Dialektik des Lebendigen: Kritik der organischen Teleologie 9783839465967

Die Biologie kennt alle Eigenschaften des Lebendigen, aber auf die Frage »Was ist Leben?« hat sie keine eindeutige Antwo

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Dialektik des Lebendigen: Kritik der organischen Teleologie
 9783839465967

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
1. Die transzendentale Idee der Einheit
2. Die Analogie von Organismus und Artefakt
3. Darwins Evolutionstheorie hebt die Biologie in den Stand einer modernen Naturwissenschaft
4. Die Aporie des Artbegriffs
5. Die Aporie der Entstehung des Lebens
6. Positive Definition des Lebens über empirische Kennzeichen?
7. Von der Teleologie zur Teleonomie. Die Integration des nexus finalis in die Biologie
8. Mechanismus und Vitalismus
9. Ordnung und Information
10. Kybernetik und Selbstorganisationstheorien in der Biologie
11. Gibt es biologische Naturgesetze?
12. Vom regulativen Prinzip der reflektierenden Urteilskraft zum konstitutiven Prinzip des Lebendigen: Ein Widerspruch
13. Die Dialektik des Lebendigen
Literaturverzeichnis

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Christine Zunke Dialektik des Lebendigen

Edition Moderne Postmoderne

Editorial Die Edition Moderne Postmoderne präsentiert die moderne Philosophie in zweierlei Hinsicht: zum einen als philosophiehistorische Epoche, die mit dem Ende des Hegel’schen Systems einsetzt und als Teil des Hegel’schen Erbes den ersten philosophischen Begriff der Moderne mit sich führt; zum anderen als Form des Philosophierens, in dem die Modernität der Zeit selbst immer stärker in den Vordergrund der philosophischen Reflexion in ihren verschiedenen Varianten rückt – bis hin zu ihrer »postmodernen« Überbietung.

Christine Zunke (Dr. phil.), geb. 1974, lehrt Philosophie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und leitet dort die Forschungsstelle Kritische Naturphilosophie. Schwerpunkt ihrer Forschungsarbeit ist die Reflexion der gesellschaftlichen Funktion und Bedeutung der Naturwissenschaften.

Christine Zunke

Dialektik des Lebendigen Kritik der organischen Teleologie

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Gesellschaftswissenschaftlichen Instituts Hannover www.gi-hannover.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-n b.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Ernst Haeckel: Kunstformen der Natur, Tafel 41 – Dorataspis. – Acanthophracta. – Wunderstrahlinge. 1899 Leipzig/Wien. Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839465967 Print-ISBN 978-3-8376-6596-3 PDF-ISBN 978-3-8394-6596-7 Buchreihen-ISSN: 2702-900X Buchreihen-eISSN: 2702-9018 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Einleitung ..................................................................................... 11 1. 1.1

1.2 1.3

2. 2.1

Die transzendentale Idee der Einheit.................................................... 23 Die Einheit der Natur .................................................................... 24 1.1.1 Von der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen zur Einheit unter Gesetzen ............ 25 1.1.2 Das Prinzip der Einheit des Mannigfaltigen ........................................ 26 1.1.3 Die allgemeine Zweckmäßigkeit der Natur als focus imaginarius ................... 28 1.1.4 »als ob es ein objektives Prinzip wäre« ........................................... 29 1.1.5 Vom regulativen zum konstitutiven Prinzip ......................................... 31 Die Einheit des Bewusstseins ............................................................ 32 Die Einheit des Organismus .............................................................. 35 1.3.1 Die besondere, innere Zweckmäßigkeit der Organismen führt auf Widersprüche .... 36 1.3.2 »Lebende Materie ist contradictio in adiecto« ..................................... 39 1.3.3 Die Biologie produziert widersprüchliche Theorien und Begriffe, die den Weg zu einer Dialektik des Lebendigen aufzeigen................................... 41

Die Analogie von Organismus und Artefakt.............................................. 43 Die Analogie von Organ und Werkzeug.................................................... 44 2.1.1 Aristoteles: Der Organismus hat eine Seele, Organe und Werkzeuge eine Funktion .. 45 2.1.2 Lukrez: Artefakte und Organe unterscheiden sich über die zeitliche Dimension im Zweckbegriff ....................................................... 46 2.2 Lebendiger Körper oder technischer Apparat? ........................................... 47 2.2.1 Beispiel Uhr ...................................................................... 48 2.2.2 Dawkins ›blinder Uhrmacher‹ und seine Gemeinsamkeit mit dem Intelligent Design .................................................................. 51 2.2.3 Technischer Fortschritt verändert die Vorstellungen des Organischen .............. 53 2.3 Differenzierungen von Organismen und Artefakten ....................................... 54 2.3.1 Monod: »Mit einem Projekt ausgestattete Objekte« ................................ 54 2.3.2 Oparin: Materielle Unterschiede von Artefakt und Organismus...................... 56 2.3.3 Maturana: Autonome Einheiten.................................................... 59 2.3.4 Ebeling und Feistel: Aktiv und passiv gegen die Entropie ............................ 61

2.4 Zweck und materielles Dasein – die Funktion der Form ist intelligibel ..................... 2.4.1 Kann Zweckmäßigkeit erscheinen? ................................................ 2.4.2 Steht die Zweckmäßigkeit außerhalb der Physik? .................................. 2.4.3 Die Grenze der Analogie: innere und äußere Zweckmäßigkeit ...................... 2.4.4 Künstliches Leben – Einheit von Organismus und Artefakt? ........................ 2.5 Als eigenständiger Gegenstandsbereich müssen Organismen ihrem Prinzip nach wesentlich von Artefakten verschieden sein; insofern sind sie ohne Analogon ............. 3. 3.1

3.2 3.3

3.4

3.5 3.6

62 63 64 65 66 69

Darwins Evolutionstheorie hebt die Biologie in den Stand einer modernen Naturwissenschaft....................................................................... 71 Gab es Evolutionstheorien vor Darwin? ................................................... 74 3.1.1 Das Prinzip der Verwandtschaft ................................................... 76 3.1.2 Konkurrenz als Ordnungsmechanismus............................................ 77 Die Trennung der Biologie von der Naturphilosophie – Lamarck und Darwin ............... 79 3.2.1 Lamarck: Organismen formen ihre Entwicklung aktiv ............................... 81 Die natürliche Zuchtwahl – induktiver Schluss oder Verirrung zwischen Modell und Original? ..................................................................... 86 3.3.1 Modell und Original – ein Verwirrspiel.............................................. 90 Konkurrenz und invisible hand ........................................................... 93 3.4.1 Malthus .......................................................................... 94 3.4.2 Die Bedeutung der Konkurrenz .................................................... 96 3.4.3 Sparsam, arbeitsteilig, effizient ................................................... 98 3.4.4 Rückwendung des Prinzips der Evolution auf die Gesellschaft ...................... 101 3.4.5 Evolution im ökonomischen Systemvergleich ......................................102 Die Wandlung des Evolutionsbegriffs – von der Heilslehre zur Evolutionstheorie ...........105 Der Widerspruch der Evolutionstheorie: Teleologie ohne Telos ............................109

Die Aporie des Artbegriffs .............................................................. 115 Taxonomie – natürliches oder künstliches System? ....................................... 115 Die Bedeutung der differentia specifica als wesentliche Akzidenz......................... 117 Die Einheit der Art als Fortpflanzungsgemeinschaft....................................... 127 Das Problem der Artvarianz .............................................................. 131 Die Aporie von Artvarianz und Artkonstanz .............................................. 132 Sprünge in der Evolution?............................................................... 134 Intelligent Design (Kreationismus)....................................................... 139 4.7.1 Mikro- und Makroevolution ........................................................ 141 4.7.2 Beispiel: Evolution des Auges .....................................................145 4.7.3 Grundformen des Lebens ......................................................... 149 4.8 Die christliche Kritik am Kreationismus .................................................. 151

4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7

5. 5.1

Die Aporie der Entstehung des Lebens .................................................. 157 Die Aporie der Entstehung des Lebens und drei Arten, mit ihr umzugehen ................. 157 5.1.1 Die Theorie der Urzeugung und ihre Widerlegung durch Pasteur................... 158 5.1.2 Die räumliche Verschiebung des Widerspruchs: Panspermie .......................159

5.1.3 Die Verschiebung des Widerspruchs ins Transzendente durch die Annahme eines externen Schöpfers oder des ›heiligen Zufalls‹ .................... 161 5.1.4 Das Verstecken des Widerspruchs im sukzessiven Prozess........................ 163 5.2 Das Problem der Vorstellbarkeit des Übergangs vom Unbelebten zum Belebten soll über die Annahme von Zwischenformen gelöst werden .............................. 168 5.2.1 Der spekulative Sprung in der Vorstellbarkeit ...................................... 170 5.3 Das Leben entstand nur einmal .......................................................... 172 5.3.1 Das Leben entstand nicht zufällig, sondern gesetzmäßig, also notwendig........... 174 5.3.2 Leben als eine neue Bewegungsform der Materie .................................. 177 5.3.3 Die neue Bewegungsform der Materie ist das Gesetz der Evolution ................. 179 5.3.4 Die Bewegungsgesetze der Materie des ›dialektischen Materialismus‹ münden in metaphysischen Setzungen ........................................... 180 5.4 Kein ›Newton des Grashalms‹ – die Aporie entsteht notwendig............................184 5.4.1 Die Evolutionstheorie erklärt die Entwicklung des Lebens (generatio univoca), nicht die Entstehung des Lebens (generatio aequivoca) ................. 186 6. 6.1 6.2 6.3

6.4

6.5 6.6 6.7

7. 7.1 7.2 7.3 7.4

Positive Definition des Lebens über empirische Kennzeichen? ......................... 191 Belebtes und Unbelebtes ist intuitiv leicht zu unterscheiden, jedoch theoretisch schwer zu differenzieren ................................................................ 191 Die Materialisierung der differentia specifica ............................................. 192 Realdefinition des Lebens als Konglomerat von Kennzeichen............................. 193 6.3.1 Roux: Organische Selbstleistungen als empirische Kennzeichen.................... 194 6.3.2 Nicht-reflexive Kennzeichen des Lebendigen ...................................... 197 6.3.3 Bei Aristoteles wurden die bestimmenden Kennzeichen des Lebendigen auf eine Formursache (Prinzip) zurückgeführt ..................................... 199 Positive Bestimmungen über Prinzipien, statt über Kennzeichen ......................... 200 6.4.1 Mohr: Empirisch vorfindliche Prinzipien ...........................................201 6.4.2 Die DNA als materiell-ideelles Prinzip............................................. 203 6.4.3 Toepfer: Kombinierte Prinzipien.................................................. 204 Warum die Realdefinition scheitert: Die Dialektik von Akzidenz und Wesen ............... 206 Das implizite Wissen darum, was Leben sei, ist jeder Kritik seiner Definitionen vorauszusetzen und lässt auf ein transzendentales Prinzip schließen .................... 209 Wie seine innere Zweckmäßigkeit, so muss auch die Einheit des Organismus denkend vorausgesetzt werden ......................................................... 209 Von der Teleologie zur Teleonomie. Die Integration des nexus finalis in die Biologie .... 213 Aristoteles: Die Formursache von Lebewesen ist die Zweckmäßigkeit oder Teleologie...... 214 Physikotheologie als mechanistischer Nachweis organischer Funktionalität ............... 217 Monod: Organismen zwingen uns in einen epistemologischen Widerspruch ................ 218 Mayr: Zielgerichtetheit ist ein Merkmal bestimmter natürlicher Objekte, die von einem Programm gesteuert werden ...................................................... 219 7.4.1 Zielgerichtete Vorgänge in der Natur sind nicht teleologisch, sondern teleonomisch 221 7.4.2 Die teleologische Sprache hat einen heuristischen Wert .......................... 227 7.4.3 Widerspruch integriert: Die ›vollständige Kausalanalyse‹ fragt nach der teleologischen Form ............................................................. 230

8. 8.1 8.2 8.3

8.4

8.5

8.6 8.7

Mechanismus und Vitalismus .......................................................... 233 Vitalismus: Eine besondere Naturkraft begründet die spezifische Differenz des Lebendigen zum Unbelebten ............................................................ 235 Der Mechanismus steht für gelingende Naturbeherrschung .............................. 237 Die Dialektik von Vitalismus und Mechanismus .......................................... 238 8.3.1 Bergson: materielle Idealität des Lebens ......................................... 238 8.3.2 Oparin: ideelle Materialität des Lebens ........................................... 248 Der Begriff der Ganzheit des Organismus ................................................ 254 8.4.1 Theodor Schwann: Auflösung des Organismus in die Vielheit der Zellen............ 254 8.4.2 Hans Driesch: ein neuer Vitalismus der Ganzheit.................................. 257 8.4.3 Die mechanistische Übertragung der Ganzheit auf das Unbelebte ................. 259 8.4.4 Bernhard Dürken: Ganzheit ist nicht Form, sondern Aktivität (Prinzip) ............. 260 Der Vitalismus arbeitet nicht naturwissenschaftlich, der Mechanismus ist zur Erklärung des Lebendigen nicht hinreichend ............................................ 262 8.5.1 Brandstetter: Vitalismus und Mechanismus als gleichberechtigte Denkstrategien .. 263 8.5.2 Die Lebenskraft bleibt ein bloßes Wort ........................................... 264 8.5.3 Die Fehler von Vitalismus und Mechanismus zeigen sich in ihrem Bezug auf Kant.. 265 Hartmann: nexus organicus als ergänzende Kausalform zwischen nexus finalis und nexus effectivus .................................................................... 268 Holismus und Organizismus – die Lösung des Widerspruchs zwischen Vitalismus und Mechanismus? ........................................................... 271 8.7.1 Holismus ....................................................................... 272 8.7.2 Organizismus .................................................................... 276

Ordnung und Information .............................................................. 279 Erwin Schrödinger: Leben ist Ordnung aus Ordnung ..................................... 279 9.1.1 Mutationssprünge – Quanteneffekte der Biologie? ................................ 283 9.2 Die Ordnung der Kristalle – Prüfstein des Lebensbegriffs ................................ 285 9.2.1 Sind flüssige Kristalle wie Viren Grenzformen des Lebendigen? ................... 287 9.3 Informationsbegriff und DNA............................................................ 293 9.3.1 Information – abstrakte Quantität oder semantischer Gehalt? ..................... 294 9.3.2 Informationsträger DNA: eine Schrift ohne intelligiblen Gehalt .................... 300

9. 9.1

10. Kybernetik und Selbstorganisationstheorien in der Biologie ........................... 305 10.1 Biologische Kybernetik ................................................................. 305 10.1.1 Der Organismus als kybernetisches System ....................................... 310 10.2 Selbstorganisierte Systeme in der Biologie ............................................... 312 10.2.1 Selbstorganisierte Systeme ....................................................... 315 10.2.2 Von der theoretischen Biologie zur Mathematisierbarkeit der Strukturbildung lebendiger Systeme............................................... 316 10.2.3 Eine Theorie der Organisation: im Organismus ist alles wechselseitig Zweck und Mittel .................................................................318 10.2.4 Die Aporie der Selbstorganisation ................................................ 320 10.2.5 Leben in hierarchischen Systemkonzeptionen .................................... 324 10.2.6 Vitalistische Aspekte in Theorien der Selbstorganisation.......................... 326

10.2.7 Die Theorie der Selbstorganisation bringt der Biologie keinen Erkenntnisfortschritt ..................................................... 328 10.2.8 Das Problem der Unterscheidung von Lebewesen und nichtlebendigen selbstorganisierten Systemen.................................................... 330 10.2.9 Die Grenze der mathematischen Darstellbarkeit in der Biologie ................... 333 10.2.10 Whiteheads Prozessphilosophie – actual entities als Homunculi des Universums ................................................................. 334 10.3 Selbstorganisation des Organismus ist kein physikalischer Begriff ...................... 340 11. 11.1 11.2 11.3 11.4 11.5 11.6

11.7

11.8

12. 12.1 12.2 12.3

12.4

12.5 12.6 12.7 12.8 12.9

Gibt es biologische Naturgesetze? ..................................................... 343 Keine Gesetze der Biologie?............................................................. 343 Gibt die Evolution ein Gesetz? ........................................................... 345 Morphologische Strukturgesetze ....................................................... 347 11.3.1 Die Vorhersage der Süßlupine: Vavilovs Gesetz der homologen Reihe .............. 352 Zur Differenz von biologischer Regel und statistischem Gesetz........................... 354 Der Versuch, kausale biologische Gesetze aufzustellen, scheitert ........................ 358 Biologische Gesetze müssen sich wesentlich von Gesetzen der Physik und Chemie unterscheiden, indem sie ihren Gegenstand nicht kausal, sondern funktional (teleologisch) erklären ....................................................... 360 Wie an dem Organischen die Vorstellung eines Gesetzes überhaupt verloren geht ........ 363 11.7.1 Biologische Regeln sind einsichtig, insofern sie zweckmäßig sind ................. 366 11.7.2 Die Gesetzlosigkeit der Evolution ................................................. 368 11.7.3 Nicht alles im Organismus ist sich wechselseitig Zweck und Mittel ................ 373 Sind teleologische Gesetze der belebten Natur möglich? ................................. 374 11.8.1 Organismen als Subjekte?........................................................ 376 11.8.2 Die Evolution als teleologisches Gesetz der Systematik des Lebendigen ........... 379 Vom regulativen Prinzip der reflektierenden Urteilskraft zum konstitutiven Prinzip des Lebendigen: Ein Widerspruch...................................................... 383 Kein Widerspruch zwischen Kausalität und Teleologie als Ordnungsformen der Erkenntnis ......................................................................... 385 Vom Spiel der Erkenntniskräfte zur Antinomie: Die Zweckmäßigkeit ohne Zweck ......... 387 Welche epistemologische Bedeutung hat die innere Zweckmäßigkeit der Organismen? ... 388 12.3.1 Die ›Vernünftelei‹, eine innere Zweckmäßigkeit von Naturgegenständen anzunehmen, brauchen wir nur bei ›gelegentlicher Veranlassung‹ ................ 390 Die Notwendigkeit der Projektion innerer Zweckmäßigkeit der Organismen wird durch Erfahrung gegeben ............................................................... 394 12.4.1 Die Erkenntnis des Lebendigen bleibt im Modus des ›Als-ob‹...................... 396 12.4.2 Als Objekt der Erkenntnis wird das Lebendige widersprüchlich gedacht ........... 396 Eine den Gegenstand konstituierende Methode? ......................................... 397 Sind Organismen wirklich in sich zweckmäßig, oder denken wir sie nur so? .............. 402 Vom Kantischen ›Als-ob‹ zur positiven Bestimmung einer dritten Kausalität? ............ 404 »ein Prinzip mehr« ..................................................................... 409 Das regulative Prinzip wird durch seine erfolgreiche Anwendung konstitutiv .............. 412

13. Die Dialektik des Lebendigen ........................................................... 415 13.1 Alle Versuche, das Lebendige widerspruchsfrei zu bestimmen, sind gescheitert ........... 416 13.2 Die Antinomie des Lebendigen ........................................................... 418 13.2.1 Die Antinomie der Teleologie als konstitutives Prinzip des Lebendigen ............. 418 13.2.2 Die Antinomie lässt sich nicht auflösen............................................ 419 13.3 Die Einheit des Organismus: Leben als zweckförmiger Prozess unter kausalen Gesetzen.. 422 13.3.1 Der Hegelsche Lebensbegriff ist kein biologischer Begriff ........................ 426 13.4 Die Dialektik des Lebendigen ........................................................... 427 13.5 Organische Teleologie als negative Dialektik.............................................. 431 13.6 Ausblick: avancierte Biologie und Ideologiekritik ........................................ 433 Literaturverzeichnis......................................................................... 439

Einleitung »Wenn wir einmal von der durchschnittlichen Ansicht ausgehen, daß die teleologische Perspektive bei menschlichen Handlungen, die kausale bzw. die Gesetzesperspektive bei physikalischen Prozessen angemessen ist, so bleibt der Bereich der lebendigen Natur als eigentliches Problemfeld des teleologischen Denkens.«1

Dem Begriff des Lebens widmet sich die biologische wie die naturphilosophische Forschung mehr fragend als antwortend. Es gibt auffallend viele Werke mit dem Titel Was ist Leben? 2 Dieses Rätsel zu postulieren ist geradezu klassisch. Eine klassische Antwort gibt es hingegen nicht. Im Gegenteil hat sich die Frage selbst in gewisser Weise zur

1 2

Robert Spaemann/Reinhard Löw, Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens, München/Zürich 1981, S. 22. Ein exemplarischer Querschnitt durch die deutschsprachige Literatur: Paul Nurse, Was ist Leben? Die fünf Antworten der Biologie, Berlin 2021, Asmus Trautsch/Simon Springmann (Hg.), Was ist Leben? Festgabe für Volker Gerhardt zum 65. Geburtstag, Berlin 2017, Piet van Spijk, Was ist Leben? Naturphilosophische Grundlagen der Medizin, Bern u.a. 2014, Sabine Föllinger, Was ist »Leben«? Aristoteles’ Anschauungen zur Entstehung und Funktionsweise von Leben, Stuttgart 2010, Irenäus Eibl-Eibesfeld, Was ist Leben? Entstehung – Erforschung – Erhaltung, Melsungen 2010, Bertold Hock, Was ist Leben? Bauplan und Evolution, Grünwald 2008, Hans Ulrich Gumbrecht, Geist und Materie – was ist Leben?, Frankfurt a.M. 2008, Hans Jürgen Fischbeck, Was ist Leben? Leben aus biologischer und theologischer Sicht, Mülheim 2003, Regine Kather, Was ist Leben? Philosophische Positionen und Perspektiven, Darmstadt 2003, Michael P. Murphy, Was ist Leben? Die Zukunft der Biologie. Eine alte Frage in neuem Licht – 50 Jahre nach Erwin Schrödinger, Heidelberg u.a. 1989, Peter Herrlich, Was ist Leben? Fakten und Fragen der Biologie, Wien u.a. 1977, Heinz Dombrowski, Was ist Leben?, Freiburg Br. 1971, Ernst Schrödinger, Was ist Leben? Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet, Bern 1946, William Frederik Reinig, Was ist Leben? Eine Einführung in die allgemeine Biologie von Pflanze und Tier, Berlin 1934.

12

Dialektik des Lebendigen

Antwort entwickelt. So heißt es in Knaurs Buch der modernen Biologie: »Man möchte […] sagen, das Leben sei dadurch charakterisiert, daß es sich jeder umfassenden Definition entzieht.«3 Dies scheint vordergründig daran zu liegen, dass die Organismen in so mannigfaltigen und sich evolutionär verändernden Gestalten mit so vielfältigen Überlebensstrategien, Funktionen und Eigenschaften auftreten, dass eine fachwissenschaftliche biologische Bestimmung, je präziser sie Teile oder Einzelprozesse des Lebendigen beschreibt, desto mehr Bereiche des Lebendigen ausschließt und so den Gegenstandsbereich immer mehr in Teilbereiche zergliedert, statt ihn in seiner Gesamtheit zu fassen. Die Unbestimmtheit des biologischen Lebensbegriffs macht ihn attraktiv für weltanschauliche Lebensbetrachtungen.4 Fragen nach dem guten Leben, dem Sinn des Lebens, dem gelingenden Leben etc. verquicken insbesondere seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in der Lebensphilosophie5 gern biologische, soziale und moralische Begriffsfelder, indem die Dynamik organischer Entwicklungen auf die prinzipielle Offenheit individueller menschlicher Lebensvollzüge übertragen wird.6 Der Kern dieser Übertragung in der Lebensphilosophie ist die These, dass das organische wie das soziale Leben in seinen eigenen Dynamiken sich gegen die Logizität einer positivistischen Wissenschaft verweigert: »Das Leben kann nicht vor den Richterstuhl der Vernunft gebracht werden.«7 Zugleich entstand ein moderner Naturalismus, der ebenfalls – wenngleich weniger sichtbar – auf der Unbestimmtheit des Lebensbegriffs aufbauen konnte. Ausgehend von der Evolution als Grundprinzip entstanden Theorien einer ›natürlichen‹, weil auf (vorgeblich) biologischen Prinzipien beruhenden Gesellschafts- und Sozialordnung,8 die in den mörderischen Sozialdarwinismus des deutschen Nationalsozialismus gipfelten. Auch nach der Überwindung des Sozialdarwinismus hat sich dessen Prämisse, evolutionäre Mechanismen zur Erklärung sozialer Phänomene und psychischer Dispositionen heranzuziehen, in Theorien der Soziobiologie, der evolutionären Psychologie und

3 4

5 6 7 8

Hans Joachim, Knaurs Buch der modernen Biologie, München 1967, S. 15. Die hieraus folgende Bedeutungsvielfalt des Lebensbegriffs wird in dem auf vier Bände ausgelegten Werk Das Leben bei Mohr Siebeck sehr schön dargelegt. Vgl. Petra Bahr/Stephan Schaede (Hg.), Das Leben. Historisch-systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs. Band 1, Tübingen 2009, Stephan Schaede/Gerald Hartung/Tom Kleffmann (Hg.), Das Leben. Historisch-systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs. Band 2, Tübingen 2012, Stephan Schaede/Reiner Anselm/Kristian Köchy (Hg.), Das Leben. Historisch-systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs. Band 3, Tübingen 2016. Vertreter dieser Lebensphilosophie waren vor allem Wilhelm Dilthey, Georg Simmel, Henri Bergson und teilweise auch Hans Driesch. Vgl. Olaf Breidbach, »Leben und Lebensbegriff um 1900«, in: Petra Bahr/Schaede (Hg.), Das Leben. Historisch-systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs, Bd. 1, Tübingen 2009, S. 3-44, S. 6. Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (Berlin 1910), in: Wilhelm Dilthey. Gesammelte Schriften, Band VII, Göttingen 1992, S. 359. Vgl. z.B. Ernst Haeckel, Die Welträthsel, Bonn 1899, Ernst Haeckel, Die Lebenswunder, Stuttgart 1905, Herbert Spencer, The Social Organism, London 1860, Herbert Spencer, The Principles of Psychology, London 1870-72, Herbert Spencer, The Principles of Sociology, London 1874, Herbert Spencer, Principles of Ethics, New York 1879-93, Edward B. Taylor, Primitive Culture, New York 1871, Ludwig Gumplowicz, Der Rassenkampf. Soziologische Untersuchungen, Wien 1883 und Ludwig Gumplowicz, Grundriss der Soziologie, Wien 1885.

Einleitung

der evolutionären Erkenntnistheorie bis heute erhalten. In der Auseinandersetzung mit diesen biologistischen Theorien wird schnell deutlich, dass die Fronten der Befürworter*innen und Kritiker*innen wechselseitig unzugänglich für die Argumente der jeweils anderen Seite sind. Der Grund dafür liegt in unterschiedlichen Prämissen, die den jeweiligen Argumentationen zugrunde liegen: Während die klassische Gesellschaftswissenschaft davon ausgeht, dass der Mensch durch Freiheit und Vernunft ein autonomes und selbstbestimmtes Subjekt ist, das aus Einsicht und Reflexion sich von gesellschaftlich tradierten und sozial gefestigten Normen emanzipieren und so auch seine Gesellschaft bewusst gestalten und verändern könne, gehen biologistisch argumentierende Theorien davon aus, dass gesellschaftliche Strukturen sich nach evolutionären Mechanismen bilden und menschliches Verhalten sich jeweils funktional an vorgefundene und sich verändernde soziale Gegebenheiten anpasst. Dieser Streit ist über den Rekurs auf die empirisch gegebenen Erscheinungsformen menschlichen Tuns nicht zu entscheiden. Zahlreiche Studien belegen beispielsweise eine im statistischen Durchschnitt deutlich hervortretende Differenz von ›männlichem‹ und ›weiblichem‹ Verhalten. Doch ob die Ursache hierfür in den tradierten Normen patriarchaler Gesellschaft oder in evolutionär herausgebildeten genetischen und neuronalen Strukturen liegt, lässt sich aus diesen Untersuchungen nicht ableiten. Die Differenz erscheint im Resultat als eine unterschiedliche politische Haltung, wobei letztlich unbegründet bleibt, ob evolutionäre Mechanismen das gesellschaftliche Leben des Homo sapiens in gleicher Weise bestimmen wie das Sozialverhalten anderer Spezies oder nicht. Die Biologismuskritik der 1960er bis 1980er Jahre ging noch von der These aus, dass naturwissenschaftliche Theorien und Methoden der Biologie missbraucht würden, indem ihre Methoden und Erkenntnisse unzulässigerweise auf gesellschaftliche Prozesse und Phänomene angewendet werden. Diese These der politischen Instrumentalisierung der Biologie übersieht jedoch, dass die Biologie gar kein eigenständiges Prinzip des Lebens formuliert, das ihren Gegenstandsbereich bestimmt und eingrenzt, so dass sie sich nicht über ein Prinzip vom Gegenstand der Sozial- und Gesellschaftswissenschaft abgrenzen kann. Wenn eine solche Abgrenzung der Wissenschaftsbereiche voneinander wegen des unbestimmten Lebensbegriffs gar nicht möglich ist, dann bedarf es keines Missbrauchs, keiner Instrumentalisierung der Biologie, um sie zur Ideologieproduktion tauglich zu machen. Vielmehr ist die interdisziplinäre Lebenswissenschaft, deren Forschungen heute weit in die Human- und Sozialwissenschaft hineinreicht, in sich selbst potentiell ideologisch, weil sie nicht klar nach Prinzipien zwischen lebendigen Prozessen und gesellschaftlichen oder sozialen Prozessen unterscheiden kann. Die fehlende Unterscheidbarkeit von organischen und sozialen Organisationsformen hat zwei Gründe: Die teleologische Struktur des Lebendigen und die als naturhaft erscheinende Selbstorganisation kapitalistischer Ökonomie. Bereits frühe Ökonomen der bürgerlichen Gesellschaft wie Smith und Ricardo beschrieben die selbstordnende Kraft des freien Marktes unter Bedingungen der Konkurrenz, die Biologen wie Darwin und Wallace als Vorlage zur Formulierung des Prinzips einer natürlichen Evolution dienten.9 Unter den Bedingungen kapitalistischer Ökonomie erscheinen die formie9

Vgl. Kapitel 3: Darwins Evolutionstheorie hebt die Biologie in den Stand einer modernen Naturwissenschaft.

13

14

Dialektik des Lebendigen

renden Mechanismen bürgerlicher Gesellschaft als naturhaft, wie unter den Begriffen von zweiter Natur, automatischem Subjekt und der Analyse apersonaler Herrschaft mit Rückgriff auf Marx’ Kritik der politischen Ökonomie vielfach durch eine kritische Theorie der Gesellschaft gezeigt wurde. Die Naturalisierung der Gesellschaft und ihrer Subjekte ist darum die im Kapitalismus vorherrschende – weil angemessene – Ideologie. Diese verstellt, da nicht prinzipiell zwischen Gesellschaft und Natur unterschieden werden kann, auch den Blick auf das bestimmende Prinzip des Lebendigen. Doch der Ursprung der begrifflichen Unbestimmtheit des Lebens reicht historisch bis vor die Antike zurück und liegt in der zweckmäßigen Struktur von Organismen, die in Analogie zu Artefakten über ein teleologisches Prinzip gedacht wird.10 Wie Kant darlegte, kann die teleologische Zweckmäßigkeit, das ›Wozu?‹, nicht sinnlich erscheinen, da der unterstellte Zweck immer intelligibel ist und nur gedacht werden kann. Dennoch ist es die sinnlich gegebene Form der Organismen, die uns dazu veranlasst, einen intelligiblen Zweck analog zu Artefakten zu unterstellen und ihren Teilen spezifische Funktionen zuzuordnen. Dass eine Katze gerade an der Stelle Löcher im Fell hat, an der sich die Augen befinden, ist, wie Lichtenberg11 sagte, doch verwunderlich. Der Hauptgrund für die Unbestimmtheit des organischen Lebensbegriffs liegt tatsächlich in einer formalen Gemeinsamkeit von Organismen, Artefakten, gesellschaftlicher Organisation und menschlichen Handlungen: Sie sind nur teleologisch zu begreifen. Darum liegt der implizite Schluss nahe, dass ihre Organisation über ein identisches Prinzip erfolge und Übertragungen von dem einen Gegenstand auf den anderen keinen Wechsel des wissenschaftlichen Gegenstandsbereichs darstellten. In Folge können Biolog*innen bloß intuitiv, aber nicht konsistent theoretisch den Unterschied zwischen Organismen und Artefakten begründen – Dawkins nennt Artefakte darum auch »ehrenamtliche Lebewesen«.12 Entsprechend können auch soziale Entwicklungen und menschliche Handlungen sowie historisch geschaffene gesellschaftliche Strukturen und Normen in ihrer funktionalen Form nicht über ein Prinzip von der zweckmäßigen Organisation gesellig lebender Tiere und ihren angepassten Verhaltensweisen unterschieden werden. Aus dieser falschen Grundannahme eines identischen Prinzips der Organisation und Entwicklung von Natur und Gesellschaft entstehen entweder biologistische Theorien,13 wenn bewusst gesetzte Zwecke naturalisiert und damit zu bewusstlosen Prozessen degradiert werden, oder es wird umgekehrt ein vernunftbegabtes Subjekt hinter der teleologischen Form von Organismen postuliert, wie in der populären Bewegung des Intelligent Design.14

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Vgl. Kapitel 2: Die Analogie von Organismus und Artefakt. »Er wunderte sich, daß den Katzen gerade an der Stelle zwei Löcher in den Pelz geschnitten wären, wo sie die Augen hätten.« [G 71] Georg Christoph Lichtenberg, Aus den Sudelbüchern 1765-1799, Frankfurt a.M. 2008, S. 240. Richard Dawkins, Der blinde Uhrmacher, München 1990, S. 26. (Künftig zitiert: Dawkins, Uhrmacher). Eine gute Einführung in die Methoden den ideologischen Gehalt der modernen Sozibiologie bietet z.B. Eckard Voland, Die Natur des Menschen: Grundkurs Soziobiologie, München 2007. Die Theorie des Intelligent Design ist in den USA sehr weit verbreitet, findet aber auch in Europa immer mehr Anhänger*innen. Vgl. Dittmar Graf (Hg.), Evolutionstheorie – Akzeptanz und Vermittlung im europäischen Vergleich, Heidelberg 2010.

