Wood ist daher festzuhalten, dass die Tugendlehre zwar explizit teleologisch strukturiert ist, nicht aber gerechtfertigterweise als Ausformung konsequentialistischer Strukturen rekonstruiert werden kann. In Verbindung mit dem soeben Erörterten steht die weiterführende baumannsche These der Unmöglichkeit einer Differenzierung zwischen dem natürlich und dem vernünftig bestimmten Guten. 65 Diese Aussage stellt eine inhaltliche Konkretisierung von SKOM2 dar, in welcher eine typologische Unterbestimmtheit maßgeblicher Strukturen bei Kant konstatiert wird. Wenn diese These zuträfe, hätte dies nicht zuletzt die Unmöglichkeit der Differenzierung zwischen naturund vernunftteleologischen Aspekten der kantischen Ethik zur Folge. Baumanns’ These ist dabei auf drei unterschiedliche Weisen auslegbar: Zum einen kann sie (a) als auf eine zu enge Verbundenheit oder Vermischtheit von natur- und vernunftteleologischen Argumenten, zum anderen (b) auf die kantische Idee einer Vernunftnatur des Menschen bezogen verstanden werden, während auch (c) die theoretische Problematik des Fehlens einer höchsten Prinzipientheorie gemeint sein könnte. Für unsere Zwecke sind insbesondere die ersten beiden Verständnismöglichkeiten relevant, weshalb Punkt (c) nur kurz behandelt wird. Ad (a): Auch wenn man zugestehen muss, dass Kant sehr wohl beide Argumentationsformen in seinen Hauptwerken verwendet und sogar die teleologische Struktur der Vernunft an prominenter Stelle

Baumanns spricht von dem Fehlen eines logischen Ortes für besagte Distinktion, was ich zumindest in erster Linie als These des Defizits einer rational nachvollziehbaren Differenz verstehe. Vgl. zu einer wörtlichen Auslegung Punkt (c) im Haupttext.

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der GMS mit einem naturteleologischen Argument zu begründen versucht,66 spielt die Prämisse einer teleologischen Beschaffenheit der Natur gegenüber derjenigen der Vernunft eine zumindest in typologischer, wenn nicht sogar grundsätzlich systematischer Hinsicht eine untergeordnete Rolle. Er begründet weder moralische Prinzipien noch konkrete moralische Gebote oder Wertbestimmungen mit dem Argument, dass dies nun einmal in der gegebenen Ordnung der Naturzwecke liege. Auch natürliche Zwecke unterliegen nicht Freiheits- und damit Sittengesetzen, sondern moralisch indifferenten Naturgesetzlichkeiten, und Kant ist in seiner Gedankenentwicklung nicht dermaßen inkonsistent, auf der einen Seite möglichst scharf die apriorischkategoriale Differenz zwischen Natur und Freiheit herauszustellen und sie auf der anderen Seite in der konkreten, diese Distinktion voraussetzenden Argumentation nicht zu berücksichtigen. In der Idee des höchsten Guts soll zwar eine Verbindung von Natur und Freiheit stattfinden, indem auch das menschliche Glücksempfinden als zulässig zu berücksichtigender Aspekt der moralischen Handlung fungiert, doch wird von Kant auch in diesem Fall insofern deutlich zwischen dem natürlich und dem praktisch Guten differenziert, als das Anstreben des höchsten Guts aufgrund des Sittengesetzes als dem einzigen Bestimmungsgrund der auf dieses Gut ausgerichteten Handlungen die exponierte Form des praktisch Guten darstellt. Eine Rekonstruktion des höchsten Guts als genuin natürlicher Zweck müsste dagegen das kontingente Glücksstreben als primären Bestimmungsgrund auffassen, welche Perspektive nicht durch kantische Aussagen gedeckt ist, und darüber hinaus die Berücksichtigung des Sittengesetzes unabhängig von Freiheit und Autonomie im starken Sinne und allein aus Naturbedingungen rechtfertigen können, welches Unternehmen ebenfalls abenteuerlich anmutet. Ad (b): Kant arbeitet letztlich mit zwei Naturbegriffen, wobei er unter ›Natur‹ meistens explizit nur den herkömmlichen Naturbegriff im Sinne des Bereichs des naturgesetzlich Bestimmten versteht. Der vor allem in der KrV etablierten Doppelaspektlehre vom Menschen liegt eine Zweinaturtheorie zugrunde, welche neben der sinnlichen Wie schon im Argumentationskapitel dieser Studie betont wurde, argumentiert Kant in der GMS naturteleologisch nur für die Annahme, dass die Vernunft zweckmäßig eingerichtet sei, nicht aber, worin genau in materialer Hinsicht dieser Zweck bestehen soll.

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Verfasstheit auch die Idee einer dem Menschen eigenen Vernunftnatur als eines intelligibel-moralischen Selbstverhältnisses umfasst. Diese Dimension des Intelligiblen bzw. Moralischen unterscheidet sich unter ethiktypologischen Gesichtspunkten allerdings eindeutig von der sinnlichen Natur, da sie im Gegensatz zum Sinnlichen wesensgemäß niemals primär als Mittel oder Instrument zur Erreichung eines ihr übergeordneten Zwecks dienen kann, sondern stets praktischen Vorrang besitzen soll. Auch wenn Kant also das Glück in einem gewissen Sinne zumindest auch als intrinsisches Gut auffasst, 67 stellt weder es selbst noch das Streben nach ihm einen (moralischen) Selbstzweck dar. Intelligible und phänomenale Natur unterscheiden sich demnach schon grundsätzlich hinsichtlich ihres ihnen von Kant zugeschriebenen Potentials zur Generierung rechtmäßiger praktischer Geltungsansprüche, was wiederum auf eine unterschiedliche axiologische Qualifikation beider Bereiche zurückgeführt werden kann, da die Rede vom moralischen Wert allein im Intelligiblen und nicht im diesbezüglich indifferenten Sinnlichen ihren (praktisch-)logischen Ort hat. Ad (c): Wenn man die baumannsche Rede vom Fehlen eines logischen Ortes für die Distinktion von natürlich und praktisch Gutem streng und somit allein auf den theoretischen Reflexionsbereich bezogen auslegt, adressiert diese These keine ethiktypologisch unmittelbar relevante Thematik, sondern die Frage nach einer theoretische und praktische Vernunft theoretisch bzw. (transzendental-)logisch vereinenden und somit höchststufigen Prinzipientheorie in der kantischen Philosophie als Gesamtsystem. Je nach Rekonstruktionsperspektive auf die Gedankenentwicklung von Kant über Fichte und Schelling bis hin zu Hegel kann die dritte Kritik entweder als erfolgreiche Vorbereitung des hegelschen Spätsystems oder umgekehrt als in seinen Resultaten erfolgreicher oder zweifelhafter Abschluss des kantischen Systems auf-

Glück ist in den kritischen Hauptschriften zur Moralphilosophie insofern ein intrinsisches Gut, als Kant mit Aristoteles davon auszugehen scheint, dass der dem Glück eigene Zweck nicht außer ihm selbst zu suchen sei und es zudem einen konstitutiven Bestandteil des höchsten Guts darstellt. Allerdings kann man angesichts der von Kant vertretenen empirischen Plausibilitätsthese, dass glückliche Menschen eher zu einer moralischen Willensbestimmung fähig sind, auch auf eine Perspektive zumindest auf die Eigenschaft des Glücklichseins (nicht schon auf das Anstreben des letzteren) schließen, welche sie als Mittel zum Zweck der Begünstigung eines moralischen Lebenswandels erscheinen lässt. 67

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gefasst werden. 68 Auch wenn man der Ansicht zuneigt, dass es Kant speziell in der KU nicht gelungen sei, eine die übrigen Systembausteine verbindende Vereinigung von Natur- und Freiheitsgesetzen zu etablieren, scheint mir die Beantwortung der ethiktypologischen Frage nicht von einer Entscheidung der prinzipientheoretischen Problematik abzuhängen, da letztere sich primär auf eine Relationsbestimmung von theoretischer und praktischer Vernunft und nicht auf typologisch maßgebliche Strukturmerkmale der Ethik bezieht. Zusammenfassend ist demnach speziell gegen die Deutungen (a) und (b) von SKOM2 festzuhalten, dass trotz der partiellen Beiordnung von natur- und vernunftteleologischen Aspekten beide Reflexionsansätze hinreichend voneinander differenziert werden können; zudem setzt Kant auch die Idee der menschlichen Vernunftnatur allein schon aufgrund deren explizit axiologischer Auszeichnung von der naturgesetzlich bestimmten Natur ab, sodass auch in dieser Hinsicht eine Vermischung von sinnlicher und intelligibler Naturidee nicht auf ihn rückführbar ist. Das vielleicht schwierigste Problem der gesamten Typologiedebatte um die kantische Ethik wird in SKOM4 nicht nur angesprochen, sondern pointiert auf den Punkt gebracht, wenn sowohl Arrington als auch Baumanns angesichts der Relevanz sowohl der deontischen als auch teleologischen Elemente und Strukturen auf das daraus entstehende Klassifikationsdilemma hinweisen und insbesondere vor dem Hintergrund der nur durch eine einseitige Rekonstruktionsperspektive verkennbaren typologischen Relevanz von Pflichten und Zwecken von einer Entscheidung zwischen Deontologie und Teleologie absehen. Auch wenn die schwache Komplexitätsthese einige schwerwiegende Defizite aufweist, berührt sie mit der Betonung der typologisch unterschiedlichen und gewissermaßen parallel zueinander verlaufenden Strukturen in der kantischen Ethik nicht nur eine theoriestrukturelle Besonderheit, sondern zumindest einen, wenn nicht sogar den primären sachlichen Legitimationsgrund für die teilweise grundsätzlich voneinander abweichenden Rekonstruktionsansätze der neueren Debatte. Die diesbezüglich zu klärende Problematik besteht vor dem Hintergrund der Resultate der typologischen Analyse der Hauptelemente und -strukturen der kantischen Ethik in der Beantwortung der Fragen, inwiefern 1. Pflichten, Zwecke und Werte bei Kant tatsächlich ethik68

Freilich schließen sich beide Annahmen nicht gegenseitig aus. A

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typologisch gleich relevant sind, und ob 2. selbst im Falle ihrer typologischen Äquivalenz die Adäquatheit der SKOM-These bzw. von SKOM4 resultieren würde. Die Diskussion dieser beiden Fragen stellt den Abschluss der Analyse der SKOM-These dar. Ad 1.: Die Frage nach typologischer Äquivalenz bzw. Nicht-Äquivalenz von Pflichten und Zwecken als den exponierten deontischen und teleologischen Konstitutiva der kantischen Ethik scheint zumindest auf den ersten Blick eher eine vor allem subjektive Gewichtungsangelegenheit zu sein, da beide Elemente nicht nur in der Tugendlehre in großer systematischer Nähe zueinander stehen, sondern einerseits der Pflichtbegriff prinzipiell als gegebenheitsmodale Modifikation eines Vernunftzwecks charakterisiert wird, andererseits Vernunftzwecke nach Kant ihrerseits gegebenheitsmodal modifiziert (in die Vorstellungsform der Pflicht transformiert) werden müssen, um ihre handlungsleitende Funktion innerhalb der noetischen Struktur des Akteurs erfüllen zu können. 69 Die deontischen und vernunftteleologischen Kernbegriffe verweisen somit wechselseitig aufeinander, sodass innerhalb der kantischen Systematik weder der Pflicht- ohne den Zweckbegriff noch der Zweck- ohne den Pflichtbegriff ihre ihnen ursprünglich zugeschriebene moralphilosophische Funktion besitzen können. Der Pflichtbegriff als im Ausgang vom Kategorischen Imperativ konkretisierte Form moralischen (unbedingten) Sollens verweist als solcher stets auf ein dem Vernunftwesen eigenes, rationales Wollen, durch welches dessen grundsätzliche Ausrichtung auf das Gute (moralische Vollkommenheit als Selbstzweck) expliziert wird. Der kantischen Ethik liegt daher – neben der mindestens ebenso fundamentalen Idee der Würde des Vernunftwesens – die Annahme zugrunde, dass der Mensch in intelligibler Perspektive in seinem Streben immer schon (apriori) auf die Angemessenheit seiner Maximen an das Sittengesetz ausgerichtet ist. 70 Dementsprechend spricht Kant von der eigentlich bestehenden Identität jedes Sollens mit einem vorauszusetzenden Wollen Zwar spricht Kant auch von der Notwendigkeit moralischer Zwecksetzungen, um den natürlichen Zwecksetzungen auf gleicher Reflexionsebene etwas Wirkungsvolles entgegensetzen zu können, doch läuft dies aufgrund der kantischen Prämisse der Notwendigkeit der gegebenheitsmodalen Modifikation von Zwecken im Kontext endlicher praktischer Vernunft letztlich auf nichts anderes hinaus, als dass den Neigungen Pflichten opponieren müssen. 70 Diesen Sachverhalt findet man bei Kant auch in davon abweichender Terminologie ausgedrückt – so z. B. in seiner Annahme der Unmöglichkeit eines vollständig gewissen69