Einleitung

Die Frage nach der teleologischen Struktur von Organismen, tierischen Verhaltensweisen und evolutionären Veränderungen im Unterschied zur teleologischen Struktur von Artefakten, zielgerichteten menschlichen Handlungen und sozialen Strukturen ist sowohl für die theoretische Biologie wie auch für eine kritische Theorie der Gesellschaft von zentraler Bedeutung. Solange die Biologie als Wissenschaft vom Lebendigen kein eigenständiges Prinzip des Lebens formuliert hat, das ihren Gegenstandsbereich bestimmt, kann die organische Teleologie nicht systematisch von den funktionalen Strukturen gesellschaftlicher und sozialer Ordnungen abgegrenzt werden. Eine Klärung des biologischen Lebensbegriffs bestimmt und begrenzt nicht nur den Gegenstandsbereich der Biologie, sondern schafft dabei implizit auch die Grundlage für die Entwicklung avancierter Begrifflichkeiten in Bezug auf gesellschaftliches Leben, dessen emanzipativem Potential naturalistische Metaphern nicht gerecht werden. Aus dem Erkenntnisinteresse, eine sich ihres Gegenstandsbereichs bewusste und so gegen naturalistische Ideologien immunisierte Biologie zu ermöglichen, folgt das Erkenntnisziel, den Begriff des biologischen Lebens zu bestimmen. Da hier also das Prinzip des Organischen im Unterschied zum Prinzip von Menschen realisierter Zweckmäßigkeit bestimmt werden soll, folgt die Untersuchung den Bestimmungen der Lebendigkeit im biologischen Sinne. Um dies deutlich zu machen, ist im Folgenden zumeist die Rede vom Lebendigen oder Organischen, nicht vom Leben in reiner Abstraktion. Darum bezieht sich diese Arbeit auf die Bestimmungen des Lebendigen in der theoretischen Biologie und naturphilosophischen Reflexionen. Die Differenz von gesetzter Zweckmäßigkeit und organischer Teleologie erscheint in den biologischen Bestimmungen des Lebendigen als eine Antinomie: Während der Mensch als Vernunft- und Freiheitswesen sich seine Ziele und Zwecke setzen und sie in seinen Handlungen verfolgen kann, so dass soziale Strukturen und Artefakte als Produkte seiner Handlungen zielgerichtet und zweckmäßig sind, fehlt in den funktional gerichteten Prozessen der belebten Natur ein zwecksetzendes Subjekt. So sind Lebewesen zwar in all ihren Teilen und wechselseitigen Bezügen der Organfunktionen sinnvoll teleologisch aufgebaut, jedoch ohne intelligibel gesetztes Telos. Das Resultat ist paradox: »Biologen können offenbar weder mit der Teleologie leben, noch ohne sie«15 . Ohne Teleologie können Biolog*innen nicht auskommen, weil dieses Prinzip offenbar die Differenz zwischen belebter und unbelebter Natur setzt; ohne eine teleologische Beurteilung gäbe es keine belebten Körper im Unterschied zu unbelebten.16 Ein Reduktionismus der Biologie auf Physik und Chemie wäre die Folge. Mit dem teleologischen Prinzip kann die Biologie aber auch nicht naturwissenschaftlich arbeiten, da jede Teleologie auf eine intelligible Sphäre verweist, die zwar der philosophischen Reflexion, nicht aber der naturwissenschaftlichen Forschung offen steht. Denn die äußere Natur ist kausal über Ursachen und Wirkungen nach empirischen Gesetzen verknüpft, so dass sich die Einheit eines durchgehenden Systems ergibt;17

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Martin Mahner/Mario Bunge, Philosophische Grundlagen der Biologie, Berlin/Heidelberg u.a. 2000, S. 347. Vgl. Kapitel 5: Die Aporie der Entstehung des Lebens. Vgl. Kapitel 1: Die transzendentale Idee der Einheit.

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Dialektik des Lebendigen

ein teleologisches Naturgesetz18 erscheint daher als eine contradictio in adiecto und eine Naturwissenschaft, die auf intelligible Ursachen verweist, gerät schnell zur Metaphysik.19 Spätestens seit Darwin wurden große Anstrengungen unternommen, die theoretische Biologie als strenge Naturwissenschaft zu begründen und sie von ihren metaphysisch-teleologischen Implikationen zu befreien. Durch eine inhaltliche und begriffliche Prüfung dieser Lösungsansätze auf ihre Konsistenz und Widerspruchsfreiheit wird im Laufe der Untersuchung deutlich, dass dieser grundsätzliche Widerspruch der Biologie bislang nicht überwunden wurde und dass zentrale Begriffe der Biologie in sich widersprüchlich verfasst sind.20 Auch wenn die epistemologischen Grundlagen dieser zentralen Antinomie des Lebensbegriffs in der Biologie selten reflektiert wurden, so ist ihr das hieraus resultierende Problem wohlbekannt: »›Teleology is a lady without whom no biologist can live; yet he is ashamed to show himself in public with her‹21 – teleologische Konzepte gelten in der Biologie gleichzeitig als attraktiv und als unsolide. Seit jeher hat sich Biologie daher mit den Anzüglichkeiten der Teleologie auseinander zu setzen. Der Begriff der Zweckmäßigkeit ist in der Sprache der Biologen in gleichem Maße fest verankert, wie er zu umgehen und zu ersetzen versucht wird. Diese Ambivalenz spiegelt sich auch darin, dass Klarheit über seinen Inhalt und Status bisher nicht erzielt werden konnte. Er blieb ein zwielichtiger Begriff, der einem nicht ganz einwandfreien Milieu zu entstammen scheint.«22 Die pragmatische Lösung dieses Dilemmas der Biologie besteht darin, die Frage, was Leben sei, besser nicht zu stellen, wie schon Auguste Comte es gefordert hat: »[I]n den lebenden Körpern zeigen zwar sich alle jene mechanischen und chemischen Vorgänge, welche bei den unorganischen sich finden, aber daneben noch die Lebensvorgänge, welche mit der O r g a n i s a t i o n zusammenhängen. Man will nicht wissen, ob diese beiden Klassen von Körpern von gleicher N a t u r sind oder nicht, denn die positive Philosophie erklärt offen, dass sie die i n n e r e N a t u r bei keinem Körper kennt.«23 Wenn man nicht wissen will, was die innere Natur, d.i. das bestimmende Prinzip der Organismen ist, welches doch offenbar als »Organisation« in ihrer äußeren Natur erscheint, dann lassen sich zwar alle chemischen und physikalischen Vorgänge in Organismen über den Stoffwechsel bis zur DNA-Replikation erklären, aber was ein Orga-

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Vgl. Kapitel 11: Gibt es biologische Naturgesetze? Vgl. Kapitel 8: Mechanismus und Vitalismus. Vgl. Kapitel 4: Die Aporie des Artbegriffs. »Den genauen Ursprung dieses Zitates konnte ich [Toepfer] nicht ermitteln. Es geht wahrscheinlich auf den Physiologen E. von Brücke (1819-1892) zurück; es wird aber auch Haldane zugeschrieben (J. S. Haldane, 1860-1936, oder J. B. S. Haldane, 1892-1964?). Ich gebe es nach Beveridge (1950/51, S. 61) wieder (vgl. Davis 1961, 10; Mayr 1974, 115; O’Grady & Brooks 1988, 285).« Georg Toepfer, Zweckbegriff und Organismus. Über die teleologische Beurteilung biologischer Systeme, Würzburg 2004, S. 1. (Künftig zitiert: Toepfer, Zweckbegriff und Organismus). Toepfer, Zweckbegriff und Organismus, S. 1. Auguste Comte, Positive Philosophie, Erster Band, Leipzig 1883, S. 26.

Einleitung

nismus ist, das lässt sich hierüber nicht begreifen. Dies erklärt, warum das Leben über Jahrhunderte hinweg in verschiedener Weise stets als Rätsel postuliert wurde. Mit Georg Toepfer bin ich der Auffassung, dass »die Frage nach der Teleologie das zentrale theoretische Problem der Biologie« darstellt, denn erst die »teleologische Beurteilung von Naturvorgängen verschafft der Biologie ihren spezifischen Gegenstand.«24 Naturphilosophisch geht der Ansatz, die Biologie als eigenständige Naturwissenschaft zu begreifen, die über einen spezifischen Gegenstandsbereich des Lebendigen bestimmt ist, auf Immanuel Kant zurück. Ernst Cassirer beschreibt die zentrale Stellung Kants in dieser Frage, wenn er schreibt: »Die ›Kritik der Urteilskraft‹ (1790) vollzieht den entscheidenden Durchbruch, indem sie zwar die V e r b i n d u n g der Biologie mit der mathematischen Physik nicht aufgibt, aber nichtsdestoweniger die ›Autonomie‹, die methodische Selbstgesetzlichkeit der letzteren [gemeint ist hier der ersteren, nämlich der Biologie] behauptet. Damit war eine neue Frage gestellt, an der künftig die biologische Forschung, gleichviel welcher Schule und Richtung sie angehörte, nicht mehr vorbeigehen konnte. Die Philosophie vor Kant hatte diese Frage dadurch zu umgehen gesucht, daß sie in irgendeiner Weise die Einheit von Physik und Biologie erzwingen wollte. Die Physik wurde entweder auf die Biologie oder diese auf jene gegründet.«25 Dieser »entscheidende Durchbruch« erzeugt jedoch zunächst mehr Probleme, als er löst. Nirgendwo sonst ringt der hochstrukturierte Denker Kant so verzweifelt mit dem Gegenstand, wie zu Beginn des zweiten Teils der Kritik der Urteilskraft. Dort beschäftigt er sich mit »dem eigentümlichen Charakter der Dinge als Naturzwecke«26 , den Lebewesen. Die Besonderheit des Lebewesens als existierendem Naturzweck besteht darin, dass »es von sich selbst Ursache und Wirkung ist«27 . Anzunehmen, dass es solche Dinge gäbe, »dazu haben wir gar keinen Grund in der allgemeinen Idee der Natur als Inbegriffs der Gegenstände der Sinne.«28 Ihre Existenz »läßt sich a priori gar nicht mit einigem Grunde präsumieren. Was aber noch mehr ist, so kann uns selbst die Erfahrung die Wirklichkeit derselben nicht beweisen«29 . Wenn also weder die Sinnlichkeit noch die Vernunft Quelle der Erkenntnis von Lebewesen sein kann, dann ist es eigentlich unmöglich, von ihnen zu reden. Trotzdem versucht Kant es weiter. Obgleich er festhält, dass es neben der Kausalverbindung von Ursache und Wirkung in der bloßen Natur (nexus effectivus) und der teleologischen Kausalverknüpfung nach einer intelligiblen Endursache, über welche in Artefakten ein zuvor gedachter Zweck realisiert wird (nexus finalis), keine weite Art der Kausalität geben könne, da hiermit die beiden möglichen Felder der Verknüpfung von realen und von idealen Ursachen abgedeckt sind, nimmt er zur Erklärung der Organis-

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Toepfer, Zweckbegriff und Organismus, S. 1. Ernst Cassirer, Gesammelte Werke Bd. 5, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Vierter Band, Hamburg 2000, S. 137. (Künftig zitiert: Cassirer, Erkenntnisproblem). Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Hamburg 1990, S. 232 [284]. (Künftig zitiert: Kant, KdU). Kant, KdU, S. 233 [286]. Kant, KdU, S. 221 [267 f]. Kant, KdU, S. 221 [268].

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men doch »eine besondere Art der Kausalität«30 an. Diese »neue Kausalität«31 , gebildet »nach einer entfernten Analogie mit unserer Kausalität nach Zwecken«32 , ermögliche, dass die Teile des Lebewesens es wechselseitig als »ein Ganzes aus eigener Kausalität hervorbringen«33 . Damit besitzen Organismen »eine sich fortpflanzende bildende Kraft«34 – und spätestens hier ist die Analogie mit dem nexus finalis, dem bestimmenden Prinzip der Artefakte, am Ende: »Man sagt von der Natur und ihrem Vermögen in organisierten Produkten bei weitem zu wenig, wenn man dieses ein Analogon der Kunst nennt; denn da denkt man sich den Künstler (ein vernünftiges Wesen) außer ihr.«35 Da wir nach Kant aber weder die Natur selbst als vernünftiges Wesen annehmen dürfen, noch hinreichend Grund haben, als Ursache der Organismen die eine göttliche Vernunft zu konstatieren, sind Lebewesen keine Realisierungen eines intelligiblen Zwecks. Aber wenn diese besondere Kausalform der Organismen nicht dem nexus finalis analog ist, was ist sie dann? »Näher tritt man vielleicht dieser unerforschlichen Eigenschaft, wenn man sie ein Analogon des Lebens nennt«36 . Das Leben soll also nach einem Prinzip zu erkennen sein, das ihm selbst analog ist. Das ist tautologisch und damit wahr, aber wenig hilfreich. Auch die Annahme einer Seele als organisierendem Prinzip des Lebendigen verlagert Kant zufolge das Problem nur, anstatt es zu lösen.37 Schließlich muss er die Analogie zum nexus finalis aufgeben: »Genau zu reden, hat also die Organisation der Natur nichts Analogisches mit irgendeiner Kausalität, die wir kennen.«38 Die regulative Urteilskraft erkennt Lebewesen durch eine unterstellte Kausalform in entfernter Analogie zum nexus finalis, muss diese Analogie aber zugleich negieren. Kant impliziert mehrfach eine dritte, eigene Kausalform der organischen Natur; da es die aber zugleich nicht geben kann, bleibt sie im regulativen Modus des ›Als-ob‹ und kann nicht konstitutiv ein eigenes Prinzip des Lebendigen setzen. Etwas hilflos rechtfertigt Kant, dies sei »doch wenigstens ein Prinzip mehr, die Erscheinungen derselben [der Natur] unter Regeln zu bringen, wo die Gesetze der Kausalität nach dem bloßen Mechanism derselben nicht zulangen.«39 Der Unterschied zwischen dem nexus finalis und einer organischen Teleologie, den Kant in seiner Kritik der Urteilskraft bestimmt, bleibt ein rein negativer und widersprüchlicher: Organismen seien so zu denken, als ob ein Zweck in sie gesetzt sei, ohne dass dies tatsächlich anzunehmen wäre. Wenn wir also Lebewesen nur erkennen können, indem wir sie so beurteilen, als ob sie nach einem Prinzip organisiert seien, von dem wir zugleich sagen müssen, dass sie nicht wirklich danach organisiert sind – was erkennen wir dann? Und wenn weder die Vernunft a priori noch die sinnliche Erfahrung uns den Begriff eines organisierten

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Ebd. Kant, KdU, S. 223 [270]. Kant, KdU, S. 238 [295]. Kant, KdU, S. 236 [291]. Kant, KdU, S. 237 [293]. Ebd. Ebd. Vgl. Kant, KdU, S. 238 [293]. Kant, KdU, S. 238 [294]. Kant, KdU, S. 222 [269].

Einleitung

Naturzwecks geben und beweisen kann, was treibt uns dann überhaupt in dieses epistemologische Desaster, mit der Biologie eine ganze Naturwissenschaft auf den tönernen Füßen eines negierten ›Als-ob‹-Prinzips zu gründen? Liebrucks stellt die plausible These auf, dass es die Lebewesen selbst sein müssen, die das Denken in die Antinomie einer Teleologie ohne Telos treiben: »Wenn der Organismus von einem Bewußtsein nur als nach Zwecken entstanden, sich nach Zwecken erhaltend, organisierend und fortpflanzend beurteilt werden kann, so muß das x der Wirklichkeit, die wir Organismus nennen, an solcher Notwendigkeit der Beurteilung mitbeteiligt sein. Denn dasselbe menschliche Bewußtsein wird im Anblick des Anorganischen nicht zur Reduktion der Bestimmung seiner eigenen Urteilskraft als nur reflektierend gezwungen«40 . Wenn die Wirklichkeit der Lebewesen an der Notwendigkeit der für Naturgegenstände zugleich unzulässigen Beurteilungsart nach der teleologischen Form des nexus finalis zumindest mit beteiligt ist, dann müsste das erkenntnistheoretische Problem, das Kant in der Kritik der teleologischen Urteilskraft umtreibt, sich auch allenthalben in der Biologie wiederfinden lassen und sie permanent in den Widerspruch treiben, ihren Naturgegenstand, der als solcher nach dem Kausalgesetz des nexus effectivus beurteilt werden können sollte, zugleich nach der Form des nexus finalis beurteilen zu müssen, ohne jedoch eine echte Teleologie annehmen zu dürfen. Und genau so ist es: Die Geschichte der Biologie zeigt, dass eben dies der Widerspruch ist, in den die Theorien des Lebendigen sich verstricken. Im Bestreben nach Widerspruchsfreiheit wird dann entweder das ›Als-ob‹ gestrichen, um positiv eine tatsächliche Zwecksetzung zu postulieren (z.B. als ›Lebenskraft‹ oder durch einen Schöpfungsakt), oder es wird versucht, den teleologischen Überhang zu widerlegen. Doch obwohl die Kritik der theoretischen Biologie an positiven teleologischen Konzepten – vom Vitalismus bis zum Intelligent Design – zumeist gelingt, scheitert sie zugleich immer wieder daran, das teleologische Moment grundsätzlich aus der Biologie zu tilgen und verstrickt sich – wie Kant – in widersprüchliche Bestimmungen (z.B. Teleonomie, Teleomatie, autopoietische Systeme etc.41 ). Diese Bewegung des Scheiterns wird im Folgenden durch zentrale Aspekte und Entwicklungen der Biologie hindurch verfolgt. So ergibt sich ein deutliches Bild davon, dass und vor allem warum bei den Bestimmungen des Lebendigen nicht auf ein teleologisches Prinzip verzichtet werden kann,42 obgleich dieses negativ im Modus des ›Alsob‹ verharren muss. Dabei wird die Problemgeschichte aufgezeigt, so dass auch Theorien analysiert werden, die vom aktuellen Forschungsstand der Biologie aus längst überholt und verworfen wurden. Die historischen Ausführungen dienen der systematischen Darstellung des zu klärenden Problems. Da die retrospektive systematische Darstellung

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Bruno Liebrucks, Wege zum Bewußtsein: Sprache und Dialektik in den ihnen von Kant und Marx versagten, von Hegel eröffneten Räumen, Frankfurt a.M. 1966, S. 259. Vgl. Kapitel 7: Von der Teleologie zur Teleonomie. Die Integration des nexus finalis in die Biologie und Kapitel 10: Kybernetik und Selbstorganisationstheorien in der Biologie. Dies zeigt sich besonders deutlich bei den biologischen Realdefinitionen des Lebens. Vgl. Kapitel 6: Positive Definition des Lebens über empirische Kennzeichen?

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eines Gedankens nicht den historischen Entwicklungen entsprechen muss, wird die historische Abfolge nicht eingehalten. Vielmehr werden Theorien aufgegriffen, in denen das Problem der teleologischen Verfasstheit des Lebendigen Gegenstand ist oder in denen der Widerspruch zwischen vollständiger Kausalanalyse bei gleichzeitigen teleologischen Implikationen augenfällig (gemacht) wird, wobei die Ordnung der Darstellung durch den Argumentationsgang gestiftet wird. Dasselbe gilt für die Gewichtung einzelner Autor*innen.43 Teilweise wird weniger bekannten Schriften mehr Raum eingeräumt, als manchem Klassiker, oder bekannte Theorien werden nicht umfassend, sondern bloß exemplarisch dargestellt, um an ihnen ein Problem im Gegenstand zu demonstrieren. So wird in einigen Kapiteln auch auf eher abseitige Theoreme zurückgegriffen, beispielsweise diejenigen der lebendendigen Kristalle44 oder der Kryptobiologie, um an ihnen grundsätzliche Schwierigkeiten des Lebensbegriffs aufzuzeigen. Dabei wird deutlich, dass die zahlreichen Bemühungen darum, das Lebendige widerspruchsfrei zu bestimmen, im Resultat die Antinomie des Organischen nur in immer neuen Varianten reproduzieren. Zugleich wird deutlich, dass die Biologie bis heute diesen Widerspruch nicht aufgeben kann, ohne zugleich ihren spezifischen Gegenstandsbereich aufzugeben. Das Lebendige erscheint stets widersprüchlich als teleologisch ohne Telos, zweckmäßig organisiert ohne gesetzten Zweck etc. Ohne diese Antinomie könnte der Organismus nicht als lebendig erkannt werden, sondern würde entweder in die Klasse der unbelebten Gegenstände fallen, wie es der Mechanismus/Reduktionismus nahelegt, oder die Physik müsste um eine neue vitalistische Naturkraft erweitert werden, was in die Probleme der alten Metaphysik zurückführt. Den Widerspruch im Lebensbegriff aufzulösen, hieße also, den Begriff des Lebendigen aufzugeben. Was umgekehrt bedeutet, dass genau dieser Widerspruch sich als konstitutiv für den Begriff des Lebendigen erweist.45 Die sich hieraus ergebende prinzipielle Unlösbarkeit des epistemologischen Widerspruchs im Begriff des Lebendigen führt dazu, »daß wir eine Annäherung an das, was wir Leben nennen, nicht ohne die Aufnahme des Widerspruchs, und damit einer dialektischen Betrachtungsweise, vollziehen können«46 . Die Dialektik ist keine Denkform, mit der die Naturwissenschaften üblicherweise vertraut sind. Ist der Forschungsgegenstand aber in sich widersprüchlich verfasst, ohne als solcher erkannt zu sein, dann münden alle Erklärungsversuche notwendig in widersprüchlichen – also falschen – Theorien. Dialektik ist, wie Adorno in der Einleitung zum Positivismusstreit darlegte, keine von ihrem Gegenstand unabhängig zu definierende Methode.47 »Dialektik ist beides, eine Methode des Denkens, aber auch mehr, nämlich 43

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Da weite Teile der Arbeit historisch orientiert sind, überwiegen die Autoren. Wenn im weiteren Text ausschließlich die männliche Form gebraucht wird, dann geschieht dies, um die Abwesenheit von Wissenschaftlerinnen sichtbar zu machen. Vgl. Kapitel 9: Ordnung und Information. Vgl. Kapitel 12: Vom regulativen Prinzip der reflektierenden Urteilskraft zum konstitutiven Prinzip des Lebendigen: Ein Widerspruch. Alfred Rohloff, Das Leben denken?, Oberhausen 2012, S. 146. Vgl. Theodor W. Adorno, »Einleitung zum ›Positivismusstreit in der deutschen Soziologie‹«, in: Theodor W. Adorno, Soziologische Schriften I, Gesammelte Schriften Bd. 8, Frankfurt a.M. 1997, S. 280353, S. 288.

Einleitung

eine bestimmte Struktur der Sache«48 , weil sich nicht jeder Gegenstand beliebig formal auf dialektische Weise denken lässt. Nur wenn ein innerer Widerspruch konstitutiv für den Gegenstand ist, er sich also nicht widerspruchsfrei denken und erklären lässt, ohne ihn zu beschneiden und so zu verfälschen, ist die dialektische Betrachtung angemessen und notwendig, da es sich dann um einen dialektisch verfassten Gegenstand handelt. So treibt ein in sich widersprüchlicher Gegenstand das Denken zur Dialektik, indem alle Versuche seiner Darstellung in widerspruchsfreien Theoremen und Begriffen scheitern. Entsprechend ergeben sich in der folgenden Arbeit aus den Reflexionen auf die Widersprüche in biologischen Lebensbegriffen dialektische Argumentationen, auf deren Grundlage ein avancierter Begriff des Lebendigen entwickelt wird, der den Gegenstandsbereich der Biologie als eigenständiger Naturwissenschaft bestimmt und sie so erstmals über ein eigenes Prinzip des Lebendigen klar sowohl von anderen Naturwissenschaften als auch von Sozial- und Gesellschaftswissenschaften abgrenzt.49 Das Rätsel des Lebens ist nicht positivistisch zu lösen, da das Leben tatsächlich ein in sich widersprüchlicher Begriff ist, der nur über eine Dialektik des Lebendigen begriffen werden kann.

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Theodor W. Adorno, Einführung in die Dialektik (1958), Berlin 2010, S. 9. (Künftig zitiert: Adorno, Einführung in die Dialektik). Vgl. Kapitel 13: Die Dialektik des Lebendigen.

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1. Die transzendentale Idee der Einheit »So ist die Wissenschaft eine Einheit. Sie ist kein Mosaik, kein Hain, in dem verschiedene Baumarten nebeneinander stehen, sondern ein Baum mit vielen Zweigen und Blättern. Sie gibt die Erkenntnis der Einen Welt, die auch nicht in verschiedene Wirklichkeiten auseinanderfällt.«1

Das Rätsel, das der Begriff des Lebendigen der Naturforschung aufgibt, lässt sich auf ein erkenntnistheoretisches Problem zurückführen, das erstmals in den transzendentalen Reflexionen Immanuel Kants klar zutage tritt: Zur Erkenntnis lebendiger Organismen muss ein Prinzip angenommen werden, das zugleich nicht angenommen werden darf. Dieser Widerspruch ergibt sich daraus, dass die ermöglichende Bedingung der wissenschaftlichen Naturerkenntnis das Prinzip der durchgängigen systematischen Bestimmbarkeit aller Naturerscheinungen nach kausalen Gesetzen ist, Organismen jedoch über ein teleologisches Prinzip erkannt werden. Ein empirisches Naturphänomen, das nicht durch ein anderes verursacht wurde, also nicht Wirkung einer Ursache ist, ist nicht denkbar; denn ein solches könnte durch nichts erklärt und folglich auch nicht erkannt werden. Naturwissenschaft muss aber von der prinzipiellen Erkennbarkeit der Welt ausgehen, d.h. voraussetzen, dass alle Naturerscheinungen systematisch kausal zusammenhängen, so dass die ganze Natur ein einheitliches System unter Gesetzen bildet, das prinzipiell erkannt werden kann. Dieser vorausgesetzten Einheit der Natur unter kausalen Gesetzen muss jeder empirische Gegenstand sich fügen, d.h. er muss im durchgängigen System von Ursachen und Wirkungen hinreichend bestimmt (und bestimmbar) sein. Die Organismen erfüllen einerseits diese Bedingung; da sie empirische Naturgegenstände sind, muss jede organische Leistung nach physikalischen/chemischen Gesetzen erklärbar sein.2 Doch zugleich 1 2

Moritz Schlick, »Philosophie und Naturwissenschaft. (Vortrag in Wien 1929)«, in: Erkenntnis 4, 1934, S. 379-396, S. 382. Auch wenn es sich mitunter als schwierig erweist, einzelne Phänomene des Organischen nach physikalischen oder chemischen Gesetzen zu erklären, so muss doch angenommen werden, dass dies in jedem Fall möglich sei. So bewies bspw. Ellington 1996, dass auch Hummeln fliegen können und

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Dialektik des Lebendigen

geht der Organismus nicht in diesen Erklärungen auf. Denn nicht dass, sondern erst die Erkenntnis wozu bestimmte organische Leistungen in Bezug auf den Gesamtorganismus erbracht werden, macht die Erklärung des Lebendigen vollständig. Die Frage nach dem Zweck, dem Telos, ist für das Verständnis von organischen Strukturen wesentlich.3 Wozu haben Tauben einen Kropf und Fische eine Schwimmblase? Wozu dienen einem Baum die Wurzeln oder welche Funktion hat das Serotonin im Hirnstoffwechsel? Durch diese Frage nach dem Zweck wird das Kausalprinzip, das die Gegenstände der Physik und Chemie vollständig erklären kann und so die systematische Einheit der Natur stiftet, verlassen. »Zwar ist es richtig, daß der Organismus, soweit er Körper ist, sich aus Stoffen zusammensetzt, die der chemischen Analyse zugänglich sind; aber gerade soweit diese Stoffe chemisch begriffen werden, soweit sind sie biologisch noch nicht begriffen.«4 Lebewesen stehen nicht nur unter der systematischen Einheit aller Naturgegenstände nach dem Prinzip der Kausalität, sie stellen zugleich auch selbst eine Einheit nach dem Prinzip der Zweckmäßigkeit dar. Diese zweckmäßige Einheit einzelner Naturgegenstände ist nur unter der Voraussetzung der allgemeinen Einheit der Natur unter kausalen Gesetzen möglich, entzieht sich ihr jedoch zugleich, da die Kausalität nach Gesetzen der Natur die zweckmäßige Einheit der Organismen nicht nur nicht hinreichend, sondern gar nicht bestimmt. Denn zu ihrer Erkenntnis ist ein teleologisches Prinzip erfordert, das weder a priori vorausgesetzt werden kann wie das Prinzip der Kausalität, noch durch empirische Erfahrung begründet werden kann, da die teleologische Form nicht sinnlich erscheint, sondern in der Beurteilung des Gegenstandes als zweckmäßig antizipiert werden muss.

1.1

Die Einheit der Natur »Was berechtigt uns, in der Natur ein Ganzes zu sehen, das die Form eines logischen Systems hat und das sich erst nach Art eines solchen behandeln läßt?«5

Natur ist zunächst all das, was real vorhanden ist. Diese erste Bedeutung von Natur als Inbegriff all dessen, was uns durch Erfahrung als äußerer Gegenstand gegeben werden kann (»natura materialiter spectata«6 ), deckt sich heute nicht mehr mit dem Alltags-

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löste so das 1934 von Antoine Magnan aufgestellte ›Hummel-Paradoxon‹. Vgl. Dave Goulson, Und sie fliegt doch: Eine kurze Geschichte der Hummel, München 2014. Vgl. Robert Spaemann/Reinhard Löw, Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens, München/Zürich 1981. Richard Kroner, Zweck und Gesetz in der Biologie. Eine logische Untersuchung, Tübingen 1913, S. 91. Vgl. hierzu Thomas Kalenberg, Die Befreiung der Natur, Hamburg 1997, S. 311. Cassirer, Erkenntnisproblem, S. 144. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1997, B 163. (Künftig zitiert: Kant, KrV).

1. Die transzendentale Idee der Einheit

verständnis7 , wird jedoch in der Naturwissenschaft als physikalischer Naturbegriff zugrunde gelegt.8 Zur Natur gehört demnach alles, was uns durch äußere Wahrnehmung direkt oder indirekt (durch Messungen oder Berechnungen) gegeben werden kann, und in diesem Verständnis ist sie deckungsgleich mit der Wirklichkeit oder Realität. Die Natur ist der »Inbegriff aller Dinge, so fern sie Gegenstände unserer Sinne, mithin auch der Erfahrung sein können«9 . Dieser bloß materielle Naturbegriff ist nicht Begriff einer Einheit, sondern einer bloßen Sammlung, Natur wird hier als Summe und nicht als Totalität der Erscheinungen gedacht. Sie stellt sich dar als die äußere Mannigfaltigkeit sinnlicher Erscheinungen. Mit dieser Mannigfaltigkeit der besonderen Gegenstände, die sich unserer Wahrnehmung dartun, »ist ein unerschöpflicher Vorrat fürs Beobachten und Beschreiben aufgetan.«10 Doch diese zerstreut und vereinzelt sich darbietende Vielfältigkeit der Natur lässt sich aus ihrer bloßen Erfahrung heraus eben nur beschreiben, aber nicht begreifen. Schon der Schluss von einem bestimmten Messergebnis auf die das Ergebnis erklärende Ursache geht der Sache nach über die Naturwahrnehmung hinaus, weil hier ein kausaler Zusammenhang gedanklich hergestellt wird. Mit dem alleinigen Bezug auf die Erfahrung können Naturgesetze streng genommen nicht einmal mit komparativer Allgemeinheit formuliert werden; denn die Natur stellt sich sinnlich gar nicht als eine Einheit oder ein Ganzes dar, das unter einem systematischen Zusammenhang als ein Allgemeines gedacht werden müsste.

1.1.1

Von der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen zur Einheit unter Gesetzen

Was am Humeschen Skeptizismus den transzendentalen Schlummer Kants unterbrach, war dessen Darlegung, dass die strenge Allgemeinheit und Notwendigkeit der Kausalität nicht aus der Erfahrung herzuleiten sei. Da die Naturwissenschaft dennoch erfolgreich mit allgemeinen und notwendigen Naturgesetzen arbeitet11 , folgert Kant, dass diese, wenn sie nicht a posteriori begründet werden können, a priori vorausgesetzt werden müssen. »Erfahrung gibt niemals ihren Urteilen wahre oder strenge, sondern nur angenommene und komparative A l l g e m e i n h e i t (durch Induktion), so daß es eigentlich heißen muss: so viel wir bisher wahrgenommen haben, findet sich von dieser oder jener Regel keine Ausnahme. Wird also ein Urteil in strenger Allgemeinheit gedacht, 7

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Im Alltagsgebrauch ist heute zumeist die Markierung der Differenz zwischen bearbeiteter und unbearbeiteter Natur zentral, so dass der Begriff Natur oft auf die ›unberührte‹, manchmal auch auf die belebte Natur beschränkt wird. Natur als Gegenbegriff zur Kultur/Technik, wird in dieser Arbeit nur implizit behandelt, wenn es um die Vergleichung von Organismen und Artefakten geht, die beide über eine teleologische Struktur verfügen. Einen aktuellen Überblick über verschiedene Verwendungen des Begriffs Natur gibt z.B. der Sammelband: Thomas Kirchhoff/Nicole Karafyllis u.a. (Hg.), Naturphilosophie – von der Antike bis in die Gegenwart, Tübingen 2017. Von dieser Bedeutung von Natur im physikalischen Sinne wird in dieser Arbeit ausgegangen. Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Hamburg 1997, S. 3 (Vorrede III). (Künftig zitiert: Kant, MAN). Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a.M. 1986, S. 189. (Künftig zitiert: Hegel, Phänomenologie). Kant hatte hier vor allem die Newtonsche Mechanik im Sinn.

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d.i. so, daß gar keine Ausnahme als möglich verstattet wird, so ist es nicht von der Erfahrung abgeleitet, sondern schlechterdings a priori gültig.«12 Über diese Reflexion entwickelt Kant den später als kopernikanische Wende bekannt gewordenen Schluss, dass analog zur klassischen Urteilstafel reine Verstandesbegriffe vorausgesetzt werden müssen, welche die Realität der zu erkennenden Gegenstände a priori bestimmen. Zu diesen Kategorien gehört auch die Kausalität. Die Kausalität ist das ›allgemeinste Naturgesetz‹, da sie a priori die Form der Verknüpfung aller sinnlichen Gegenstände als Ursache-Wirkungsverhältnis bestimmt. So bekommt ›Natur‹ eine zweite Bedeutung: Natur als System der durchgehenden kausalen Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen in Raum und Zeit, »natura formaliter spectata«13 . Erst in diesem formalen Naturbegriff liegt ihre Einheit, als Totalität der möglichen Erscheinungen.

1.1.2

Das Prinzip der Einheit des Mannigfaltigen

Die Gültigkeit der Kausalität kann und muss selbst nicht empirisch überprüft werden – was ganz unmöglich wäre, wie Hume zeigte.14 Im Experiment wird nicht die Kausalität als Prinzip erkannt, sondern der bestimmte kausale Zusammenhang, dessen Bedingung der Begriff der Kausalität überhaupt als vorauszusetzender reiner Verstandesbegriff ist. Resultat eines Experimentes kann darum nicht sein, dass der untersuchte Gegenstand in keinerlei Kausalverhältnissen steht, sondern allenfalls, dass der spezifische kausale Zusammenhang bislang nicht hinreichend erkannt werden konnte, weil das empirische Gesetz der Verknüpfung nicht in den untersuchten oder bis dato experimentell zugänglichen Bedingungen liegt. Die Kausalität als reiner Verstandesbegriff a priori schreibt zwar vor, dass jedwedes empirische Phänomen seine Ursache(n) habe, aber sie gibt damit zugleich kein einziges empirisches Naturgesetz; sie gibt lediglich allen erkennbaren empirischen Gesetzen die kausale Form der Verbindung vor. Damit ist (voraus)gesetzt, was die bekannte Unterscheidung zwischen »natura materialiter spectata« (dem Inbegriff der Erscheinungen) und »natura formaliter spectata« (der kausalen Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen in Raum und Zeit) begründet. Die entwickelte Naturwissenschaft hat es vornehmlich mit der natura formaliter spectata zu tun; die Biologie allein scheint bei allen Fortschritten nach wie vor in weiten Bereichen auf Beschreibungen von Teilen der natura materialiter spectata eingeschränkt zu sein.15 Jede empirische Beobachtung in der Natur muss sich naturwissenschaftlich begreifen lassen, »weil jene Notwendigkeit der Gesetze dem Begriffe der Natur unzertrennlich anhängt und daher durchaus eingesehen sein will«16 , wobei man von bestimmten empirischen Naturgesetzen »als zufälligen Gesetzen, die bloß die Erfahrung gelehrt hat, 12 13 14 15 16

Kant, KrV, B 3 f. Kant, KrV, B 165. Vgl. David Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Siebenter Abschnitt, »Über den Begriff der notwendigen Verknüpfung«, Stuttgart 1982, S. 82 [50]-105 [65]. Vgl. Kapitel 11. Kant, MAN, S. 5 (Vorrede VI).

1. Die transzendentale Idee der Einheit

keine Gründe a priori angeben kann.«17 Die einzelnen Naturgesetze können (anders als mathematische oder logische Gesetze) nur vermittelst der empirischen Naturforschung erkannt werden, »weil die Prinzipien derselben bloß empirisch sind und keine Darstellung a priori in der Anschauung erlauben«18 . Die konkreten Naturgesetze, deren Erkenntnis die Resultate der Naturwissenschaft sind, sind darum »als empirische, nach unserer Verstandeseinsicht zufällig«19 . Die empirischen Naturgesetze, die im Hinblick auf unseren Verstand bloß zufällig sein können und uns durch Erfahrung allein gegeben werden, müssen jedoch als Gesetze, denen Notwendigkeit und Allgemeinheit zukommt, »aus einem, wenngleich uns unbekannten, Prinzip der Einheit des Mannigfaltigen als notwendig angesehen werden«20 . Weil empirische Gesetze für unseren Verstand zufällig sind, reicht die formale apriorische Bedingung der Kausalität nicht hin, um die Natur als Einheit zu bestimmen. Dass die empirischen Naturgesetze zwar einerseits (in Bezug auf unsere Verstandeseinsicht) zufällig sind, aber zugleich (in Bezug auf die Einheit der Natur) als notwendig angesehen werden müssen, also z.B. wechselseitig nicht im Widerspruch zu einander stehen dürfen, wirft ein Problem auf, dessen Lösung bei Kant in das Erkenntnisvermögen der reflektierenden Urteilskraft fällt. Es wird ein Prinzip der Einheit benötigt, welches, da es auf die An-Sich-Bestimmtheit der zufälligen empirischen Natur geht, nicht als Kategorie der Einheit a priori vorausgesetzt sein kann, sondern sich durch die Erfahrung als Einheit der Natur mit durchgängigen empirischen Gesetzen im Fortgang der Naturwissenschaften erweisen, jedoch zugleich schon im Voraus spekulativ angenommen werden muss, um die mögliche Einheit der naturwissenschaftlichen Theorien (und damit die Einheit der Natur nicht nur als formaler, sondern zugleich als materieller, realer Natur) zu postulieren und zu erkennen. Nach diesem Prinzip der Urteilskraft sollen »die besonderen empirischen Gesetze in Ansehung dessen, was ihnen durch jene [die Kausalität als allgemeines Naturgesetz a priori] unbestimmt gelassen ist, nach einer solchen Einheit betrachtet werden müssen, als ob gleichfalls ein Verstand (wenngleich nicht der unsrige) sie zum Behuf unserer Erkenntnisvermögen, um ein System der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen möglich zu machen, gegeben hätte.«21 Dies ist das Prinzip der reflektierenden Urteilskraft: die Natur als erkennbar vorzustellen, um sie begreifen zu können. Die Form der Gesetzmäßigkeit ist den empirischen Naturgesetzen durch das allgemeinste Naturgesetz (die Kausalität) vorgeschrieben. Ihr Inhalt ist durch Erfahrung gegeben; darum können alle ›besonderen Gesetze‹ der Natur, die empirisch bestimmte Erscheinungen erklären, nicht aus dem allgemeinen Gesetz der Kausalität abgeleitet werden, sondern müssen durch die empirische Naturwissenschaft erkannt und experimentell bestätigt werden.22 Um eine nicht nur formale, sondern reale Einheit der Natur zu gewährleisten – welches die Bedingung der Möglichkeit

17 18 19 20 21 22

Ebd. Kant, MAN, S. 7 [Vorrede X]. Kant, KdU, S. 16 [XXVI]. Ebd. Kant, KdU, S. 16 [XXVII]. Vgl. Kant, KrV, B 165.

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28

Dialektik des Lebendigen

von Naturwissenschaft ist –, sollen die empirischen Naturgesetze bezüglich ihres Inhaltes so angesehen werden müssen, als ob ein Verstand sie gegeben hätte; denn allein dies ermögliche nach Kant die Ordnung und Unterordnung der empirischen Naturgesetze untereinander, d.i. ihre systematische Einheit. »Nicht, als wenn auf diese Art wirklich ein solcher Verstand angenommen werden müßte (denn es ist nur die reflektierende Urteilskraft, der diese Idee zum Prinzip dient, zum Reflektieren, nicht zum Bestimmen); sondern dieses Vermögen gibt sich dadurch nur selbst und nicht der Natur ein Gesetz.«23 Doch indem die Urteilskraft sich das Gesetz gibt, Natur als durchgehend systematisch gesetzmäßig anzunehmen, setzt sie sie als zweckmäßig für unser Erkenntnisvermögen voraus.

1.1.3

Die allgemeine Zweckmäßigkeit der Natur als focus imaginarius

Das Prinzip, die Natur vorzustellen, als sei sie erkennbar, ist der Begriff a priori von der Zweckmäßigkeit der Natur. Dieser Begriff der allgemeinen Zweckmäßigkeit entspringt allein der reflektierenden Urteilskraft und gibt ihr als Gesetz das Prinzip a priori, nach welchem alle Naturerscheinungen in einem System zusammenstehend vorgestellt werden müssen.24 Dieses Prinzip der »Zweckmäßigkeit der Natur in ihrer Mannigfaltigkeit«25 ist ein Gesetz a priori, das weder der Verstand der Natur, noch die Wirklichkeit dem Denken, sondern lediglich die reflektierende Urteilskraft sich selbst vorschreibt. Das Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur bestimmt die Natur nicht, es gibt ihr kein Gesetz, noch wird es uns wie ein empirisches Naturgesetz durch sie gegeben. Es dient allein der Reflexion auf die Notwendigkeit der Einheit im zufälligen Mannigfaltigen und ist damit das Prinzip, nach empirischen Gesetzen und ihrer Einheit untereinander zu suchen. Die allgemeine Zweckmäßigkeit der Natur ist darum ein focus imaginarius, der die Erkenntnis ausrichtet – darauf, die Einheit im Natursystem a posteriori zu erweisen,

23 24

25

Kant, KdU, S. 17 [XXVII f]. Diese allgemeine Zweckmäßigkeit der Natur ist so bei Kant als Zweckmäßigkeit für unser Erkenntnisvermögen bestimmt: dass das Naturganze als ein System, als Einheit unter durchgehender Gesetzmäßigkeit vorausgesetzt wird, nach deren durchgehender Bestimmtheit zu suchen so die Aufgabe der Naturwissenschaft ist. In der Rezeptionsgeschichte wurde diese allgemeine Zweckmäßigkeit der Natur vor allem durch Haeckel und seine Nachfolger dann mit der Theorie der Ökologie verbunden und dahingehend interpretiert, dass alles in der Natur eine Funktion im Ganzen habe (es gibt Berge, damit die Wolken abregnen, Flüsse, um das Wasser zu verteilen, damit die Pflanzen wachsen usf.). Diese Vorstellung geht der Form nach schon in die Vorstellung einer organischen Teleologie über, die Erde selbst erhält die Züge eines lebendigen Organismus. Bei Kant ist dagegen in der allgemeinen Zweckmäßigkeit der Natur keinesfalls alles wechselseitig Ursache und Wirkung für- und voneinander, sondern lediglich alles durch Gesetze in einem System verbunden a priori anzunehmen, was er als Bedingung der Möglichkeit von Naturwissenschaft überhaupt ausweist. Kant, KdU, S. 17 [XXVIII].

1. Die transzendentale Idee der Einheit

welche a priori vorausgesetzt werden muss.26 Die Einheit der Natur ist damit eine bloß regulative transzendentale Idee der Vernunft. »[D]ie transzendentalen Ideen sind niemals von konstitutivem Gebrauche, so, daß dadurch Begriffe gewisser Gegenstände gegeben würden […]. Dagegen aber haben sie einen unentbehrlichnotwendigen [sic!] regulativen Gebrauch, nämlich den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten, in Aussicht auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einen Punkt zusammenlaufen, der, ob er zwar nur eine Idee (focus imaginarius), d.i. ein Punkt ist, aus welchem die Verstandesbegriffe nicht wirklich ausgehen, indem er ganz außerhalb den Grenzen möglicher Erfahrung liegt, dennoch dazu dient, ihnen die größte Einheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen.«27 Die Annahme, jede mögliche Erscheinung sei vollständig durch Naturgesetze erklärbar, lässt sich durch endliche Erfahrung prinzipiell nicht belegen. Doch davon auszugehen, dass dies möglich sein muss, vorauszusetzen, klassische Mechanik und Quantenphysik seien theoretisch zu verbinden etc., ist für die Naturwissenschaft unentbehrlichnotwendig.28 Insofern ist die allgemeine Zweckmäßigkeit der Natur als focus imaginarius objektiv und notwendig für den wissenschaftlichen Naturbegriff.

1.1.4

»als ob es ein objektives Prinzip wäre«

Die Annahme der allgemeinen Zweckmäßigkeit der Natur a priori, d.i. das Voraussetzen der Erkennbarkeit der Natur als einheitliches System, ist nach Kant »ein subjektives Prinzip der Vernunft für die Urteilskraft, welches als regulativ (nicht konstitutiv) für unsere menschliche Urteilskraft ebenso notwendig gilt, als ob es ein objektives Prinzip wäre.«29 Nicht erst die Biologie hat es wegen der teleologischen Form der organisierten belebten Wesen mit der Schwierigkeit eines Prinzips im Modus des ›Als-ob‹ zu tun; mit Kant birgt bereits die allgemeine Zweckmäßigkeit der Natur als transzendentale Bedingung der Naturerkenntnis – also die Annahme eines durchgängigen Kausalsystems – das Problem, als bloß subjektives regulatives Prinzip mit notwendiger allgemeiner Geltung gedacht werden zu müssen. Heidemann spricht hier mit Bezug auf Hegel von einem unlösbaren Dilemma: »Dem Bedenken Hegels, Kant komme über die bloße endliche Subjektivität des Prinzips einer dem Verstand lediglich immanent bleibenden Zweckmäßigkeit nicht hinaus, scheint man demnach seine Berechtigung offenbar nicht ganz absprechen zu 26

27 28

29

So müssen z.B. in der Physik Naturkonstanten angenommen werden, die erst viel später durch Forschungen auf Basis dieser Annahmen bestätigt werden können. Vgl. https://science.sciencema g.org/content/320/5883/1611.abstract (Zugriff 24.11.2020). Kant, KrV, B 672. Diese Einheit wird in den Naturwissenschaften darum stets vorausgesetzt, aber nicht begründet. So heißt es z.B. bei Weizsäcker im ›Aufbau der Physik‹ in der Vorbemerkung zum zweiten Teil ›Die Einheit der Physik‹: »Der Titel ›Die Einheit der Physik‹ spricht die Vermutung aus, es werde gelingen, die Physik, soweit sie Grundgesetze aufstellt, in einer einzigen Theorie zusammenzufassen.« Carl Friedrich von Weizsäcker, Aufbau der Physik, München 1988, S. 219. Kant, KdU, S. 270 [344].

29

30

Dialektik des Lebendigen

können. Betrachtet man die Sachlage dezidiert aus der Perspektive der Kritik der reinen Vernunft, so manövriert sich Kant in der Kritik der Urteilskraft mit der Aufstellung des Prinzips der allgemeinen Zweckmäßigkeit der Natur sogar in eine geradezu unlösbare dilemmatische Situation hinein.«30 Denn einerseits sei dieses Prinzip bloß regulativ, andererseits muss ihm jedoch eine Notwendigkeit und Objektivität unterstellt werden – sonst wäre die durch dieses Prinzip vorausgesetzte systematische Einheit der Natur unter Gesetzen nichts, was sich in der empirischen Naturforschung wiederfinden sollte und auch könnte. Im Resultat der geleisteten Erkenntnis von empirischen Naturzusammenhängen, die nur mithilfe dieses Prinzips überhaupt vorstellbar, d.i. zu suchen sind, erscheint der regulative Begriff der Zweckmäßigkeit der Natur als konstitutiv. Da ein regulatives Prinzip nicht zugleich ein konstitutives sein kann, führt dies in Widersprüche, deren Auflösung Kant nicht ganz gelingen will: »Was bei diesen Prinzipien merkwürdig ist, […] ist dieses: dass sie transzendental zu sein scheinen, und, ob sie gleich bloße Ideen zur Befolgung des empirischen Gebrauchs der Vernunft enthalten […], sie gleichwohl, als synthetische Sätze a priori, objektive, aber unbestimmte Gültigkeit haben«31 . Ihre Gültigkeit ist objektiv, dabei aber unbestimmt, weil durch diese Ideen als synthetische Sätze a priori ohne Schemate der Sinnlichkeit gar kein Gegenstand gegeben werden kann, sondern lediglich eine spezifische Art der Verknüpfung oder des Zusammenhangs von Teilen zu einem Ganzen. Damit gibt die reflektierende Urteilskraft zwar kein spezifisches Gesetz, aber ist doch auch insofern bestimmend, als sie a priori die Form der Gesetzmäßigkeit zu einem zusammenhängenden System als notwendig vorschreibt; sie konstituiert damit jedoch kein Objekt, da ›die Natur‹ kein möglicher Gegenstand der Erfahrung ist, sondern Reflexionsbegriff, als Inbegriff der Gesamtheit möglicher Erfahrungen in ihrer Totalität. Die allgemeine »Zweckmäßigkeit der Natur in ihren Formen nach empirischen Gesetzen« ist demnach »gar kein Begriff vom Objekt«32 , d.h. Natur in den empirischen Gestalten ihrer Erscheinung ist hierdurch in keiner Weise bestimmbar. Nicht einzelne Gegenstände, nicht empirische Naturgesetze, sondern ihre insgesamt gesetzförmige Verbindung zur systematischen Einheit wird über dieses Prinzip der Urteilskraft vorausgesetzt, als Bedingung dafür, sich in der »übergroßen Mannigfaltigkeit […] orientieren zu können«33 . Die Einheit der Natur ist also sowohl objektiv notwendig, als auch zugleich bloß ›projektierte Einheit‹: »Der hypothetische Vernunftgebrauch geht also auf die systematische Einheit der Verstandeserkenntnisse, diese aber ist der Probierstein der Wahrheit der Regeln. Umgekehrt ist die systematische Einheit (als bloße Idee) lediglich nur projektierte Einheit, die man an sich nicht als gegeben, sondern nur als Problem ansehen muss; welche

30 31 32 33

Dietmar H. Heidemann, »Allgemeine Zweckmäßigkeit der Natur«, in: Tobias Schlicht (Hg.), Zweck und Natur, München 2011, S. 91-110, S. 93. Kant, KrV, B 691. Kant, KdU, S. 30 [XLIX f]. Kant, KdU, S. 30 [L].

1. Die transzendentale Idee der Einheit

aber dazu dient, zu dem Mannigfaltigen [sic] und besonderen Verstandesgebrauche ein Prinzipium zu finden, und diesen dadurch auch über die Fälle, die nicht gegeben sind, zu leiten und zusammenhängend zu machen.«34

1.1.5

Vom regulativen zum konstitutiven Prinzip

In dieser Funktion, Probierstein der Wahrheit zu sein, deutet sich bei Kant ein historischdialektisches Verhältnis von regulativem und konstitutivem Gebrauch der Urteilskraft an. In der Kritik der reinen Vernunft findet sich in Bezug auf den Newtonschen Kraftbegriff, der die aus der Aristotelischen Bewegungslehre hervorgegangene Impetustheorie ablöste, ein Beispiel für das Konstitutiv-Werden einer Idee, das der Form nach auch für die regulativen Prinzipien der Urteilskraft gelten kann. Über die Idee einer physikalischen Grundkraft, welche als das Allgemeine und damit die Einheit verschiedener Kräfte (z.B. Stoß-, Zug- oder Reibungskraft) vorgestellt wird, schreibt Kant: »Es zeigt sich aber […], daß diese Idee […] nicht bloß […] zum hypothetischen Gebrauch bestimmt sei, sondern objektive Realität vorgebe, dadurch die systematische Einheit […] postuliert und ein apodiktisches Vernunftprinzip errichtet wird.«35 Das Vernunftprinzip wird errichtet, indem der hypothetische Gebrauch sich bewährt. Indem er in den Resultaten der Forschung systematische Einheit gibt, die zu suchen das Prinzip der allgemeinen Zweckmäßigkeit der Natur aufgegeben hatte, zeigt sich, dass diese Idee objektive Realität vorgegeben hatte. Im historischen Prozess der Tradierung des Wissens stellt die Erkenntnis eines besonderen Naturgesetzes den Wendepunkt dar, an dem die Aufgabe der reflektierenden Urteilskraft, Kraft ihrer Heautonomie zum gegebenen Besonderen das Allgemeine zu finden, erfüllt ist und fürderhin kann unter dieses gefundene Allgemeine das Besondere subsumiert werden. Aber diese durch die Heautonomie der reflektierenden Urteilskraft gefundenen empirischen Naturgesetze haben nur empirische Allgemeinheit und bleiben nach Kant somit subjektiv – also auf die Erfahrungen der Subjekte verwiesen – und können im Fortschritt der Wissenschaft durch neue, widersprechende Erfahrungen umgestoßen oder modifiziert werden. Das zu Grunde liegende Prinzip des Erkenntnisvermögens hingegen kann notwendige Allgemeinheit für sich beanspruchen. So, wie aus der Newtonschen Hypothese bewiesene Objektivität wurde (wenngleich nur, wie sich historisch zeigte, als Grenzfall), so erwies sich der regulative Gebrauch des Prinzips der allgemeinen Zweckmäßigkeit der Natur als konstitutiv für ihre systematische Erkenntnis, die es ermöglichte. Die Grundsätze, die aus der »hypothetischausgedachten [sic!] Einheit«36 der Natur folgen, sind damit »nicht bloß als Handgriffe der Methode«37 zu bewerten. Dies scheint im Widerspruch zu ihrem bloß regulativen Ursprung zu stehen, doch mit Bezug auf Kants Hinweis, dass diese Idee der Einheit der Natur keinen korrespondierenden Gegenstand in der Erfahrung habe und haben könne, lässt sich dieses Pro-

34 35 36 37

Kant, KrV, B 675. Kant, KrV, B 678. Kant, KrV, B 689. Ebd.

31

32

Dialektik des Lebendigen

blem lösen: Die Natur ist und bleibt Reflexionsgegenstand, kein empirisches Ding.38 Damit kann die systematische Einheit als »inneres Gesetz der Natur«39 a priori konstitutiv für die Natur als Reflexionsgegenstand gesetzt werden – und damit im Resultat auch konstitutiv für die im Fortschritt der Naturwissenschaften (zunehmend) hergestellte Einheit der Natur unter Gesetzen werden. So wird das empirische Scheitern dieser Einheit immer als ein vorläufiges, im weiteren Fortschritt der Wissenschaft zu überwindendes angenommen, niemals als die prinzipielle Unmöglichkeit der systematischen Einheit der Natur unter Gesetzen.

1.2

Die Einheit des Bewusstseins

Da die Idee der Einheit der Natur die Wissenschaft von ihr als focus imaginarius leitet, halten wir unsere Erkenntnis für mangelhaft, so lange sie dieser nicht adäquat ist.40 Nach der Interpretation der Kritik der Urteilskraft durch Ina Goy bleibt die Begründung der Natureinheit als transzendentale Idee jedoch letztendlich mangelhaft, da sie lediglich auf einem ›Bedürfnis unseres Verstandes‹ gründe: »Dass diese ›durchgängig zusammenhängende Erfahrung‹ (KU 5:184.14-5) und die geschlossene Einheit und Ordnung der Natur nicht nur in ihren allgemeinen, notwendigen, sondern auch in ihren besonderen, zufälligen und empirischen Strukturen ein erstrebenswertes Ziel der menschlichen Erkenntnis und des Weltverhältnisses des Menschen ist, begründet Kant selbst nicht, sondern setzt sie als ›Bedürfniß des Verstandes‹ (KU 5:184.4) voraus.«41 Kant begründet allerdings, warum er dieses Bedürfnis des Verstandes nach der Einheit der Natur a priori voraussetzen kann und muss, womit es kein bloß subjektives Bedürfnis ist, das seinen Grund in der Willkür unserer Sinnlichkeit hätte, sondern ein allgemeines Bedürfnis des Verstandes, dessen Notwendigkeit in der Einheit des Bewusstseins begründet liegt. Denn mit der Einheit der Erfahrung ist die Einheit des Bewusstseins verbunden et vice versa. »Das: i c h d e n k e,«42 das alle meine Vorstellungen muss begleiten können, ist die transzendentale Einheit der Apperzeption. Das Aufgeben der Natureinheit als transzendentale Idee einer durchgängig zusammenhängenden Erfahrung würde nicht nur den Begriff einer Natur unmöglich machen und alle Erscheinungen unverbunden nebeneinander stellen (wie sie sich uns empirisch darstellen), sondern zugleich die Einheit der transzendentalen Apperzeption aufkündigen.43 Darum ist das Bedürfnis, diese Einheit in der Natur zu suchen und sie so weit als möglich wissenschaftlich herzustellen, in der Tat denknotwendig.

38 39 40 41 42 43

Darum lässt sich diese Lösung nicht auf Organismen übertragen, die empirisch wirkliche Naturgegenstände sind. Vgl. Kapitel 12.6. Kant, KrV, B 678. Vgl. Kant, KrV, B 673 f. Ina Goy, Kants Theorie der Biologie, Berlin/Boston 2017, S. 43. Kant, KrV, B 131. Vgl. Kant, KrV, B 137.

1. Die transzendentale Idee der Einheit

Das bei Kant vorausgesetzte ›Bedürfniß des Verstandes‹ nach der ›durchgängig zusammenhängenden Erfahrung und geschlossenen Einheit und Ordnung der Natur‹ ist also selbst als ermöglichende Bedingung des Denkens und damit transzendental als a priori notwendig erschlossen. Die Einheit des Objekts, des Begriffs, des theoretischen Systems und die hypothetisch anzunehmende (aber nicht zu beweisende) Einheit der Natur beruhen auf diesem obersten Prinzip der Einheit, der ursprünglich synthetischen Einheit der transzendentalen Apperzeption – das ist der objektiven Einheit des Selbstbewusstseins. Nur die bestimmte Form der Verbindung von Vorstellungen zu Objekten und der Objekte untereinander gemäß den Formen zu Urteilen des Verstandes, also den Kategorien, gibt uns die Einheit unserer Erfahrung, die sie als Bedingung voraussetzte. Die Kategorien sind so nicht bloß subjektive Bedingungen, nach denen wir Objekte erkennen, sondern zugleich objektive Bedingungen der Subjektivität. Wenn oben gezeigt wurde, dass mit dem Prinzip der »Zweckmäßigkeit der Natur in ihrer Mannigfaltigkeit« weder der Verstand der Natur, noch diese jenem ein Gesetz vorschreibt,44 so finden wir hier die Begründung: Schon die Frage danach, ob das Denken die Natur bestimmt, oder die Natur das Denken, wäre falsch gestellt und fiele erkenntnistheoretisch hinter die kopernikanische Wende zurück. Denn wenn Natur und Denken als gegeneinander absolut selbständige Entitäten angenommen werden, muss die Möglichkeit ihrer Vermittlung in der Tat zweifelhaft bleiben. Natur und Denken sind nur in ihrer Vermittlung; ohne einander wäre das Denken leer und die Natur nichts für uns und darum auch kein An-Sich. Als sich durch einander Konstituierende stehen beide unter demselben obersten Prinzip der Einheit, durch welches die Vorstellungen insgesamt als Bewusstsein und die Erscheinungen insgesamt als Natur zusammenhängen. Das Subjekt kann das Mannigfaltige zur Einheit verbinden, weil es selbst Verbindung ist: synthetische Einheit der Apperzeption, alle Vorstellungen sind in und zu einem Bewusstsein verbunden. Das Selbstbewusstsein ist also »ursprüngliche Verbindung«45 . Nur in der durchgängigen Verbindung, der Synthesis zu einem System, »[a]lso nur dadurch, daß ich ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen i n e i n e m B e w u ß t s e i n verbinden kann, ist es möglich, daß ich mir die I d e n t i t ä t d e s B e w u s s t s e i n s i n d i e s e n V o r s t e l l u n g e n selbst vorstelle«46 . Die Einheit des Selbstbewusstseins und der Begriff der Einheit der Natur als allgemeine Zweckmäßigkeit bedingen sich also wechselseitig. »Synthetische Einheit des Mannigfaltigen der Anschauungen, als a priori gegeben, ist also der Grund der Identität der Apperzeption selbst, die a priori allem meinem bestimmten Denken vorhergeht. Verbindung liegt aber nicht in den Gegenständen, und kann von ihnen nicht etwa durch Wahrnehmung entlehnt und in den Verstand allererst aufgenommen werden, sondern ist allein eine Verrichtung des Verstandes, der selbst nichts weiter ist, als das Vermögen, a priori zu verbinden, und das Mannig-

44 45 46

Vgl. Kapitel 1.1.3. Kant, KrV, B 133. Ebd.

33

34

Dialektik des Lebendigen

faltige gegebener Vorstellungen unter Einheit der Apperzeption zu bringen, welcher Grundsatz der oberste im ganzen menschlichen Erkenntnis ist.«47 Dieser oberste Grundsatz der ganzen Erkenntnis stiftet so auch das Bedürfnis des Verstandes nach der Einheit und gesetzförmigen Ordnung der Natur. Schon die Begriffshierarchie in Gattungen und Arten (welche sich bereits in der platonischen Hierarchie des Ideenhimmels widerspiegelt und im Arbor porphyriana ihre wohl bekannteste historische Darstellung hat) stellt eine immer weiter zunehmende Synthese unter Einheiten zusammen: die Synthese mannigfaltiger Eindrücke zu einem Objekt, die Synthese verschiedener Objekte zu einem Begriff, die Synthese verschiedener Begriffe unter einen allgemeineren Begriff, die Synthese von allgemeinen Begriffen zu einem System, zu einer Theorie, und letztlich die Synthese aller möglichen Gegenstände zu einer Natur, welche ein System darstellt, welches sich dem focus imaginarius nach in einer einheitlichen Theorie darstellen lassen soll. In dieses allgemeine System der Natur muss sich jede Erscheinung fügen lassen, da sonst nicht nur die Einheit der Natur, sondern auch die des Bewusstseins in Frage gestellt wäre. Wenn nämlich ein Phänomen aufträte – wie beispielsweise Stanisław Lem es zu Beginn seines Romans Solaris48 eindrucksvoll schildert –, das partout nicht in das allgemeine gefundene System der empirischen Naturgesetze sich fügte, so kann die Erkenntnis hieraus nicht lauten: für diesen einen besonderen Gegenstand gilt die allgemeine Zweckmäßigkeit der Natur nicht. Dass der Planet Solaris seine Bahn offenbar entgegen dem physikalisch Möglichen selbsttätig stabilisiert,49 ist keine Erkenntnis. Es ist vielmehr ein grundsätzlicher Mangel der Erkenntnis, wenn eine empirisch gegebene Naturerscheinung sich nicht unter die vorausgesetzte Einheit der Natur nach allgemeinen empirischen Gesetzen fügt. »Naturwissenschaft ist der Versuch, die Natur durch genaue Begriffe aufzufassen. […] Geschieht aber Etwas, was nach ihnen nicht erwartet wird, also nach ihnen unmöglich oder unwahrscheinlich ist, so entsteht die Aufgabe, sie so zu ergänzen, oder, wenn nöthig, umzuarbeiten, daß nach dem vervollständigten oder verbesserten Begriffssysteme das Wahrgenommene aufhört, unmöglich oder unwahrscheinlich zu sein.«50 Durch eine Erweiterung oder Änderung der Theorie muss die Einheit der Natur denkend wiederhergestellt werden – der Planet darf gegebenenfalls aus seiner Bahn, aber nicht aus der systematischen Natureinheit ausscheren. Nach dem Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur ist a priori (voraus)gesetzt, dass es möglich sein muss, diese Einheit im historischen Prozess immer wieder herzustellen. Doch wenn, wie in der Fiktion Solaris, die Einheit der Natur grundlegend scheitert (wozu es reicht, dass ein einzelner Gegenstand aus ihr ausschert), dann scheitert an ihr auch die Einheit des Selbstbewusstseins – epistemologische Impotenz und psychische Zerrüttung sind konsequent

47 48 49 50

Kant, KrV, B 134 f. Stanisław Lem, Solaris, Hamburg/Düsseldorf 1972. Die Planetenbahnen hypothetischer Planeten in Mehrsonnensystemen galten bis 2012 als instabil. Bernhard Riemann, Hinterlassene Werke, S. 498, zitiert nach: Karl Friedrich Zöllner, Wissenschaftliche Abhandlungen No. 2, Leipzig 1878, S. 180.

1. Die transzendentale Idee der Einheit

bei Lem die Folge der Erforschung von Solaris.51 Der Grund hierfür liegt mit Kant darin, dass die Einheit der Natur und die Einheit des Selbstbewusstseins wechselseitig aufeinander verwiesen sind. »[D]as Gesetz der Vernunft, sie [die systematische Einheit der Natur] zu suchen, ist notwendig, weil wir ohne dasselbe gar keine Vernunft, ohne diese aber keinen zusammenhangenden [sic] Verstandesgebrauch, und in dessen Ermangelung kein zureichendes Merkmal empirischer Wahrheit haben würden, und wir also in Ansehung des letzteren die systematische Einheit der Natur durchaus als objektivgültig und notwendig voraussetzen müssen.«52 Die Einheit der Natur ist also kein Ergebnis, sondern notwendige Voraussetzung aller Naturforschung, indem sie grundlegend auch die Voraussetzung des zusammenhängenden Verstandesgebrauchs und damit der Einheit des Selbstbewusstseins ist, und umgekehrt. Es ist die Aufgabe der Naturwissenschaften, diese Einheit als theoretisches System, als Einheit der Natur selbst, zu beweisen. Als oberstes Prinzip kann diese Einheit jedoch von nichts anderem abgeleitet werden, sondern ist als transzendentale Bedingung notwendig vorauszusetzen. Darum ist dieses Bedürfnis des Verstandes nach Natureinheit ihm so notwendig wie seine eigene Einheit, d.i. seine Existenz.