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und erweist nicht zuletzt die Konzeption einer unbedingt gebietenden Pflicht als Defizienzmodus des eigentlich Gewollten. Auch in der Einleitung zur Tugendlehre in der MS argumentiert er, dass die Wichtigkeit des Pflichtbegriffs in der Ethik eine Folge ihrer eigentlich zweckbasierten Verfasstheit darstelle. 71 Insofern man sich allein auf diesen Strukturstrang konzentriert, ergibt sich das Bild einer praktisch-präsuppositionslogisch bedingten Prävalenz teleologischer Aspekte, da moralisches Sollen allgemein und Pflichten insbesondere als nur abgeleitete Formen und nicht ihrerseits als eigenständige Fundamente 72 typologisch andersartiger Aspekte fungieren. Dagegen vertritt Kant in aller Deutlichkeit vor allem in der MS eine vom soeben Konstatierten scheinbar abweichende Position: Zum einen bestimmt er in der Einleitung zur Tugendlehre, dass die allgemeine Sittenlehre anhand der beiden Obergriffe ›Zweck‹ und ›Pflicht‹ in Rechts- und Tugendlehre eingeteilt werden könne, 73 sodass der Zweckbegriff nicht die Grundlage der Tugend-, sondern der Rechtslehre darstellt. In der Rechtslehre gehe man von einem gegebenen Zweck aus und schaue sich danach nach einer dazu passenden (rechtskonformen) Maxime um, während in der Ethik zuerst die Auffindung moralisch adäquater Maximen und dann erst die Setzung entsprechender Zwecke maßgeblich sei. 74 Zudem hält Kant, wie schon im Zusammenhang mit der wechselseitigen Bedingung deontischer und teleologischer Elemente erwähnt wurde, im Kontext der Erläuterung des Begriffs der ›Tugendpflicht‹ fest, dass reine Vernunft apriorische Zwecke nur in Form der Etablierung von Pflichten gebieten könne, sodass in losen Menschen oder des notwendigen Interesses am Sittengesetz bzw. an moralischen Ideen. 71 Vgl.: MS AA VI, S. 381. Der genauere Kontext der kantischen Ausführungen an dieser Stelle muss als Anzeige der Rückführungsmöglichkeit der Pflichten auf das Vermögen der Freiheit über den Weg des Verbindungsaufweises von Pflichten und Zwecken rekonstruiert werden: Es gebe Pflichten, zu deren Adaption als handlungsleitende Bestimmungsstrukturen man nicht von anderen gezwungen werden könne, da Ethik als Zwecklehre verstanden werden müsse und daher auch Pflichten prinzipiell auf Zwecksetzungen aus Freiheit bezogen seien. 72 Dementsprechend kann hier nicht als Gegenargument angeführt werden, dass Kant in der MS doch explizit die Notwendigkeit der Ableitung aller Zwecke von Pflichtbestimmungen behaupte, da diese These auf der niedrigeren Reflexionsebene der Maximen angesiedelt ist. 73 Vgl.: MS AA VI, S. 381. 74 Vgl.: MS AA VI, S. 382. A

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dieser Perspektive ausnahmslos jeder Vernunftzweck – demnach auch die Realisierung des Selbstzwecks der rationalen Natur – die Form von Pflichtbestimmungen annehmen (können) muss, insofern er handlungsleitend bzw. praktisch sein soll. Ein Verfechter der T-These könnte mit Hinblick auf diese letzte Verhältnisbestimmung zwar immer noch einwenden, dass es sich eben nur um gegebenheitsmodale Modifikationen von eigentlich teleologischen Elementen und Strukturen handele, doch wenn auch die axiologische Fundamentalidee der rationalen Natur als Selbstzweck als allein oder auch nur primär deontisches Strukturmoment begriffen würde, bedeutete dies eine klare Frontstellung gegen T1. Ad 2.: Bei Berücksichtigung der beiden soeben umrissenen Perspektiven auf die kantische Verhältnisbestimmung von Pflichten und Zwecken könnte man mit einer gewissen Evidenz zu einer Befürwortung der SKOM-These gelangen, da sich eine Entscheidung für bzw. gegen die typologische Primärrelevanz einer der beiden Strukturstränge als kaum praktikabel anzubieten scheint. Bevor jedoch über die Frage nach der Rechtmäßigkeit eines solchen Schrittes definitiv befunden werden kann, müssen die problematischen Aspekte und missverständlichen Zweideutigkeiten der soeben angeführten Aussagen Kants herausgearbeitet werden, um die Struktur der wechselseitigen Bedingung von Pflichten und Zwecken präziser erfassen zu können. Zu diesem Zwecke werden im Folgenden (a) auf der Seite des vernunftteleologischen Strukturstranges die Bedeutung der These der Dependenz der Pflichten vom rationalen Willen und der grundsätzlich bestehenden Defizienzstruktur aller deontischen Elemente, (b) auf der deontologischen Seite die Zuordnung von Zwecken zur Rechtslehre und (c) die These der Notwendigkeit der gegebenheitsmodalen (nämlich deontischen) Modifikation aller Zwecke der reinen Vernunft einer genaueren Prüfung unterzogen. Ad (a): Auch wenn Kant ohne jeden Zweifel von einer Form internalistischer Handlungsteleologie ausgeht und nicht nur in früheren Werken, sondern in aller Deutlichkeit auch in der MS sowohl die Notwendigkeit eines moralischen Zwecks als auch den de facto anzunehmenden rationalen Willen des Vernunftwesens als seinen intelligiblen Wesensaspekt betont, wäre eine sich darauf berufende Verabschiedung der deontologischen Perspektive nicht gerechtfertigt. Der diesbezüglich zu erhebende Einwand des deontologischen Lagers kann dabei (nicht zufällig) ebenso wie die proteleologischen Argumente aus der Konzep488

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tion des rationalen Willens und der ihm zuerkannten systemstrukturellen Position entwickelt werden: Zwar stellt der Wille im Sinne Leists eine teleologische Struktur dar, doch darf es sich nach Kant nicht um irgendeinen, sondern allein um einen rationalen Willen handeln, was impliziert, dass der Wille seine die Pflichten fundierende Funktion nur unter der Bedingung seiner praktischen Rationalität, d. h. aber seiner apriorischen Gerichtetheit auf das Sittengesetz erfüllen kann. Das Sittengesetz stellt seinerseits die nicht-imperativische Form des Prinzips der Pflichten (des KI) dar, sodass sich die unmittelbare Abhängigkeit der Pflichten vom rationalen Willen letztlich als über diese Willenskonzeption nur vermittelte Dependenz vom Sittengesetz darstellt. In dieser Perspektive hängt das deontische Moment der Pflicht daher zwar in gewisser Weise von einer teleologischen Normativitätsvermittlung, nicht jedoch von einer genuin vernunftteleologischen, sondern vielmehr axiologischen Normativitätsfundierung ab, was zwar immer noch gegen eine rein deontologische Klassifizierung ausgelegt, nicht jedoch sinnvollerweise als eine klare Dominanz teleologischer Aspekte gegenüber deontologischen Aspekten gedeutet werden kann: Das deontische Sollen ist eigentlich ein vernunftteleologisches Wollen, doch das vernunftteleologische Wollen ist auf das schwach-deontische Sittengesetz ausgerichtet. Zudem würde eine Vernachlässigung des Defizienzmodus des rationalen Willens gleichbedeutend sein mit einer Vernachlässigung des endlichen Vernunftwesens, welches aber doch als moralisch qualifiziertes Aktzentrum bzw. autonomer Akteur den Dreh- und Angelpunkt nicht nur, aber insbesondere der kantischen Ethik ausmacht. So wie der in seinen Handlungen nur potentiell und punktuell vernünftig-moralische Akteur gegenüber dem Ideal des Heiligen oder moralisch Weisen ein defizientes Wesen ist, als so unverzichtbar erweist sich der Begriff der ›unbedingt zu beachtenden Pflicht‹. Ad (b): Die kantische Zuordnung des Zweckbegriffs zur Rechtsund nicht zur Tugendlehre kann insofern für Verwirrung bzw. ethiktypologisch irreführende Schlüsse sorgen, als in dieser Aussage (wie auch in diversen Behauptungen in anderen Werken) nur von einem bestimmten Zweckbegriff, nämlich dem subjektiv-kontingent gesetzten Zweck die Rede ist. Im Kontext der Rechtslehre sind demnach all diejenigen subjektiven Zwecke insofern legitim, als das auf sie gerichtete Verhalten dem geltenden Recht nicht zuwider läuft. Die hier angesetzte Differenzierung zwischen Zweck (Rechtslehre) und Pflicht (TuA

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gendlehre) darf demnach nicht als vollständige Disjunktion beider Begriffsbedeutungen, sondern allein als diejenige zwischen subjektivkontingenten und vernünftigen Zwecken aufgefasst werden. Nur unter dieser Bedingung machen die ebenfalls in der MS ausgeführten Reflexionen Sinn, dass die auf die innere Freiheit bezogene Tugendlehre über die nur auf die Regelung der äußeren Freiheit abzielende Rechtslehre hinausgehe, indem sie zur bloßen Gesetzmäßigkeit der Handlung der Rechtslehre noch vernunftgebotene Zwecke hinzusetze, die für die Rechtslehre nicht unmittelbar relevant sind. Die Zuordnung der subjektiven Zwecke zur Rechtslehre stellt nicht nur kein antiteleologisches Argument, sondern überhaupt keinen ethiktypologisch relevanten Aspekt dar. Ad (c): Während in Punkt (a) noch für die Unverzichtbarkeit des deontischen Elements der Pflichtvorstellung argumentiert wurde, gilt es nun umgekehrt, Kants Prämisse der Notwendigkeit der gegebenheitsmodalen Modifikation von Zwecksetzungen auf ihre Reichweite hin zu prüfen. Diesbezüglich kann zwar kaum strittig sein, dass Kant die Idee der Pflicht als exponierten Weg ansah, um den Gehalten der objektiven Zweckbestimmungen der Vernunft als Gegenpol zu den natürlichen Neigungen des endlichen Vernunftwesens Eingang zu verschaffen, doch muss im Hinblick auf das bereits in der Kritik an der T-These Konstatierte zumindest mit dem Selbstzweck der rationalen Natur ein Zweck bzw. sogar eine ganze Art von Zweckmäßigkeit davon ausgenommen werden, da der Grund des Prinzips der Pflichten unter Berufung auf die GMS nicht seinerseits als Pflicht rekonstruiert werden kann. Die Idee des Selbstzwecks der rationalen Natur als Wertgrund moralischer Gesetze und Zwecke markiert damit nicht nur die Grenze rein teleologischer, sondern auch deontologischer Rekonstruktionsperspektiven, sodass die von der SKOM-These postulierte Pattsituation wenigstens in der Hinsicht der transtypologisch relevanten Grenzfunktion des Selbstzwecks tatsächlich besteht. Kritisches Fazit zur SKOM-These Die großen Stärken der SKOM-These bestehen zum einen in ihrer Betonung der Komplexität der kantischen Ethik sowie in der Hervorhebung der auch strukturellen Bedeutung der Selbstzweckidee, zum anderen in der konsequenten Kritik an der, zumindest tiefenstrukturell (d. h. auf den Selbstzweck der rationalen Natur bezogen) betrachtet, ungeklärt anmutenden Verhältnisbestimmung der Relevanz von teleo490

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logischen, konsequentialistischen und deontologischen Aspekten. Im Gegensatz zur D- und T-These sucht man hier die dort kritisierten typologischen Simplifizierungen vergeblich, und im Unterschied zur K-These wird, trotz ebenfalls zu benennender terminologischer Ungenauigkeiten, zumindest nicht verkannt, dass es Kant-immanent keine dem Sittengesetz widersprechenden und sich durch eine eindeutige ›overridingness‹ auszeichnenden objektiven Vernunftzwecke gibt, die es durch entsprechende Handlungsfolgen zu verfolgen gilt. Die entscheidenden Schwächen der SKOM-These liegen daher weniger auf der Ebene der deskriptiven Analyse, sondern vielmehr im Bereich der typologischen Evaluation der jeweiligen Befunde. Ein kritikwürdiger Grundzug der SKOM-These scheint dabei zu sein, die in der Tat nicht immer unmittelbar nachvollziehbare und ebenso wenig absolut trennscharfe Differenzierung von natur- und vernunftteleologischen Elementen und Strukturen als Ununterscheidbarkeit des natürlich und vernünftig bestimmten Guten zu deuten. Als keineswegs zwingend erweist sich zudem der Schluss von der ebenso nicht abweisbaren und nicht zufälligen, sondern strukturell bedingten Wechselbedingung von deontischen und teleologischen Momenten auf die Inadäquatheit der etablierten Klassifikationsterminologie, denn selbst unter der Voraussetzung des Zugeständnisses einer daraus resultierenden typologischen Äquivalenz von deontischen und teleologischen Momenten folgt einzig die Unangemessenheit bzw. dringende Ergänzungsbedürftigkeit der D-, T- und K-These, nicht jedoch die Inadäquatheit der positiven typologischen Klassifikation als solche. Ebenso schwer zu verteidigen ist die These der Konfusion des intrinsisch und konsequentiell Wertvollen, denn auch wenn eine dahingehende Differenzierung insbesondere im Falle der Selbstzweckkonzeption aufgrund deren Selbstreferenz samt der daraus resultierenden Problematik der Unterscheidung von Mittel und Zweck nur unter erschwerten Bedingungen vollzogen werden kann, muss man angesichts der axiologischen Qualifizierung des guten Willens, der Person und der sittengesetzlich adäquaten Maximen konstatieren, dass die diesbezüglichen Kernaussagen Kants keinen Schluss auf eine konsequentialistische Grundstruktur seiner Ethik nahe legen. Insgesamt stellen die Grundeinsichten in die Komplexität und Relevanz der Selbstzweckidee zwar ein notwendiges Moment in der Beurteilung der typologischen Klassifikation der kantischen Ethik dar, doch sind die dafür angeführten Argumente nicht hinreichend, um die A

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SKOM-These als eine insgesamt befriedigende Antwort auf die Frage nach ihrem Ethiktyp betrachten zu können.

IX.5 Kritische Analyse der SD- und ST-These Die SD- und ST-These stellen m. E. diejenigen Formen der typologischen Klassifikation der kantischen Ethik dar, welche sich durch ihren inklusivistischen Charakter und ihre im Vergleich zur D- und T-These ausgewogene Verhältnisbestimmung von axiologischen, deontologischen und teleologischen Aspekten auszeichnen. Dabei darf nicht irritieren, dass der kantischen Ethik scheinbar entgegengesetzte Bestimmungen zugeschrieben werden, da es sich zum einen nur um die schwachen, d. h. für typologisch andersartige Elemente offenen Varianten handelt, zum anderen die schwache T-These nicht den Primat von natur-, sondern vernunftteleologischen Aspekten impliziert, sodass auch in der ST-These (in ST1) keinerlei geltungsmodale Modifikation gegenüber SD1 behauptet und die Idee der unbedingten moralischen Verbindlichkeit somit auch in vernunftteleologischen Termini rekonstruiert wird. Bei genauer Betrachtung der beiden Thesen wird schnell deutlich, dass beide Ansätze nur zwei Seiten derselben Medaille darstellen, da sie in entscheidenden Aspekten übereinstimmen und die jeweiligen Abweichungen nicht grundsätzlicher, sondern vielmehr tendenzieller Art sind. Die Annäherung von deontologischer und teleologischer Perspektive findet dabei schon innerhalb der einzelnen Thesen statt, sodass sich die Relation beider Thesen zueinander schon in der Binnenstruktur der jeweiligen Ansätze wiederfinden lässt. In der folgenden Beurteilung der einzelnen Subthesen beider Ansätze wird das Hauptaugenmerk auf dem Verhältnis von SD1 zu ST1 und den damit verbundenen Fragen (a) nach dem teleologischen Charakter des Selbstzwecks, (b) der Behandlung der kantischen Wertthesen sowie (c) der Folgenunabhängigkeit des moralischen Handlungswerts liegen. Die Punkte (a) und (b) hängen dabei eng zusammen, da einerseits das Selbstzweckkonzept auch als Wertidee aufgefasst werden muss und andererseits die naturteleologischen Aussagen Kants von manchen Autoren zum Teil als Grundlage zur Entwicklung eines kantischen Begriffs des ›natürlichen Guten‹ benutzt werden. Unter Punkt (b) wird zudem das mit der Vorstellung eines natürlichen Guten verbundene Problem des Bezugs des Moralprinzips auf empirische Gehalte behandelt. 492

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Ad (a): In SD1/ST1 findet man die grundlegende Weichenstellung für das gemäßigte Profil beider Ansätze, indem der nur eingeschränkte Primat deontologischer bzw. teleologischer Strukturen behauptet wird. Die bemerkenswerteste Übereinstimmung besteht dabei in der Auffassung, dass der Selbstzweck der Menschheit als zentrale vernunftteleologische Struktur aufgefasst werden kann (SD1/SD4) bzw. muss (ST1/ SD4/ST4). Im Kontext der schwachen Deontologie-These wird demnach keine prinzipielle Inkompatibilität von deontischen und vernunftteleologischen Aspekten behauptet, insofern die unbedingte Geltung des Sittengesetzes bzw. Kategorischen Imperativs gewahrt bleibt und somit nicht z. B. konsequentialistisch aufgeweicht wird. Dieser Aspekt stellt einen grundsätzlichen Vorzug beider Thesen gegenüber den Alternativen dar und ist umso bedeutsamer, als er auch in enger Verbindung zur Rekonstruktion der axiologischen Elemente steht, welche durch eine Verkennung der systematischen Relevanz von Zwecken oft erschwert wird. Aus der SD-These folgt zudem nicht die problematische Auffassung, dass der Selbstzweck der rationalen Natur rein vom Sittengesetz abgeleitet werden müsse und infolgedessen als herkömmliche Pflicht zu verstehen sei, da anerkannt wird, dass er nach Kant nicht nur als höchster Vernunftzweck fungiert, sondern auch dem Kategorischen Imperativ zugrunde gelegt werden muss und somit allen einzelnen Pflichten vorgängig ist. Hinsichtlich dieser Funktion des Selbstzwecks als unhintergehbarer und apriorischer Wertgrund (s. auch Punkt (b)) scheint sich das Verständnis der Relation vom Selbstzweck als Wertgrund zu seiner teleologischen Reifizierung als zu verfolgender Zweck in der SD-These von der in der ST-These angesetzten Auffassung dieses Verhältnisses zu unterscheiden. Krämers These der Selbsterhaltung der Vernunft als Grundidee der kantischen Ethik legt ein Modell nahe, nach dem der Selbstzweck als Wertgrund das zu erhaltende Wesen der Vernunft bezeichnet und dessen Erhaltung über den Weg von Pflichterfüllung und entsprechender Zweckverfolgung geschehen soll. Auch wenn man die ebenfalls im Kontext der SD-These vorhandene Rede von der Notwendigkeit der Beförderung der rationalen Natur als implizite Assonanz an Krämer lesen kann, sind beide Herangehensweisen jedoch nicht identisch, da die Vertreter der SD-These weitaus mehr das wertexpressive (Wood) und zudem transzendental-handlungstheoretisch rekonstruierbare Moment (Korsgaard) von Sittengesetz (SD3) und SZF (SD4) betonen, während Krämer explizit den Bezug des Selbstzwecks auf die A

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Voraussetzung eines bestimmten (rationalen) Menschenbildes anspricht, sodass letzterer Kant eine eher ontologisch anmutende und daher in der antiken Tradition zu verortende Grundlage zuschreibt. Das in der ST-These skizzierte Verhältnis von präsupponierter Wesensthese und teleologischen Aspekten der kantischen Ethik kann jedoch insofern Fragen aufwerfen, als die willentlichen Befolgungen des Kategorischen Imperativs und die Erfüllungen seiner Sollensforderungen in ihrer Funktion als Selbsterhaltungsakte direkt auf das wesensgemäße und daher notwendige Grundstreben des Menschen zurückgeführt werden, sodass der Schluss auf die Bedingtheit der Geltung moralischer Imperative durch die teleologische Menschennatur nahe zu liegen scheint. Der Begriff der ›Selbsterhaltung‹ lässt zudem eher an natürlich-evolutionstheoretisch begriffene Szenarien denken, in welchen dasjenige gut ist, was der Erhaltung des Individuums oder der Art nützlich ist. 75 Allerdings darf die Annahme der Bedingtheit des KI durch die menschliche Natur nicht im Sinne einer geltungsmodalen Modifikation (nämlich Abschwächung) gegenüber seinem Verständnis in der D- und T-These verstanden werden, d. h. dergestalt, dass es sich dabei um die Abhängigkeit des moralisch Gebotenen von kontingenten Merkmalen des menschlichen Seins handele. Das Wesen des Menschen besteht nach Kant in der Vernunft, und die (reine) praktische Vernunft samt der damit verbundenen Freiheit stellt dasjenige Vermögen dar, von dem unbedingte moralische Forderungen erlassen werden und durch dessen adäquate Aktualisierung der Mensch seinen ihm zukommenden absoluten Wert affirmiert. Aufgrund der Ausrichtung der Vernunft auf das Unbedingte (auch und vor allem im praktischen Sinne) bedeutet die These der Bedingtheit des Kategorischen Imperativs durch die menschliche Natur nichts anderes als die Bedingtheit des moralisch Gebotenen durch das Unbedingte, oder anders ausgedrückt: seine Unbedingtheit. 76 Die These der Bedingtheit moralischer Sollensforderungen durch den Selbstzweck der rationalen Natur ist daher unter praktiAuch dieser Aspekt hat durchaus einen Platz in der kantischen Ethik: »Die, wenn gleich nicht vornehmste, doch erste Pflicht des Menschen gegen sich selbst, in der Qualität seiner Tierheit, ist die Selbsterhaltung in seiner animalischen Natur«; s.: MS AA VI, S. 421. 76 Dieser Schluss resultiert insbesondere aus der Betrachtung der Gründung der Geltung des Kategorischen Imperativs im Selbstzweck der Person (GMS), da moralische Sollensforderungen zwar nicht in demjenigen Sinne absolut sind, dass sie selbst vollkommen unabhängig von allen weiteren Annahmen erscheinen, zugleich aber durch 75

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schen Geltungsauspizien auch in schwach-deontologischer Perspektive unbedenklich. Dennoch muss die ST-These Krämers in diesem Zusammenhang insofern kritisch betrachtet werden, als er die Geltung des moralisch Gebotenen nicht nur im Vernunftwesen verankern, sondern darüber hinaus auf fundamentale Strebensakte (das menschliche Grundstreben) zurückführen will, was unter der Voraussetzung der Auffassung dieses Grundstrebens als eines vernunftteleologischen Akts bedeuten würde, dass das deontische Moment der Pflicht als vollständig teleologisch bedingt erwiesen wäre. Dieser Schluss legt sich zwar vor allem im Ausgang von der kantischen These nahe, dass jedes moralische Sollen eigentlich ein Wollen sei, doch ist damit noch nicht behauptet, dass moralisches Sollen aufgrund seines notwendigen Bezugs zu einem ursprünglichen rationalen Wollen in einem Sinne zu rekonstruieren sei, welcher die Annahme des rationalen Grundstrebens des Vernunftwesens als auch unabhängig vom unbedingten Sollen als moralphilosophisch sinnvoll erweist. So wie im Kontext unserer Rekonstruktion der ethiktypologisch relevanten Merkmale der kantischen Vernunfttheorie das Streben der Vernunft nach dem praktisch Unbedingten als vernunftteleologisches Moment und die damit einhergehende Etablierung unbedingter praktischer Verbindlichkeit des von der reinen praktischen Vernunft Gebotenen als deontisches Moment zwei Aspekte von in letzter Konsequenz einem einheitlichen Grundzug von Kants Vernunftauffassung darstellten, so wenig naheliegend ist es, das rationale Wollen vom moralischen Sollen derart zu trennen, dass das Wollen als die vom Sollen vollkommen unabhängige Grundlage des letzteren rekonstruiert wird. Dagegen scheint es vielmehr sinnvoll zu sein, sowohl von einer gleichzeitigen Gegebenheit als auch wechselseitigen Bedingungsrelation beider Strukturen auszugehen, da das moralische Sollen die Form der Gegebenheit der Inhalte des rationalen Wollens darstellt: Zwar ist es einerseits zutreffend, dass das auf praktisch Unbedingtes ausgehende Streben als materiale Bedingung des Sollens und damit auch der Pflichten fungiert, doch betont Kant nicht nur in der MS die eminente Bedeutung der formalen Bedingung dieses Wollens durch die gegebenheitsmodale Modifikation seiner Inhalte, welche zur Struktur der Pflicht ihre Gründung in etwas absolut Wertvollem unbedingte praktische Verbindlichkeit für sich beanspruchen können. A

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führt. Er leitet daher das moralische Sollen nicht einfach von vernunftteleologischen Prämissen ab, sondern sowohl das vernünftige Wollen als auch das entsprechende Sollen gründen in der Idee der vernünftig begriffenen Menschenwürde, welche als unhintergehbarer Ursprung beider typologisch unterschiedlich klassifizierten Strukturstränge den systematischen Einheitspunkt von Wollen und Sollen markiert (dies wird vor allem bei der SKOM-These beachtet). Daher kann die Struktur der kantischen Ethik nur dann adäquat rekonstruiert werden, wenn man die beiden Ebenen des Wollens und Sollens immer in ihrer eigentümlichen Verbindung betrachtet und somit der wechselseitigen Bedingungsrelation von Vernunftzweck und Pflicht gerecht wird. 77 Insbesondere Wood weist in aller Deutlichkeit auf dieses Strukturmerkmal hin, wenn er moralische Zwecke und Pflichten dergestalt verbunden sieht, dass er von Moralzwecken direkt auf Pflichtbestimmungen schließt. 78 Daher scheint auch das in SD3 vorhandene Modell des Sittengesetzes als Expressionsmedium für den absoluten Wert der Menschheit der kantischen Ethik eher gerecht zu werden als die These Krämers (ST3), dass das Sittengesetz als Mittel zur Selbsterhaltung der rationalen Natur diene und sich daher durch eine spezifische Instrumentalität auszeichne. 79 Die sittengesetzliche Pflichterfüllung wird Ein weiterer diskussionswürdiger Aspekt von Krämers Ansatz besteht in seinem Argument gegen eine streng deontologische Klassifikation der kantischen Ethik: Jede deontologische Ethik sei durch eine akteurexterne Normativitätsquelle charakterisiert, sodass Kants Autonomielehre nicht dazu gezählt werden könne. Auch wenn man behaupten könnte, dass diese Position zu radikal sei, ist sie doch insofern partiell berechtigt, als bei Kant in der Tat nicht reines, d. h. von jeglichem Wollen des intelligibel betrachteten Akteurs unabhängiges Sollen, sondern eine spezifische Relation zwischen beiden vorliegt und diese zudem eine strukturbestimmende Funktion innehat. Dabei muss allerdings ein durch ein Subjekt konstituiertes Sollen nicht zwangsläufig zu einer nicht-deontologischen Ethik führen, da Kants Korrelationsmodell von Wollen und Sollen nicht alternativlos (wenn auch vielleicht plausibler als andere Möglichkeiten) ist. Daher ist das Argument Krämers in Bezug auf die kantische Ethik schlüssig, nicht unbedingt jedoch als These mit Anspruch auf allgemeine Gültigkeit. 78 Vgl.: Wood 1999, S. 195. 79 Die weiterführende These Krämers, dass in der Idee der Selbsterhaltung der vernünftigen Natur auch eine gewisse Vereinigung von Selbstliebe und Moralität stattfinde und daher kein Widerspruch zwischen dem Streben nach moralischer und individueller Vollkommenheit bzw. Verwirklichung bestehe, kann hier nicht gebührend behandelt werden. Allgemein kann man jedoch eine gewisse Verbindung dieser Gedanken zu Korsgaards Verhältnisbestimmung von Transzendentalaxiologie, Akteuridentität und Handlungsmotivation konstatieren, insofern man unter Selbstliebe die affirmativ ver77