1.3

Die Einheit des Organismus

Wir haben gesehen, wie sich aus der Einheit des Selbstbewusstseins die Einheit der Natur als notwendige transzendentale Idee ergibt, da die erstere auf die letztere verwiesen ist et vice versa. Im Gegensatz zur allgemeinen Zweckmäßigkeit der Natur lässt sich die besondere Zweckmäßigkeit eines Naturgegenstandes als Einheit des Organismus jedoch weder aus der transzendentalen Einheit der Apperzeption,53 noch aus der Einheit der Natur ableiten. Zwar bricht sie die Einheit der Natur nicht – denn alle empirischen Naturgesetze der Physik und Chemie gelten für belebte und unbelebte Gegenstände gleichermaßen –, aber sie lässt sich auch nicht als Teil unter ein kausales Gesamtsystem subsumieren, da ihr bestimmendes Prinzip teleologisch ist. Vielmehr führt Kants Bemühen, die innere Zweckmäßigkeit der Lebewesen transzendentalphilosophisch zu fassen, auf epistemologische Widersprüche.

51

52 53

Vgl. Jacek Rzeszotnik, »Nicht sehen, nicht hören, nicht sprechen – nicht verstehen. Die epistemologische Impotenz des Menschen nach Stanisław Lem«, in: Walter Delabar/Frauke Schlieckau (Hg.), Bluescreen. Visionen, Träume, Albträume und Reflexionen des Phantastischen und Utopischen, Bielefeld 2010, S. 145-168. Kant, KrV, B 679. Auch aus der Tatsache, dass Menschen als vernunftbegabte Sinnenwesen selbst solche organischen Einheiten sind, folgt nicht die abstrakt logische Notwendigkeit der Existenz solcher Naturzwecke.

35

36

Dialektik des Lebendigen

1.3.1

Die besondere, innere Zweckmäßigkeit der Organismen führt auf Widersprüche

Die Einheit des Organismus wird durch seine innere Zweckmäßigkeit gestiftet: Es ist ein Naturprodukt, dessen Teile »sich dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden, daß sie voneinander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind. […] In einem solchen Produkte der Natur wird ein jeder Teil, so wie er nur d u r c h alle übrigen da ist, auch als u m der a n d e r e n und des Ganzen w i l l e n existierend, d.i. als Werkzeug (Organ) gedacht; […] als ein die anderen Teile (folglich jeder den anderen wechselseitig) h e r v o r b r i n g e n d e s Organ […]; und nur dann und darum wird ein solches Produkt als o r g a n i s i e r t e s und s i c h s e l b s t o r g a n i s i e r e n d e s W e s e n ein N a t u r z w e c k genannt werden können.«54 Schon der Begriff des Naturzwecks bezeichnet einen Widerspruch, da die Natur keine Zwecke setzen kann; dies können nur vernunftbegabte Wesen, die ihre Zwecke als Artefakte im Naturstoff verwirklichen. Unter Voraussetzung der allgemeinen Zweckmäßigkeit der Natur sind bei Kant zwei Arten der Darstellung des Begriffs der Zweckmäßigkeit an einem in der Erfahrung gegebenen Gegenstand möglich: Erstens die ästhetische Beurteilung eines Gegenstandes als Naturschönheit, als die Darstellung des Begriffs der formalen bloß subjektiven Zweckmäßigkeit durch das Gefühl der Lust, das sich einstellt, indem der Gegenstand als in harmonischer Übereinstimmung mit unserem Erkenntnisvermögen aufgefasst wird (nicht, indem er erkannt und begrifflich gefasst wird, sondern als Apprehension), so »daß die ästhetische Urteilskraft zum Erkenntnis ihrer Gegenstände nichts beiträgt«55 . Zweitens die teleologische Beurteilung eines Gegenstandes als Naturzweck, als die Darstellung des Begriffs der realen objektiven Zweckmäßigkeit, in der das Objekt durch Verstand und Vernunft logisch beurteilt wird »als Übereinstimmung seiner Form mit der Möglichkeit des Dinges selbst, nach einem Begriffe von ihm, der vorhergeht und den Grund dieser Form enthält.«56 Diese zweite Art der teleologischen Beurteilung von gegebenen Gegenständen als Naturzwecke stiftet den Gegenstandsbereich des Lebendigen, mit dem die Biologie sich befasst. Dabei entsteht das Problem, dass die Organismen so beurteilt werden, als ob sie Kunstprodukte, Artefakte, seien, obwohl sie es nicht sind. Die Transzendentalphilosophie Kants spannt dieses Problem im zweiten Teil der Kritik der Urteilskraft auf. Dort zeigt er, dass nur zwei Prinzipien der Verbindung angenommen werden können: Die Kausalverbindung des nexus effectivus als Verbindung 54 55

56

Kant, KdU, S. 236 f [291 f]. Kant, KdU, S. 32, [LII f]. Die ästhetische Zweckmäßigkeit des harmonischen Spiels der Erkenntniskräfte wird hier nicht weiter betrachtet, da sie keinen wesentlichen Anteil an der Naturforschung hat – obgleich Verbindungen zwischen Biologie und Kunst zahlreich sind. Allein die Wirkungen, die Ernst Haeckels 1904 erschienenes Buch Kunstformen der Natur auf Arbeiten von Künstlern wie Émile Gallé, René Binet oder Hans Christiansen hatte, sind bemerkenswert; umgekehrt erwies sich diese Engführung von Kunst und Biologie allerdings für die letztgenannte als wenig fruchtbar und Haeckels Texte zu den eindrucksvollen Bildtafeln enthalten weder neue biologische noch ästhetische Erkenntnisse. Kant, KdU, S. 30 [XLVIII f].

1. Die transzendentale Idee der Einheit

der realen Ursachen und die teleologische Verknüpfung nach dem nexus finalis als Verbindung durch ideale Ursache.57 Nur durch den Bezug auf ihre ideale Ursache erkennen wir Gegenstände, in denen ein Zweck realisiert wurde – wie eine Maschine funktioniert, ist zwar nach dem nexus effectivus zu erklären (weil nur naturkausal zu realisieren), aber ihre Zweckmäßigkeit begreifen wir nur über die Antizipation ihres Zwecks (sogar ganz ohne technisches Verständnis; wir wissen, wozu ein Auto oder ein Fernseher dient, auch wenn wir die genaue Funktionsweise nicht kennen). Die Frage, über die Artefakte erkannt werden, lautet folglich ›Wozu?‹. Die gleiche Frage stellen wir an den organischen Aufbau und die Verhaltensweisen von Organismen und denken sie damit so, als ob ein Zweck in sie gesetzt wäre, wobei wir, da es sich um Naturgegenstände handelt, zugleich davon ausgehen (müssen), dass dies nicht der Fall ist. Dieser Widerspruch treibt Kant in der Kritik der Urteilskraft sogar stellenweise dazu, eine dritte Kausalität anzunehmen, von der er selbst zeigt, dass es sie unmöglich geben kann.58 So wird die Zweckmäßigkeit der Form des Organismus beurteilt, als ob es sich um ein Artefakt handele, jedoch im gleichzeitigen Wissen darum, dass es ein gegebener und kein planvoll geschaffener Naturgegenstand ist, so dass eine Beurteilung analog zum Artefakt nach dem nexus finalis zur Erkenntnis des Lebendigen ebenso notwendig wie falsch ist. In der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft differenziert Kant zwischen Zweck und Zweckmäßigkeit der Form: Der Zweck ist »der Begriff von einem Objekt, sofern er zugleich den Grund der Wirklichkeit dieses Objekts enthält«59 . Die Zweckmäßigkeit der Form bezeichnet die »Übereinstimmung eines Dinges mit derjenigen Beschaffenheit der Dinge, die nur nach Zwecken möglich ist«60 . Nach Kant seien die Organismen zweckmäßig ohne Zweck: Nicht der Grund der Wirklichkeit von lebendigen Objekten werde durch das regulative Prinzip der Zweckmäßigkeit der reflektierenden Urteilskraft gegeben, sondern lediglich die Form ihrer Einheit werde so vorgestellt, als ob sie nur nach Zwecken möglich sei. Im Unterschied zum Artefakt bestimme die Idee beim Organismus also nicht den Existenzgrund, sondern nur den Erkenntnisgrund.61 Die Zweckmäßigkeit der organisierten Wesen gehört nicht zum Begriff der Natur (als Inbegriff der Gegenstände der Sinne); da wir die Natur nach diesem Begriff nicht als Vernunftwesen denken, können ihr auch keine Zwecke zukommen, die sie selbst gesetzt hätte. Als äußere Zweckmäßigkeit der Artefakte erkennen wir die Intention des Menschen als intelligibles Moment im Material, das so gestaltet wurde, dass es eine bestimmte Funktion erfüllt. Organismen erkennen wir analog, obgleich wir ihnen als reinen Naturprodukten kein intelligibles Moment als Existenzgrund unterstellen dürfen. Die Zweckmäßigkeit ist so Erkenntnisgrund des Organismus, kann und darf aber nicht als seine reale Ursache angenommen werden. Dies führt zu der Frage, was wir denn eigentlich erkennen, wenn wir ein Objekt nur über ein Prinzip denken können, das hierbei zugleich negiert werden muss? Wenn das teleologische Prinzip des nexus finalis

57 58 59 60 61

Vgl. Kant, KdU, § 65. Vgl. Kapitel 12.7. Kant, KdU, S. 17 [XXVIII]. Ebd. Vgl. Kapitel 12.5.

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38

Dialektik des Lebendigen

als Erkenntnisgrund zulässig ist, dann muss die hiermit unterstellte Zweckmäßigkeit etwas im erkannten Objekt treffen, also auf den Existenzgrund zumindest verweisen, denn sonst wäre der hierüber gebildete Begriff des Organismus keine Erkenntnis, sondern schlicht falsch. Die Zweckmäßigkeit ohne Zweck, die zum Erkenntnismodus des ›Als-ob‹ führt, ist also keine Lösung, sondern bloß eine Bezeichnung des sich hier ergebenden Widerspruchs. Denn anders als das ästhetische Urteil, soll der Begriff der Zweckmäßigkeit in Bezug auf die Organismen sehr wohl etwas zur Erkenntnis des Gegenstandes beitragen. Das hierdurch entstehende ›Als-ob‹ unterschiedet sich zudem wesentlich von der Annahme der allgemeinen Zweckmäßigkeit der Natur, worüber ihre Erkennbarkeit als einheitliches System regulativ vorausgesetzt und im Resultat der Naturforschung als konstitutiv erwiesen werden konnte.62 Denn die transzendentale Idee der Einheit kann nicht auf Gegenstände der Erfahrung angewandt werden; da die Natur als Inbegriff der Gegenstände möglicher Erfahrung selbst Reflexionsbegriff und kein empirischer Gegenstand ist, ist der Begriff ihrer systematischen Einheit über die transzendentale Idee der Einheit zulässig. Doch Organismen sind reale, empirische Naturgegenstände. »Prinzipien der reinen Vernunft können dagegen nicht einmal in Ansehung der empirischen B e g r i f f e konstitutiv sein, weil ihnen kein korrespondierendes Schema der Sinnlichkeit gegeben werden kann, und sie also keinen Gegenstand in concreto haben können.«63 Die Auflösung, die Kant für die allgemeine Zweckmäßigkeit der Natur bietet, indem er die Grundsätze der Vernunftidee der Einheit bezogen auf empirische Gegenstände als bloße ›Maximen der Vernunft‹64 bezeichnet, um den »Erfahrungsgebrauch des Verstandes mit sich selbst durchgängig zusammenstimmend«65 so weit als möglich unter eine Einheit zu bringen, greift also beim Organismus als existierendem Naturzweck nicht. Aus demselben Grund kann der regulative Gebrauch der Urteilskraft sich hier auch nicht historisch über die erfolgreiche Anwendung als konstitutiv erweisen, denn dann wären Organismen tatsächlich zweckmäßig mit Zweck, also wie (göttliche) Artefakte durch einen von einem Vernunftwesen gesetzten Zweck realisiert und keine ›Naturzwecke‹. So ist die besondere Zweckmäßigkeit der Organismen auch kein focus imaginarius, da in diesem Falle jeder Gegenstand der Erfahrung so zu beurteilen wäre, als ob er in sich zweckmäßig sei. Doch wir beurteilen offenbar nur einige Gegenstände so und nennen sie darum im Unterschied zu anderen lebendig.66 Kant versucht, die Einheit des existierenden Naturzwecks parallel zur Einheit der Natur zu entwickeln, was jedoch misslingt, da wir es hier nicht mit einer transzendentalen Idee zu tun haben, sondern mit einzelnen empirischen Gegenständen, deren innere Zweckmäßigkeit nicht aus der Einheit der Apperzeption oder der Einheit der Natur als ein notwendiges Bedürfnis des Verstandes abgeleitet werden kann. Im Gegenteil hat der Verstand nicht nur kein vorauszusetzendes Bedürfnis danach, Naturgegenstände als in sich zweckmäßig zu beurteilen, es widerstrebt ihm sogar. Denn

62 63 64 65 66

Vgl. Kapitel 1.1.4. und 1.1.5. Kant, KrV, B 692. Vgl. Kant, KrV, B 694. Kant, KrV, B 694. Vgl. Kapitel 12.

1. Die transzendentale Idee der Einheit

dass es Leben gibt, ist für unsere Verstandesansicht zufällig und erscheint, da es nicht (rein) nach dem nexus effectivus begriffen werden kann, sogar unwahrscheinlich oder unmöglich. An der Aufgabe, ›das Begriffssystem so umzuarbeiten, dass diese Gegenstände aufhören, unwahrscheinlich oder unmöglich zu sein‹67 , muss die Biologie so aus ganz prinzipiellen Gründen scheitern.

1.3.2

»Lebende Materie ist contradictio in adiecto«68

»Leben heißt das Vermögen einer Substanz sich aus einem inneren Prinzip zum Handeln […] zu bestimmen«69 , definiert Kant in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft. Als diese inneren Prinzipien führt er dort das menschliche Denken und Begehren an, welche nur dem inneren Sinn, nicht den äußeren Sinnen zugänglich sind und die daher auch »nicht zu den Bestimmungen der Materie als Materie«70 gehören. Bei der Entwicklung des Begriffs der Materie in den Metaphysischen Anfangsgründen braucht Kant den Begriff des Lebens als Grenzbegriff gegen die Materie. In Folge bestimmt er die Materie als wesentlich leblos, da sie nicht aus inneren Gründen, sondern gänzlich durch äußere Ursachen bestimmt werde. Die Annahme, Materie habe »keine schlechthin innere Bestimmungen oder Bestimmungsgründe«71 , ist grundlegende Bedingung der Kausalität, also die Bedingung dafür, dass »alle Veränderung einer Materie auf äußere Ursache gegründet«72 ist. In der Kette von Ursachen und Wirkungen ist die Wirkung vollständig durch die Ursache bestimmt, d.h. die Materie ist notwendig gänzlich passiv (träge). »Die Trägheit der Materie bedeutet nichts anderes als ihre Leblosigkeit, als Materie an sich selbst.«73 Wenn ein Gegenstand selbst über ›innere Bestimmungen oder Bestimmungsgründe‹ verfügen würde, dann würde er sich zumindest in Teilen selbst bestimmen und wäre somit nicht vollständig durch äußere Ursachen bestimmt, könnte also nicht als kausale Wirkung einer äußeren Ursache aufgefasst werden. Darum ist die Leblosigkeit der Materie Bedingung dafür, dass sie sich ausschließlich kausal verhält und in einem gesetzförmigen System beschrieben werden kann. Genau dies scheint jedoch bei den Organismen nicht der Fall zu sein und zwingt uns zu einer teleologischen Beurteilungsart.74 Zwar fällt auch der gestoßene Igel wie der Stein nach dem Fallgesetz, aber er ist als Organismus nicht nur passiv wie der Stein, der den Hügel hinabrollt. Der Igel kann (aber er muss nicht) den Hügel wieder hinaufklettern und er tut dies (wenn er es tut) – obgleich alle hierfür nötige Nerven- und Muskeltätigkeit etc. sich kausal bestimmen

67 68 69 70 71 72 73 74

Frei nach Riemann, vgl. Fußnote 50. Immanuel Kant, Altpreußische Monatshefte [Altpreußische Monatsschrift], XIX, 472, Anmerkung, zitiert nach Rudolf Eisler, Kant-Lexikon, Hildesheim 1994, S. 328. Kant, MAN, S. 100. Kant, MAN, S. 101. Kant, MAN, S. 100. Ebd. Ebd. Bei menschlichen Handlungen und auch bei Artefakten ist dies unproblematisch, da hier das intelligible Moment durch Vernunft und Freiheit gestiftet wird.

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Dialektik des Lebendigen

lässt – offenbar aus innerem Antrieb, dem wir eine intelligibel gesetzte Zweckmäßigkeit unterstellen müssen.75 Wenn nun aber »alle Materie als solche leblos«76 ist, dann wundert es nicht im Mindesten, dass die organisierten, also lebendigen und zweifelsfrei materiellen Körper als Naturzwecke Kant im zweiten Teil der Kritik der Urteilskraft so große Probleme bereiten. Eine lebende Materie nannte er auch eine contradictio in adiecto, da das dirigierende Prinzip des Lebens stets immateriell sei.77 Innere Zweckmäßigkeit, also Lebendigkeit, kann demnach eigentlich (objektiv) gar keine Eigenschaft von Naturgegenständen sein. Dem entspricht, dass bei Kant auch rätselhaft bleibt, wie wir überhaupt einen Begriff des Lebendigen entwickeln konnten, denn unsere Erkenntnis habe zwei Quellen, Sinnlichkeit, die uns Anschauungen gibt, und Verstand, welcher Begriffe bildet. Die Wirklichkeit der Lebewesen lässt sich jedoch aus keiner dieser Quellen schöpfen: »[W]ie aber Zwecke, die nicht die unsrigen sind, und auch der Natur (welche wir nicht als intelligentes Wesen annehmen) nicht zukommen, doch eine besondere Art der Kausalität, wenigstens eine ganz eigene Gesetzmäßigkeit derselben ausmachen können oder sollen, läßt sich a priori gar nicht präsumieren. Was aber noch mehr ist, so kann uns selbst die Erfahrung die Wirklichkeit derselben nicht beweisen«78 . Wir erkennen das Lebendige also weder a priori, noch durch Erfahrung. Und doch gibt es eine ganze Wissenschaft, die sich als Biologie mit dieser Art von im Kern widersprüchlichen Gegenständen befasst. Die organische Einheit von sich selbst organisierenden Wesen muss empirisch aufgefunden werden und ist damit für unsere Verstandeseinsicht ebenso zufällig, wie jedes empirische Naturgesetz. Zugleich muss ihre innere Zweckmäßigkeit, die als intelligible nicht erscheinen kann, von uns (voraus)gesetzt werden, ohne dass es hierfür einen zureichenden Grund in unserem Erkenntnisvermögen a priori gäbe. Organismen sind Gegenstände, die intuitiv nach demselben Prinzip begriffen werden, wie Artefakte: als ob ein Zweck in ihnen realisiert sei. Dem Alltagsverstand erscheint es evident, dass die Augen zum Sehen da sind und die Flossen zum Schwimmen. Erst die Reflexion verweist auf die hierin enthaltenen Widersprüche. So hadert Kant damit, »daß unsere Vernunft sie [das kausale Prinzip des nexus effectivus und das teleologische Prinzip des nexus finalis…] nicht zu vereinigen imstande ist und die Urteilskraft also […] genötigt ist, für gewisse Formen in der Natur ein anderes Prinzip als das des Naturmechanisms [sic] zum Grunde ihrer Möglichkeit zu denken.«79 Genötigt werden wir zu diesem Widerspruch, Organismen nach dem Prinzip des nexus finalis zu beurteilen und sie zugleich doch nicht danach zu beurteilen, sondern nur so, als ob, durch die Existenz der lebendigen Wesen in der Natur. Die Lebewesen nötigen uns also einen erkenntnistheoreti-

75 76 77 78 79

Ob er auf konkrete Reize reagiert, ob ein Instinkt ihn treibt, dort Futter oder Paarungspartner zu suchen, oder ob wir anthropomorphe Motive wie Neugier unterstellen, ist hierbei einerlei. Kant, MAN, S. 101. Vgl. Immanuel Kant, Altpreußische Monatshefte [Altpreußische Monatsschrift], XIX, 472, Anmerkung, zitiert nach Rudolf Eisler, Kant-Lexikon, Hildesheim 1994, S. 328. Kant, KdU, S. 221 [268]. Kant, KdU, S. 252 [316].

1. Die transzendentale Idee der Einheit

schen Widerspruch auf, der als eine empirisch gegründete Antinomie erscheint (im Gegensatz zu den kosmologischen Antinomien, in welchen allein Verstand und Vernunft ungeachtet des spezifischen empirischen Materials in einen notwendigen Widerstreit ihrer Prinzipien geraten)80 .

1.3.3

Die Biologie produziert widersprüchliche Theorien und Begriffe, die den Weg zu einer Dialektik des Lebendigen aufzeigen

Ohne Zweckbegriff kann ein Lebewesen zwar als natürlicher Gegenstand ohne Widerspruch gedacht, aber niemals als lebendig – als sich selbst organisierende Ganzheit – begriffen werden. Begriffen werden kann das Lebendige offenbar nur mit diesem Widerspruch. Dieses Prinzip des Lebendigen, das sich a posteriori als bestimmend für die Organismen erweisen soll, bleibt also problematisch. Denn auch wenn es nicht a priori gegeben und somit nicht notwendig ist, so konstituiert es doch im Resultat der Erfahrungen einen Teilbereich der Natur, nämlich den ganzen Gegenstandsbereich der Biologie. Das Scheitern an der widerspruchsfreien Bestimmung des Prinzips des Lebendigen treibt Kant zu dem bekannten ›Als-ob‹, mit dem auch die Biologie der Sache nach arbeitet und arbeiten muss. Kant bestimmt der Biologie über das Prinzip des existierenden Naturzwecks zwar einen eigenständigen Gegenstandsbereich, der sich klar von der Physik und Chemie abgrenzt, aber dieses Prinzip – und damit auch der Gegenstand – ist in sich widersprüchlich verfasst. Die Folge hiervon wäre, dass jede biologische Theorie des Lebendigen in sich widersprüchlich sein müsste. Nun darf eine wissenschaftliche Theorie nicht widersprüchlich verfasst sein, da sie hierdurch inkonsistent wird und sich so jeder beliebige Unsinn aus ihr herleiten ließe. Die einfachste Lösung dieses Problems bestünde also darin, nachzuweisen, dass Kants transzendentale Reflexion hier grundlegend in die Irre führt. Ein Indiz hierfür wäre eine widerspruchsfreie Theorie des Lebendigen. Wenn Kant mit seinen Darlegungen jedoch richtig liegt und unsere Vernunft tatsächlich »genötigt ist, für gewisse Formen in der Natur ein anderes Prinzip als das des Naturmechanisms [sic] zum Grunde ihrer Möglichkeit zu denken«81 , dann gründet diese spezifische Widersprüchlichkeit im Lebendigen selbst. In diesem Fall würde jede widerspruchsfreie Theorie am Organischen vorbei gehen, wogegen sich der Widerspruch in jeder treffenden Bestimmung des Lebendigen finden würde. Ein Indiz hierfür wäre, wenn der Widerspruch sich historisch durch die biologische Theorie ziehen würde. Letzteres soll im Folgenden gezeigt werden. Wenn die These, dass das Lebendige nur widersprüchlich zu begreifen ist, sich über die Perpetuierung widersprüchlicher Theoreme und Begriffe in der Biologie – die als positivistische Wissenschaft dem epistemologischen Ideal der Widerspruchsfreiheit verpflichtet ist und also alles versucht haben wird, die Theorien des Organischen widerspruchsfrei zu halten – bestätigt, dann muss ein neuer Weg beschritten werden: Der begriffene Widerspruch führt in eine Dialektik des Lebendigen und weist den Weg zu einer avancierten Biologie, die selbstbewusst mit 80 81

Vgl. Kant, KrV, 2. Hauptstück. Die Antinomie der reinen Vernunft, A 405 ff. Kant, KdU, S. 252 [316].

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Dialektik des Lebendigen

teleologischen Begriffen arbeiten kann, ohne sie unter fadenscheinigen Hilfskonstruktionen zu verstecken.

2. Die Analogie von Organismus und Artefakt »Allein die Analogie gibt nicht nur kein volles Recht, sondern sie widerlegt, um ihrer Natur willen, sich so oft, daß, nach der Analogie selbst zu schließen, die Analogie vielmehr keinen Schluß zu machen erlaubt.«1

Die älteste Form, in der das Lebendige begriffen wird, ist über die Analogie von Organismus und Artefakt. So wie das Haus genau dort Fenster hat, wo Lücken im Mauerwerk gelassen wurden, so hat die Katze Löcher im Fell an den Stellen, wo die Augen sitzen2 – ein Fenster vor einer Mauer wäre ebenso sinnlos wie ein Auge, das unter Haut und Fell nichts sehen kann. Da wir Menschen Artefakte erschaffen, deren Funktion wir erdacht haben, fällt es uns sehr leicht – oder es erscheint sogar unmittelbar evident – Lebewesen analog hierzu als zweckmäßig organisierte Einheiten zu begreifen. Der Grund der Analogie liegt in der inneren Ordnung bzw. zweckmäßigen Struktur beider Objektarten; sie sind in sich funktional organisiert. Begriff wie Realdefinition des Organs und des Organismus sind ohne Bezug auf ihre Funktionalität nicht zu entwickeln. »Ein Organ ist eine funktionale Komponente eines Organismus, die eine oder mehrere spezifische Funktionen in diesem ausübt. Für ihre Wirksamkeit ist sie auf die anderen Komponenten angewiesen, so wie die anderen umgekehrt von ihrer Wirkung abhängen. In der Regel sind Organe nicht nur in funktionaler, sondern auch in physischer Hinsicht gegenüber anderen Körperteilen abgegrenzte Einheiten.«3 Ein lebendiger Organismus wird gemeinhin vorgestellt als eine in sich funktionale Einheit verschiedener Organfunktionen, die gezielt arbeitsteilig ineinandergreifen, so dass

1 2

3

Hegel, Phänomenologie, S. 193. »Er wunderte sich, daß den Katzen gerade an der Stelle zwei Löcher in den Pelz geschnitten wären, wo sie die Augen hätten.« [G 71] Georg Christoph Lichtenberg, Aus den Sudelbüchern 1765-1799, Frankfurt a.M. 2008, S. 240. Georg Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe, Band 2, Stuttgart/Weimar 2011, Artikel: Organ, S. 746. (Künftig zitiert: Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie).

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Dialektik des Lebendigen

sie sich, den Organismus und über die Fortpflanzungsfunktionen auch seine Art über einen gewissen Zeitraum erhalten. Drei verschiedene Perspektiven der Analogie von Organismus und Artefakt lassen sich unterscheiden: Erstens die Analogie von Organ und Werkzeug, die sich schon in der Antike findet. Die einzelnen Körperteile werden hierüber als zweckmäßig für eine bestimmte Aufgabe beschrieben.4 Hierauf aufbauend entwickelte sich zweitens die Analogie von Organismus und Maschine, die den ganzen Organismus als zweckmäßig zusammenwirkenden Funktionszusammenhang begreift, dessen Teile wie die Zahnräder eines Uhrwerks aufeinander abgestimmt sind und so ein Ganzes, eine funktionale physische Einheit bilden. Dieses Modell setzte sich ab dem 17. Jahrhundert zunehmend durch.5 Hiervon unterscheidet sich drittens die Analogie von Lebensprozessen und Arbeitsprozessen, indem sie das Lebendige als dynamischen Zusammenhang fasst. So werden Stoffwechsel, Nahrungsbeschaffung, Fortpflanzung etc. mit Begrifflichkeiten aus dem Bereich der Ökonomie arbeitsteiliger Produktion beschrieben. Diese Form wird im nächsten Kapitel in Bezug auf die Evolutionstheorie behandelt.6 Eine Analogie geht auf das Gemeinsame von wesentlich Verschiedenem. In allen drei Varianten ist es darum wichtig, neben der bloß analogen Gleichheit auch den spezifischen Unterschied zwischen Organismen und Artefakten zu bestimmen. Andernfalls droht aus der Analogie eine Identität zu werden; Lebewesen würden Maschinen und Maschinen lebendig, wenn eine theoretische Differenzierung nicht gelänge. Obwohl diese Differenz zwischen natürlichen Organismen und künstlichen Artefakten dem Alltagsverstand unmittelbar evident erscheint und auch Laien praktisch in der Lage sind, Lebewesen und Maschinen sicher zu unterschieden, wirft ihre theoretische Begründung insbesondere nach der Abkehr von Vorstellungen einer Beseelung oder einer anderen in Organismen wirkenden belebenden Kraft einige Schwierigkeiten auf. Es stellen sich also zwei Fragen: Wie lässt sich der spezifische Unterschied zwischen Organismen und Artefakten ohne Rückgriff auf spekulative metaphysische Begriffe bestimmen?7 Und warum erscheint uns diese begrifflich so schwer zu fassende Differenz zugleich als unmittelbar evident?8

2.1

Die Analogie von Organ und Werkzeug

In dieser frühen Analogie wird die Einheit des Organismus nicht als durch das Zusammenspiel seiner Teile gestiftet gedacht, sondern die Einheit des lebendigen Körpers wird denkend vorausgesetzt. Der Körper nutzt seine einzelnen Organe je nach Bedarf als spezifische Werkzeuge (altgriechisch órganon für Werkzeug): die Hände zum Greifen, die Augen zum Sehen etc.

4 5 6 7 8

Vgl. Kapitel 2.1. Vgl. Kapitel 2.2. und 2.3. Vgl. Kapitel 3. Diese Frage wird unter 2.3. behandelt. Diese Frage wird unter 2.4.1. wieder aufgegriffen.

2. Die Analogie von Organismus und Artefakt

2.1.1

Aristoteles: Der Organismus hat eine Seele, Organe und Werkzeuge eine Funktion

Nach Aristoteles ist dasjenige, was die Einheit des Organismus stiftet, seine Seele. Sie ist das Prinzip, nach welchem die Materie im Lebendigen zur vollendeten Form organisiert ist. Als sein bestimmendes Prinzip ist die Seele nicht Teil des Organismus. »Daher darf man auch nicht fragen, ob die Seele und der Körper Eines sind, wie auch nicht, ob das Wachs und Figur (Eines sind)«9 . Als Prinzip des Organismus ist die Seele nicht Gegenstand, sondern abstrakter Begriff der in sich zweckmäßigen Form des Lebendigen und daher auch nicht individuell oder numerisch einem einzelnen Lebewesen zuzuordnen. »Offenbar dürfte der Begriff der Seele ein einziger sein wie der Begriff der (geometrischen) Figur«10 . Es lassen sich unendlich viele Dreiecke konstruieren, aber nur – sofern es Dreiecke sind – nach einem einzigen geometrischen Begriff, der die Formursache ist, die das Wesen dieser spezifischen Form umgreift: Drei Punkte, die nicht auf einer Geraden liegen und durch Linien verbunden sind. Ebenso sei es mit der Seele. Sie sei die Zweckbestimmung des Lebendigen, welche sein Wesen ausmache.11 Auch dies wird bei Aristoteles über eine Analogie verdeutlicht: »Wenn nämlich das Auge ein Lebewesen wäre, so wäre seine Seele die Sehkraft; denn sie ist das Wesen des Auges dem Begriffe nach.«12 Diese Analogie geht in zwei Richtungen; sie erhellt den Begriff der Seele und impliziert dabei zugleich, dass das Wesen der Körperorgane in ihrer Funktion für das Lebewesen liege. Es liege also im Begriff des Auges, zu sehen, im Begriff des Ohres, zu hören etc. Aber es liegt nicht im Begriff des Wassers, Suppe damit zu kochen oder Schiffe darauf schwimmen zu lassen, denn das Wasser habe diese Funktionen nicht in sich selbst. Außer den Organen des Körpers werden bei Aristoteles ausschließlich Artefakte wesentlich über ihre Funktion bestimmt, die der Handwerker in sie hineingelegt hat. So liegt es im Wesen des Schiffes, auf dem Wasser zu schwimmen. Naturdinge lassen sich zwar zu bestimmten ihnen äußerlichen Zwecken benutzen, aber sie sind nicht von Natur aus dazu bestimmt. Das Wesen des Stuhles ist es, darauf zu sitzen. Das Wesen des Baumes ist es nicht, ein Stuhl zu werden; er hat als Materie nur die Potenz, in die Form eines Stuhles gezimmert zu werden – sein Wesen bestehe dagegen in seiner Seele, die ihn wachsen, blühen und Früchte tragen lasse, d.i. seine natürliche Form ausmacht. Nach Aristoteles benutzen Organismen Organe wie Werkzeuge und der natürliche Besitz solcher Werkzeuge ist Teil der spezifischen Körperformen. Ob solche Werkzeuge nun natürlich sind wie Hände oder künstlich wie Schwerter, kann hier keinen wesentlichen Unterschied ausmachen, da das Wesen über die Funktion bestimmt wird, nicht über die Genese. Das Organ ist nach Aristoteles ein Werkzeug des Organismus und nur graduell von artifiziellen Werkzeugen unterschieden. Die Analogie zeigt sich hier als

9 10 11 12

Aristoteles, Über die Seele, in: Aristoteles, Philosophische Schriften, Band 6, Hamburg 1995, 412 b, S. 29. (Künftig zitiert: Aristoteles, Über die Seele). Aristoteles, Über die Seele, 414 b, S. 35. Vgl. Kapitel 7.1. Aristoteles, Über die Seele, 412 b, S. 29.