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zwar auch in ST3 nicht dergestalt konsequentialistisch verstanden, als ob die durch das Sittengesetz bestimmte Handlung bzw. Maxime allein aufgrund ihrer zur Selbsterhaltung beitragenden Folgen moralisch gut zu nennen sei, doch selbst im Falle der Anwendung eines nicht-konsequentialistischen Mittelbegriffs bietet sich zur Rekonstruktion der Relation von Selbstzweck der rationalen Natur und Sittengesetz eher das Expressions- als das Instrumentalisierungsmodell an, da Mittel und Zweck im Kontext der Beförderung der rationalen Natur nicht hinreichend scharf unterscheidbar sind, um sie durch die Instrumentalisierungsvorstellung belasten zu können. Die in der ST-These fokussierte Zielvorstellung der Selbsterhaltung der rationalen Natur stellt m. E. eher ein Epiphänomen der unbedingt gebotenen Schätzung ihres absoluten Werts denn einen explizit handlungsleitenden Zweck dar. Die Bedeutung der teleologischen Reifizierung der Selbstzweckidee wird in Korsgaards Variante im Ausgang von der SZF damit begründet, dass sich die praktische Vernunft über den Weg eines Zwecks Einfluss auf das menschliche Handeln verschaffen müsse und schließt damit an die entsprechenden Ausführungen in der MS an. Die entscheidende Funktion der Selbstzweckidee besteht nach Korsgaard dementsprechend in der Bereitstellung eines rationalen Zwecks, der zum einen der kantischen Handlungsteleologie entgegenkomme (welche fasste Selbstbeziehung des Akteurs als eines wertsetzenden Wesens versteht, welche sich wiederum (quasi-objektreferentiell) in Form der unbedingten Schätzung des Sittengesetzes bzw. des Selbstzwecks der rationalen Natur in jeder Person manifestiert. Die sich selbst erhaltende Vernunft darf dann nicht als strategische, sondern allein als moralische verstanden werden. Krämer sieht durch die Verbindung von Selbstliebe und Moralität auch das seiner Ansicht nach besonders in deontologischer Auslegung virulente Motivationsproblem entschärft, da es in seiner Rekonstruktion nicht mehr allein um Gehorsam gegenüber einem Gesetz, sondern um die Verwirklichung des eigenen Selbst geht. Dieses Argument kann zumindest in dieser Form nicht vollends überzeugen, denn wenn es sich um eine Form moralischer Selbstliebe handeln soll, dürfte nach Kant zumindest rein begrifflich kein Widerspruch oder auch nur signifikanter Unterschied zwischen Selbstverwirklichung und sittengesetzlich adäquater Willkürbestimmung bestehen. Andererseits wäre die von Kant als der Moral hinderlich aufgefasste Selbstliebe kaum als moralisch zulässige Motivationshilfe aufzufassen. Wenn man zudem, von Krämer abweichend, unter die deontologischen Modelle auch Kants Autonomie-Ethik zählen will, scheint die Behandlung des Motivationsproblems bei Kant weniger von einem bestimmten typologischen Interpretationsschema, sondern vielmehr von der Frage der Plausibilität des rationalen Internalismus abhängig zu sein. Letztere ist in ethiktypologischer Hinsicht unspezifisch, sodass die Internalismus-Externalismus-Debatte von der ethiktypologischen Diskussion klar unterschieden werden muss. A

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von Kant auf eine menschliche Bedürfnisstruktur zurückgeführt wird) und zum anderen mit dem Konzept einer moralischen Handlung aus Pflicht kompatibel sei. Die Behandlung der SZF in Woods Variante der SD-These impliziert ebenfalls eine Rechtfertigung ihrer Relevanz unter Bezug auf die kantische Handlungsteleologie, doch tritt die SZF bei ihm vielmehr als Wertthese denn als primär vernunftteleologische Bestimmung auf, wenn er diese Formulierung des Kategorischen Imperativs weder als Regel noch als im strengen Sinne zu verwirklichendes ›telos‹, sondern als bereits existierenden und zu respektierenden Wert auffasst und die moralphilosophische Bedeutsamkeit expressiver Gründe betont. 80 In diesem Rahmen arbeitet er im Anschluss an Korsgaard ein m. E. fundamentales und ethiktypologisch zentrales Strukturmerkmal heraus: Auch wenn bei Kant unbedingt zu verfolgende Vernunftzwecke durchaus eine wichtige Rolle spielten, unterscheide sich dessen Ansatz von herkömmlichen teleologischen Ethiken dadurch, dass nicht nur verschiedene Objekte der Wertschätzung existierten, sondern das Vermögen der Wertschätzung und damit die Quelle aller Wertsetzungen selbst einen herausragenden Platz in der präsupponierten Wertordnung einnehme. Der Unterschied zwischen Wood und Korsgaard hinsichtlich der Frage der Zulässigkeit einer ernst und nicht nur metaphorisch gemeinten teleologischen Reifizierung des Selbstzwecks der rationalen Natur ist allerdings geringer zu veranschlagen, als es im Hinblick auf das soeben Gesagte vielleicht erscheinen könnte, da der Selbstzweck auch bei Korsgaard nicht als hervorzubringendes Objekt, sondern als höchster vernünftiger und zudem regulativer Orientierungspunkt aller Einzelzwecke rekonstruiert wird und insofern nichts vollkommen anderes als die Form eines stets zu respektierenden Werts darstellt. 81 Dennoch bleibt festzuhalten: Während Wood vor allem im Kontext der Tugendlehre und naturteleologischer Argumente von teleologischen Aspekten in der kantischen Ethik Vgl.: Wood 1999, S. 141. Handlungen auf dem Boden der SZF sollen nach Wood nicht etwas erzielen oder hervorbringen, sondern die Achtung vor der Menschenwürde ausdrücken. 81 Im Anschluss an das in Kapitel VIII Erläuterte könnte man die Art der über die Achtung des absoluten Werts vermittelten Verfolgung und Verwirklichung des Selbstzwecks insofern als spezifische Form der zweckbestimmten Strebenstätigkeit bezeichnen, als das Resultat der Achtung in entsprechenden Einzelzwecken besteht, welche wiederum zwar nicht den Selbstzweck als solchen umfassen, dieser sich in jenen jedoch indirekt manifestiert. 80

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spricht, stellt Korsgaard neben der Auffassung des Selbstzwecks der rationalen Natur als Wertursprung auch dessen teleologische Funktion klar heraus, auch wenn sie den negativen Charakter dieses Zwecks betont. Ihre diesbezüglichen Analysen werden daher der in vorliegender Untersuchung konstatierten Doppelfunktionalität des Selbstzwecks in einem höheren Maße gerecht als die tendenzielle Beschränkung der rationalen Natur auf einen primär nicht-teleologischen Wert bei Wood. Zudem darf hinsichtlich Woods Skizzierung des Selbstzwecks nicht vergessen werden, dass dieser selbst zwar in der Tat kein direktes Strebensobjekt darstellt, die empirischen Bedingungen seiner Beförderung jedoch durchaus konkrete Zwecke sind und in einem weiten Verständnis der Idee der rationalen Natur einen bestimmten Aspekt derselben ausmachen. Diese Bedingungen sind dabei, recht verstanden, nicht schon selbst der letzte Zweck, sondern werden aufgrund der Achtung vor dem vernünftigen Wesen angestrebt. Dies ändert jedoch nichts an der zuvor artikulierten Kritik an Cummiskey, der den Zweck der Schaffung solcher Bedingungen implizit gegen spezifische (u. a. sittengesetzliche) Implikationen der Selbstzweckidee auszuspielen versucht. Korsgaard bezieht sich in ihrer Rekonstruktion der Notwendigkeit von Zwecken für die konkrete menschliche Handlungsfähigkeit zu Recht auf ein Argument aus der MS, welches auf die Endlichkeit des Vernunftwesens Bezug nimmt, doch könnte man den Selbstzweck im Anschluss an die D-These (und damit gegen Korsgaard) entweder gar nicht als Zweck oder als nur behelfsmäßige Notkonstruktion betrachten. Denn wenn der Selbstzweck tatsächlich ein Zweck sein soll, wäre er unter dem Gesichtspunkt der Bedingtheit von Zwecksetzungen durch die menschliche Unvollkommenheit bedingt und erwiese sich in dieser Perspektive als apriorischer und unantastbarer Wertgrund letztlich als dysfunktional. Allerdings würde dies bedeuten, dass der Selbstzweck selbst und nicht nur seine Beförderungen durch die Schaffung entsprechender Bedingungen Pflicht sein müsste. – Diese Auslegung würde jedoch zu massiven Konflikten mit den einschlägigen Wertthesen z. B. der GMS und einer Idee der Pflicht der Menschenwürde führen, welche mit Kant in dieser Form nicht möglich ist, da es gerade nicht zu den Unvollkommenheiten des Vernunftwesens gehört, keine Würde zu besitzen. Im Gegenteil: Nur aufgrund der jedem Akteur eigenen Würde und deren apriorischer Verfasstheit kann es überhaupt zu einer Ethik der Autonomie kommen, in welcher Pflichten und VerA

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nunftzwecke unbedingt verbindlich sind. Wenn sich auch alle weiteren Zwecke bei Kant menschlicher Defizienz qua Endlichkeit verdanken sollen, kann doch die Idee des Selbstzwecks der rationalen Natur niemals konsistent dieser Zweckkategorie zugerechnet werden, sondern stellt vielmehr die Idee einer Form von Vollkommenheit dar, welche die übrigen Strebenskontexte des Menschen erst als defizitär erscheinen lässt. 82 Ad b): Wertbestimmungen spielen überraschenderweise in der SD-These eine größere Rolle als in ihrem teleologischen Pendant. Man kann geradezu sagen, dass der Wert der rationalen Natur bei Korsgaard und Wood von zentraler Bedeutung ist, während sich Krämer in seiner schwach-teleologischen, vor allem auf die stoischen Wurzeln fundamentaler kantischer Begriffe verweisenden Interpretation zwar u. a. auch auf die Begriffe der ›Würde‹ und des ›Selbstzwecks‹ bezieht, insgesamt jedoch weniger explizit über die Frage der axiologischen Fundierung reflektiert. Die Behandlung der Wertproblematik wird, wie bereits in Punkt (a) angesprochen, insbesondere in Korsgaards Ausarbeitung der SD-These differenziert gestaltet, da sie den Selbstzweck der Menschheit zum einen als apriorisches Konstitutionsmoment der praktischen Identität des Akteurs, zum anderen in Form des grundsätzlichen Vernunftzwecks als zu verwirklichende Wertvorstellung auffasst. Aufgrund dieser zweifachen Perspektive vermeidet ihre schwach-deontologische Interpretation den Fehler der Betonung entweder nur der axiologischen oder der vernunftteleologischen Gegebenheitsweise der Idee der Vernünftigkeit. Dadurch berücksichtigt sie nicht nur deren teleologische Reifizierung, sondern ebenso diejenigen Aussagen Kants, welche den Selbstzweck als ein immer schon vorauszusetzendes Akteurmerkmal charakterisieren und dadurch als jeglichem Strebenszugriff entzogen darstellen. Dieses letzte Moment wird auf modifizierte Weise in Trampotas Fassung der D-These zwar über Gebühr in den Mittelpunkt gestellt, doch ist es nicht nur in typologischer Hinsicht von Bedeutung, sondern man muss sagen, dass eine Rekonstruktion des Akteurbegriffs ohne zentrale Rolle des Selbstzwecks nicht auf Kant zurückzuführen ist. Diese Gegebenheit des Selbstzwecks als apriorischer Wertgrund und identitätskonstitutive Akteureigenschaft bezeichnet dabei den nicht-teleologischen Kern der kantiVgl. zur Differenz von den objektiven Zwecken der MS und der Selbstzweckkonzeption: Schmucker 1955, S. 177.

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schen Ethik weitaus eher als der Pflichtbegriff, da dieser im Gegensatz zu jenem in untrennbarer Verbindung zum Zweckbegriff steht, während das Selbstzweckkonzept als praktischer Identitätsgrund 83 nicht angestrebt und daher auch nicht im strengen Sinne als Zweck bezeichnet werden kann. Diese Form der Selbstzweckhaftigkeit ist dabei nicht zufällig Wertgrund des Kategorischen Imperativs und entscheidendes Identitätsmerkmal des Akteurs zugleich, sondern in dieser doppelten Bestimmung schlägt sich die kantische Annahme nieder, dass das Wesen des Menschen (praktisch-)vernünftig und unbedingt wertvoll ist, d. h. in der Autonomie besteht. Die Subthese SD6 umfasst als Beitrag zur Einordnung der Relevanz von Werten jedoch nicht nur Korsgaards und Woods Betonung des Werts der rationalen Natur, sondern auch der im bisherigen Verlauf dieser Untersuchung weniger beachtete Rawls zählt zu den schwach-deontologischen Interpreten, da auch er von der Notwendigkeit der Annahme einer nicht mit dem Sittengesetz identischen Konzeption des Guten bei Kant ausgeht. Im Unterschied zu den genannten Varianten hebt er jedoch das Gut des Reichs der Zwecke als empirischsoziales Ideal sowie diejenigen menschlichen Bedürfnisse hervor, welche im Falle ihrer Erfüllung einem nicht nur moralischen, sondern vielmehr genussvollen Leben zuträglich sind. 84 Ähnlich wie er hebt auch Wood mit seiner mehrfachen Betonung der Relevanz von naturteleologischen Ansätzen hervor, dass bei Kant neben dem moralisch Guten auch bestimmte Anlagen und Bedürfnisse der natürlich-empiKorsgaards Verhältnisbestimmung der beiden Begründungsansätze in der GMS und der KpV steht insofern ganz unter dem Einfluss ihres antirealistischen Zugangs, als sie die diesbezügliche Kernaussage der GMS als Denknotwendigkeit der Freiheit auffasst, welche in der Faktumslehre der KpV zur Wirklichkeitsgewissheit der Kausalität einer praktischen Vernunft wird. Demnach ordnet sie die meist ontologisch rekonstruierte Rede eines Daseins mit absolutem Wert der transzendental-reflexiv zu erschließenden Perspektive des handelnden Akteurs unter, wobei allerdings auch die Möglichkeit besteht, die kantische Daseins-Behauptung stärker in den Rahmen der handlungstheoretischen Als-ob-Perspektive zu stellen, auch wenn dieses Vorgehen aus der Sicht einer streng wörtlichen Interpretation natürlich anfechtbar ist. Wenn man jedoch unter dem an dieser Stelle verwendeten Daseinsbegriff eine Form nicht theoretischen, sondern genuin praktischen Seins versteht und die entsprechende Passage als transzendentalapriorische Existenzaussage im handlungstheoretischen Kontext behandelt, ergibt sich zum einen nicht das interpretatorische Problem eines plötzlichen ontologischen Ausbruchs oder Rückfalls Kants, und es ist zum anderen besser vereinbar mit der ebenfalls in der GMS eingenommenen Perspektive der strikt akteurrelativen Denknotwendigkeit. 84 Vgl. dazu: Düsing 2003, S. 237. 83

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risch verfassten Existenzdimension eine wichtige Rolle spielen. Die Argumentation für die Notwendigkeit des Ideals des Reichs der Zwecke wird von Rawls allerdings in Strukturanalogie zu derjenigen Korsgaards für die Notwendigkeit von vernünftigen Zwecken geführt: Das Reich der Zwecke als weltliches Ideal sei gefordert, um den Willen eines rationalen Akteurs inhaltlich bestimmen zu können. Auch wenn Rawls und Wood beide auf eine adäquate Verhältnisbestimmung von vernünftigem und natürlichem Guten bedacht sind, gehen sie nicht identisch vor: Während Rawls die wahren menschlichen Bedürfnisse dem moralisch Gebotenen eher beiordnet, das Reich der Zwecke als Moralverwirklichung im Bereich des Sozialen (d. h. unter der Bedingung sozialer Bedürfnisse) begreift und daher insgesamt primär um eine konkrete Beschreibung des Ideals des höchsten Guts als Glückswürdigkeit bemüht zu sein scheint, zeigen die diesbezüglichen Ausführungen Woods, dass er z. B. von der Abhängigkeit des Inhalts der Selbstzweckformel von der empirischen Verfasstheit des Menschen überzeugt ist, sodass hier eher ein Versuch der konkreten Bestimmung der Menschenwürde, nicht jedoch primär von deren Vereinbarkeit mit dem Glücksstreben vorliegt. Beide Zugangsweisen unterscheiden sich dennoch nur oberflächlich und nicht hinsichtlich des eigentlichen Gehalts ihrer Hauptaussagen, denn die Beförderung von Glückswürdigkeit und die konkrete Lebensgestaltung unter der leitenden Zweckvorstellung der Achtung der Würde des Vernunftwesens sind von Kant her insofern nicht zu trennen, als das Ideal des höchsten Guts als Vorstellung der Achtung der Menschenwürde unter den Bedingungen menschlichen Glücksstrebens begriffen werden kann. Die Berechtigung dieser Berücksichtigung der empirischen Einschränkungen menschlicher Anstrengungen auf dem Gebiet der Moral erweist sich dabei schon grundsätzlich im Hinblick auf die kantische Doppelaspekt-Lehre vom Menschen, welche die Zurkenntnisnahme seiner auch sinnlichen Verfasstheit und Endlichkeit erfordert. Auch wenn Rawls diesem Umstand mit seinen natürlichen Konzeptionen des Guten Rechnung trägt, ist seine rein empirische Auffassung des Reichs der Zwecke jedoch insofern potentiell (vor allem in typologischer Hinsicht) irreführend, als ein Kategorischer Imperativ im Sinne Kants niemals primär oder gar allein einen ›weltlichen Zweck‹ gebietet, sondern sich zuerst und vorrangig auf die Maximen des Akteurs und somit auf die Verwirklichung des damit verbundenen Vernunftzwecks auf der Ebene der Willkür und nicht in der Außen502

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welt 85 bezieht. Andernfalls (wie z. B. bei Rawls) könnte man zur Vermutung gelangen, dass die SZF im Sinne von Cummiskeys K-These in erster Linie einen unbedingt zu verfolgenden, gegenständlichen Zweck als Ziel moralischen Handelns etabliere und die adäquate Wahl der Mittel eine andere Angelegenheit darstelle. Die empirischen Aspekte bzw. Implikationen der Idee eines Reichs der Zwecke wie z. B. ein ihm förderliches Staatswesen oder eine entsprechende Erziehung stellen nach Kant streng genommen den Inhalt moralisch gerechtfertigter Hoffnungen dar, welche wiederum auf das Gottespostulat und eine vom moralischen Welturheber geschaffene und daher potentiell auch empirisch sittengesetzlich adäquate Welt verweisen. Demnach mag das weltlich verstandene Ideal des Reichs der Zwecke auf Rawls’ eigene Konzeption hindeuten, doch erfasst es nicht den ganzen Sinn des von Kant Intendierten. Wood dagegen behauptet mit dem postulierten empirisch bedingten Inhalt der SZF nichts anderes als ein deontologischer Interpret, wenn dieser auf den empirischen Bezug des Pflichtbegriffs unter Berücksichtigung von dessen Prinzipiierung durch den Kategorischen Imperativ aufmerksam macht. Weder die UF noch die SZF sind von ihrer strukturellen Beschaffenheit her von empirischen Bedürfnissen etc. abhängig, sondern gebieten die Gesetzmäßigkeit der Maximen bzw. die Achtung der universalen Menschenwürde in allen Handlungsgrundsätzen. Wenn man die SZF als Imperativ versteht, der die Verwirklichung eines höchsten anzustrebenden Vernunftzwecks gebietet, indem er als formales Kriterium aller weiteren Zwecksetzungen fungiert, dann gilt von ihm dasselbe, was Wagner vom Sinn des kantischen Formalismus als solchem aussagt: Der Kategorische Imperativ ist demnach in demjenigen Sinne formal, dass er das Kriterium zum eigenständigen Auffinden der moralisch adäquaten Inhalte durch den Akteur darstellt. 86 Von daher ist im Übrigen auch Hermans These korrekt, dass der Kategorische Imperativ einen rationalen Inhalt aufweist, da der Akteur nur unter Benutzung seiner praktischen Vernunft und Urteilskraft zur Adaptierung sittengesetzlicher Maximen gelanMir ist bewusst, dass die Trennung von Willkür und Außenwelt nicht ganz unproblematisch ist, doch ist eine genauere Analyse dieses Themenfeldes an dieser Stelle nicht praktikabel. Dennoch sprechen zumindest die nicht-physische und in diesem Sinne ungegenständliche Seinsweise der Willkür als Vermögen für eine weitgehende Differenzierung beider Begriffe. 86 Vgl.: Wagner 1980, S. 343. 85

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gen kann. Um sich moralisch adäquate Zwecke setzen zu können, muss der Akteur notwendigerweise unter der Vielzahl möglicher Zwecksetzungen die richtigen auswählen, wobei es sich auch im Falle von rein intellektuellen Zwecken, wie z. B. der eigenen geistigen Weiterentwicklung, um Handlungsgrundsätze mit empirischem Gehalt handeln muss. 87 Zu einem Konflikt mit der Grundstruktur der kantischen Ethik würde es allenfalls kommen, wenn das Moralprinzip selbst als nicht nur erfahrungsbezogen, sondern erfahrungsbasiert verstanden würde: Die Behauptung der empirischen Konstituiertheit des Inhalts der SZF und nicht nur ihrer Verwirklichungsbedingungen würde dabei streng genommen die These implizieren, dass es sich bei der SZF gar nicht um einen unbedingt gebietenden Imperativ handeln kann, da schon der Inhalt des Moralprinzips selbst durch Kontingentes bedingt würde und entsprechende Sollensforderungen in einen naturteleologischen Horizont eingebettet wären. De facto bezieht sich Wood trotz der vielleicht missverständlichen Ausdrucksweise jedoch allein auf die Verwirklichungsbedingungen der Selbstzweckidee und zweifelt ihren apriorisch-unbedingten Geltungsstatus nicht an. Dass konkrete moralische Pflichten und Zwecke nach Kant als solche stets über empirische Anteile verfügen müssen, wird bereits aus dem Ausschluss des Pflichtbegriffs aus der ›reinen‹ Moralphilosophie in der KrV ersichtlich, 88 und insofern man weder Rawls noch Wood eine empiristische Unterminierung der Kategorizität des Sittengesetzes bzw. Kategorischen Imperativs unterstellen will, bedeutet die These von empirischen Aspekten des Gehalts der Selbstzweckformel keine ethiktypologisch verfängliche Behauptung, sondern kann unmittelbar mit kantischen Aussagen belegt werden. Insofern man sogar transzendental-reflexiv erschlossene Inhalte aufgrund der empirischen Ausgangsbasis zu den Erfahrungsaspekten der kantischen Ethik zählen will, wäre auch der als handlungstheoretisch und identitätstheoretisch konstitutiv rekonstruierte Selbstzweck der rationalen Natur eine Form empirischen Gehalts. Allerdings ist eine solche Auffassung m. E. nicht sinnvoll, da transzendental-reflexiv erarbeitete Gehalte im kantischen Kontext zwar theoretisch die Tatsächlichkeit von Erfahrungen und praktisch die Wirklichkeit von Handlungen voraussetzen, die jeweils empirischen Aussagen jedoch ihrerseits erst ermöglichen und deren Materialität daher nicht selbst empirisch beschaffen sein kann. – Wären sie selbst durch empirischen Inhalt charakterisiert, könnten sie zu den durch sie ermöglichten empirischen Inhalten allein in einer rein semantischen Inklusionsrelation oder einer herkömmlichen Kausalbeziehung stehen. Beides hat mit transzendentallogischer Reflexivität nichts zu tun. 88 Vgl.: KrV B 28 f.; vgl.: Höffe 1992, S. 148 f. 87

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Ad (c): Sowohl die schwache Deontologie- als auch die schwache Teleologie-These kommen darin überein, dass der moralische Wert einer Handlung nicht von den mit ihr erzielten Folgen abhängt und daher keine Form des Konsequentialismus vorliegt. Entscheidend ist hier die Differenz von Teleologie und Konsequentialismus: Vor allem im Kontext der ST-These kann nicht von einer strikten Unabhängigkeit des moralischen Handlungswerts von seiner Relation zur kantischen Vernunftteleologie gesprochen werden, denn der Kategorische Imperativ und die entsprechenden Sollensforderungen werden bei Krämer als Ausdruck genuin strebensethischer Fundamentalstrukturen gedeutet. Doch auch in der SD-These (insbesondere bei Korsgaard) wird die Mitgliedschaft im Reich der Zwecke als Konkretisierung der motivierenden Idee der intelligiblen Existenz als moralischer Zweck aufgefasst, welcher jedoch nicht in Konflikt mit dem sittengesetzlich Gebotenen geraten können soll. Auch wenn Korsgaard zu Recht keinen unmittelbaren Widerspruch oder eine grundlegende Inkompatibilität von Vernunftzwecken, aus der Struktur der Vernunft resultierenden Wertsetzungen und Deontologie konstatiert und Herman den Deontologiebegriff allein schon im Hinblick auf die axiologischen Aspekte der kantischen Ethik ablehnt, kommen ihre beiden Klassifikationsthesen darin überein, dass der Selbstzweck der rationalen Natur bzw. die Achtung der intelligiblen Existenz nur unmittelbar, d. h. mittels einer sittengesetzlichen Bestimmung der Willkür aus Achtung des Selbstzwecks adäquat verfolgt werden kann. Vernunftteleologie und unmittelbar sittengesetzliche Willensbestimmung fallen hier letztlich zusammen. In dieser Hinsicht kommt ein positiver Aspekt der im Übrigen aus genannten Gründen problematischen T-These zum Tragen, denn Herman expliziert mit aller Deutlichkeit, dass Sittengesetz und Kategorischer Imperativ keineswegs als inhaltslos und einer teleologischen Reifizierung prinzipiell entzogen, sondern vielmehr als durch einen rein rationalen Gehalt bestimmt und daher mit einer spezifischen Form von Vergegenständlichung kompatibel rekonstruiert werden müssen. 89 Zwar sollten der apriorische Wertgrund des Kategorischen Imperativs und der Vernunftzweck der rationalen Natur in Form der SelbstzweckforZwar ist Hermans teleologische Reifizierung des Sittengesetzes bereits in IX.1.2 auch kritisch betrachtet worden, da die dort zugrundegelegte Vorstellung von Gegenständlichkeit nicht von selbst einleuchtet und näherer Erläuterung bedarf, doch kann ihre These des rationalen Gehalts von Sittengesetz und KI m. E. unabhängig von diesem Punkt als plausibel angesehen werden.