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Dialektik des Lebendigen

eine zwischen dem menschlichen Werkzeuggebrauch und dem Organismus, der seine Organe für seine Zwecke gebraucht. »[B]ei Aristoteles behält der Begriff des Organs seine doppelte Bedeutung eines technischen Werkzeugs und eines Körperteils als natürlichen Funktionsträger in einem Lebewesen. Das Organische des Lebendigen liegt nach Aristoteles in der Gliederung des Körpers (auch der Pflanzen) in Teile, die unterschiedliche Funktionen wahrnehmen.«13 Der wesentliche Unterschied zwischen Organismus und Artefakt liegt dann darin, dass die Form und Einheit des Ersteren durch die Seele gestiftet sind, die des Letzteren durch die Idee und Tätigkeit eines Handwerkers.

2.1.2

Lukrez: Artefakte und Organe unterscheiden sich über die zeitliche Dimension im Zweckbegriff14

Bei Aristoteles war die Verschiedenheit von Organ und Werkzeug nicht begrifflich gefasst. Unter der Überschrift Die Organe sind früher als ihr Gebrauch kritisiert Lukrez die einfache Analogisierung von Organ und Werkzeug der aristotelischen Schule, indem er ihre Grenze aufzeigt und so zu einer schärferen Trennung des diese Gegenstände unterscheidenden Prinzips gelangt. Lukrez differenziert beide, indem er die Zweckform der Organe von der der Artefakte nach ihrer zeitlichen Dimension unterscheidet. Der Unterschied im Zweckbegriff ist zunächst ein rein zeitlicher: Die Organe sind vor ihrem Gebrauch, die Artefakte zu ihrem Gebrauch da: Vor der Existenz des Organs gibt es auch kein Bedürfnis nach seiner Funktion. Anders bei dem Artefakt, das für und aus einem bestimmten Bedürfnis heraus gezielt geschaffen wird. So sei zwar der ›blitzende Pfeil‹ dazu da, ›Wunden zu schlagen‹ und das ›weichlich gepolsterte Bett‹, um ›den ermüdeten Leib zur Ruhe zu bringen‹, aber es sei eine Verkehrung zu sagen, das Auge sei zum Sehen da oder das Ohr sei zum Hören geschaffen. »Dies alles ist verkehrt und nach falscher Methode ersonnen. Denn zu unserm Gebrauche ist nichts in dem Körper erschaffen, sondern es schafft sich vielmehr das Geschaffene seinen Gebrauch erst.«15 Die Funktion der Artefakte und damit diese selbst werden dagegen ideell vorweggenommen, bevor sie realisiert werden (können); die Organe hingegen müssen existent sein, bevor ihre Funktion zu bestimmen ist. »Ehe das Augenpaar war geschaffen, bestand noch kein Sehen,« und damit auch kein Bedürfnis, zu sehen; aber »den ermüdeten Leib zur Ruhe zu bringen erfand man selbstverständlich schon früher als weichlich gepolsterte Betten«16 . 13 14

15

16

Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie, Artikel: Organismus, S. 778. Dieser Abschnitt wurde in leicht geänderter Form bereits veröffentlicht in: Christine Zunke, »Künstliches Leben und ratio perversa. Craig Venter als Newton des Grashalms?«, in: Myriam Gerhard/Christine Zunke (Hg.), Die Natur des Menschen. Aspekte und Perspektiven der Naturphilosophie, Würzburg 2012, S. 73-104. »Omnia perversa praepostera sunt ratione, nihil ideo quoniam natumst in corpore ut uti possemus, sed quod natumst id procreat usum.« Titus Lucretius Carus, De rerum natura/Von der Natur, herausgegeben und übersetzt von Hermann Diels, Düsseldorf/Zürich 1991, S. 358 f (IV, 833-835). Ebd.

2. Die Analogie von Organismus und Artefakt

Hieraus folgt eine inhaltliche Differenz: Die Organe können so, im Gegensatz zu Artefakten, nicht zu dem Nutzen, den sie für uns haben, erschaffen worden sein. Vielmehr schaffen die Organe durch ihre Existenz erst das Bedürfnis, zu dem wir sie brauchen. Das Auge ist also nach Lukrez nicht zum Sehen da, sondern das Sehen ist da nur aufgrund des Auges und ihm also logisch – und zeitlich – nachgeordnet.17 Hiermit seien nur die Artefakte über einen intelligiblen Zweck bestimmt, nicht aber die Organe, deren Zweck sich erst nachträglich erweise und nicht schon ideell in sie gelegt sei. Da die Zweckmäßigkeit des Organs sich erst im Resultat erweist, ist sie zugleich (in ihrer Genese) ohne Zweck. Dies ist historisch die früheste Form einer Zweckmäßigkeit ohne Zweck.

2.2

Lebendiger Körper oder technischer Apparat?

Das Hauptproblem der Unterscheidung von Organismus und Artefakt entsteht erst mit der modernen Naturwissenschaft der Neuzeit. Die Abkehr von metaphysischen Begriffen wie dem der Beseelung macht Organismen zu nach den Gesetzen der Physik und Chemie funktionierenden Apparaten. Die Analogie zum Artefakt droht hierdurch zu einer (zumeist nicht intendierten) Identität zu werden.18 Indem Aristoteles einzelnen Organen bestimmte Funktionen im Organismus zuordnete, wurde schon früh ein gegliederter innerer Aufbau der Lebewesen beschrieben. Doch bis in die Neuzeit hinein wird dieser Ansatz in der Naturphilosophie wenig verfolgt und das Wissen über die Anatomie von Lebewesen ist weitgehend auf den praktischen Gebrauch, beispielsweise für die Nahrungsmittelgewinnung, beschränkt und findet keinen besonderen Eingang in die wissenschaftliche Betrachtung. Darum fand lange auch kaum eine Analogisierung von Organen oder gar ganzen Lebewesen mit Artefakten statt.19 Georg Toepfer fasst dies prägnant zusammen: »Die Lebewesen gelten nicht selten als bloße ›Klumpen‹ ohne innere Differenzierung.«20 Erst mit mechanistischen Ansätzen, die sich insbesondere im 17. Jahrhundert mit den Arbeiten von René Descartes durchsetzen, findet hier wieder ein Fortschritt statt, der eng mit der Analogisierung von lebendigen Körpern und technischen Apparaten verknüpft ist. Über das Modell der Maschine wird der gegliederte, funktionelle Aufbau der Lebewesen in den Fokus gerückt und begriffen. »[M]aterialistische Ansätze [haben] einen erheblichen Anteil an der Entwicklung der frühen Organismusmodelle […]. Indem sie auf die Seele als ein zentrales Organisations- und Regulationsprinzip der Lebewesen verzichten, sind sie darauf angewiesen, die komplexen Lebensfunktionen aus der Interaktion der Teile zu

17

18 19 20

Dieser Gedanke wird viel später wieder aufgegriffen, nämlich von Kritikern der Evolutionstheorie. Wie können Mutationen sukzessive zu Veränderungen führen, die sich erst in der Summe nach mehreren Generationen als nützlich erwiesen? Vgl. Kapitel 4.6. Dies führte zur Ausbildung vitalistischer Theorien, die verschiedene bildende oder organisierende Kräfte als Substitut einer Seele formulierten. Vgl. Kapitel 8.1. Thomas von Aquin ist hier – wie in vielen Bereichen – eine avancierte Ausnahme. Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie, Artikel: Organismus, S. 780.

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Dialektik des Lebendigen

begründen. Terminologisch manifestiert sich diese Veränderung in der verstärkten Verwendung von Begriffen aus dem Handwerk und der Baukunst zur Beschreibung und Analyse von Lebensprozessen.«21 Hierbei gilt es jedoch zu unterscheiden zwischen einem Dualismus, der zwar noch von der Existenz einer Seelensubstanz ausgeht, diese jedoch nicht als unmittelbar sich körperlich manifestierend annimmt, sondern den Körper als mechanisches Instrument ihrer Bewegungen begreift,22 und dem späteren Mechanismus, der in expliziter Kritik dualistischer Vorstellungen, ganz ohne sich dem Körper organisch vermittelnder Seele, die gegliederte Funktionalität des Lebendigen als mechanisch begreift. Denn die bloße Analogisierung von Organismen und mechanischen Apparaten enthält noch nicht die Vorstellung, die ab dem 18. Jahrhundert als Mechanismus bezeichnet wird und eine hinreichende Erklärung aller Lebensvorgänge durch die Gesetze der Mechanik (oder später der Physik und Chemie) anstrebt. Erst mit der Erklärung der Funktion von Organismen durch die identischen Prinzipien bzw. Gesetze, nach denen technische Apparate funktionieren, entsteht das Problem, ihre Differenz gesondert begründen zu müssen. Ohne den aristotelischen Begriff der Seele wird die Analogie von Organismus und Artefakt im Mechanismus zur Identität.

2.2.1

Beispiel Uhr

Der später so prominent gewordene Vergleich der ineinandergreifenden Zweckbeziehungen des Organismus mit einem Uhrwerk zeigt den Verlauf der Bedeutungsverschiebung der Analogie von einem vergleichenden Modell zu einer Identität gut auf. Die andauernde, gerichtete Selbstbewegung, die durch eine spezifische Anordnung der in Wechselwirkung stehenden Teile hervorgebracht wird, macht diesen Vergleich zwischen einem Lebewesen und einer Pendel- oder Federuhr so fruchtbar. So heißt es bei Leibniz: »Die Vorgänge im Körper des Menschen und jedes Lebewesens sind ebenso mechanisch wie die in einer Uhr, nur mit dem Gradunterschied, der notwendig zwischen einer Maschine von göttlicher Erfindung und dem Erzeugnis eines so beschränkten Handwerkers, wie des Menschen, bestehen muß«23 . Das Ziel solcher mechanistischen Vorstellungen ist zuerst kein religiös motiviertes,24 sondern im Gegenteil ein normatives Erkenntnisideal der Naturwissenschaften: »Der Organismus soll als mechanisch geordnet gesehen werden, damit seine Erkennbarkeit garantiert ist.«25 Nur als vollständig nach erkennbaren Naturgesetzen funktionieren21 22

23 24

25

Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie, Artikel: Organismus, S. 781. Diese Vorstellung geht insbesondere auf René Descartes zurück, ausgeführt im posthum veröffentlichten Traité de l’homme (Abhandlung über den Menschen); Ausschnitte sind vorher im Discours de la Méthode 1637 abgedruckt worden. Gottfried Wilhelm Leibniz, »Schreiben an Clarke«, in: Ernst Cassirer (Hg.), Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Bd. 1, Hamburg 1996, S. 81-182, S. 156. Wobei die Vorstellung einer der menschlichen überlegenen Vernunft immer mitschwingt, von »Gottes feinster Quantenmechanik« (Ernst Schrödinger) bis zum naiven Kreationismus. Vgl. Kapitel 9.1. und 4.7. Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie, Artikel: Organismus, S. 816.

2. Die Analogie von Organismus und Artefakt

der Mechanismus lässt sich der Organismus gänzlich naturwissenschaftlich erklären, nur als Artefakt wird er unserer Erkenntnis restlos zugänglich sein. »Dabei wird die Metapher der Uhr anfangs durchaus nicht als abwertend verstanden. Im 17. Jahrhundert erscheint die Uhr vielmehr als ein Modell für die Rationalität der Welt und wird nicht als Paradigma eines toten Dings verstanden. […] Im 17. Jahrhundert entwickeln sich organisationstheoretische Modelle also gerade im Rahmen mechanistischer Ansätze; die Entgegensetzung von Organismus und Mechanismus ist dagegen erst eine Entwicklung des 18. Jahrhunderts.«26 Das bedeutet, dass erst mit dem 18. Jahrhundert, also mit der Entgegensetzung von technischem Mechanismus und lebendigem Organismus die Vergleichung von Maschinen und organisierten Wesen ihren bloß analogischen (oder metaphorischen) Charakter verlor und drohte, zu einer Identität zu geraten. Dies machte die Abgrenzung des Organismus vom Artefakt ebenso nötig wie unmöglich – denn wie sollte ein physikalischer Körper ohne Seele oder sonstige organisierende/bewegende Kraft auch anders in sich zweckmäßige Funktionen realisieren, als nach dem Prinzip der Naturgesetze, die wie in Artefakten gezielt beherrscht werden? Nach streng mechanistischem Prinzip kann ein Organismus gar nichts anderes sein, als ein natürlich entstandenes Artefakt – was ein Widerspruch im Begriff ist. Dieser Widerspruch löst sich im Mechanismus nur durch die Annahme eines ›Ingenieurs‹ als eines (nicht-menschlichen) Wesens, das diese uns fälschlich als natürliche Gegenstände erscheinenden Artefakte geschaffen hat. Ein Folgeproblem bestand also darin, dass mit dieser essentiellen heuristischen Bedeutung der Analogie von Artefakt und Organismus die Organismen als geplante Produkte der Schöpfung erscheinen mussten, also implizit die rein naturwissenschaftliche, rein mechanistische Erklärung eine naive Theologie des mit Desoxyribonukleinsäuren bastelnden Designers schrieb. Die Seele stiftet nicht mehr die wesentliche Differenz, sondern die Frage: gemacht oder geworden? Wenn eine nichtvernünftige Naturkraft als Ursprung des Lebendigen angenommen wird, so ist die Differenz in der Genese eine wesentliche. Wird dagegen aufgrund der inneren Organisation auf eine äußere Zwecksetzung und hiermit auf ein vernünftiges Subjekt als Urheber des Organischen geschlossen, so wird aus der wesentlichen Differenz eine bloß graduelle. Der Schöpfungsakt mag in solcher Vorstellung die Technik des Menschen unerreichbar übersteigen, dem Prinzip nach – durch äußere Zwecksetzung innere Ordnung zu erzeugen – wird er hier doch als identisch gedacht. Während der Uhr-Organismus-Vergleich im 17. Jahrhundert einem antimetaphysischen, rationalen Erkenntnisideal der Naturwissenschaft diente, wurde er im 18. und 19 Jahrhundert gezielt herangezogen, um Gottes Schöpfung zu beweisen. Dieser Gedanke wurde dann auch explizit ausgeführt, insbesondere von William Paley.

2.2.1.1

Paleys Wüstenkolonie sich replizierender Sackuhren

Paley macht im ersten Kapitel seiner Natural Theology (1802) plausibel, dass wir einer in der Wüste gefundenen Sackuhr27 , im Unterschied zu einem dort gefundenen Stein, 26 27

Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie, Artikel: Organismus, S. 781. Veralteter Ausdruck für Taschenuhr.

49

50

Dialektik des Lebendigen

einen intelligenten Erzeuger unterstellen würden. Wir würden immer, auch fern der Zivilisation und ohne Wissen um seine Genese, ein Artefakt von einem toten Naturgegenstand sicher unterscheiden können. Der Unterschied zum Stein bestehe darin, »daß an der Uhr verschiedene Theile ersichtlich werden, die alle für einander gemacht erscheinen, und zwar zu einem gewissen Zwecke«28 . Die Uhr als realisierten Zweck zu erkennen – und damit auf einen Hersteller zu schließen – sei ohne technische Sachkenntnis und selbst bei einer fehlerhaften, schlecht gemachten oder kaputten Uhr unvermeidlich. »Eine solche Folgerung […] würde nicht weniger unvermeidlich sein, hätten wir auch nie eine Uhr verfertigen sehen […], selbst dann, so wir uns nicht vorstellen könnten, auf welche Weise es möglich ist, daß eine solche Maschine gemacht worden […]. Gesetzt nun, daß diese Uhrmaschine nicht immer richtig, oder doch sehr selten vollkommen gut gehe, so wird darum vorerwähntes Urteil nichts desto weniger giltig seyn, denn der Zweck der Maschine, und die Absicht (oder Plan) des Verfertigers würden darum immer sonnenklar bleiben«29 . Weiter betont er, dass für diese Erkenntnis, dass wir es mit einem Artefakt zu tun haben, weder der Mechanismus über die Funktion aller Teile begriffen werden müsse, noch überhaupt jedes einzelne Teil notwendig eine (ersichtliche) Funktion haben müsse, da die Funktionalität im Ganzen erscheine. Die Analogie zum lebendigen Organismus taucht hier explizit noch gar nicht auf, sondern fließt nebenbei in einer erläuternden Klammer ein: »(ungleicher Gang in der Uhr, ungleicher Puls beim Menschen).«30 Doch spätestens die Ausweitung des Beispiels zu einem Gedankenexperiment von sich identisch replizierenden Sackuhren verdeutlicht, dass es Paley genau auf diese Analogie ankommt: »Dieser Beobachter wird leicht unterscheiden, daß, wenn die Sackuhr, die er hier vor Augen hat, das Vermögen besitzt, andere, ihr ähnliche hervorzubringen, solches Vermögen sehr unterschieden sey von der Kunst eines Meisters, der selbst erfindet und ausführt.«31 Doch anstatt hiermit über die unterschiedliche Genese eine wesentliche Differenz zum Organismus festzuhalten32 , macht Paley hieraus einen graduellen Unterschied in der Meisterschaft des Handwerks. Denn auch, wenn die gefundene Sackuhr durch eine andere geschaffen wurde, »so ist hieraus auch nicht minder klar, daß die allererste, welche in der Folge andere entstehen machte, das Werk eines verständigen Künstlers gewesen.«33 Was den heutigen Ingenieuren noch eine Zukunftsversion ist, habe demnach der Konstrukteur der Ingenieursvorfahren an letzteren schon geleis-

28

29 30 31 32 33

Wilhelm Paley, Wilhelm Paley’s, eines englischen Philosophen, Theologie der Natur. In’s Französische übertragen durch Karl Pictet aus Genf; aus diesem in’s Teutsche übersetzt, in der Form eines Lehrbuches eingerichtet, und mit einer überblickenden Inhaltsanzeige zur größeren Gemeinnützigkeit und Verbreitung religiöser Gefühle versehen, Mannheim 1823, S. 28. (Künftig zitiert: Paley, Theologie der Natur). Paley, Theologie der Natur, S. 29. Paley, Theologie der Natur, S. 30. Paley, Theologie der Natur, S. 32. Vgl. Kapitel 2.3.1. Paley, Theologie der Natur, S. 33.

2. Die Analogie von Organismus und Artefakt

tet. Paleys anthropomorpher Gott ist ein Handwerker mit übermäßigem Geschick, wie es auch heute noch die Vertreter des Intelligent Design darstellen.34

2.2.2

Dawkins ›blinder Uhrmacher‹ und seine Gemeinsamkeit mit dem Intelligent Design

Bei Paley wurde die Differenz zwischen Organismus und Artefakt absichtlich nivelliert, um die Schöpfung Gottes augenfällig zu machen; wer diesem Schluss nicht folgt, stößt auf das Problem, diese Differenz begründen zu müssen. In seinem populärwissenschaftlichen Buch Der blinde Uhrmacher, das kritisch auf Paley und aktuelle Theorien des Kreationismus oder Intelligent Design Bezug nimmt, erscheint das Problem samt selbstwidersprüchlicher ›Lösung‹ schon im Titel: Der Uhrmacher ist blind, doch seine Produkte sind so gestaltet, als wäre er sehend. Dawkins stellt dar, wie aus dem Zusammenwirken von zufälliger (blinder) Mutation und nicht-zufälliger natürlicher Selektion ›evolutionäre Kreativität‹ entsteht (der Uhrmacher). Es ist kein Vernunftwesen, das Zwecke setzt, kein planender Gott, sondern ein blinder Naturmechanismus (die Evolution). Dieser Naturmechanismus setzt keine intelligiblen Zwecke, doch durch ihn realisiert sich Zweckmäßigkeit in Gegenständen, da die nicht-zufällige Selektion zirkulär immer schon auf die angepasste Funktionalität gerichtet ist – eine Gerichtetheit, die nur intelligibel, d.i. denkend, vorausgesetzt werden kann. Doch ohne Rückgriff auf ein höheres Wesen und in Ermangelung anderer Alternativen soll die Selektion ganz ohne intelligibles Moment, wie ein kausales Gesetz, als Naturmechanismus wirken; aber sie darf zugleich nicht ohne Zweck sein, denn dann fände keine Selektion statt, und die Entstehung diverser funktional angepasster organischer Strukturen bliebe unerklärlich. In seiner Ablehnung des intelligiblen Moments der teleologischen Form geht Dawkins so weit, dass er die klassische Analogie umkehrt: nicht ausgehend vom künstlichen Gegenstand wird das Lebendige als in seiner Funktionalität analog vorgestellt, sondern vom zweckmäßig organisierten Lebewesen ausgehend bestimmt er die Artefakte als analoge Bildungen zum Organischen. Nach ihm unterscheide sich die anorganische Materie von der lebendigen, indem sie durch eine neue Gesetzmäßigkeit organisiert sei, die man, so Dawkins, in Ermangelung eines besseren Ausdrucks (übrigens in jeder Sprache), Zweckmäßigkeit nennen könne. Diese Zweckmäßigkeit finde sich in der anorganischen Natur grundsätzlich nicht, bis auf eine Ausnahme: »Eine erstaunliche Ausnahme von dieser Regel bilden die Maschinen.«35 Auch Maschinen seien nach derselben Gesetzmäßigkeit, der Zweckmäßigkeit, organisiert wie das Lebendige. In Folge der Umkehrung der Analogie kann auch Dawkins Artefakte und Organismen als wissenschaftliche Gegenstandsbereiche nicht auseinanderhalten; Pferd und Auto unterscheiden sich nur graduell in Gewicht und PS, nicht prinzipiell nach der Form ihrer Organisation, welche die Grenze zu den Naturwissenschaften des Unbelebten markiert. In der Einleitung zu Der blinde Uhrmacher heißt es:

34 35

Vgl. Kapitel 4.7. Dawkins, Uhrmacher, S. 12.

51

52

Dialektik des Lebendigen

»Der Unterschied [zwischen physikalischen und biologischen Gegenständen] liegt in der Komplexität des Bauplans. Biologie ist das Studium komplizierter Dinge, die so aussehen, als seien sie zu einem Zweck entworfen worden. Physik ist das Studium einfacher Dinge, die uns nicht dazu herausfordern, Zweckmäßigkeit zu beschwören. Auf den ersten Blick erscheinen menschengemachte Artefakte wie Computer und Autos als Ausnahmen. Sie sind kompliziert und offensichtlich zu einem Zweck konstruiert, doch sie sind nicht lebendig; und sie sind aus Metall und Plastik, nicht aus Fleisch und Blut. In diesem Buch werden sie unbeirrt wie biologische Gegenstände behandelt.«36 Es scheint, dass mangelnde Reflexion auf die transzendentale Grundlage seiner Disziplin Dawkins implizit in die Nähe derjenigen Ideologie rückt, gegen die er zu Felde zieht. Die zur Identität geratene Analogie zwischen Organismus und Artefakt – wie bei Dawkins oder Paley ohne Bestimmung der wesentlichen Differenz – stellt auch den Kern der Argumentation des Intelligent Design dar. Wenn vom Artefakt als realisiertem Zweck mit darum teleologischer Struktur ausgegangen wird, um den Organismus analog zu erklären, dann besteht das zu lösende Problem darin, anzugeben, wie dieses ideelle Moment einem Naturgegenstand zukommen kann; Paley oder die Theorien des Intelligent Design lösen dieses Problem, indem sie Organismen zu den Artefakten einer nichtmenschlichen Intelligenz erklären, die dessen gedachten und realisierten Zweck als Intelligibles enthalten. Da Dawkins umgekehrt die zweckmäßige Form der Organismen als besondere Kausalform der Natur fasst und das Kunstprodukt analog zu dieser erklärt, nivelliert er das durch Vernunft gesetzte intelligible Moment auch in Artefakten. In diesem umgekehrten Weg muss das Ideelle dann als »neue Gesetzmäßigkeit« in der Natur selbst liegen; auch im Artefakt verschwindet folglich die ideelle Zwecksetzung durch seinen Produzenten, da dieses als Analogon der Organismen gedacht wird. Daher werden technische Produkte – gleichfalls als ob sie ohne Schöpfer wären – »unbeirrt wie biologische Gegenstände behandelt.« Indem so die Natur selbst zur zweckrealisierenden Instanz wird, erweist die ›materialistische‹ Lösung von Dawkins sich als weit idealistischer, als der von ihm abgelehnte sogenannte ›metaphysische Weg‹. Alex Sutter attestierte den frühen Materialisten eine implizite Theologie: »In der Körperautomaten-Doktrin steckt also eine kleine Automatenbauer-Theologie«37 . Als Folge der »Automatenbauer-Theologie« fällt die Differenz zwischen Artefakt und Organismus. Dawkins hat diesen Weg konsequent weiter beschritten und alle Zweckmäßigkeit der Natur selbst zugeordnet, so dass Organismus und Artefakt in die gleiche Klasse der Naturgegenstände fallen – und hat damit nicht nur den Organismus nicht erklärt, sondern darüber hinaus das Artefakt verrätselt. Um sich von der Theologie wie von der alten Metaphysik deutlich als Naturwissenschaft abzugrenzen, ist es für moderne Biologen (mit Ausnahme des Populärwissenschaftlers Dawkins) notwendig, die Differenz von Organismus und Artefakt zu bestimmen.

36 37

Dawkins, Uhrmacher, S. 13. Alex Sutter, Göttliche Maschinen. Die Automaten für Lebendiges bei Descartes, Leibniz, LaMettrie und Kant, 1988, S. 61, zitiert nach: Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie, Artikel: Organismus, S. 816; vgl. auch C. D. Broad, The Mind and its Place in Nature, New York 1925, S. 90.

2. Die Analogie von Organismus und Artefakt

Artefakte sind fremdorganisierte Systeme. Da wir Menschen es sind, welche sie produzieren, ist die Art und Weise ihrer Produktion kein Rätsel. Spätestens hier hört die Analogie zu den Organismen auf, über deren ursprüngliche Genese wir nicht viel sicher sagen können38 und deren Reproduktionsprozesse wir nur begreifen können, indem wir eine teleologische Zweckmäßigkeit unterstellen.

2.2.3

Technischer Fortschritt verändert die Vorstellungen des Organischen

Die mechanische Uhr muss heutzutage als äußerst unvollkommene Analogie eines komplexen belebten Organismus erscheinen, aber technische Apparate sowie Werkzeugherstellung und -gebrauch sind bis heute das grundlegende Modell für die Weise, wie wir Organismen und Organe denken. Mit dem technischen Fortschritt und der damit verbundenen wachsenden Komplexität der Maschinen hat sich unsere Auffassung vom Lebendigen verändert. Mit der Erfindung vom Mikroskop bis zum DNA-Sequenzierer wuchs unser Wissen um den komplexen Aufbau, Struktur und ineinandergreifende Prozesse der Organismen. Zugleich lieferten die neuen Werkzeuge von der Hydraulik bis zum Computer uns neue Modelle, die Funktionsweise von Organismen zu denken. Andersherum gelten Organismen als Vorbild für technische Lösungen, bspw. bei Bewegungsabläufen in der Robotik. Der Biochemiker Alexander Iwanowitsch Oparin zeigt in seinem Werk Das Leben. Seine Natur, Herkunft und Entwicklung unter anderem auf, wie mit dem Fortschritt der technischen Entwicklung sich auch die Vorstellungen vom immer schon analog zur Maschine vorgestellten Organismus historisch veränderten.39 Im Zeitalter der Chronometer wurde die Anatomie vorangetrieben, mit der Entwicklung der Dampfmaschine die Physiologie,40 nach der Erfindung der Wärmemotoren trat der Stoffwechsel in den Blick41 und diesen Gedanken weiterführend gehört die Zeit der Computer der Neurophysiologie. Sich selbst replizierende Maschinen – wie Paleys Uhr – werden schon jetzt in theoretischen Evolutionsmodellen am Computer simuliert.42 Die für die Forschung in beide Richtungen außerordentlich fruchtbare Analogisierung von Organismen und Artefakten ist zunächst eine Projektion der einen begriffenen funktionalen Struktur auf eine andere; etwa wurde die Wärme des Feuers bereits in der frühen Antike projektiv auf die Körperwärme der Säugetiere und Vögel abgebildet und

38 39 40 41

42

Vgl. Kapitel 5. Vgl. Alexander I. Oparin, Das Leben. Seine Natur, Herkunft und Entwicklung, Jena 1963, S. 13. (Künftig zitiert: Oparin, Leben). Auch die Psychoanalyse arbeitet teilweise bis heute mit Vorstellungen von Druck, Ventilen, Kanälen, Übertragungen von Kräften usf. Bis heute kursiert die Vorstellung, beim Verbrennen von Kalorien blieben Schlacken im Körper zurück, von denen man sich durch entsprechende Kuren reinigen könne, als wäre der Darm ein Ofenrohr. Die virtuelle Art der Avidians der Michigan State University hat in ihrer digitalen Evolution sogar Intelligenz entwickelt. Die Differenz zwischen Artefakt und Organismus missachtend, gehen die Forscher dieses Projektes davon aus, dass sie keine der Evolution analogen Prozesse produzieren, sondern die Evolution in ihren Rechnern tatsächlich stattfindet: »Avida-ED is not a simulation of evolution, but an instance of it.« http://avida-ed.msu.edu/information_2.html (Zugriff 13.9. 2021).

53

54

Dialektik des Lebendigen

bis heute werden in jedem Sportstudio keine Stoffe im Körper chemisch umgewandelt, sondern Kalorien verbrannt, – was vor Hitze rote Gesichter erzeugt. Hiermit wird also zugleich mit der stattfindenden Erkenntnis auch ein spezifisches Bild der zu erklärenden Vorgänge geliefert, das sich weitertragen kann. Das Gehirn als Computer oder die DNA als Bauplan erzeugen Vorstellungen, deren Effekte sowohl im technischen wie im biologischen Bereich die Produktion bestimmter Lösungen und die Vernachlässigung anderer befördern. Der Weg des technischen Fortschritts ist daher mit dem des biologischen nicht nur – wie bei der Physik und Chemie – eng über den Grad der erreichten Naturbeherrschung verbunden, sondern auch über die projektiv-produktiven Analogien, wie Funktionszusammenhänge denkbar sind.

2.3

Differenzierungen von Organismen und Artefakten

Die Analogisierung der zweckmäßigen Struktur von Lebewesen mit der Funktionalität von Artefakten ist für die biologische Forschung äußerst fruchtbar. Dennoch ist hierbei klar, dass eine wesentliche Differenz zwischen beiden besteht, da Organismen natürlich entstanden sind und nicht als zweckmäßige Einheiten geplant und konstruiert wurden. Obwohl diese Differenz als vorausgesetzte unterstellt wird, bereitet es der modernen Biologie, die nicht von einer Schöpfung der Lebewesen durch eine göttliche Vernunft ausgeht, offenbar gewisse Schwierigkeiten, den Unterschied zwischen Organismen und Artefakten theoretisch zu bestimmen.

2.3.1

Monod: »Mit einem Projekt ausgestattete Objekte«43

Mit der Klärung der Differenz von Artefakten und Organismen beginnt der Biologe und Nobelpreisträger Jaques Monod sein Werk Zufall und Notwendigkeit. Hierzu differenziert er zunächst zwischen natürlichen und künstlichen Strukturen. Erstes Kriterium hierfür ist die Wiederholung identisch geformter Objekte mit geometrischen Regelmäßigkeiten, was auf einen künstlichen Ursprung verweise. Geometrische Strukturen wie einfache Spiegel- oder Punktsymmetrie in sich wiederholenden Formen erfassen jedoch auch Objekttypen, die wir (aufgrund welchen implizit vorausgesetzten Kriteriums auch immer) eindeutig als natürlichen Ursprungs identifizieren würden. So kommt Monod zu dem Schluss: »Zweifellos ist es unmöglich, von (makroskopischen) strukturellen Kriterien ausgehend zu einer Definition des Künstlichen zu gelangen, die alle ›wirklichen‹ Artefakte […] umfaßte, aber so offensichtlich natürliche Objekte, wie die Kristallstrukturen und die Lebewesen, ausschlösse, die wir doch auch zu den natürlichen Systemen rechnen möchten.«44

43 44

Jacques Monod, Zufall und Notwendigkeit, München 1971, S 16. (Künftig zitiert: Monod, Zufall und Notwendigkeit). Monod, Zufall und Notwendigkeit, S. 16.

2. Die Analogie von Organismus und Artefakt

Er nimmt darum ein weiteres Kriterium hinzu, um Artefakte und Lebewesen45 auseinanderhalten zu können, das sich jedoch nicht unmittelbar am Gegenstand ablesen lässt, sondern an seiner Genese: Artefakte werden von Lebewesen geschaffen als Produkte, die sich von ihnen selbst unterscheiden (die Biene hat eine andere geometrische Struktur als ihre Wabe, der Mensch eine andere als sein Auto), wogegen Lebewesen sich selbst (weitgehend) invariant reproduzieren.46 Diese Unterscheidung eignet sich bei Monod zunächst dazu, die vorausgesetzte Differenz von Artefakten und Organismen auf ein empirisches Kriterium zurückzuführen. Aber es scheint ihm nicht hinreichend, da es den Kern der zu bestimmenden belebten Objekte nicht erfasse. Das Problem, dass Artefakte und Lebewesen sich über die zuerst angeführten Kriterien der wiederholten symmetrischen Struktur nicht unterscheiden lassen, liegt Monod zufolge in der Teleonomie47 beider Objektarten begründet; beides seien »mit einem Projekt ausgestattete Objekte«48 , also Objekte, die in ihrer Struktur nur über eine Zweckmäßigkeit zu begreifen sind. In der Genese unterscheide sich nun nicht nur die Weise der Realisierung des Zwecks oder Plans, sondern auch der Zweck selbst. Der Mechanismus der Reproduktion von Lebewesen ist die autonome Morphogenese. Während unbelebte Materie in ihren Formen von äußeren Kräften gestaltet werde, gehe die Form und Struktur eines Lebewesens aus einem inneren Prozess hervor. Organismen seien so durch ihre innere Zweckmäßigkeit von der äußeren Zweckmäßigkeit der Artefakte zu unterscheiden. Als in sich selbst zweckmäßig wird das Lebewesen so formal als reflexiv bestimmt, was sich auch in den daraus folgenden zugesprochenen Eigenschaften, frei, autonom und spontan zu sein, zeigt. »[E]s verdankt fast nichts der Einwirkung äußerer Kräfte, aber alles – von der allgemeinen Gestalt bis in die kleinste Einzelheit – seinen inneren, ›morphogenetischen‹ Wechselwirkungen. Seine Struktur beweist eine klare und uneingeschränkte Selbstbestimmung, die eine quasi totale ›Freiheit‹ gegenüber äußeren Kräften und Bedingungen einschließt. Äußere Bedingungen können die Entfaltung des lebenden Objekts wohl behindern, nicht jedoch lenken; sie können ihm seine Organisation nicht aufzwingen. Durch den autonomen und spontanen Charakter der morphogenetischen Prozesse, in denen sich ihre makroskopische Struktur aufbaut, unterscheiden sich die Lebewesen absolut von den Artefakten«49 . Mit dieser Bestimmung sind Organismen wesentlich von Artefakten unterschieden, nicht bloß in der Weise ihrer Funktionen und Genese verschieden. Die Differenz liegt nicht länger in empirischen Merkmalen, sondern wird über die durch entsprechende Adjektive noch gesteigerten Reflexionsbegriffe ›uneingeschränkte Selbstbestimmung‹, ›totale Freiheit‹ und ›autonomer und spontaner Charakter‹ definiert. Es sei dies »eine der grundlegenden Eigenschaften […], die ausnahmslos alle Lebewesen kennzeichnen:

45 46 47 48 49

Dieser Differenzierungsversuch umfasst auch Kristalle. Vgl. Kapitel 9.2. Vgl. Monod, Zufall und Notwendigkeit, S. 20 f. Zur Verwendung des Begriffs der Teleonomie an Stelle von Teleologie vgl. Kapitel 7.4.1. Monod, Zufall und Notwendigkeit, S. 16. Monod, Zufall und Notwendigkeit, S. 19.

55

56

Dialektik des Lebendigen

Objekte zu sein, die mit einem Plan ausgestattet sind, den sie gleichzeitig in ihrer Struktur darstellen und durch ihre Leistungen ausführen«50 . Dieser Plan, den die belebten Dinge in sich selbst verfolgen, verweist auf ein intelligibles Moment, ohne das Monod sich offensichtlich nicht in der Lage sieht, Organismen von Artefakten hinreichend zu unterscheiden. Bevor dieser Gedanke weiterverfolgt wird,51 sollen zunächst andere Versuche der empirischen Bestimmung dieser für das Selbstverständnis der Biologie wichtigen Differenz betrachtet werden.

2.3.2

Oparin: Materielle Unterschiede von Artefakt und Organismus

Wer in der Naturwissenschaft nicht von Projekten, Plänen und Zielen reden will, die implizit auf ein Vernunftsubjekt verweisen, bemüht sich um materialistisch bestimmte Unterschiede zwischen Organismen und Maschinen. Eine materialistische Biologie kann (und will) keine wesentliche Differenz zwischen Artefakten und Organismen angeben, da das Wesen per definitionem nicht materiell bestimmbar ist. Die Unterschiede können also nur empirisch und graduell sein. Darum kann die qualitative Differenz von Artefakten und Organismen nicht aus ihnen folgen, sondern muss vorausgesetzt werden. Oparin betont in seiner materialistischen Biologie, dass neben den analogischen Gemeinsamkeiten zugleich die Unterschiede zwischen Maschinen und Lebewesen Gegenstand der Forschung werden müssen, um »die Natur des Lebens«52 zu erkennen. Diese Unterschiede bestimmt er erstens im Material, zweitens im Prinzip ihrer Beständigkeit und drittens in der Überwindung der Entropie. Das Material bestimmt wesentlich die Eigenschaften eines Körpers. Die Lebewesen begreift Oparin mit Bezug auf Engels als Eiweißkörper: »Leben ist die Daseinsweise der Eiweißkörper, deren wesentliches Moment im fortwährenden Stoffwechsel mit der äußeren sie umgebenden Natur besteht und die mit dem Aufhören dieses Stoffwechsels auch aufhört und die Zersetzung des Eiweißes herbeiführt.«53 Durch diese Materialität als Eiweiße, die als Aminosäuren schnell zerfallen, seien Organismen dynamisch: sie existierten nur als Stoff-Wechsel. Maschinen seien dagegen statisch organisiert – je weniger Veränderungen die Konstruktion unterworfen ist, desto ›langlebiger‹ sei die Maschine; Materialveränderungen wie Korrosion, Verschleiß, Abrieb etc. seien Anzeichen des Verfalls. Im Gegensatz dazu lebe der Organismus nur, solange Prozesse des Wechsels und Wandels im Material stattfinden. Hieraus folge zweitens die Verschiedenheit im Prinzip der Beständigkeit bei Maschinen und Organismen: »In der Maschine sind die Konstruktionselemente überhaupt nicht an den chemischen Umwandlungen des energetischen Materials beteiligt. […] Die Konstruktionselemente 50 51 52 53

Monod, Zufall und Notwendigkeit, S. 17. Vgl. Kapitel 7.3. Oparin, Leben, S. 18. Friedrich Engels, Dialektik der Natur, MEW Bd. 20, Berlin 1990, S. 558 f.

2. Die Analogie von Organismus und Artefakt

des lebenden Körpers, die Eiweißfibrillen, sind dagegen selbst unmittelbar an den Stoffwechselreaktionen beteiligt, die als Quelle für die in mechanische Bewegung umzuwandelnde Energie dienen.«54 Wegen der Differenz im Prinzip ihrer Beständigkeit könne man eine Maschine ausschließlich mit Strom oder Benzin betreiben, einen Organismus dagegen nicht bloß mit Zucker, weil er neben der Energie auch Stoffe brauche, die er in sich integrieren kann; genau hierfür benötigt er Energie. Die Maschine dagegen wirke beim Verbrauch der Energie idealerweise nur nach außen; alles was hierbei auf sie selbst wirkt, sei Verschleiß.55 Drittens seien Maschinen und Organismen verschieden in der Weise, die Entropie zu überwinden. Organismen entgingen dem thermodynamischen Gleichgewicht, indem sie offene, fließende Systeme seien; kybernetische Automaten dagegen durch den ›Maxwellschen Dämon‹, der jedoch laufend neuer Informationen von außen bedürfe: »Für ein lebendes Wesen ist das, was innerlich ist (Anpassungsfähigkeit), nicht nur Mittel, sondern das Ziel selbst: die Erhaltung des Lebens, die Erhaltung der Ganzheit des Wesens durch Anpassung an die Umwelt. Nicht einmal etwas Ähnliches ist im Homöostaten56 zu finden, keinerlei inneres Endziel. Wenn ein lebendes Wesen, dessen Gleichgewicht gestört wurde, hartnäckig versucht, sich mit allen Möglichkeiten an die neuen Bedingungen anzupassen, so läßt sich das mit der Bemühung erklären, das Leben zu erhalten. Wenn der Homöostat nacheinander 390.625 Kombinationen versucht, so nur deswegen, weil das Ashby so wollte.«57 Hier zeigt sich die Überwindung der Entropie des Organismus als ein aktives Streben – ähnlich den mit einem Projekt ausgestatteten Objekten bei Monod. Der Antrieb ist ein intelligibles Endziel, die Erhaltung des Lebens, seiner Ganzheit. Organismen handeln hier aktiv gegen das thermodynamische Gleichgewicht, kybernetische Maschinen dagegen passiv. Mit dieser Bestimmung liegt die Differenz zu Artefakten im Intelligiblen des Organismus, was im Widerspruch zum materialistischen Anspruch von Oparins Theorie steht.

2.3.2.1

Die formale Gleichheit zwischen Lebewesen und Maschinen als Rückfall in ihre Identität

Aus den angeführten Differenzen schließt Oparin: »Deshalb besitzen die aufgezählten Grundzüge der Verwandtschaft dieser beiden Systeme meist nur einen sehr allgemei-

54 55

56 57

Oparin, Leben, S. 20. Oparins Differenzierung ist hier selbst keine prinzipielle, sondern entspricht einem historischen Stand der Technik. Die Zweckmäßigkeit selbst kann in innere und äußere unterschieden werden (vgl. Kapitel 1.3.1.), was sich auch in der Differenz prozessierender und statischer Organisation zeigen kann, bei technischem Fortschritt jedoch nicht notwendig hier zeigen muss. Prozessierende Konstruktionen von Artefakten können nicht systematisch ausgeschlossen werden. Nur andersherum kann, was seinen Zweck in sich selbst hat, nicht statisch sein, weil es dann in seiner Funktion nicht auf sich gerichtet wäre, sondern auf einen äußeren Zweck. Vgl. William Ross Ashby, Design for a brain: the origin of adaptive behaviour, London 1978. P. Kossa, Kybernetik, Moskau 1958, zitiert nach Oparin, Leben, S. 24.

57

58

Dialektik des Lebendigen

nen Charakter und erweisen sich bei eingehender Analyse als rein formal.«58 Mit dieser bloß formalen Gleichheit ist das Verhältnis tatsächlich ein analogisches. Die Gefahr einer inhaltlichen identischen Bestimmung besteht nicht. Analogien zwischen Hydraulik und Muskelbewegung, Verbrennung und Verdauung (oder Atmung) etc. sind tatsächlich rein formal, weshalb Oparins Analyse fortschrittlicher ist, als manche heutigen Bemühungen – etwa die Analogie von Gehirn und Computer als zu irgendeiner Erklärung des menschlichen Bewusstseins tauglich zu betrachten. Die formale Gleichheit von Artefakten und Organismen besteht bei Oparin im Weiteren jedoch darin, über dasselbe Prinzip konstituiert, nämlich zweckmäßig organisiert zu sein. Da diese Form den Inhalt stiftet, ist es nicht unproblematisch, hier von einer bloß formalen Gleichheit zu reden, was sich schnell zeigt. Die Annahme einer zweckmäßigen Organisation sei laut Oparin für eine materialistische Theorie kein Mangel, den es zugunsten einer linearen Kausalform aufzulösen gelte – im Gegenteil. Er sieht in dieser Gemeinsamkeit von Organismen und Artefakten, unter einem identischen Prinzip der Zweckmäßigkeit zu stehen, die materialistische Vermittlung, die von der Physik und Chemie zur Biologie führe, ohne in metaphysischen Idealismus zurückzufallen. »Besonders in der Gleichsetzung der Lebewesen mit den Maschinen kann man deshalb gewissermaßen den einzigen Weg sehen, um die Naturwissenschaft vor der mystischen ›Entelechie‹ der Vitalisten zu bewahren und auch die Brücke bauen, die sich von der Physik und Chemie zur Biologie schlagen läßt.«59 Die theoretische Aufhebung der wesentlichen Differenz von Artefakt und Organismus über ihre formale Gleichheit hat bei Oparin eine Funktion. In dieser Gleichsetzung von Organismen und Maschinen versucht er, das ideelle Moment der Zweckmäßigkeit zu bestreiten und es zu einer materialistischen Natureigenschaft zu erklären. Dieser Brückenschlag von der Physik und Chemie zur Biologie gelingt ihm jedoch nur, indem er zugleich Gesellschaft als Naturphänomen begreift: Nur unter der antiaufklärerischen Prämisse des historischen Materialismus, die in ihrer Geschichtsteleologie ein Bewegungsgesetz der Materie dort sieht, wo Menschen sich neue Formen gesellschaftlicher Freiheit erringen, kann auch ein aktives Streben nach der eigenen Existenz als Natureigenschaft gedacht werden.60 Indem Oparin das selbstbewusste Subjekt als autonomes und insofern den Naturgesetzen nicht unterworfenes implizit durchstreicht und Gesellschaftsentwicklung zu einer weiteren Bewegungsform der Materie erklärt – also bewusste Materie als allgemeinen Bewegungsgesetzen der Materie unterworfen annimmt –, kann er in Folge auch die Zweckmäßigkeit der Organismen als eine weitere Kausalform der Natur behandeln. So fällt die Differenz zwischen den Produkten bewusster Handlungen und organischen Prozessen. Auch Artefakte enthalten in Folge kein ideelles Moment mehr, sondern sind durch die Bewegungsgesetze der Materie (als arbeitsteilige Gesellschaft) vollständig materialistisch-wissenschaftlich bestimmt. Wenn Artefakte kein ideelles Moment enthalten, wird die formale Analogie zum Lebendigen unproblematisch – man muss nicht mehr fragen, wie ein Zweck in Materie 58 59 60

Oparin, Leben, S. 19 f. Oparin, Leben, S. 17. Zum Konzept der Entelechie vgl. Kapitel 8.4.2. Zur Kritik dieser ›Bewegungsform der Materie‹ vgl. Kapitel 8.3.2.2.

2. Die Analogie von Organismus und Artefakt

komme, ohne von einem bewussten Subjekt in ihr realisiert worden zu sein, sondern kann von der analogen Form der Zweckmäßigkeit auf identische natürliche Bewegungsgesetze in verschiedener Materialität – Eiweiß oder Eisen – schließen. Und da uns an Maschinen nichts mystisch, rätselhaft oder metaphysisch vorkommt, sondern wir sie im Gegenteil als vollständig rational vorstellen (was wir mit Recht tun, denn sie sind Produkt unserer Rationalität und nicht Naturdinge), soll über diesen Vergleich auch der Organismus vollständig entmystifiziert und rationalisiert werden können. Hierbei gewinnt Oparin im Resultat jedoch keine materialistische Biologie, sondern er verliert im Gegenteil das Subjekt, das Wissenschaft betreiben kann.

2.3.3

Maturana: Autonome Einheiten

Andersherum löst Humberto Maturana das Problem: Er streicht das intelligible Moment der Artefakte, gestiftet durch die sie herstellenden Subjekte, nicht durch, sondern schreibt es samt Subjektcharakter auch den Organismen zu, die er in Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit als ›autopoietische Systeme‹ beschreibt. Wenn der Blick nur auf das einzelne Objekt – ungeachtet seiner Genese – gerichtet wird, lässt sich laut Maturana keine Trennlinie zwischen Maschinen und Organismen ziehen, sondern nur zwischen mehr oder minder komplexen Funktionszusammenhängen. Die im Alltagsverstand intuitiv unterstellte wesentliche Differenz zwischen natürlichen und künstlichen Funktionszusammenhängen sei im physikalisch gegebenen Objekt unsichtbar. Nach Maturana wurde die »Untersuchung der Autonomie lebender Wesen als Voraussetzung einer Erklärung der biologischen Phänomene«61 bislang durch das ›evolutionäre Denken‹, das den Fokus auf die Ausdifferenzierung und Reproduktion der Arten legt, in der Biologie verhindert. Wie Oparin möchte Maturana die Grenzen der Physik zur Erklärung biologischer Vorgänge nicht überschreiten. Er geht davon aus, dass die Untersuchung der Autonomie von Organismen innerhalb dieser Grenzen möglich sei. Maturana versucht also, eine rein mechanistische Theorie der Autonomie des Organischen zu formulieren. Geleistet werden soll dies, indem der Tatsache Rechnung getragen wird, dass das Leben nicht hinreichend durch die Eigenschaften seiner Bestandteile erklärt werden könne; entsprechend werden die organischen Prozesse und ihre Relationen betrachtet: »Unter keinen Umständen kann folglich ein biologisches Phänomen durch die Eigenschaft des aufbauenden Elementes definiert werden, es wird vielmehr stets definiert und konstituiert durch eine Verkettung von Prozessen, die der Autopoiese zumindest eines lebenden Systems untergeordnet sind.«62 Maturana gewinnt seinen zentralen Begriff der Autopoiese durch ein Gedankenexperiment, das wir schon von Paley kennen: Ausgehend von den streng nach Gesetzen der Physik und Chemie funktionierenden Apparaten denkt er sich solche, die sich selbst bauten, reparierten und warteten. Eine autopoietische Maschine sei im Gegensatz zu 61 62

Humberto R. Maturana, Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig/Wiesbaden 1982, S. 181. (Künftig zitiert: Maturana, Erkennen). Maturana, Erkennen, S. 215.

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Dialektik des Lebendigen

einer allopoietischen dadurch gekennzeichnet, dass der Prozess der Produktion ihrer Bestandteile durch sie selbst organisiert werde.63 Wenn nun die zunächst physikalisch ununterschiedenen Objekte mit realisiertem Funktionszusammenhang dahingehend untersucht werden, ob in ihnen allopoietische oder autopoietische Prozesse ablaufen, kommt man zu dem Ergebnis: Die einzigen autonomen, also autopoietischen Maschinen, die wir kennen, sind Organismen. Echte Maschinen (Artefakte) sind keine autopoietischen Systeme, weil sie jederzeit heteronom produziert wurden. Maturanas weitere Untersuchung autopoietischer Maschinen führt dahin, ihnen das intelligible Moment, das zur hinreichenden Erklärung des zweckmäßigen Funktionszusammenhangs notwendig ist, als Autonomie selbst zuzusprechen: Autopoietische Maschinen seien autonom, weil sie auf die Erhaltung ihrer Selbstorganisation hin ausgerichtet sind; sie seien Individuen, weil sie ihre Form der Organisationen aktiv invariant erhalten; sie seien Einheiten, die aktiv ihre eigenen Grenzen erzeugten und ihre ›Herstellung‹ (er vermeidet den treffenderen Terminus der Selbstschöpfung) könne nicht in einem graduellen Prozess entstehen, denn ein solches autonomes System sei entweder gesetzt, oder es sei nicht.64 Als Resultat dieser »Konsequenzen« der autopoietischen Theorie ergebe sich nun (wenig überraschend), dass diese Definition autopoietischer Maschinen sich mit derjenigen von Organismen decke, obwohl diese Definition bei Maturana zunächst eine bestimmte Klasse der Maschinen ausmachen sollte. Dieser Umweg, zuerst eine allgemeine Definition von Maschinen zu liefern, diese in Teilklassen zu untergliedern nach der Form ihrer Organisation, hierbei eine ganze (Teil-)Klasse von Maschinen zu entwerfen, unter die keine bekannte Maschine subsumiert werden kann, um dann mit gespieltem Erstaunen festzustellen, dass ihre Definition aber genau auf das Belebte passe, steht vollständig im Dienste des Beweises dafür, dass die durch die Physik bestimmten Grenzen des Naturwissenschaftlichen zur Erklärung des Lebendigen nicht überschritten werden müssen. »Wenn lebende Systeme Maschinen sind, ist trivialerweise klar, daß sie physikalische autopoietische Maschinen sind. Sie wandeln in sich Materie auf eine Weise um, daß das Produkt ihrer Operation ihre eigene Organisation ist. Wir glauben jedoch, daß auch das Umgekehrte gilt: ein physikalisches System ist dann ein lebendes System, wenn es autopoietisch ist. Mit anderen Worten, wir behaupten, daß die Kategorie der Autopoiese notwendig und hinreichend ist, die Organisation eines lebenden Systems zu bestimmen.«65 Die Konsequenzen aus Maturanas Theorie der autopoietischen Organisationen des Lebendigen sind in Wahrheit keine Konsequenzen, sondern im Gegenteil die Bedingungen seiner Theorie. Wenn wir uns Maschinen denken, die so sind wie Organismen – und nicht so, wie die Maschinen, die wir kennen – anschließend vergessen, dass dieser Gedanke eine Spekulation war und ihn für eine Tatsache ausgeben, dann kommen wir zu dem Ergebnis, dass Organismen Maschinen sind. Maschinen mit der kleinen Besonderheit, über Autonomie zu verfügen. Der Begriff der Autonomie verweist jedoch 63 64 65

Maturana,Erkennen, S. 185. Vgl. Maturana, Erkennen, S. 197 f. Maturana, Erkennen, S. 188.

2. Die Analogie von Organismus und Artefakt

auf einen Subjektcharakter, auf ein Intelligibles, das kein möglicher physikalischer Gegenstand ist. Entgegen seiner Intention und trotz seines Kunstgriffs, Organismen zunächst den Maschinen zuzuordnen, werden die Grenzen der Physik auch bei Maturana überschritten.

2.3.4

Ebeling und Feistel: Aktiv und passiv gegen die Entropie

Andere physikalistische Konzepte der Trennung von Organismen und Artefakten versuchen, Begriffe mit einem klaren Bezug auf das intelligible Vermögen von Subjekten zu vermeiden und mit einem Substitut der Autonomie auszukommen. Als dieses scheint sich die Bestimmung der Aktivität gegenüber der Passivität zu eignen. Oparin wies darauf hin, dass die Überwindung der Entropie bei Organismen ein ›aktives Streben‹ sei, im Gegensatz zu den hierin passiven Maschinen. Auch Ebeling, Engel und Feistel trennen in Physik der Selbstorganisation und Evolution ›Objekte entgegen der Entropie‹ – die immer eine ›Entropiepumpe‹ erfordern, die sie vom Zustand des Energiegleichgewichts wegtreibt, weil der ›Entropieexport‹ die ›innere Entropieproduktion‹ übersteigt – in passive und aktive. Sie vermeiden hierbei jedoch erfolgreich Oparins Ausgleiten in intelligible Bestimmungen. Die Folge hiervon ist, dass die so gebildeten Gruppen nicht Artefakten und Organismen entsprechen: »Passive strukturbildende Systeme (Bénard-Zelle, Elektrogeräte, Laser usw.) müssen mit einer Umgebung gekoppelt sein, die eine Entropiepumpe enthält, welche z.B. Elektrizität oder Wärme bei hoher Temperatur oder kurzwellige Strahlung in das System pumpt. Aktive strukturbildende Systeme (Lebewesen, Ottomotoren usw.) enthalten eine Entropiepumpe im Inneren und müssen daher in der Regel einen hohen Grad innerer Organisiertheit besitzen. Weiterhin müssen ihnen aus der Umgebung energiereiche Rohstoffe zufließen.«66 Der strukturbildende Faktor – Ingenieur oder Evolution – ist hier immer schon vorausgesetzt und wird nicht weiter thematisiert.67 Daher kann die Differenz von Maschinen und Lebewesen nicht in die Genese fallen; sie liegt in dieser Betrachtung einzig darin, ob eine externe oder eine interne ›Entropiepumpe‹ vorliegt, wobei eine interne Aktivität gegen die Entropie eine komplexe Organisationsstruktur erfordert, wie wir sie in Verbrennungsmotoren oder Katzen finden. So können verschiedene Gegenstände über eine äußerliche Formgleichheit der Weise, in der ihre Struktur abstrakt beschrieben werden kann, miteinander verglichen werden: »Die Formen der Selbstreproduktion sind sehr vielfältig, sie reichen von den schon besprochenen autokatalytischen chemischen Prozessen und der Photonenvervielfa-

66 67

Werner Ebeling/Andreas Engel/Rainer Feistel, Physik der Selbstorganisation und Evolution, Berlin (Ost) 1982, S. 41. Vgl. M. Weingarten, Organismen – Objekte oder Subjekte der Evolution, Darmstadt 1993, S. 257. (Künftig zitiert: Weingarten, Organismen).

61

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Dialektik des Lebendigen

chung im Laser über die Vermehrung von Lebewesen bis hin zur gesellschaftlichen Reproduktion.«68 Im Resultat dieser gelungenen physikalistischen Theorie sind alle durch ein Intelligibles gestifteten Differenzen aufgehoben: Laser, Katze, Ottomotor und Sozialstaat sind nicht wesentlich Verschiedenes, sondern werden als bloß unterschiedliche Formen der Selbstreproduktion erkannt.69 Denn ohne ideelles Moment der Zweckmäßigkeit lassen sich zwar Klassen von Gegenständen bilden, aber nicht nach einem Prinzip, das Belebtes von Unbelebtem unterschiede.

2.4

Zweck und materielles Dasein – die Funktion der Form ist intelligibel

Was bedeutet es nun, dass Zwecke intelligibel sind und nicht etwas Empirisches oder Materielles? Es bedeutet zunächst, dass ein Zweck wie ein Ziel oder Telos etwas Erdachtes ist. Es existiert nur als Gedanke. Wenn das Gedachte realisiert, also in Raum und Zeit verwirklicht werden soll, sind bestimmte Handlungen hierzu nötig, deren Intention auf den intelligiblen Zweck hin ausgerichtet ist. Diese Handlungen können auch die Herstellung weiterer Mittel zur Verwirklichung des Zwecks beinhalten. Ist z.B. der Zweck ein Bild an der Wand, so muss zuvor ein Nagel eingeschlagen werden; da die Wand hart ist, braucht es hierfür einen Hammer als Werkzeug. Die Herstellung von Hämmern und Nägeln ist also auf ihre zu erfüllende Funktion hin ausgerichtet, die denkend in ihrem Begriff schon antizipiert ist. Artefakte haben daher, anders als Monod es zunächst verkürzt auffasst, ihre Besonderheit nicht allein in der Form von Wiederholung und Symmetrie, es ist nicht bloß die spezifische Anordnung der Materie, die sie auszeichnet. Vielmehr verweist ihre Form auf eine bestimmte Funktion, für die diese Form sich eignet. Dieser Verweis ist ein intelligibles Moment, das in der Form des Artefaktes liegt; zugehörig zu der Form wird eine bestimmte Funktion gedacht, und über diese gedachte Funktion erschließt sich zugleich die Form als zweckmäßige. »Die Anschauung eines bestimmten Werkzeuges – die Anschauung der Axt, des Hammers usw. – erschöpft sich niemals in der Anschauung eines Dinges mit besonderen Merkmalen, eines Stoffes mit bestimmten Eigenschaften. Im Stoff wird hier vielmehr sein Gebrauch, in der ›Materie‹ die Form der Wirksamkeit, die eigentümliche Funktion erschaut: und beides trennt sich voneinander nicht, sondern wird als eine unlösliche Einheit ergriffen und begriffen. Der Gegenstand ist als Etwas bestimmt immer nur soweit und sofern er zu Etwas bestimmt ist.«70 Dieses ›Erschauen‹ der intelligiblen Zweckmäßigkeit in der Form des Materials, das hier in Bezug auf Werkzeuge beschrieben wird, findet offensichtlich eine Analogie bei der 68

69 70

Werner Ebeling/Andreas Engel/Rainer Feistel, Physik der Evolutionsprozesse, Berlin (Ost) 1990, S. 159. Auf die ideologische Bedeutung solcher Vergleiche für das Selbstverständnis einer Gesellschaft kann hier leider nicht eingegangen werden. Dasselbe passierte Dawkins, vgl. oben (Kapitel 2.2.2.). Ernst Cassirer, »Form und Technik«, in: Ernst Cassirer, Symbol, Technik, Sprache, Hamburg 1985, S. 3992, S. 64.

2. Die Analogie von Organismus und Artefakt

Beobachtung von Lebewesen. Unsere Anschauung von Organismen erschöpft sich nicht in den Merkmalen des Stoffs, sondern bezieht immer ein (zu erwartendes) funktionales Verhalten sowohl der Teile als auch des ganzen Organismus zu seiner Umgebung mit ein. Übt das Material seine antizipierte Funktion nicht mehr aus, identifizieren wir es – auch bei augenscheinlich identischen Stoffeigenschaften – als tot. Etwa wenn ein Fluchttier liegen bleibt und auf Berührung nicht reagiert. Soweit unser Wissen historisch zurückzuverfolgen ist, haben Menschen immer schon zwischen Leben und Nichtleben unterschieden (wenngleich nicht immer mit den heutigen Zuordnungen), indem sie im organischen Material etwas sahen, das sich nicht nur stofflich, sondern auch in seiner auf eine Funktion bezogen zu denkenden Form vom Nicht-Lebendigen unterscheidet.

2.4.1

Kann Zweckmäßigkeit erscheinen?

Da die Funktionen des Organismus – analog zu denen von Artefakten – nur im Denken als Zwecke gefasst und hierüber als Funktionen im Stoff erschaut werden können, sind sie ideeller Natur. Zwar lässt sich sehen, dass die Beine des Rehs sich bewegen und dass es seinen Abstand zum Hund dadurch vergrößert, aber zu sagen, dass es wegläuft, unterstellt dieser Bewegung eine intentionale Gerichtetheit auf einen Zweck hin, die nicht beobachtet werden kann, sondern als teleologische Antizipation ins Denken fällt. Die Kausalität der Naturgesetze und die Form der Zweckmäßigkeit differieren im Verhältnis von Erscheinung und Idee. Die Zweckmäßigkeit tritt nicht neben die Kausalität von Wirkung und Ursache – weder hebt sie diese auf, noch tritt sie additiv hinzu –, sondern sie bestimmt ein Verhältnis zur Erscheinung, das ideell gerichtet ist. So lässt sich nach der Kausalität bestimmen, dass durch die Kontraktion des Herzmuskels das Blut durch die Arterien getrieben wird; aber dass es die Funktion des Herzens ist, die Durchblutung der Organe und Muskeln zu gewährleisten, ist ein teleologisches Urteil. Anders als bei unbelebten Naturgegenständen ist beim Organismus oder Artefakt die Erscheinung in ihren besonderen Verhältnissen nur dann zu greifen, wenn sie als teleologische Einheit, die ihre Idee ist, gedacht wird. Daher konnte Paley unbekümmert davon ausgehen, dass es evident sei, die in der Wüste gefundene Uhr würde – auch ohne Kenntnis über Uhren und auch bei einer beschädigten Uhr – von jedem Vernunftsubjekt als Gemachtes erkannt werden. Eine Erscheinung wird als Lebewesen oder Artefakt erkannt, wenn etwas Ideelles (beispielsweise über die gegliederte Funktionalität) als Grund der bestimmten Struktur der Erscheinung angenommen wird. Im Artefakt ist eine Idee realisiert worden; im Organismus erkennen wir offenbar etwas Analoges, als hätte seine Idee in ihm unmittelbare Existenz – sonst taugte die Analogie zwischen beiden zu keiner Erklärung. Wenngleich die Zweckmäßigkeit selbst nicht erscheinen kann, so gibt die Anschauung von Organismen doch offenbar Anlass, sie als in sich zweckmäßige Gegenstände zu denken.71

71

Vgl. Kapitel 12.4.

63

64

Dialektik des Lebendigen

2.4.2

Steht die Zweckmäßigkeit außerhalb der Physik?

Die Form der Zweckmäßigkeit steht nicht im realen Gegensatz zu empirisch wirkenden Naturgesetzen. Weder bei der Herstellung von Artefakten, also der Arbeit, noch bei Lebensprozessen. Sie sind im Gegenteil ermöglichende Bedingung realisierter Zwecke. »[D]ie Natur kann Ziele doch nicht anders verfolgen als durch Wirksamkeit der Naturgesetze. Ohne sie wäre jede Wirksamkeit und jede Verfolgung eines Zieles Zauberei. Der Lebensprozeß kann nur die Naturkräfte benutzen und nach seiner Norm die Vorgänge beherrschen, ohne sie aber nichts produzieren.«72 Wie die Natur im Lebensprozess, die nur gemäß den Naturgesetzen Zwecke realisieren kann, so auch der Mensch in der Arbeit, der zielgerichteten Veränderung des Naturstoffes nach selbstgedachten Zwecken. Was bei der Arbeit nicht in naturgesetzlichen Betrachtungen erscheint oder durch sie erklärt werden kann, ist die Freiheit, dem Naturstoff eine eigene Idee einprägen zu können. Dies intelligible Moment dient z.B. Jakob Johann von Uexküll als Analogon dafür, wie ›die Natur‹ das Leben hervorbringe: »Hier allein sehen wir den Naturplan an der Arbeit, wie er einen ungeformten Stoff unmittelbar zur Formannahme zwingt, ohne die Vermittlung geformter Werkzeuge. Das bedeutet die Einwirkung nicht materieller, aber planmäßig verbundener Faktoren auf den materiellen Stoff. Dafür fehlt uns, wenn wir von der ebenso undurchsichtigen Einwirkung unserer Willensimpulse auf unseren Körper absehen, jede Analogie, und deshalb sind diese Vorgänge so rätselhaft.«73 Um sich vor Rätselhaftigkeiten zu schützen, legen viele Biologen wie Ernst Mayr oder Monod großen Wert darauf festzuhalten, dass kein Vorgang im Organismus der Kausalität der Naturgesetze widerspricht. Dies ist ein Kampf gegen Windmühlen, da die intelligible teleologische Form immer gemäß den kausalen Naturgesetzen realisiert ist.74 Auch die Herstellung von Artefakten, deren teleologische Organisation unproblematisch ist, weil wir das Subjekt, welches (aus physikalisch rätselhafter Freiheit) den Zweck in sie gesetzt hat, benennen können, kann nur gemäß den Naturgesetzen gelingen. Physikalisch und neurophysiologisch rätselhaft bleibt allein die Spontaneität der Freiheit, mit der Menschen sich denkend Zwecke setzen können.75 Die Zweckmäßigkeit (Teleologie) ordnet sich nach Hegel dem Mechanismus und Chemismus unter, und zwar im Leben wie in der Arbeit.76 Die empirischen Naturgesetze und Materialeigenschaften können nur gemäß ihrer Beschaffenheit verändert werden – darum fällt jeder organische wie technische Vorgang vollständig unter die Gesetze der Physik und Chemie und lässt sich alles Lebendige und Technische auch als

72 73 74 75 76

Karl Ernst von Baer, Entwicklung und Zielstrebigkeit in der Natur, Stuttgart 1983, S. 199, zitiert nach: Weingarten, Organismen, S. 150. Jakob v. Uexküll, Kompositionslehre der Natur, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1980, S. 204. Vgl. Kapitel 12.1. Vgl. Christine Zunke, Kritik der Hirnforschung, Berlin 2007. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. II, Zweiter Abschnitt, Drittes Kapitel: »Die Teleologie«. (Künftig zitiert: Hegel, Logik II).