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mel m. E. klarer als bei Herman auseinander gehalten werden, doch zeigt sich nicht nur bei den gemäßigten Thesen, sondern auch in dezidiert antideontologischen Klassifikationskontexten, dass Vernunftteleologie und Konsequentialismus trotz ihrer beider Bezugnahme auf Zwecke scharf unterschieden werden müssen, um den kantischen Ethiktyp hinreichend präzise erfassen zu können. Diese terminologische Unterscheidung wird z. B. in Woods Variante der SD-These nicht ausreichend beachtet, sodass er an einer Stelle von dem teleologischen Charakter der Tugendlehre und wenig später von einer dort vorhandenen konsequentialistischen Argumentationsweise spricht. Tatsächlich scheint Wood jedoch nicht eine konsequentialistische, sondern eine nur vernunftteleologische Argumentationsstrategie bei Kant auszumachen, wenn er über die ethische Pflichtenlehre sagt, dass sie zwar hinsichtlich ihrer Argumentationsform, nicht jedoch des ihr zugrundeliegenden Prinzips konsequentialistisch sei, da er letzteres mit dem Argument begründet, dass die Art und Weise, wie Kant zu den jeweiligen Zwecken gelangt, nicht konsequentialistisch sei. De facto behauptet Wood demnach nichts anderes, als dass auch die Tugendlehre allein sittengesetzlich gebotene Zwecke beinhaltet und daher keine Relativierung des damit verbundenen Handlungswerts durch dessen Konsequenzdependenz resultiert. Diese Interpretation wird durch einen weiteren und für die Frage nach der Berechtigung einer konsequentialistischen Lesart unmittelbar relevanten Aspekt der SD-These Woods gestützt: Er argumentiert, dass man nach Kant auch dann nicht lügen dürfe, wenn dadurch die moralische Vollkommenheit befördert würde, da Kants Zwecklehre kein Maximierungsprinzip impliziere. 90 Man sieht sofort, dass dieses Argument Woods eine implizite Kritik an Cummiskeys K-These darstellt und in Übereinstimmung mit der vorliegenden Untersuchung für die Unhaltbarkeit jeder Position spricht, welche die Zulässigkeit der Aufhebung der unbedingten Verbindlichkeit grundlegender Pflichten als Mittel zur Erreichung angeblich höherstehender Zwecke impliziert. Allerdings begründet Wood dieses Resultat nicht mit der unzulässigen Trennung bzw. Gegenüberstellung des sittengesetzlich Gebotenen und des der Beförderung des Selbstzwecks Förderlichen, sondern mit dem Fehlen einer ethisch relevanten Maximierungsforderung. Demnach sei es nach Kant moralisch nicht zulässig oder gar geboten, wissentlich die Unwahrheit zu sagen, 90

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Vgl.: Wood 1999, S. 414 Anm. 16.

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Zusammenfassung: Axiologie, Vernunftteleologie und Deontologie

da kein Gebot gebiete, die eigene Vollkommenheit nicht nur zu befördern, sondern unbedingt zu maximieren – Cummiskeys K-These dagegen impliziert, dass die Pointe der kantischen Ethik in der Maximierung der Achtung der rationalen Natur besteht und das sittengesetzlich Gebotene daher immer im Dienste dieser übergeordneten Zweckbestimmung stehen muss. Grundsätzlich wäre es unsinnig, jeglichen Maximierungsgedanken aus der kantischen Ethik ausschließen zu wollen, da man die Idee der persönlichen moralischen Vollkommenheit durchaus als regulative Maximierungsidee verstehen kann, ohne damit die Verbindlichkeit von Pflichten anzutasten. Das Argument Woods funktioniert daher nur in derjenigen Perspektive, dass die Annahme eines unbedingten Maximierungsgebots eine Lüge rechtfertigen könnte, nicht aber eine durch die sittengesetzlichen Pflichten bedingte Maximierungsforderung. Dementsprechend soll sich der Akteur nach Kant zwar um die ihm bestmögliche (maximale) Beförderung des höchsten Guts bzw. der rationalen Natur bemühen, doch impliziert dieser Gedanke bereits die prinzipielle und daher nicht relativ-optionale Binnenrestriktion der diese Zwecke verfolgenden Handlungen, sodass auch die Wahl der Mittel immer schon unter sittengesetzlichen Ansprüchen steht. Abgesehen davon, dass weder teleologische noch konsequentialistische Ethiken nur unter der Voraussetzung eines Maximierungsprinzips denkbar sind, muss der besagte Kritikpunkt Woods also dahingehend präzisiert werden, dass nicht die Annahme eines solchen Prinzips überhaupt, sondern nur eines den deontologischen Restriktionen übergeordneten, unbedingt verbindlichen Maximierungsgebots zu Konflikten mit dem Lügenverbot führen könnte. Anstelle eines gesonderten Fazits zur SD- und ST-These wird in der folgenden Zusammenfassung eine pointierte Bewertung dieser beiden Interpretationsperspektiven vorgenommen, wobei ihre Stärken als Ausgangspunkt einer abschließenden typologischen Einordnung der kantischen Ethik fungieren.

IX.6 Zusammenfassung: Axiologie, Vernunftteleologie und Deontologie Die kritische Prüfung der Hauptthesen des aktuellen Typologie-Diskurses um die kantische Ethik hat insgesamt ergeben, dass einzig die SD- und ST-These eine systematische Verhältnisbestimmung von A

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Kritik der Klassifikationen der kantischen Ethik in der aktuellen Diskussion

Werten, Zwecken und Pflichten implizieren, die sich in dieser Form in Kants kritischen Hauptschriften zur Moralphilosophie hinreichend belegen und rekonstruieren lässt. Dabei muss der SD-These trotz der Berechtigung auch einer schwach-teleologischen Klassifikation in Anbetracht der spezifischen vorliegenden Ansätze vor allem deswegen ein gewisser Vorzug gewährt werden, weil Krämer in seiner Variante der ST-These nicht alle Aspekte seines Ansatzes (wie z. B. das Konzept der Selbsterhaltung) mit optimaler Transparenz entwickelt und u. a. die gegebenheitsmodalen Modifikationen axiologischer Elemente weniger differenziert rekonstruiert als z. B. Korsgaard. Das durch die Subthesen der ST-These definierte systematische Spektrum lässt jedoch auch Formen der schwach-teleologischen Klassifikation zu, welche nicht durch die genannten Merkmale von Krämers Variante beeinträchtigt werden, sodass sowohl die SD- als auch die ST-These, verstanden als jeweils ganzheitliche Relationskomplexe der entsprechenden Subthesen, schon je für sich einen belastbaren Klassifikationsansatz darstellen. In der Zusammenschau beider Thesen wird jedoch umso deutlicher, wie eng, subtil und zudem verschiedenartig Werte, Zwecke und Pflichten bei Kant verknüpft sind. 91 Abschließend stellt sich die Frage, was die Plausibilität sowohl einer schwach-deontologischen als auch schwach-teleologischen Klassifikation für die Struktur der kantischen Ethik und die ethiktypologische Begriffsbildung zu bedeuten hat. Diesbezüglich ist zu konstatieren, dass die Bezeichnung der kantischen Ethik als ›deontologisch‹ nur insofern berechtigt ist, als man mit diesem Terminus praktisch notwendige Zwecke und Werte nicht ausschließt: Wenn man entweder den Selbstzweck der rationalen Natur oder die unbedingt verbindlichen Zweckbestimmungen aus ihr verbannt oder für irrelevant erklärt, bleibt nicht nur nichts Axiologisches oder Vernunftteleologisches mehr übrig, sondern auch das angeblich eigenständige Deontologische verflüchtigt sich. Vor dem Hintergrund der Resultate der vorliegenden Untersuchung ist dies allerdings keine Überraschung, denn ohne die praktisch-geltungstheoretischen Implikationen des Konzepts des abso-

Beide Thesen stellen in gewisser Weise jeweils für sich eine Form der Synthese der Dund T-These dar, denn aus einer konsequenten und ausgewogenen Betrachtung beider starken Varianten resultiert notwendigerweise eine Abschwächung von D1 bzw. T1, was wiederum den Blick für die Relevanz typologisch jeweils entgegengesetzter Aspekte weitet.

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Zusammenfassung: Axiologie, Vernunftteleologie und Deontologie

luten Werts und ohne die durch Vernunft gebotenen Zwecke haben auch die vermeintlich rein deontischen Elemente wie der Kategorische Imperativ oder der kantische Pflichtbegriff keinerlei Fundament bzw. praktische Substanz mehr. Dieser Befund steht jedoch keineswegs im direkten Widerspruch zu vielen systematischen Merkmalen, die der kantischen Ethik auch von Vertretern der D-These zugeschrieben werden: Das oberste Moralprinzip sei unbedingt verbindlich, das moralisch Gebotene gelte unabhängig von subjektiven Neigungen und Interessen, das Sittengesetz schreibe nicht einzelne Handlungen, sondern allgemeine Handlungsweisen bzw. -grundsätze vor, der moralische Wert der Handlung sei unabhängig von ihren Folgen etc. Auch eine stark-deontologische Klassifikation hält demnach an Grundaussagen der kantischen Ethik fest, welche nicht nur mit der SD- und ST-These, sondern sogar der T-These vereinbar sind. Wenn man demnach vorrangig an der Herausstellung der Bedeutung und Originalität der kantischen Kernaussagen im Vergleich etwa zu naturteleologischen oder hedonistischen Ethiken interessiert ist, sollte man den Terminus der ›Deontologie‹ nicht dergestalt auslegen, dass er per definitionem einen radikalen Bruch mit bewährten und durchaus hochentwickelten Ethikmodellen der philosophischen Tradition anzeigen muss. Daher kann auch dem externalistisch bestimmten Deontologiebegriff Krämers insofern eine gewisse Berechtigung nicht abgesprochen werden, als er als Ausdruck der Einsicht fungiert, dass es grundsätzlich keine rein deontologische (›moderne‹) Ethik geben kann, die als Ethik der Autonomie unter der Voraussetzung einer teleologischen Handlungstheorie konzipiert ist. Nicht also nur angesichts der großen Ähnlichkeit der hier als gleichermaßen legitim beurteilten SD- und ST-These, sondern darüber hinaus aufgrund der von Krämer artikulierten Zweifel an der begrifflich gegebenen Möglichkeit einer deontologischen Klassifikation der kantischen Ethik muss man sich fragen, was denn bei all den konstatierten axiologischen und vernunftteleologischen Bezügen des Pflichtbegriffs dasjenige eigentlich noch sein kann, was Kants Ethik als deontologisches und nicht nur rein vernunftteleologisches Modell auszeichnen soll. Wenn man dieses Problem vor allem angesichts der rationalen Willensteleologie Platons 92 und der axiologischen Vernunfttheorie Vgl. zu Parallelen von Kants Argumentation für die unbedingte Gutheit des guten Willens und den Ausführungen des platonischen Sokrates zur Weisheit im ›Menon‹ und ›Euthydemos‹ : Engstrom 1997, S. 21.

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der Stoiker 93 noch schärfer formulieren will, muss man fragen: Was ist das strukturell Signifikante an der kantischen Ethik? Die kantische Ethik zeichnet sich m. E. weder allein durch die Vernunftteleologie oder die Wertidee des Selbstzwecks der rationalen Natur, noch den Begriff der ›Pflicht‹ oder die These der Unbedingtheit des moralisch Gebotenen aus, sondern das Charakteristische kann immer nur als die Beziehung dieser verschiedenen Aspekte aufeinander bestimmt werden. Konkreter heißt dies aber: das Besondere der kantischen Ethik besteht in der Verbindung des aus der Tradition der Ethik bekannten, jedoch transzendental transformierten Wertbegriffs der Vernunft mit einer Vernunftteleologie der Autonomie. 94 Dieser axiologisch begründeten Vernunftteleologie der Autonomie wurde m. E. nicht primär aufgrund ihrer axiologischen oder objektreferentiellen vernunftteleologischen Aspekte, sondern wegen der Relation dieser Aspekte die Bezeichnung einer besonderen Form der deontologischen Ethik verliehen. Das genuin deontologische Moment der kantischen Ethik wird häufig darin gesehen, dass der Akteur keiner Zweckvorstellung als normativitätsvermittelnder und, aufgrund dieses Vermittlungsaspekts, ihm selbst äußerlicher Instanz folgen muss, um moralisch zu sein, sondern sich der unmittelbar gebietenden Instanz des Sittengesetzes gegenüber verantwortlich weiß. Die nicht konsistent negierbare Akteuridentität als unhintergehbare Wertquelle 95 ist dabei Vgl. zu Parallelen von stoischer und kantischer Ethik: Horn 1998, S. 212; vgl. dagegen zu Unterschieden im Begriff des ›Guten‹ bei den Stoikern und Kant: Forschner 1998, S. 46. 94 Als durchaus zutreffend erweisen sich daher Kerstings Aussagen, die darauf abheben, dass Kants »ethische Teleologie nicht endzustandsorientiert, sondern deontologischen Zuschnitts« ist; vgl.: Kersting 2004, S. 225; vgl. ebenfalls die Bezeichnung der kantischen Ethik als ›deontologische Teleologie‹ in: Dreier 1981, S. 297. 95 Da der Selbstzweck der rationalen Natur nicht aus der Natur, von subjektiv-kontingenten Antrieben oder einer externen göttlichen Instanz stammt und somit nicht von außen an den Akteur herangetragen wird, sondern der eigenen handelnden Vernunft als dem eigentlichen Selbst des praktischen Subjekts eigen ist, besitzt das Akteurvermögen der unbedingten Wertschätzung des Selbstzwecks qua Freiheit die Eigenschaft, auch im Falle seiner Negation mit Notwendigkeit bejaht werden zu müssen, da auch eine Negation des eigenen rationalen Wesens als freies Werturteil (dies ist die hier notwendig vorauszusetzende Geltungsbedingung einer solchen Negation) stets einen Ausdruck der praktischen Vernünftigkeit des Akteurs und somit deren implizite Affirmation darstellt. Eine Voraussetzung, welche sich sogar für den Reflexionsakt ihrer Selbstnegation als unentbehrlich erweist, besitzt den höchsten Grad an Vernunftnotwendigkeit, der für ein endliches Vernunftwesen fassbar ist. Insofern spiegelt sich der von Kant postulierte 93