2. Die Analogie von Organismus und Artefakt

ein naturgesetzlicher Vorgang vollständig – aber nicht hinreichend – beschreiben. Die Zweckmäßigkeit steht damit in keiner Weise den physikalischen Naturgesetzen entgegen, die Grenzen physikalischer Erklärungen werden durch die Existenz von Artefakten oder Organismen nicht gesprengt, nicht einmal strapaziert. Aber indem sie auf ein Intelligibles verweist, steht die Genese von zweckmäßigen Formen außerhalb der Physik.

2.4.3

Die Grenze der Analogie: innere und äußere Zweckmäßigkeit

Das Prinzip der Zweckmäßigkeit ist ein wesentliches und kein bloß formales, keine äußerliche Analogie, sondern ein gemeinsamer Wesenszug von Artefakten und Organismen. Wäre dem nicht so, dann würde die Analogie auch nicht leisten können, was die Biologie von ihr einfordert: Die Bestimmung eines eigenständigen, irreduziblen Gegenstandsbereiches. Die Kausalität nach Zwecken umgreift ein abgeschlossenes Ganzes, während die Kausalität von Ursachen und Wirkungen immer weitere Wirkungen durch die Zeit erfordert und hierin kein logisches Ende hat. So stiftet die Zweckmäßigkeit der Form eine Einheit, was nach der bloß ins Unendliche weiterlaufenden linearen Kausalität nicht möglich wäre. Bei der praktischen Zweckmäßigkeit der zielgerichteten menschlichen Tätigkeit entsteht so die Einheit einer Handlung bzw. als deren mögliches Produkt die technische Einheit des Artefaktes. Da jedoch der Zweck hier tatsächlich und unzweifelhaft von einem vernünftigen Subjekt gestiftet wird, ist diese praktische Zweckmäßigkeit von dem bloß regulativen Begriff der Zweckmäßigkeit, nach dem wir Organismen begreifen können, »ganz unterschieden, ob er zwar nach einer Analogie mit derselben gedacht wird.«77 So stellte spätestens Kant »eine entscheidende Weiche: Leben als organisierte Materie, die zugleich die Fähigkeit aufweist, sich selbst organisieren zu können, steht außerhalb jedes Vergleichs mit einer mechanischen Apparatur oder mit einer Kunstform.«78 Diese Grenze der Analogie, mit der die Organismen außerhalb der Vergleichbarkeit mit Artefakten stehen, zeigt sich in diversen biologischen Theorien. Sowohl Monod wie auch Oparin kamen darum über den Unterschied in der Genese zur Reflexion auf die Differenz zwischen innerer Zweckmäßigkeit der Organismen und der äußeren, heteronom gestifteten Zweckmäßigkeit der Artefakte. Maschinen haben einen Konstrukteur, der ihnen ihre Funktionen gemäß seinem Plan gibt, Organismen nicht. Deshalb versucht Oparin das Spezifische des Lebens über die Erkenntnis seiner spezifischen Entstehung zu erfassen. Denn hier hört alle Analogie zwischen Organismus und Maschine auf – oder sie führt zur impliziten oder expliziten Annahme eines bewussten Schöpfungsaktes durch ein höheres Vernunftwesen, das Oparin ausschließt. So kommt er zu dem Schluss: »Zwischen der Entstehung der Lebewesen und der Montage einer

77 78

Kant, KdU, S. 17 [XXVIII]. Zum Prinzip der Zweckmäßigkeit der reflektierenden Urteilskraft vgl. Kapitel 1. Gerald Hartung, »Teleologie und Leben. Kants Kritik teleologischen Denkens«, in: Petra Bahr/ Stephan Schaede (Hg.), Das Leben. Historisch-systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs, Bd. 1, Tübingen 2009, S. 365-384, S. 375.

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Dialektik des Lebendigen

Maschine bestehen daher keinerlei, auch nicht die entferntesten, Analogien.«79 Organismen wie Artefakte bilden funktionale zweckmäßige Einheiten – doch das Prinzip der Zweckmäßigkeit, das diese Einheit stiftet, ist nicht dasselbe. Während der Mensch sich in der Arbeit äußerlich auf das Material bezieht, ist das Leben innerlicher Selbstbezug. Die menschliche (oder analog vorgestellte göttliche) zielgerichtete Tätigkeit hat äußere Zweckmäßigkeit, das Leben jedoch innere.80 Beide stiften einen teleologischen Zusammenhang, der nur als Ganzheit aufeinander verwiesener Wechselwirkungen zu begreifen ist und sind doch wesentlich unterschieden. »Was ein organisiertes Naturprodukt sei, und warum und inwiefern dasselbe nur als ein Ganzes zu denken sei, läßt sich am besten erkennen durch die Vergleichung desselben mit einem Kunstprodukte; welches darin mit dem Naturprodukte übereinkommt, daß es auch nur als ein Ganzes zu denken ist. […] Im Naturprodukt aber ist das Ganze auch um der Teile willen da; es hat keinen andern Zweck, als den, bestimmt diese Teile zu produzieren; im Kunstprodukte hingegen weist das Ganze nicht zurück auf die Teile, sondern auf einen Zweck außer ihm; es ist Werkzeug zu etwas«81 . In der mechanischen Naturkausalität folgt auf die Ursache die von ihr unterschiedene Wirkung. In der Teleologie menschlicher Zwecksetzung wird die Zeitreihe transzendiert, indem der Endpunkt, die zu erreichende Wirkung als ideell vorausgenommene, zugleich Anfangspunkt, die Ursache, des gesamten Prozesses ist. Ursache und Wirkung bleiben in diesen Produkten mit äußerer Zweckmäßigkeit jedoch Unterschiedene. In der inneren Zweckmäßigkeit der teleologischen Kausalität des Lebens hingegen ist die Ursache mit der Wirkung identisch: Sie ist ideell das, was sie als Reales bewirkt. Dort, wo Zweck und Mittel durch die äußere Reflexion – also vermittels eines Dritten – aufeinander bezogen werden (und dadurch erst Zweck und Mittel sind), herrscht äußere Zweckmäßigkeit (Arbeit). Dort, wo Zweck und Mittel sich unmittelbar selbst aufeinander beziehen – ohne vermittelndes Drittes (ohne zwecksetzendes Subjekt) – und damit identisch sind, herrscht innere Zweckmäßigkeit. Diese ist das bestimmende Prinzip des Lebendigen, das es vom Artefakt und selbstredend auch vom nichtartifiziellen Anorganischen wesentlich differenziert.

2.4.4

Künstliches Leben – Einheit von Organismus und Artefakt?

Das Problem der Differenzierung von Artefakt und Organismus kann auch dort nicht aufgelöst werden, wo beide verschmelzen – in der Vorstellung des künstlich erschaffenen Lebens. Künstliches Leben organisiert sich nicht selbst – es wird organisiert; und 79 80

81

Oparin, Leben, S. 29. Bei Aristoteles hätte das einzelne Organ – anders als der Organismus – streng genommen auch äußere Zweckmäßigkeit, doch der Sache nach findet sich diese Trennung der Zweckmäßigkeit in zwei Formen: oú eneká tinos, der Zweck als worum-willen-von-etwas und oú eneká tini, der Zweck als worum-willen-für-etwas. Vgl. Wolfgang Kullmann, Die Teleologie in der aristotelischen Biologie, Heidelberg 1979, S. 26 ff. Johann Gottlieb Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, Hamburg 1979, S. 78.

2. Die Analogie von Organismus und Artefakt

sei es zur Funktion der Selbstorganisation, die dann in ihrer Genese immer noch das heteronome Moment äußerer Zweckmäßigkeit hat, das dem Artefakt wesentlich ist und es vom lebendigen Organismus grundsätzlich – nach einem Prinzip! – unterscheidet. Nach Toepfer ist, wie bei Lukrez angelegt, das Leben selbst eine ratio perversa, weil es als in sich zweckmäßiges eine Rückwärtsverursachung beinhaltet und die Zeitreihe der Kausalverhältnisse – die Wirkung folgt auf die Ursache – umkehrt. »In einer teleologischen Verknüpfung liegt danach eine Verkehrung der realen Verhältnisse vor: Der Zweck als das Spätere wird zur Ursache des vor dem Erreichen des Zwecks ablaufenden Geschehens erklärt.«82 Eine solche Beschreibung der Teleologie als ratio perversa beschränkt die Ratio auf die Kausalität der körperlichen Natur und ist ihrerseits, wenn auch keine Verkehrung, so doch eine Verkürzung des Geistes, denn um die körperliche Natur »ihrer inneren Möglichkeit nach zu denken […] bedürfen wir keiner Idee«83 . Eine »perversa ratio«84 besteht im Gegensatz dazu Kant zufolge nicht in der Erklärung von Natur durch ein teleologisches Prinzip, sondern darin, »[d]as regulative Prinzip der systematischen Einheit der Natur für ein konstitutives [zu] nehmen, und, was nur in der Idee zum Grunde des einhelligen Gebrauchs der Vernunft gelegt wird, als Ursache hypostatisch voraus[zu]setzen«85 . Hiernach wäre das Reden von künstlichem Leben eine solche perversa ratio, da das, was Leben als Prinzip der Erklärung bestimmt, hierbei in der Vorstellung zu einer Materialeigenschaft hypostasiert worden sein muss – wie die belebende Kraft des Vitalismus –, die dann durch Menschen nachgebildet werden könnte. Tatsächlich wäre ein künstlich erzeugter Organismus immer ein Artefakt, dessen innere Zweckmäßigkeit – anders als die eines natürlichen Lebewesens – tatsächlich eine äußere Zweckmäßigkeit wäre, die durch den das künstliche Lebewesen erschaffenden Menschen gesetzt und realisiert wäre. Ein solches Artefakt »künstliches Leben« zu nennen, bedeutet, es in Analogie zum Lebewesen zu begreifen, welches wir uns in bloßer Analogie zu Artefakten erklären. Die Vorstellung von künstlichem Leben ist damit tatsächlich eine ratio perversa: Das menschliche Vermögen, ideelle Zwecke zu setzen und sie im Material zu realisieren, soll zu einem Resultat führen, das nur als Analogon dieses teleologischen Vermögens gedacht werden kann. Die Unmöglichkeit der Erschaffung künstlichen Lebens ist hiernach keine technologische – ob Menschen jemals unbelebte Materie zu selbstorganisierten Prozessen ordnen können, wird die Zeit zeigen –, sondern eine logische Unmöglichkeit. Im Mai 2010 veröffentlichte die science ein Experiment des Craig Venter Instituts,86 das in den Feuilletons als die Erschaffung des Lebens durch den Menschen diskutiert wurde. Zwar war man sich weitgehend einig, dass die Transplantation einer synthetisch generierten DNA in ein lebendiges(!) Bakterium, welches dann Tochterzellen mit

82 83 84 85 86

Georg Toepfer, »Teleologie«, in: Ulrich Krohs/Georg Toepfer (Hg.), Philosophie der Biologie, Frankfurt a.M. 2005, S. 36-52, S. 38. Kant, KrV, B 712. Kant, KrV, B720. Kant, KrV, B 721 f. Daniel G. Gibson et al., »Creation of a Bacterial Cell Controlled by a Chemically Synthesized Genome«, in: Science 329, (2010), S. 52.

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Dialektik des Lebendigen

der zuvor implantierten DNA produziert, nicht ernsthaft eine Lebensschöpfung genannt werden könne. Doch die biotechnische Meisterleistung, einem Bakterium ein DNA-Plagiat unterzuschieben und es dazu zu bringen, dieses zu reproduzieren, ist beeindruckend genug, um die Frage nach der Natur des Lebens wieder ins öffentliche Bewusstsein zu heben. »Tatsächlich spürt man in der Forscherszene die Ahnung einer epochalen Erleuchtung; als sei ein Einstein der Biologie auf dem Weg, mit einer Relativitätstheorie des Lebens der Forschung wie der Philosophie neue Dimensionen zu eröffnen.«87 Grade solche Hoffnungen zeigen jedoch, wie weit die heutigen Biologen davon entfernt sind, sich einen Begriff ihres Gegenstandes, des Lebendigen, zu bilden. Denn der erste und vielleicht wichtigste Schritt hierzu führt über die Kantische Erkenntnis, dass es einen ›Einstein der Biologie‹ oder, frei nach Kant, einen ›Newton des Grashalms‹88 , niemals wird geben können und dass dies kein Pech für die Biologie ist, sondern im Gegenteil das Einzige, was sie als eigenständige Naturwissenschaft rechtfertigen kann. Denn gäbe es einen solchen Genius, »der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde«89 und ließe sich das Leben »mit mechanistischen, reduktionistischen Begriffen erklären«90 , dann gäbe es keine qualitative Differenz zwischen belebter und unbelebter Materie und die Biologie hätte tatsächlich keinen eigenständigen Gegenstandsbereich.91 Einer der ersten, die behaupteten, Darwin sei ein solcher ›Newton des Grashalms‹ und habe das geleistet, was nach Kant eine unmöglich zu lösende Aufgabe darstellt, seine Selektionstheorie mache jeden Zweckbegriff überflüssig, habe den Anthropomorphismus endlich gänzlich aus der Naturwissenschaft verbannt und erkläre die Organismen nach rein ›mechanischen‹ Gesetzen, war Ernst Haeckel; er hielt die Entwicklung neuer Arten nach den Prinzipien von Vererbung und Anpassung für eine »mathematische Natur-Nothwendigkeit«92 . Haeckel war somit auch der erste, der sich über diesen Reduktionismus in einen theoretischen Widerspruch verstrickte. Er suchte nämlich zugleich den ›Sinn‹ alles Naturgeschehens durch seine Rückführung auf ›letzte physische Ursachen‹ zu erfassen.93

87 88 89 90 91

92 93

Ulrich Bahnsen, »Ein Schöpfungsakt«, in: DIE ZEIT, 27. Mai 2010, S. 40. Vgl. Kant, KdU, S. 265 [338]. Ebd. Arthur L. Caplan, »Zu welchem Zweck?« in: DIE ZEIT, 27. Mai 2010, S. 39. Das Aufzeigen dieser Konsequenz ist selbstverständlich kein Argument für oder gegen die Richtigkeit reduktionistischer Lebensbegriffe. Doch wenn eine Wissenschaft durch ihren Gegenstandsbereich bestimmt ist, ist die durch Reduktionsversuche des Lebendigen auf physikalische und chemische Prozesse implizit aufgeworfene Frage interessant, ob die Biologie heute noch als eigenständiger Wissenschaftsbereich legitimiert werden kann. Ernst Haeckel, Natürliche Schöpfungs-Geschichte, Berlin 1898, S. 150. Ernst Haeckel, Natürliche Schöpfungs-Geschichte, Berlin 1898, S. 95.

2. Die Analogie von Organismus und Artefakt

2.5

Als eigenständiger Gegenstandsbereich müssen Organismen ihrem Prinzip nach wesentlich von Artefakten verschieden sein; insofern sind sie ohne Analogon

Zwischen künstlicher und natürlicher Genese in sich zweckmäßiger Objekte sah Oparin ›keinerlei, auch nicht die entfernteste Analogie‹. Denselben Schluss zog Monod, demzufolge sich das Lebewesen durch den ›autonomen Charakter‹ der Morphogenese ›absolut vom Artefakt unterscheide‹. Zu dem gleichen Resultat gelangte auch Kant in der Kritik der Urteilskraft. Dort wird die Trennung von Organismus und Artefakt entschieden deutlich gemacht, wenn er sagt: »In einer Uhr ist ein Teil das Werkzeug der Bewegung der andern, aber nicht ein Rad die wirkende Ursache der Hervorbringung des andern; ein Teil ist zwar um des andern willen, aber nicht durch denselben da. Daher ist auch die hervorbringende Ursache derselben und ihrer Form nicht in der Natur (dieser Materie), sondern außer ihr in einem Wesen [dem Uhrmacher], welches nach Ideen eines durch seine Kausalität möglichen Ganzen wirken kann, enthalten.«94 Der Unterschied zwischen Organismen und Artefakten ist hier ein grundsätzlicher, denn während die einzelnen Teile der Maschine als bewegende Kräfte zielgerichtet aufeinander wirken, wirken im wechselseitigen Bedingungsverhältnis der zweckmäßig aufeinander bezogenen Teile des Organismus diese als bildende Kräfte aufeinander und bedingen einander der Existenz nach. Die hervorbringende Ursache des Artefakts ist ein Mensch, der die Natur derart beherrscht, dass er durch Kenntnis ihrer Gesetze und Materialeigenschaften seine Ideen in ihr hervorbringen kann. Die hervorbringende Ursache des Organismus liege dagegen in ihrer eigenen Natur (ihrer Materie). Organismen haben nach Kant die sie bildende Kraft95 in sich, wohingegen bei Artefakten die bildende Kraft außerhalb von ihnen selbst, in ihrem Produzenten liegt. Über die Analogie zu Artefakten werden Lebewesen als teleologisch beschrieben. Wenn diese Teleologie auch jenseits der Analogie als innere Zweckmäßigkeit bestand hat, reicht die Metaphysik tief in die Biologie hinein. Bertalanffy schrieb 1928: »Schon der Begriff des ›Organs‹, des Seh-, Hör-, Geschlechtsorgans, der doch auch von Mechanisten nicht vermieden werden kann, involviert bereits, daß dasselbe ›Werkzeug‹ zu etwas ist. Im Begriffe des Organs ist also die teleologische Betrachtungsweise schon voll enthalten. So wenig man den Organbegriff aus der Biologie ausmerzen 94 95

Kant, KdU, S. 237 [292]. Diese bildende Kraft des Organismus bei Kant ist – anders als im klassischen Vitalismus, vgl. Kapitel 8.1. – keine extra hinzutretende Kraft, sondern bloß Ausdruck der durchgängigen Wechselwirkung aller Teile des Organismus, die durch dieses Verhältnis bedingt sind und so ein Ganzes, den Organismus, bilden, auf das sie immer begrifflich bezogen sind und so von ihm gänzlich abhängen. Daher ist diese Vorstellung im engen Sinne keine vitalistische. August Stadler nennt sie sogar eine Position, die »direct zur Negation des Vitalismus führt« (August Stadler, Kants Teleologie und ihre erkenntnistheoretische Bedeutung, Berlin 1874, S. 135). Im Gegensatz hierzu bezeichnet Ungerer Kant als Vitalisten, der jedoch im Unterschied zu Driesch keine Anwendung der teleologischen Beurteilung auf die Einzelfälle der Naturerklärung fordere. Vgl. Emil Ungerer, Die Teleologie Kants und ihre Bedeutung für die Logik der Biologie, Berlin 2015, S. 107.

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kann – so wenig ist es möglich, die teleologische Betrachtungsweise in ihr zu beseitigen.«96 Um die zweckmäßige Form der Organismen, die auf ein Intelligibles verweist, erklärlich zu machen, wird darum, mangels hinreichender naturgesetzlicher Erklärungen, die Analogie zum Artefakt gebraucht. Wenn kein Unterschied mehr bleibt, die Analogie sich also in Identität auflöst, fehlt offenbar die Reflexion auf den Existenzgrund, der bei Artefakten im Unterschied zu Organismen in einem sie planenden Verstand liegt. Diese Reflexion führt jedoch zu keiner eigenständigen Lösung, sondern auf eine Betrachtung der Organismen im Modus des ›als ob‹: Die Analogie zum Artefakt bleibt bestehen, wird aber zugleich negiert, da als Existenzgrund von Lebewesen ein natürlicher Mechanismus angenommen werden muss. Dies führt zu Widersprüchen in den Begriffen, über die organische Zweckmäßigkeiten beschrieben werden. Doch ohne diese Analogiebildung sind Organismen offenbar nicht zu erklären. Nach den Analogien der Teile von Organ und Werkzeug und den Analogien der Ganzheit des Funktionszusammenhangs von Organismus und Maschine wird im folgenden Kapitel aufgezeigt, dass auch Darwins Theorie die Evolutionsprozesse des Lebendigen nicht ohne Analogon gesellschaftlicher ökonomischer Entwicklungsprozesse formulieren konnte, um ihr teleologisches Moment begreiflich zu machen.

96

Ludwig von Bertalanffy, Kritische Theorie der Formbildung, 1928, S. 77, zitiert nach Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie, Artikel: Organ, S. 750.

3. Darwins Evolutionstheorie hebt die Biologie in den Stand einer modernen Naturwissenschaft »Der Mensch kommt unter allen Tieren in der Welt dem Affen am nächsten.«1

Jede Theorie braucht einen spekulativen Vorschuss, den das Subjekt, das sie formuliert, leisten muss, um Hypothesen aufzustellen, die sich erst im Nachhinein bewähren können. Diese Spekulation schöpft sich aus dem, was in der Welt an Zusammenhängen denkbar ist. Mit neuen Erfahrungen und historischen Veränderungen werden auch neue Arten von Zusammenhängen als möglich denkbar. Mit der Industrialisierung entstand zuerst in England eine neue ökonomische Ordnung, deren selbstregulierende Mechanismen Theoretiker wie Smith, Malthus und Ricardo beschrieben. Ihre Theorien lieferten die Vorlage dafür, einen analogen Mechanismus in der natürlichen Entwicklung der Arten annehmen zu können. Da erst mit dem selbstregulierenden Mechanismus der Evolution eine Theorie des einheitsstiftenden Prinzips allen Lebens gefunden wurde, ist die Bedeutung Darwins für die Biologie zu Recht bis heute zentral. In Bezug auf die unbestritten große Bedeutung von Charles Darwin in der Geschichte der Biologie lassen sich in der Literatur zwei gegeneinander gestellte Thesen finden. Die eine Deutung besagt, dass seit der Antike über das Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert stetig mehr Wissen über das Belebte gesammelt und immer wieder neu geordnet wurde, und dass zu Darwins Lebzeiten die Zeit reif gewesen sei, aus dem historisch akkumulierten Wissen auf den Vorgang der Evolution zu schließen.2 Für diese These spricht, dass seit Mitte des 18. Jahrhunderts einige Wissenschaftler auf der Grundlage von Fossilien und Ähnlichkeiten unter heutigen Arten über Möglichkeiten der Entwicklung der Arten spekulierten, die dem Evolutionsgedanken sehr nahe zu kommen scheinen. Parallel zu Darwins Über die Entstehung der Arten3 veröffentlichte auch A. R. Wallace seine Abhandlung Über die Tendenz der Varietäten, unbegrenzt von 1 2 3

Georg Christoph Lichtenberg, Aus den Sudelbüchern 1765-1799, [B107], Frankfurt a.M. 2008, S. 36. Vgl. z.B.: Walter Zimmermann, Evolution. Die Geschichte ihrer Probleme und Erkenntnisse, Freiburg/ München 1953. Charles Darwin, Über die Entstehung der Arten, engl. On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life, erschienen am 24.11. 1859 bei John Murray, London.

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dem Originaltypus abzuweichen4 und in Darwins Nachlass finden sich reichlich Hinweise darauf, dass er sich bei seiner Veröffentlichung durch konkurrierende Ideen unter Zeitdruck gesetzt sah und seine Theorie gerne noch gründlicher ausgeführt und belegt hätte. Die andere Deutung geht von einer diskontinuierlichen Entwicklung biologischer Theorien aus und unterteilt die Biologie in eine Wissenschaft vor und eine nach Darwin. Die Biologie vor Darwin entwickelte mit Carl von Linné eine ausführliche Taxonomie, nahm aber trotz der hiermit als Ordnungssystem der Lebewesen angenommenen abweichenden graduellen Ähnlichkeiten keine hierfür ursächliche Entwicklung an, weil sie von einer »im wesentlichen stabilen Welt«5 ausging. Erst die Biologie nach Darwin, die alle Ähnlichkeiten der Lebewesen als tatsächliche historische Verwandtschaftsgrade erklärbar macht, die fortschreitende Veränderung als Prinzip der Entwicklung aufdeckt, mache eine systematische Wissenschaft des Lebendigen möglich. Die Bedingungen der Evolutionstheorie werden von Vertretern dieser These nicht hauptsächlich in akkumuliertem historischem Wissen, sondern im Genie der Person Darwin gesehen.6 Daneben gibt es noch andere, vermittelnde Annahmen. So hat Wuketits etwa zugestanden, dass Gedanken einer Entwicklung der Arten zu Darwins Zeit unter Biologen schon weit verbreitet waren, aber dass sein Genie sich darin zeige, diesen Gedanken über einen in der Natur nach Gesetzen wirkenden Evolutionsmechanismus zu erklären. Hiermit stellt er Darwins Theorie unter den Zeitgeist des mechanistischen, analytischempirisch arbeitenden Wissenschaftsverständnisses, der in England um 1800 begann sich auszubreiten und etwas später auch in anderen europäischen Ländern immer mehr Anhänger gewann.7 Keine dieser Thesen ist gänzlich zu verwerfen. Es sind eine ganze Reihe von Voraussetzungen auszumachen, auf welchen die Evolutionstheorie historisch aufbaut. Dies heißt weder, dass diese Theorie zu diesem historischen Zeitpunkt mit Notwendigkeit gedacht werden musste, noch, dass ihre Formulierung zu einem anderen historischen Zeitpunkt unmöglich gewesen wäre; vom Resultat der formulierten Evolutionstheorie aus lassen sich jedoch ihre wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen aufzeigen als der Kontext, in dem Forscher wie Darwin und Wallace die Theorie der Evolution entwickelten. Ohne tradiertes Wissen und den Anspruch der Biologie, eine moderne Naturwissenschaft zu sein, wäre die Formulierung der Evolutionstheorie weder möglich noch nötig gewesen; und da Theorien sich nicht selbst aufstellen können, bedurfte es eines Subjekts, sie zu denken und zu formulieren. Dies war, neben Jean-Baptiste de Lamarck und anderen, Charles Darwin und er trägt zumindest viel von dem Verdienst, der Biologie aus dem Stadium des ›bloßen Herumtappens‹ in den ›sicheren Gang einer Wissenschaft‹8 verholfen zu haben, indem er den Gegenstandsbereich der Biologie un4

5 6 7 8

Alfred Russel Wallace, »On the Tendency of species to form varieties, and on the perpetuation of varieties and species by natural means of selection«, in: Journal of the Proceedings of the Linnean Society, London 1858. Ernst Mayr, Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt. Vielfalt, Evolution und Vererbung, Berlin/ Heidelberg/New York 1984, S. 314. (Künftig zitiert: Mayr, Entwicklung der biologischen Gedankenwelt). Vgl. Mayr, Entwicklung der biologischen Gedankenwelt. Vgl. Franz M. Wuketits, Charles Darwin, München 1987, S. 22 f. Vgl. Kant, KrV, S. 20 [B VII].

3. Darwins Evolutionstheorie hebt die Biologie in den Stand einer modernen Naturwissenschaft

ter ein einheitliches Prinzip (die durchgehende Verwandtschaft bei gleichzeitiger Differenzen in der je angepassten Entwicklung) stellte. Erst durch seine Theorie wurde die Biologie zu einer Naturwissenschaft im modernen Sinne: »Die wissenschaftstheoretische Relevanz des Evolutionsbegriffs bzw. der Evolutionstheorie liegt in der Herstellung eines Zusammenhangs zwischen sämtlichen Erscheinungsformen des Lebendigen, wodurch erst die Biologie als Naturwissenschaft theoretisch begründet werden konnte. So kann man von einer theoretisch fundierten Wissenschaft von den Lebewesen erst sprechen, seit im Studium des Organischen – neben der bloßen Beschreibung (Deskription) – das Postulat einer kausalen Erklärung desselben geltend gemacht wurde, und nachdem der Mannigfaltigkeit der Organismen einheitliche Prinzipien abgewonnen worden waren, die über das Sammeln von Tatsachenmaterialien hinausgehende, pflanzliche und tierische Lebewesen in gleicher Weise umfassende (theoretische) Konzepte ermöglichen.«9 Das Aufstellen der Evolutionstheorie wurde durch verschiedene Faktoren begünstigt, wobei jedoch die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen weit größeren Anteil gehabt haben dürften, als den meisten Biologen bewusst ist. Der Kolonialismus hatte – gerade in der großen Kolonialmacht England – das Wissen um die Vielfalt der Arten und ihre geographische Verteilung auf der Welt vorangetrieben. Die Forschungen der Geologen (insbesondere Lyell) hatten eine langsame Veränderung der Welt und damit auch der zu verschiedenen erdhistorischen Zeiten herrschenden Lebensbedingungen aufgezeigt. Wichtiges Material zur Entwicklung seiner Theorie war für Darwin zudem die Erforschung der Arten geographisch eng begrenzter Gebiete wie die Galapagosinseln, sowie unterschiedliche Fossilienfunde in verschiedenen Erdteilen, die in Beziehung zu dort aktuell lebenden Arten gesetzt werden konnten. Ein weiterer wichtiger Faktor war die Industrialisierung, mit der die gezielte Zucht zur Spezialisierung, aus der Darwin viele Daten sammelte, vorangetrieben wurde. Zugleich veränderte sie insbesondere in England die Gesellschaftsstruktur relativ schnell und nachhaltig, was sich auch in neuen politischen und sozialwissenschaftlichen Theorien widerspiegelt, welche den jungen Kapitalismus und seine Phänomene zu fassen suchten. So wurde eine Sicht auf die Welt befördert, die diese nicht als stabil und statisch, sondern als wesentlich dynamischen historischen Veränderungen unterliegend begriff. Französische und industrielle Revolution, parlamentarische Demokratie und kapitalistische Wirtschaft – eine neue Gesellschaftsordnung etablierte sich und mit ihr ein neues Selbstverständnis der Subjekte als formal freie und gleiche Bürger. Es bildet sich eine Gesellschaft, in der jedes Individuum in unmittelbarer Konkurrenz zu jedem anderen steht – damals noch ohne organisierte Gewerkschaften und ohne staatliche soziale Absicherung –, in der ›doppelt freie Lohnarbeiter‹10 ihre Freiheit zur permanenten Anpassung an einen in seinen Grundzügen wenig durchschaubaren Markt aktiv nutzen müssen, einen Markt, der keiner sichtbaren politischen Lenkung unterliegt, sondern stattdessen wie von einer unsichtbaren Hand geführt sich selbst organisiert

9 10

Franz M. Wuketits, Grundriß der Evolutionstheorie, Darmstadt 1989, S. 10. Vgl. Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 23, Berlin 1988, S. 183.

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und formt. Nicht nur der direkte Bezug auf Malthus11 ist darum für das Verständnis der Evolutionstheorie wichtig, sondern auch der indirekte aber deutliche Bezug auf Ökonomen wie Smith12 und Ricardo, deren Theorien damals breit diskutiert wurden.

3.1

Gab es Evolutionstheorien vor Darwin?

Schon in den überlieferten Fragmenten der Vorsokratiker um 600 v.u.Z. finden sich Vorstellungen davon, dass Lebewesen ursprünglich aus Anderem oder anderen entstanden seien: »[Anaximandros lehrte], im Feuchten wären die ersten Lebewesen entstanden, die von stacheligen Rinden umgeben waren; im weiteren Verlauf seien sie dann auf das Trockene ausgewandert und hätten, indem die Rinde von ihnen abfiel, auf kurze Zeit ihre Lebensform geändert«13 . Hier ließen sich mit einigem guten Willen neuzeitliche Theorien über die Entstehung des Lebens aus einem Urschlamm (die erst durch die Experimente von Louis Pasteur widerlegt wurden14 ) sowie die Weiterentwicklung frühester Lebensformen im Wasser bis zur Erschließung der Landteile als Lebensraum vorweggenommen sehen. Noch stärker fühlen sich heutige Rezipient*innen an die Mechanismen der Evolution bei der Lektüre von Lukrez erinnert. Im Zeitraum zwischen 70-50 v.u.Z. schrieb Lukrez in seinem de rerum natura: »Demnach mußten auch viele Geschlechter der lebenden Wesen Damals schon, weil nicht zur Vermehrung geeignet, verderben, Denn sie alle, die jetzt noch belebende Lüfte wir atmen Sehen, erhielt und beschützte die List teils, teils auch die Stärke, Teils ihr rühriges Wesen, vom ersten Beginne des Daseins.«15

11

12

13 14 15

Die Bedeutung von Malthus Essay on the Principle of Population (1798) für die Entwicklung der Evolutionstheorie beschreibt Charles Darwin sehr nachdrücklich in seinem Aufsatz »Rückblick auf den Weg zur Evolutionstheorie«, Auszug aus der Autobiographie, abgedruckt in: Günter Altner (Hg.), Der Darwinismus. Die Geschichte einer Theorie, Darmstadt 1981, S. 9-16. Den inhaltlichen Bezug zwischen Darwins Evolutionstheorie und der ökonomischen Theorie von Adam Smith beschreibt Stephen Jay Gould in The Structure Of Evolutionary Theory, Cambridge/ Massachusetts/London 2002, S. 121-125. Der überwiegende Bezug zwischen Darwin und Smith in der Sekundärliteratur beschränkt sich allerdings leider bislang auf die anlässlich einer Fußnote in Darwins Decent of Men geführte Debatte über das moralische Gefühl. Vgl.: Hilary Putnam/ Susan Neiman/Jeffrey P. Schloss (Hg.), Understanding moral sentiments: Darwinian perspective?, New Brunswick 2014 oder John Laurent/Geoff Cockfield »Adam Smith, Charles Darwin and the moral sense«, in: Geoff Cockfield/Ann Firth/John Laurent (Hg.), New perspectives on Adam Smith’s »The theory of moral sentiments«, Cheltenham u.a. 2007, S. 141-162. Fragment von Hippolytos, zitiert nach Wilhelm Capelle, Die Vorsokratiker. Die Fragmente und Quellenberichte, Stuttgart 1968, S. 87. Vgl. Kapitel 5.1.1. Aus dem Lehrgedicht des Titus Lucretius Carus, de rerum natura, Übersetzung durch Franz Xaver Mayr unter dem Titel »Von der Natur der Dinge«, Wien 1784/85, zitiert nach Walter Zimmermann, Evolution. Die Geschichte ihrer Probleme und Erkenntnisse, Freiburg/München 1953, S. 67.