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Zusammenfassung: Axiologie, Vernunftteleologie und Deontologie

eine andere Bezeichnung für den Selbstzweck bzw. absoluten Wert der rationalen Natur. Aus der bei Kant angedeuteten Relation von Selbstzweck und Selbstgesetzgebung einerseits sowie einzelnen Vernunftzwecken und Pflichten andererseits ergibt sich das folgende Szenario: So wie man in bestimmter Perspektive den Selbstzweck der Menschheit als höchststufigen praktischen Vernunftzweck begreifen kann, der auf alle einzelnen Zwecksetzungen zu beziehen ist, kann man das Prinzip der Selbstgesetzgebung als höchststufiges Gesetz verstehen, welches für jede Willkürbestimmung und die entsprechend gewählten Maximen verbindlich gültig ist. Weder der Selbstzweck noch die Selbstgesetzgebung sind dabei für den Akteur auf irgendeine Weise optional, sondern stellen apriorische und daher allein transzendental-reflexiv zu erschließende Konstitutiva der praktischen Existenzform dar. Diese transzendental-apriorische Implementierung sowohl der Selbstzweckidee als auch des Autonomieprinzips in das grundlegende Konzept der Person in Verbindung mit der praktisch-funktionalen Auszeichnung der Person als absolut wertvoller Grund des moralisch Gebotenen und Anzustrebenden stellt demnach einen strukturell signifikanten Unterschied zu einer bloßen praktischen Vernunftteleologie dar, da die Form der Etablierung praktischer Geltung unmittelbar mit dem Gehalt des moralisch Gebotenen verbunden ist: Ersteres geschieht durch Selbstgesetzgebung und somit durch selbstreferentielle praktische Akte, während letzteres aus der damit verbundenen praktischen Reflexion auf den Selbstzweck der eigenen und dennoch universalen rationalen Natur resultiert. 96 Eine nicht-kantische vernunftteleologiabsolute Wert des praktischen Subjekts in reflexionsprozeduraler Hinsicht unter dem Aspekt seiner praktisch-rationalen Unaufhebbarkeit wider. Im Vergleich mit naturethischen und theologisch fundierten Modellen erweist sich die kantische Ethik als weniger voraussetzungsvoll als die genannten Alternativen, da die präsupponierte Akteuridentität zwar partiell mit Prädikationen versehen wird, welche in früheren Ethiktraditionen allein Gott zugesprochen wurden, doch kann kaum bestritten werden, dass eine Ethik ohne die Vorstellung eines Akteurs, der als Adressat der jeweiligen moralischen Maßgaben fungieren kann, als schlichtweg unplausibel, da schon in sich inkohärent bezeichnet werden muss. 96 Auch wenn eine detaillierte Bestimmung des begründungstheoretischen und normfunktionalen Zusammenhangs von Selbstzweck, Freiheit und Autonomie den Rahmen einer eigenen Studie erfordert, können alle drei Konzepte mit Kant als Geltungsgrund des Sittengesetzes/KI und als maßgebliches praktisch-vernünftiges Verwirklichungsobjekt des Akteurs rekonstruiert werden, was auf eine tiefenstrukturelle Relation zwischen ihnen verweist. A

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sche Ethik ist dagegen auch ohne diesen strukturellen Zusammenhang denkbar: Praktisch relevante Vernunftzwecke können auch von autoritativen Instanzen abgeleitet oder empfangen werden, die nicht transzendental-reflexiv in der Struktur des Adressaten verortet werden können. 97 Dementsprechend wäre es in solchen Modellen stets berechtigt, trotz der Anerkennung des Bestehens der jeweiligen Vernunftzwecke danach zu fragen, warum sie unbedingt für alle Vernunftwesen verbindlich sein sollten. Dagegen werden vernunftteleologische Elemente nach der kantischen Systematik aus struktureller Notwendigkeit und damit unmittelbar zu verbindlichen Pflichten für den Akteur und somit zu deontologischen Elementen, da es keinen äußerlich vermittelnden Reflexionsschritt zwischen der Konstatierung von vernünftig gebotenen Zwecken und der Etablierung ihrer praktischen Gebietungsfunktion bzw. ihrer handlungsbezogenen Normativität für den die Vernunftgebotenheit dieser Zwecke einsehenden Akteur gibt. 98 Als allgemeiner Unterschied zwischen einer reinen Vernunftteleologie und der kantischen Deontologie ist daher festzuhalten, dass man erstere im Gegensatz zur letzteren auch allein oder primär deskriptiv auffassen kann: Aus der Struktur reiner praktischer Vernunft resultieren bestimmte Zwecke, die allein deswegen für einen Akteur allerdings noch nicht unmittelbar verbindlich sein müssen, sondern auch einfach nur zur Kenntnis genommen werden können. Diese Vernunftzwecke werden jedoch in der kantischen Ethik durch zwei weitere (typologisch qualifizierbare) Reflexionsmomente zu schwach-deontologischen Elementen: Zum einen besitzt die Person bzw. ihre rationale Natur als praktischer Letztgrund reiner Vernunftzwecke bzw. praktischer Normativität absoluten Wert (axiologisches Moment), zum anderen werden die Zwecke reiner Vernunft durch ihren aus der Akteurperspektive notwendigen Bezug auf endliche Vernunftwesen gegebenheitsmodal modifiziert bzw. deontisch reifiziert, nämlich zu Pflichten (deontologisches Moment). Deontologische Modelle sind ebenfalls keineswegs strukturell mit Autonomie verbunden; vgl.: Guyer 2000, S. 132 Anm. 4. 98 Praktisch notwendige Zwecke (mit Ausnahme des apriorisch begründenden Wertbegriffs des Selbstzwecks der rationalen Natur) treten nach Kant immer schon als Sollensforderungen im handlungsbestimmenden Bewusstsein des Akteurs in Erscheinung und werden nur mittels ihrer Rückführung auf ein zugrundeliegendes Wollen in ihrer teleologischen Form rekonstruierbar. Die jeweiligen gegebenheitsmodalen Modifikationen resultieren daher unmittelbar aus der Relation von Wollen und Sollen. 97

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Schlusswort

Die neueren Kant-Interpretationen vor allem von Korsgaard, Herman, Wood, Baumanns, Krämer, Horn und Guyer weisen vollkommen zu Recht auf die unbestreitbare strukturelle Relevanz von Axiologie und Vernunftteleologie für die kantische Ethik hin, doch bleibt festzuhalten, dass weder die kantischen Wertthesen noch die fundamentale Rolle der Vernunftzwecke notwendigerweise gegen eine deontologische Klassifikation im skizzierten Verständnis sprechen: Auch unter der Voraussetzung, dass man sich allein auf die vernunftteleologischen Aspekte konzentriert, bleibt die Tatsache der Gründung dieser Zwecke in der noumenalen Natur 99 und dem Autonomieprinzip, welche beide Elemente aufgrund ihres axiologischen Profils die Grundlage kategorischer Verbindlichkeit sind. Für Vertreter der starken Deontologie-These mag dieses Resultat unbefriedigend erscheinen, da eine solcherart rekonstruierte kantische Deontologie in typologischer Hinsicht weniger ›rein‹ (und dadurch in rezeptionspsychologischer Perspektive vielleicht sogar weniger dezidiert) anmuten mag, doch bleibt zu bedenken, ob man daraus nicht vielmehr den umgekehrten Schluss ziehen sollte, dass sich zumindest die genuin kantische Variante einer deontologischen Ethik als weitaus integrativer, vielschichtiger und dadurch lebendiger darstellt, als man es deontologischen Ethiken und in besonderem Maße dem kantischen Modell weithin zutraut.

IX.7 Schlusswort Angesichts der Resultate unserer Studie legt sich der Schluss nahe, dass sich die partiell recht weitgehende Heterogenität der neueren Diskussion um den kantischen Ethiktyp zumindest hinsichtlich der starken und schwachen Deontologie-/Teleologie-These sowie der schwachen Komplexitäts-These nicht irgendwelchen abenteuerlichen Verirrungen oder Missverständnissen, sondern zu weiten Teilen der nur schwer pointiert fassbaren Struktur der kantischen Ethik selbst verdankt. 100 Die Gründung moralischer Forderungen und Geltungsansprüche im eigentlichen Selbst des Vernunftwesens stellt z. B. ein Hauptargument für den streng deontologischen Charakter der kantischen Ethik in Trampotas Version der D-These dar; vgl.: Trampota 2003, S. 66. 100 Wenn Marquard konstatiert, dass sich in den verschiedenen Kant-Interpretationen die problematische Zerrissenheit Kants selbst widerspiegele (vgl.: Marquard 1982, S. 53), ist dies zwar vom sachlichen Befund her nicht ganz falsch, doch bleibt diese Aus99

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Nur so ist es zu erklären, dass auch die D- und T- sowie die SKOMThese in jeweils einer bestimmten Perspektive durchaus Gültigkeit beanspruchen können und dennoch als letztes Wort zur Klassifikationsfrage ungeeignet erscheinen. Ein anderer, wenn auch als Nebenaspekt der Ergebnisse dieser Studie einzuschätzender Punkt besteht im Hinterfragen der Berechtigung einer strikten Distinktion zwischen deontologischen und vernunftteleologischen Ethiken, da keine kategorialen geltungsmodalen Unterschiede zwischen beiden Modellen existieren. Dies gilt wohlgemerkt unter der keineswegs von der Mehrheit der diesbezüglich positionierten Autoren geteilten Voraussetzung, dass der moralische Handlungswert in einer deontologischen Ethik gänzlich unabhängig von den Handlungsfolgen bestimmt wird, sodass auch eine strikte Auffassung von Deontologie weder die vollkommene Eigenständigkeit dieser Ethikform noch die Einzigartigkeit vieler ihrer Merkmale erweisen kann. Insbesondere im Ausgang von der Struktur der kantischen Ethik kann eine wechselseitige Absetzung von deontologischen und vernunftteleologischen Ethiken nicht allein am oberflächlichen Unterschied von Pflicht- und Zweckbegriff 101 festgemacht werden, sondern umgekehrt sprechen die skizzierten typologischen Interdependenzen vielmehr für eine Klassifikation der kantischen Ethik als inklusivistische Deontologie: Zwar nimmt sie ihren Ausgang von einer praktischen Vernunftidee von Moralität und nicht von einem dieser Idee vorgeordneten, anzustrebenden Guten, doch kann man anhand der Selbstzweckkonzeption aufzeigen, dass – neben dem Sittengesetz – die Würde der Person als zu achtender Wert nicht nur den materialen Kern dieser Moralitätsidee ausmacht, sondern zugleich als exponierter Zweck menschlicher Handlungen fungieren soll. Daher geht es bei Kant einerseits in der Tat direkt um das vernunftgegebene ›to deon‹, andererseits werden sowohl die praktische Grundlage der moralischen

sage eine Antwort auf die Frage schuldig, ob nicht gerade die komplexe Vielschichtigkeit sowohl der kantischen Ethik als auch ihrer Interpretationen zumindest einen Aspekt der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Kant ausmacht, der sich einem lebendigen Philosophieren mit oder auch gegen Kant als zuträglich erweisen kann. 101 Zwar ist mit Nikulin am Unterschied von subjektiven Zwecksetzungen und objektiv verbindlichen Pflichten sowie am praktischen Primat der letzteren festzuhalten (vgl.: Nikulin 1996, S. 122) doch sollte im Verlauf der vorliegenden Studie deutlich geworden sein, dass dieser Primat selbst unter der Voraussetzung einer auch teleologisch reifizierten Wertkonzeption steht.

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Schlusswort

Forderungen als auch diese selbst an vielen Stellen mit axiologischen bzw. teleologischen Begriffen formuliert. Unter Ausklammerung der Frage nach einer sinnvollen ethiktypologischen Terminologie 102 bleibt festzuhalten: Die neuere Diskussion um den kantischen Ethiktyp ist zwar kein pedantischer Streit um leere Worte, sondern ein auf hohem Niveau geführter Diskurs um die Makro- und Mikrostruktur der kantischen Moralphilosophie, doch hat diese Untersuchung zugleich ergeben, dass entgegen einem vielleicht bei oberflächlicher Betrachtung entstehenden Eindruck durchaus auch grundsätzliche Übereinstimmungen sogar zwischen der D- und K-These konstatierbar sind. Das weite Spektrum diesbezüglich relevanter Positionen ermöglicht vor dem Hintergrund einer zu ihrer kritischen Analyse hinreichend differenzierten Begrifflichkeit einen polyperspektivischen Rekonstruktionsvergleich, 103 welcher sich in dieser konzentrierten Form als vor allem einer pointierten Diskussion der allgemeinen Beschaffenheit der kantischen Moralphilosophie zuträglich erwiesen hat. Dass sich Kants Ethik einem einfachen Schubladenden102 Freilich kann man als Implikation des Resultats dieser Untersuchung auch auf die Begrenztheit der etablierten typologischen Terminologie verweisen und im Sinne Rickens deren Unschärfe betonen. Ricken demonstriert diese These anhand der Struktur der stoischen Ethik, welche in vielen Aspekten der kantischen nahe steht: Die stoische Ethik stelle eine teleologische Frage nach dem letzten Zweck des menschlichen Handelns und gebe eine deontologische Antwort, indem das nach einer Vernunftnorm ausgerichtete Leben als das moralische postuliert werde; vgl.: Ricken 2003, S. 272. Allerdings ist hier unausgemacht, warum die benutzten Klassifikationstermini unscharf sein sollen, denn gezeigt wurde einzig und allein, dass die stoische Ethik typologisch komplex strukturiert ist und ihre unterschiedlichen Aspekte anhand der etablierten Terminologie hinreichend voneinander abgegrenzt werden können. 103 Auch wenn in dieser Arbeit versucht wurde, möglichst viele Facetten der Struktur der kantischen Ethik zu analysieren und zueinander in Beziehung zu setzen, ergibt sich aus dem dafür erforderlichen Spagat zwischen Makro- und Mikroperspektive und der verstärkten Reflexion auf die Relation von Selbstzweck, Sittengesetz/Kategorischem Imperativ und den einzelnen Pflichten bzw. Vernunftzwecken, dass einige Aspekte weniger ausführlich zur Geltung kommen konnten. So erweisen sich z. B. naturteleologische Argumentationen m. E. zwar nicht als für die vorherrschende kantische Vorgehensweise und somit für den kantischen Ethiktyp zentral, doch zeigen u. a. die späteren geschichtsphilosophischen und politischen Werke, dass Kant solcherart Betrachtungen auch über seine kritischen Ethikarbeiten hinaus immer wieder einen gewissen Raum zuerkannt hat. Eine detailliertere und auch typologisch sensible Herausarbeitung der kantischen Verhältnisbestimmung von moralphilosophisch relevanter Natur- und Vernunftteleologie ist zwar z. B. schon bei Paton angelegt, doch kann dieses Projekt m. E. dennoch als auch zukünftig relevante Aufgabe für die Forschung bezeichnet werden.

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ken entzieht, sollte der von ihr ausgehenden Faszination jedoch nicht zum Nachteil gereichen: Die kunstvolle Verbindung von Momenten antiker und neuzeitlicher Ethik sowie die Entwicklung und Integration des Gedankens der transzendental-apriorischen Notwendigkeit der Freiheit als moralischer Verantwortlichkeit für die (Selbst-)Bestimmung des menschlichen Wesens lassen vielmehr begreifen, warum eine Beschäftigung mit der kantischen Moralphilosophie nicht nur von historischem Wert ist, sondern weshalb von ihr auch für heutiges systematisches Philosophieren Impulse ausgehen können, die in der Philosophiegeschichte einzigartig sind.

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Die KrV wird nach der Originalpaginierung in der zweiten Auflage (B) zitiert. Alle übrigen Schriften Kants werden außer der Vorlesung zur Moralphilosophie (2004) und den philosophischen Hauptvorlesungen (1924) gemäß der Akademieausgabe (Kant’s gesammelte Schriften, Bände I–XXIX. Hgg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902 ff.) zitiert.

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Abkürzungsverzeichnis

Zum Kategorischen Imperativ AF Autonomieformel KI Kategorischer Imperativ NF Naturgesetzformel RZF Reich-der-Zwecke-Formel SZF Selbstzweckformel UF Universalisierungsformel Zur ethiktypologischen Klassifikation D Starke Deontologiethese SD Schwache Deontologiethese T Starke Teleologiethese ST Schwache Teleologiethese K Starke Konsequentialismusthese SKOM Schwache Komplexitätsthese

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Personenregister 1

Albrecht, M. 283, 285 Allison, H. E. 256, 259, 260, 261, 318 Anaxagoras 38 Anderson, G. 73 Annas, J. 59 Anscombe, G. E. M. 47 f. Anzenbacher, A. 22, 61, 465 Apel, K.-O. 54, 78, 413 Aquila, R. E. 54 Arrington, R. L. 27, 33, 118, 159, 161, 162, 164 f., 168, 478, 485 Atwell, J. E. 19, 61, 173, 223, 300 Aune, B. 368 Baranzke, H. 15, 78, 201, 219 Baron, M. 79, 199 Bartuschat, W. 397 Baumanns, P. 17, 19, 33, 58, 78, 118, 159, 160, 161 ff., 168 f., 198, 222, 236, 244, 416 478 ff., 513 Beck, L. W. 256, 420 Bentham, J. 39 Birnbacher, D. 39, 42, 47 ff., 52, 61, 63, 69, 171 Böhme, G. 74 Böhme, H. 74 Brandom, R. B. 342 Bratman, M. 54 Brinkmann, W. 31 f., 73, 230, 346, 374 Broad, C. D. 24 F., 28, 33, 39 ff., 44 ff., 58, 59 ff., 65 f., 95, 158, 194, 215, 238, 374, 437 Buber, M. 74

1

Casas, V. D. 73, 201, 205 f., 208, 437 Cassirer, E. 75 Cobet, T. 229 Coreth, E. 77 Craig, E. 215 Crusius, C. A. 191, 240 Cummiskey, D. 19, 77, 117, 146, 147 ff., 150 f., 153 ff., 167, 172, 234, 267, 426, 460 ff., 499, 503, 506 f. Davidson, D. 54 Diemer, A. 272 Dittrich, S. 15, 268 f. Döring, A. 286 Döring, S. A. 15 Dreier, R. 510 Duncan, A. 215 Düsing, K. 26, 37, 42, 50, 67, 84, 85, 229, 247 ff., 257, 261, 285 f., 367, 415, 437, 501 Düwell, M. 30 Ebbinghaus, J. 79, 219, 227 Eisler, R. 212 Engelhard, K. 22 Engstrom, S. 19, 202, 509 Erkens, A. 74 Esser, A. 203 Ewing, A. C. 374 Findlay, J. 39, 50, 66 Flatt, J. F. 240 Fleischer, M. 215

Kursiv gesetzte Ziffern beziehen sich auf den Fußnotentext der jeweiligen Seite. A

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Personenregister Forschner, M. 286, 510 Frankena, W. K. 28, 39, 42 ff., 58, 63 f., 158 French, S. G. 368 Freudiger, J. 243, 250 ff. Geismann, G. 180 Gerhardt, V. 17 Gewirth, A. 339 Gotz, G. 179 f. Guyer, P. 19, 22, 31, 33, 58, 76, 119, 120, 122, 129 ff., 145, 169, 172, 180, 215, 220, 242, 253, 261 f., 292, 301, 324 f., 328, 336, 418, 431 f., 447 f., 453 ff., 459, 465, 474, 512, 513 Hammacher, K. 22 Hare, R. M. 22, 30, 75, 146, 149, 150 ff., 158, 368, 461, 474 ff. Hart, H. 54 Hegel, G. 73, 237, 388, 484 Heidemann, D. 22 Heimsoeth, H. 63 f., 75, 181, 407 Hengstenberg, E. 73f. Henrich, D. 243 f., 252, 257, 260, 398 Herman, B. 19, 27, 29, 31, 33, 39, 58, 76, 118 f., 120 f., 122, 125 ff., 135 f., 145, 159, 167, 195, 197 f., 221, 234, 242, 259, 301, 357, 415, 418, 431 f., 448, 452 ff., 461, 464, 473, 480, 503, 505 f., 513 Hill, T. E. 112, 274 Himmelmann, B. 176, 179, 285 f. Hinman, L. M. 74 Hoerster, N. 216 Höffe, O. 17, 54, 63, 107, 215, 217, 256, 275, 319, 338, 504 Hösle, V. 15 Hogrebe, W. 15, 397 f. Horn, C. 15, 19, 38, 45, 95, 96, 101 ff., 116 f., 194, 208, 219, 223, 224 f., 227 f., 234, 235, 251, 265, 267, 269, 272, 311, 327, 336, 352, 354, 363 ff., 373, 389, 391, 510, 513 Hossenfelder, M. 63 f. Hruschka, J. 218 Husserl, E. 51 Hutcheson, F. 185 Hutter, A. 226, 399, 403 ff.

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Illies, C. 15, 30, 258 Jaeschke, W. 287 Jedan, C. 38 Jensen, O. C. 73 Johnson, R. 364 Jonas, H. 77 f. Juvenal 255 Kaehler, J F. 181 Kaulbach, F. 30, 53 Kerner, G. C. 73, 84, 86, 436 Kerstein, S. 115 Kersting, W. 197, 200, 428, 510 Kim, S. 18 Klemme, H. 17, 373, 376, 382 Köhl, H. 79, 146 Konhardt, K. 256 f., 261, 397 f., 400 ff., 406, 408 f., 411, 413 Korsgaard, C. 19, 31, 33, 78, 95, 102 ff., 106, 107, 108, 109, 113 ff., 132, 159, 167, 195, 214, 234, 242, 252, 261, 262, 274, 301, 311, 339, 378, 410, 412 f., 431, 436, 469, 493, 496, 497 ff., 505, 508, 513 Krämer, H. 137, 138 f., 140 ff., 159, 168, 223, 431, 493, 495 f., 497, 500, 505, 508 f., 513 Kühn, M. 17 Kutschera, F. v. 39, 44 ff., 49, 51, 60, 62 f., 65 f., 70, 192, 194, 223, 374 Kynast, R. 261 Lask, E. 51 Lauth, R. 77, 258, 261 Lehmann, G. 181 Leibniz, G. W. 176, 187, 240 Leist, A. 19, 30, 37, 39, 56 f., 59, 63, 68, 76, 119, 120 f., 122 ff., 125, 135, 143, 145, 182, 207, 217, 218, 264, 273, 277, 299, 333, 352, 398, 408, 415, 446 ff., 459, 474, 477, 489 Lenk, H. 75, 367 Lenzen, W. 64 Löhrer, G. 216, 306 f. Loock, R. 272 Lotze, H. 51 Louden, R. 78, 127

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https://doi.org/10.5771/9783495997666 .

Personenregister MacIntyre, A. 175, 267, 437 f. Marquard, O. 513 McCarthy, M. H. 242, 251, 415 McNaughton, D. 63 Meier-Seethaler, C. 74 Meinhardt, M. 364 Mertens, H. 397 Meyer, M. J. 306 Meyer-Abich, K. M. 15 Mill, J. St. 30, 146 Miller, A. 30 Milz, B. 18, 283 ff., 285, 360, 415 Nagel, T. 60 Nida-Rümelin, J. 63, 72, 74 f. Nikulin, D. 514 Niquet, M. 78, 84, 86, 88 f., 90, 91, 223, 260, 413, 436 Nisters, T. 77 ff., 80, 218 Nussbaum, M. 74 O’Neill, O. 19, 73, 77, 156, 235 Okin, S. M. 74 Ott, K. 72 f., 84, 367 Parfit, D. 64 Paton, H. 18 f., 112, 230, 379, 380, 400, 515 Patzig, G. 73, 75, 78, 240, 409 Pauer-Studer, H. 74 Philips, M. 60 Piché, C. 401 Pieper, A. 186 f. Pieper, H. J. 15 Pippin, R. 19, 79, 317 Pitcher, G. 54 Platon 19, 38, 509 Poser, H. 53 Potter, N. 208 f. Prauss, G. 132, 261, 269, 423, 464 Putnam, H. 73 Quante, M. 22, 30, 42 Rawls, J. 60, 89, 92, 95, 101, 103 f., 106, 115, 118, 187, 346, 501 ff. Recki, B. 176 Rehberg, A. W. 74

Rehbock, T. 252 Reich , K. 176, 219 Rentsch, T. 252 Ricken, F. 25 f., 30, 436, 473, 515 Riedel, M. 176, 181 Rohnheimer, M. 255, 437 Rohs, P. 147, 151, 475 f. Rosales, A. 404, 407 Rösler, W. 53 Ross, D. 38, 215, 415 Russell, B. 24, 75 Sala, G. 176, 179, 218, 235 f., 255, 260 Sartiaux, F. 18 Scarano, N. 53, 420, 421 Schaber, P. 60, 64, 477 Schefczyk, M. 76 Scheler, M. 50, 73 Schiller, F. 79, 202 Schmucker, J. 176, 183, 191, 215, 218, 235, 500 Schnädelbach, H. 50 Schneewind, J. 71, 347 Schnoor, C. 140 Schöndorf, H. 77 Schönecker, D. 15, 33, 78, 163, 173, 195, 198 ff., 215, 217 f., 220, 222, 230, 233, 240, 242, 243, 245, 246 f., 250, 253, 254, 265, 269, 272, 281, 302 f., 310, 340, 363, 365, 370, 374, 379, 383, 436, 460 Schönherr-Mann, H.-M. 73 Schrey, H.-H. 192 Schroth, J. 146 F. Schulz, E. G. 74 Schulz, P. 20 Schwartländer, J. 264 Schwarz, G. 226, 284 ff. Schwemmer, O. 53, 215, 292, 370 Sherman, N. 38, 76, 79, 95 Sidgwick, H. 24 f., 39, 47, 60, 113, 382 Silber, J. 284 Skorupski, J. 22, 63, 84 Slote, M. 64 Sokrates 509 Sommerfeld-Lethen, C. 19, 27, 212 Sorell, T. 274 Spaemann, R. 218 Stark, W. 181 f.

A

Deontologie und Teleologie in der kantischen Ethik https://doi.org/10.5771/9783495997666 .

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Personenregister Steigleder, K. 17, 30, 79, 204, 243, 251, 253, 256, 261, 318, 343, 382, 427 Tannsjö, T. 30 Taylor, P. 73, 84, 85 f., 436 Timmermann, J. 240 Trampota, A. 37, 72, 76, 84, 85 f., 88, 89, 91 f., 93, 117, 167 f., 187, 221 f., 225, 228, 234, 237, 347, 352, 417 f., 432 ff., 441, 500, 513 Tugendhat, E. 30, 75, 234 Wagner, H. 51, 77, 349, 503 Weidemann, H. 84 Wellmer, A. 75 Welzel, H. 73 Werner, M. 39 Wetterström, T. 19, 22, 59, 95, 381 Wike, V. S. 286 Willaschek, M. 53, 243, 256, 257 f., 260, 265, 293

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Williams, B. 37, 74 Williams, T. 215, 415 Wimmer, R. 31 f., 73, 75, 137, 191, 214, 218 f., 236 f., 370, 382 Windelband, W. 50, 63 f., 75, 181 Wolf, J.-C. 60, 477 Wolff, C. 176, 180, 191, 240, 391 Wolff, R. 215, 235 Wood, A. 17, 19, 27, 31, 33, 77 f., 80, 95, 102 ff., 106, 109 ff., 115, 117, 163, 167 f., 170, 172, 180, 195, 198 ff., 206 f., 215 f., 217 f., 220, 221 f., 230, 233, 234, 242, 246 f., 250, 253, 265, 274, 281, 301, 303, 309 f., 340, 363, 365, 367, 370, 374, 379, 383, 431, 436, 482, 493, 496, 498 ff., 506 f., 513 Wright, G. H. v. 54 Zeidler, K. W. 398 Zwenger, T. 163

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Christoph Bambauer

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