3. Darwins Evolutionstheorie hebt die Biologie in den Stand einer modernen Naturwissenschaft

Solche und ähnliche Darstellungen aus der Antike werden bisweilen als frühe Evolutionsgedanken interpretiert. Tatsächlich sind sie jedoch Schöpfungsmythen, teilweise im Übergang vom Mythos zum Logos, wobei die Materie und göttliche Eigenschaften nicht eindeutig zu trennen sind. So wurden etwa Fossilien in der Tradition der Antike von einigen Naturforschern bis ins 16. Jahrhundert hinein als unvollendete Produkte steckengebliebener Urzeugungskräfte der Materie gedacht.16 Auch deutlich spätere und mehr am empirischen Material orientierte Vorstellungen des Hervorgehens neuer Arten aus früheren Formen gab es reichlich. So beschrieb beispielsweise Albertus Magnus im 13. Jahrhundert die Umwandlung von Roggen in Weizen und von Weizen in Dinkel als eine Wandlung, die durch ihre enge Verbindung zur Erde bewirkt werde17 und Thomas von Cantimpré vermutete, dass alle Fische sich von einer schlichten durch Urzeugung entstandenen Art entwickelt hätten18 . Charles Bonnet schilderte 1769, hundert Jahre vor Darwin, dass die heute lebenden Tiere die Nachfahren andersartiger Tiere seien, welche früher lebten, aber durch Katastrophen ausgelöscht worden seien, und dass auch aus den heutigen Arten in der Zukunft neue und vollkommenere Geschöpfe entstehen würden, so dass durch den Aufstieg auf der scala natura Menschen zu Engeln werden würden.19 Bei Jean-Baptiste-René Robinet finden sich 1761 ähnliche Überlegungen, nach denen es einen allmählichen Übergang von den Mineralien zu den Pflanzen und den Pflanzen zu den Tieren gäbe.20 Hier wird schon der Orang-Utan als ein Übergang vom Tier zum Menschen genannt, sowie der Engel das Zwischenglied im Übergang des Menschen zu Gott darstelle. Diese Parallelführung zeigt schon, dass mit den Begriffen des Übergangs und der Entwicklung in diesen und ähnlichen Theorien (insbesondere im philosophischen Bezug auf Leibniz) damals etwas grundlegend anderes gefasst wurde, als dasjenige, was die Entwicklung der Arten nach dem Mechanismus der Evolution laut Darwin beschreibt. Die von Robinet gemeinte Entwicklung geht auf antike Vorstellungen beispielsweise bei Aristoteles zurück und beschreibt eine Bewegung, in der alles von Anfang an bereits vorhanden, jedoch in eine unvollkommene Form eingewickelt ist. In dem Prozess, in dem die vollkommene Gestalt sich allmählich auswickelt – dem Entwicklungsprozess – sind die verschiedenen Formen so als Übergänge zu einem vollkommeneren Zustand zu denken, auf welchen die unvollkommenen Formen ihrem Begriff nach immer schon bezogen gedacht werden müssen. Das Telos der Vollkommenheit markiert hierbei Richtung und Ziel der Entwicklung. Entsprechend entspringen die Mechanismen der Veränderung bei Robinet allein dem Organismus selbst in seinem Streben nach Vervollkommnung, der im Gegensatz zum Evolutionsgedanken autonom gegen die Umwelt ist.21

16 17 18 19 20 21

Vgl. z.B. Georg Agricola (Georg Bauer, 1494 bis 1555), De ortu et causis subterraneorum; De natura fossilium, ohne Ort 1546. Vgl. Albertus Magnus, De vegetabilibus V, 55, ohne Ort ca. 1250. Vgl. Thomas von Cantimpré, Liber de natura rerum, ohne Ort 1241. Vgl. Charles Bonnet, La Palingénésie philosophique, Genf 1769. Vgl. Jean-Baptiste-René Robinet, De la nature, Amsterdam 1761. Vgl. Kapitel 11.8.1.

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3.1.1

Das Prinzip der Verwandtschaft

Den modernen Evolutionsgedanken sehr nahe kommen Hypothesen über die sukzessive Veränderung der Arten aus der paläontologischen Forschung, die teilweise zu Darwins Lebzeiten publiziert wurden. So äußerte Leopold von Buch in einer 1848 erschienenen Abhandlung, »daß das Verschwinden alter und das Erscheinen neuer Formen keine Folge einer gänzlichen Vernichtung der organischen Schöpfungen, sondern daß die Bildung neuer Arten aus älteren Formen höchstwahrscheinlich nur durch veränderte Lebensbedingungen erfolgt sei.«22 Vor der Verbreitung der These der Artkonstanz durch die prominenten Theorien von Carl von Linné23 oder Georges Cuvier24 gingen in der Tat nur wenige Naturforscher davon aus, dass die Arten stabil seien.25 Im achtzehnten Jahrhundert trieb die Biologen dann das durch die Scholastik überlieferte Problem um, ob es von Natur aus verschiedene Arten von Tieren und Pflanzen gäbe, oder ob es lediglich mehr oder weniger ähnliche Exemplare seien, die vom Menschen nach dem Grad ihrer Ähnlichkeit (und nicht ohne Willkür) zu Gattungen und Arten zusammengefasst würden. So hat Linné selbst sein taxonomisches Ordnungssystem als ein künstliches angesehen, da die wesentlichen Unterscheidungsmerkmale der spezifischen Differenz zwischen den Arten – etwa die Anzahl der Staubgefäße einer Blüte – von Taxonomen ausgedacht worden wären.26 Mit Bezug auf Aristoteles unterschied Linné die bewegte (d.i. belebte) Natur in drei große Reiche: Steine, die nur wachsen (die Kristalle), Pflanzen, die wachsen und leben und Tiere, die wachsen, leben und fühlen. Auf ihn geht die Einführung einer binären Nomenklatur zurück, in der die einzelnen Arten unter Gattungen gesammelt werden. In seinem 1753 erschienenen Werk systema naturae benannte er nach diesem System 5250 Pflanzenarten. »Gott hat die Welt erschaffen, aber Linné hat sie geordnet.« Dieser schon zu Linnés Lebzeiten geflügelte Satz lässt die damalige und bis heute nachwirkende Bedeutung seiner taxonomischen Arbeit erahnen. Seine Taxonomie baut auf der Prämisse auf, dass das Leben ein natürliches System harmonischer Ordnung darstellt. Ursprünglich überzeugt von einer Konstanz der Arten, formulierte er später die Hypothese, dass alle Arten derselben Gattung ursprünglich eine Art dargestellt haben könnten. Schon bei der frühesten Einteilung der belebten Natur in Gattungen, wie sie, wenngleich nicht systematisch, bereits vor aller Naturforschung selbstverständlich vorgenommen wurde (in Vögel, Fische, Landtiere usw.), stiftet die Ähnlichkeit Verschiedener einen gemeinsamen Oberbegriff. Diese begrifflichen Verwandtschaftsgrade, die denkend immer schon vollzogen wurden, wurden erst mit der Abstammungslehre von Darwin als tatsächliche biologische Verwandtschaft gedacht. Hierüber konnte Linnés Taxonomie nachträglich eine systematische Begründung finden,27 worauf Darwin deutlich hinwies: 22 23 24 25 26 27

Leopold von Buch, »Über Ceratiden«, in: J. Ewald/J. Roth/W. Dames (Hg.), Leopold von Buch’s gesammelte Schriften, Bd. 4, Berlin 1885, S. 860. Vgl. Carl von Linné, Species Plantarum, Stockholm 1753; Carl von Linné, Systema Naturae, Stockholm 1785/1759. Vgl. Georges Cuvier, Le règne animal distribué d’après son organisation, Paris 1817. Vgl. Ernst Mayr, Artbegriff und Evolution, Hamburg u.a. 1967. Vgl. Kapitel 4.1. Vgl. Kapitel 4.1.

3. Darwins Evolutionstheorie hebt die Biologie in den Stand einer modernen Naturwissenschaft

»Ausdrücke, wie die berühmten Linnéschen, die wir oft in mancherlei Einkleidungen versteckt wiederfinden, dass nämlich die Charaktere nicht die Gattung machen, sondern die Gattung die Charaktere gebe, scheinen mir zugleich andeuten zu sollen, dass unsere Klassifikation noch etwas mehr als die bloße Ähnlichkeit zu berücksichtigen habe. Und ich glaube in der Tat, dass dies der Fall ist, und dass die Gemeinsamkeit der Abstammung (die einzige bekannte Ursache der Ähnlichkeit organischer Wesen) das, obschon unter mancherlei Modifikationsstufen beobachtete, Band ist, welches durch unsere natürliche Klassifikation teilweise enthüllt werden kann.«28 »[Die Evolutionstheorie] führte zum Verständnis wahrer Verwandtschaften. Meine Theorie würde der vergleichenden Anatomie rezenter und fossiler Form neuen Reiz geben; sie würde zum Studium der Instinkte, Erblichkeit, geistigen Vererbung, zum Ganzen der Metaphysik führen.«29 Im Anschluss an Linné versuchte u. A. Cuvier, die taxonomische Ordnung der Lebewesen auf ein immanentes, d.i. natürliches Prinzip zurückzuführen.30 In Abgrenzung zu Lamarck, der große Zweifel an der Artkonstanz hegte, stellte Cuvier auf Grundlage sehr gründlicher Studien über vergleichende Anatomie die These auf, dass es im Tierreich verschiedene Typen gäbe, die zwar Typvariationen aufwiesen, jedoch keine Übergänge zwischen den Typen zuließen (Typenlehre). In seinem Werk Das Thierreich, geordnet nach seiner Organisation31 stellte Cuvier die Theorie auf, dass die konstanten Arten sich wiederholten Schöpfungsakten verdankten, welche nach jeder geologischen Katastrophe die Erde in neuen Formen bevölkerten.

3.1.2

Konkurrenz als Ordnungsmechanismus

Da jedoch die vordarwinschen Vorstellungen von der Veränderung der Arten zu neuen Formen auf Prinzipien zurückführten, die andere sind als jene, welche den Naturwissenschaftlern seit dem 19. Jahrhundert vertraut und gültig sind, können sie nur eingeschränkt als ›Vordenker‹ Darwins aufgeführt werden. Erst Darwin hat mit dem Prinzip der Verwandtschaft die Linnésche Taxonomie biologisch legitimiert. Zwar hat Lamarck schon 1809, im Geburtsjahr von Darwin, seine Theorie zur Evolution in der Philosophie zoologique veröffentlicht und die Artentstehung mit den Grundgedanken wie Vererbung und Veränderlichkeit versucht systematisch einzuführen und zu erklären.32 Bei ihm

28 29

30 31

32

Charles Darwin, Die Entstehung der Arten, Hamburg 2011, S. 501. (Künftig zitiert: Darwin, Entstehung der Arten). Charles Darwin, »Auszüge aus dem ersten Notizbuch. Geschrieben vom Juli 1837 bis Februar 1838«, zitiert nach Gerhard Heberer (Hg.), Darwin-Wallace. Dokumente zur Begründung der Abstammungslehre vor 100 Jahren 1858/59-1958/59, Stuttgart 1959, S. 11. Vgl. Kapitel 4.2. Jean-Léopold-Nicholas Frédéric Cuvier, Le règne animal; distribué d’après son organisation; pour servir de base à l’histoire naturelle des animaux et d’introduction à l’anatomie comparée. 4 Bände. Paris 1817 (deutsch: Das Thierreich, geordnet nach seiner Organisation: als Grundlage der Naturgeschichte der Thiere und Einleitung in die vergleichende Anatomie. 6 Bände, Leipzig 1831-1843). Vgl. Jean-Baptiste de Lamarck, Philosophie zoologique, ou, Exposition des considérations relative à l’histoire naturelle des animaux, Paris 1809.

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Dialektik des Lebendigen

fehlt jedoch das Selektionsprinzip. »Im Gegensatz zu den Vorstellungen von der ›natürlichen Zuchtwahl‹ Darwins fehlt hier [in den vordarwinschen Entwicklungsvorstellungen des 18. Jahrhunderts] die Ursache der Zuchtwahl: die Konkurrenz zwischen den Individuen.«33 Alle früheren Überlegungen unterscheiden sich hierin wesentlich von Darwins Theorie der Evolution. Dieser Gedanke der Konkurrenz als Selektionsprinzip findet sich tatsächlich erst im 19. Jahrhundert. Darwin selbst hat in seiner Historischen Skizze der Fortschritte in den Ansichten über den Ursprung der Arten jene Vorstellungen zusammengetragen, die seiner Theorie der Evolution am nächsten kamen. Der früheste von ihm gefundene Nachweis für einen konkurrenzbasierten Selektionsmechanismus, der nützliche Variationen befördert, ist ein wenig beachteter Aufsatz von W. C. Wells, den dieser 1813 vor der Royal Society las und 1818 mit dem Titel Nachricht über eine Frau der weißen Rasse, deren Haut zum Teil der eines Negers gleicht veröffentlichte. Interessant ist, dass Wells denselben Vergleich zwischen künstlicher und natürlicher Zuchtwahl aufstellt, auf dem Darwins Überlegungen aufbauen. Wie Darwin bemerkte, geht auch Wells davon aus, »dass Landwirte ihre Haustiere durch Zuchtwahl verbessern. Nun fügt er hinzu: Was aber im letzten Falle ›durch Kunst geschieht, scheint mit gleicher Wirksamkeit, wenn auch langsamer, bei der Bildung der Varietäten des Menschengeschlechts, welche von ihnen bewohnten Ländern angepasst sind, durch die Natur zu geschehen. Unter den zufälligen Varietäten von Menschen, die unter den wenigen zerstreuten Einwohnern der mittleren Gegenden von Afrika auftreten, werden einige besser als andere imstande sein, den Krankheiten des Landes zu widerstehen. In der Folge hiervon wird sich diese Rasse vermehren, während die anderen abnehmen, und zwar nicht bloß, weil sie unfähig sind, die Erkrankungen zu überstehen, sondern weil sie nicht imstande sind, mit ihren kräftigeren Nachbarn zu konkurrieren‹.«34 Des Weiteren nennt Darwin noch Patrick Matthew und sein 1831 erschienenes Werk Naval Timber and Arboriculture,35 dem er attestiert: »Er erkannte […] deutlich die volle Bedeutung des Prinzips der natürlichen Zuchtwahl.«36 – nach eben dem Mechanismus, wie er von Darwin und Malthus später ausführlich dargelegt wurde. Die anderen in diesem Zusammenhang von Darwin genannten Autoren gehen zwar von einer Variation in den Arten und einer Artentwicklung aus, erklären diese jedoch nicht durch die von Darwin beschriebenen Mechanismen der Selektion durch Konkurrenz. Wenn Darwin die natürliche Ordnung in der Tier- und Pflanzenwelt, die von der Taxonomie schon lange beschrieben und katalogisiert war, hinreichend erklären wollte,

33 34

35 36

Rainer Stripf, Evolution – Geschichte einer Idee, Stuttgart 1989, Seite 17. Charles Darwin, »Historische Skizze der Fortschritte in den Ansichten über den Ursprung der Arten«, in: Darwin, Entstehung der Arten, S. 15-25, S. 17. Der hier von Darwin zitierte Aufsatz von Wells, Nachricht über eine Frau der weißen Rasse, deren Haut zum Teil der eines Negers gleicht (1818) ist ohne Quellenangabe. Patrick Matthew, Naval Timber and Arboriculture, London 1831. Darwin, Entstehung der Arten, S. 19.

3. Darwins Evolutionstheorie hebt die Biologie in den Stand einer modernen Naturwissenschaft

ohne einen Schöpfer anzunehmen, der diese Ordnung geschaffen habe,37 dann musste er das Problem lösen, wie die Existenz einer Ordnung ohne ordnendes Subjekt theoretisch zu begründen sei. Hierzu stellte Darwin in der Entwicklung der Arten eine Analogie zur ökonomischen Theorie von David Ricardo her. In Ricardos 1817 veröffentlichten Principles of Political Economy and Taxation38 stellte er ausführlich den zu Darwins Zeit viel diskutierten Gedanken dar, dass das freie Spiel der Kräfte in der Marktwirtschaft ein spontan ordnungsschaffender Faktor sei. Derselbe Gedanke findet sich in Smiths Wealth Of Nations39 von 1776. Dieses freie Spiel der Kräfte, das ohne leitende, göttliche Instanz eine Ordnung hervorbringt und sie im Vollzug beständig verbessert, war das Prinzip, das es Darwin ermöglichte, die harmonisch aufeinander abgestimmte, dynamische Mannigfaltigkeit der belebten Welt ohne ordnende Schöpfungskraft zu erklären. Doch bevor diese zentrale Analogie zwischen der Organisation der Organismen und der des Marktes näher betrachtet werden soll, sind noch zwei wichtige Voraussetzungen dieser Analogisierung zu erörtern: Die Trennung der Biologie von der Naturphilosophie und ihre Hinwendung zum Empirismus und der Induktion als wissenschaftlicher Methode.

3.2

Die Trennung der Biologie von der Naturphilosophie – Lamarck und Darwin

Eine weitere wichtige Voraussetzung, die den Boden für die Evolutionstheorie bereitet hat, bestand darin, dass das Leben einem immanenten Prinzip nach von Lamarck als veränderlich bestimmt wurde. Diesen Gedanken entwickelte er vor allem in seiner Kritik an Georges-Louis Leclerc Buffon. Nach Buffons Vorstellung zirkulierten spezifische Teilchen, sogenannte »organische Moleküle«, durch die Nahrungsketten und Generationsfolgen der Organismen. Diese organischen Moleküle machten die spezifische Differenz zum Unbelebten aus.40 Die organischen Moleküle waren nach Buffon ein

37

38 39 40

Bei Lamarck findet sich hier allerdings schon ein natürliches Streben nach Vervollkommnung, also eine eigenständige Aktivität der Organismen, die nicht auf einen heteronomen Schöpfer zurückgeführt wird. David Ricardo, On the Principles of Political Economy and Taxation, London 1817. Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, London 1776. »Jede Art sowohl der einen als der andern Wesen ist erschaffen worden, und daher haben die ersten Individua allen ihren Abkömmlingen zum Modelle gedienet. Der Körper eines jeden Thiers oder einer jeden Pflanze ist eine Patrone, in welche die organischen Theilchen aller Thiere und Pflanzen ohne Unterschied übergehen, die der Tod zerstöret und die Zeit aufgerieben hat; die unbelebten Theilchen, die in die Zusammensetzung derselben mit hineingekommen waren, kommen wieder zu der gemeinen Masse der todten Materie zurück. Die organischen Theilchen subsistiren immerfort, und werden von organisirten Körpern wieder aufgefangen, erstlich durch die Vegetabilien wieder eingesogen, hiernächst von den Thieren verschlungen, die sich von Vegetabilien nähren; sie dienen also zur Entwickelung, zum Unterhalte und zum Wachsthume sowohl von diesen als von jenen; sie machen ihr Leben aus, und durch ihren unaufhörlichen Umlauf aus Körper in Körper beseelen sie alle organisirte Wesen. Der Vorrath von lebenden Substanzen bleibt also immerdar derselbe; sie verändern sich bloß in Ansehung der Form, das ist, sie zeigen sich unter vielerley Erscheinungen.« Georges-Louis Leclerc Comte de Buffon, Allgemeine Historie der Natur, Siebenter Theil, 1. Band, Leipzig 1770, S. IX.

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besonderer, unvergänglicher und unveränderlicher Stoff, der dem lebendigen Organismus als materialistisches Prinzip diente. Dieser in sich widersprüchliche Terminus des ›materialistischen Prinzips‹ ergibt sich dadurch, dass ein metaphysisches belebendes Prinzip (wie vormals die Seele) hier zu einer stofflichen Form der Natur hypostasiert wurde (wie später im Vitalismus). In seiner Kritik an Buffon stellte Lamarck heraus, dass die Differenz zwischen belebten und unbelebten Körpern nicht in einem besonderen Stoff zu finden sei, sondern in der Form ihrer Organisation. Diese Organisation sei eine wesentlich dynamische, und ihre innere Bewegung sei dasjenige, was das Lebendige ausmache. Leben sei so in ständiger Bewegung und damit auch Veränderung begriffen. Dieser Schritt von Buffons stofflicher zu Lamarcks organisatorischer Bestimmung des Lebendigen stellt insofern eine bedeutende Voraussetzung für die Darwinsche Theorie dar, als hier das Leben von einem neuen Prinzip aus gedacht wurde: Weder die Teile, aus denen das Lebewesen besteht, noch ein Immaterielles wie die Seele sei maßgebend für seine Existenz, sondern seine eigene innere Bewegung realisiere den Organismus, so lange, wie er sich selbst in diesem Zustand der Organisation erhält. »Es gibt in der Natur keinerlei Stoff, dem das Lebensvermögen als besondere Eigentümlichkeit zukäme. Jeder Körper, in dem das Leben sich äußert, enthält in dem Erzeugnis seiner Organisation und der in seinen Teilen erregten Folge von Bewegungen die physische und organische Erscheinung, die das Leben bedingt, und die sich in diesem Körper so lange vollzieht und erhält, als die zu seiner Hervorbringung wesentlichen Bedingungen andauern«41 . Entgegen den im weitesten Sinne an der Newtonschen Mechanik orientierten Vorstellungen, die das Leben als besonderen Stoff mit spezifischen Eigenschaften zu greifen versuchten, wird mit Lamarck der Schwerpunkt auf die Organisation und damit auch das aktive Tun der Organismen, ihre Interaktion miteinander und mit Ihrer Umwelt, gelenkt. Nach Lamarck ist das Leben ein Zustand der Ordnung des Organismus, der die organische Bewegung erlaubt und dem Tod – d.i. der Auflösung dieser Organisation – entgegenwirkt. Die organische Bewegung strebe nach einer Ausdifferenzierung der Organe nach spezifischen Funktionen. Die Organe werden durch den Wechsel der Bewegung von Flüssigkeiten geschaffen, die sukzessive den Organismus formend verändern; diese Veränderungen werden auch in der Fortpflanzung übertragen. So differenzierten sich im Laufe der Zeit mannigfaltige Arten aus. Die Bewegungen der Flüssigkeiten variierten mit den Umweltbedingungen wie Klima, Lebensweise etc. »Durch diese verschiedenen Einflüsse verbreiten sich und verstärken sich die Fähigkeiten durch den Gebrauch, vermannigfaltigen sich durch die neuen und lange geübten Gewohnheiten; und unmerklich beteiligen sich die Konfiguration, die Konsistenz, mit einem Worte die Natur und der Zustand der Teile ebenso wie der Organe an den

41

Jean-Baptiste de Lamarck, »Einleitung zur Naturgeschichte der wirbellosen Tiere«, in: Emil Ungerer (Hg.), Lamarck-Darwin. Die Entwicklung des Lebens, Stuttgart 1923, S. 36-70, S. 37.

3. Darwins Evolutionstheorie hebt die Biologie in den Stand einer modernen Naturwissenschaft

Folgen aller dieser Einflüsse, die sich erhalten und durch die Fortpflanzung auf die Nachkommen übertragen werden.«42 Die lange währende Gewohnheit, welche zur Veränderung der Organe führe, sei nicht die Gewohnheit eines Subjekts oder analog zu ihr eine bewusste Gewohnheit, sondern eine Gewohnheit der Bewegungen des Körpers, genauer die Wirksamkeit der Fluida im Körper des Organismus.43 »Ich könnte hier alle Klassen, Ordnungen, Gattungen und Arten der existierenden Tiere durchmustern und könnte zeigen, daß der Bau der Individuen und ihrer Teile, daß ihre Organe, Fähigkeiten usw. usw. ganz allein das Resultat der Verhältnisse sind, denen die Rassen jeder Art durch die Natur ausgesetzt wurden, […] [da] nicht die Organe die Tätigkeiten bedingen, sondern umgekehrt: die Gewohnheiten und die Lebensweise formen mit der Zeit die Körperteile. Mit den neuen Formen wurden wieder neue Fähigkeiten erworben und so ist die Natur allmählich bei dem Zustand angelangt, in dem wir sie heute sehen.«44 Lamarck entwirft keinen einseitigen Prozess der Formung der Organismen durch Anpassung an ihren Lebensraum, sondern einen wechselseitigen Prozess der Wirkung von Gewohnheit und Form des Organismus aufeinander, für den die Umweltbedingungen nur den Rahmen angeben, indem sie die Möglichkeiten für Lebensgewohnheiten und Organformen bieten und beschränken. Doch der Antrieb zur Veränderung stammt hierbei aus dem Organismus selbst. Erst beim höher entwickelten Tier sei schließlich auch der Wille eine bestimmende Ursache der Bewegungen, welche Einfluss auf die Fluida habe.

3.2.1

Lamarck: Organismen formen ihre Entwicklung aktiv

Bei Lamarck sind es also nicht allein, aber auch die äußeren Bedingungen, die zu Veränderungen in der Organisationsform führen, indem sie die Lebensbewegungen des Körpers beeinflussen und hierüber Veränderungen im Körper (und neue Gewohnhei-

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Jean-Baptiste de Lamarck, »Eröffnungsvorlesung vom 11. Mai 1800«, zitiert nach Sinai Tschulok, Lamarck, eine kritisch-historische Studie, Zürich/Leipzig 1937, S. 125. Diese, wenn auch nicht durch einen bewussten Willen gesetzte, Aktivität der Organismen als Ursache ihrer organischen Veränderung und Umstrukturierung im Laufe der Artgeschichte(n) schreibt ihnen logisch einen Subjektstatus zu. Lamarcks Theorie ist eigentlich psychobiologisch, anders als der spätere Lamarckismus; der als Zoologische Philosophie (1809) entwickelte psychologische Teil wird jedoch nicht eng mit der Entwicklungslehre verbunden. Nach Lamarck gibt es keinen besonderen Naturstoff, der das Leben vom Unbelebten unterschiede; es ist das Wirken der Fluida, das die Organisation und Umorganisation des Organismus nach seinen Bedürfnissen gestaltet. »[D]iese Fluida sind aber das Element Feuer in seinen mannigfachen Erscheinungsformen: der Wärme, der Elektrizität des Magnetismus, des Nervenfluidums.« Sinai Tschulok, Lamarck, eine kritisch-historische Studie, Zürich/Leipzig 1937, S. 143. Lamarcks Theorie zeigt sich hier als klassische, vorkritische Metaphysik, die mit modernen empirischen Fakten in Übereinstimmung gebracht wurde. Jean-Baptiste de Lamarck, »Eröffnungsvorlesung vom 11. Mai 1800«, zitiert nach Sinai Tschulok, Lamarck, eine kritisch-historische Studie, Zürich/Leipzig 1937, S. 126.

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Dialektik des Lebendigen

ten/Verhaltensweisen) erzwingen.45 Die Differenz zu Darwin liegt also nicht primär darin, Körperveränderungen und Umweltveränderungen aufeinander zu beziehen, sie liegt vielmehr in der Art der Beziehung: Ausgangspunkt und (aktive) Ursache der Veränderungen im Organismus ist nach Lamarck die Eigenbewegung des Organismus – die bei ihm explizit kein bewusster Wille des Tieres oder der Pflanze ist, obgleich dies in der polemischen Kritik Darwins und seiner Anhänger an Lamarck oft fälschlich als solcher bewusster Wille dargestellt wurde und wird. So schrieb Wallace gegen Lamarck, dass die besonderen Eigenschaften einer Art »nicht durch das Wollen jener Tiere hervorgerufen oder vergrößert worden« seien: »Auch erlangte die Giraffe ihren langen Hals nicht infolge des Wunsches, das Laub der höheren Sträucher zu erreichen oder dadurch, daß sie beständig ihren Hals zu diesem Zweck ausstreckte, sondern weil alle Varietäten unter ihren Vorfahren mit einem längeren Halse als gewöhnlich sich sofort einen neuen Weidefleck an denselben Orten wie ihre kurzhalsigen Gefährten sicherten und bei der nächsten Nahrungsknappheit dadurch befähigt wurden, sie zu überleben.«46 Diese plumpe Abgrenzung diente der Verdeutlichung der Ablehnung des metaphysischen Gehalts von Lamarcks Überlegungen, die hierzu nicht unbedingt umfassend begriffen worden sein mussten. Die bis zur Falschheit verkürzte Darstellung von Lamarcks Theorie, Igel seien rund, weil sie sich über Generationen zum Schutz zusammengerollt hätten und Giraffen hätten lange Hälse, weil sie sich über Generationen nach den oberen Blättern gereckt hätten, verkennt das metaphysische Moment, das Lamarck dem Begriff der Bewegung als inneres Organisationsprinzip der Organismen beigelegt hat und missversteht den Begriff der Bewegung stattdessen als rein mechanischen Körperakt. Der Kern der Kritik trifft immerhin zu: Mit der aktiven Eigenbewegung, zu deren Veränderung die Umwelt zwar Anlass geben kann, die sie aber nicht kausal verursacht, ist der Organismus selbst als Subjekt seiner Organisation zu denken, wenngleich nicht als selbstbewusstes Subjekt. Bei Lamarck heißt es: »Die Erzeugung eines neuen Organs in einem tierischen Körper ist das Ergebnis eines neu aufgetretenen Bedürfnisses, das unaufhörlich empfunden wird, und einer neuen Bewegung, die dieses Bedürfnis hervorruft und unterhält«47 . Darwin wird den Gedanken der Organisation und des Wechselverhältnisses von Organismus und Umwelt in der Organisation des Lebewesens aufgreifen, zunächst widerwillig, aber alle von ihm akribisch zusammengetragenen Daten weisen ihm deutlich diese Richtung. »Ich habe massenweise Bücher über Landwirtschaft und Gartenbau gelesen und nie aufgehört, Fakten zu sammeln. Endlich hat sich ein Lichtstrahl gezeigt, und ich bin nahezu überzeugt (völlig entgegengesetzt zu meiner anfänglichen Ansicht), daß die 45 46

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Vgl. Sinai Tschulok, Lamarck, eine kritisch-historische Studie, Zürich/Leipzig 1937, S. 41. Alfred Russel Wallace, »Über die Tendenz der Varietäten, unbegrenzt von dem Originaltypus abzuweichen« (1858), zitiert nach Gerhard Heberer (Hg.), Darwin-Wallace. Dokumente zur Begründung der Abstammungslehre vor 100 Jahren 1858/59-1958/59, Stuttgart 1959, S. 33. Jean-Baptiste de Lamarck, »Einleitung zur Naturgeschichte der wirbellosen Tiere«, in: Emil Ungerer (Hg.), Lamarck-Darwin. Die Entwicklung des Lebens, Stuttgart 1923, S. 36-70, S. 54.

3. Darwins Evolutionstheorie hebt die Biologie in den Stand einer modernen Naturwissenschaft

Spezies nicht unveränderlich sind (mir ist, als gestände ich einen Mord). Der Himmel bewahre mich vor Lamarcks Unsinn einer ›Neigung zum Fortschritt‹ und ›Anpassungen infolge des langsam wirkenden Willens der Tiere‹, aber die Schlüsse, zu denen ich gelange, unterscheiden sich nicht sehr von den seinigen – wiewohl die Mittel und Wege, die zur Veränderung führen, gänzlich andere sind.«48 Im Gegensatz zu Lamarck beschreibt Darwin einen Mechanismus der Natur, durch den der Organismus als Objekt geformt wird und nicht aktiv selbst den Grund seiner Veränderung in sich trägt. Dieser Schritt, die Lebewesen als passiven Naturstoff anzunehmen, der nur durch äußere Ursachen verändert werden kann, markiert die wesentliche Differenz von Darwins Theorie zu allen vorherigen Entwicklungsgedanken und bricht radikal mit allen metaphysisch angeleiteten naturphilosophischen Vorstellungen. Hier wird erneut deutlich, dass die Deutung sich nicht unmittelbar aus den gegebenen Fakten ergibt. Sowohl Darwin wie Wallace betonten die Bedeutung von Charles Lyells ›Prinzipien der Geologie‹ für ihre Theorie: »Sie [die Prinzipien der Geologie von Lyell] hatten mir gezeigt, daß die anorganische Welt – die gesamte Erdoberfläche, ihre Meere und Länder, ihre Gebirge und Täler, ihre Flüsse und Seen und alle Einzelzüge ihrer Klimate – in einem ständigen Zustand langsamer Veränderung begriffen und immer gewesen sind. Hieraus wurde es offensichtlich, daß die Lebensformen an diese sich wandelnden Bedingungen angepaßt worden sein mußten, um überleben zu können.«49 Doch dieselben Fakten passen ebenso gut zu Lamarcks Gedanken der Entwicklung, denn nicht offensichtlich war der Mechanismus bzw. die Ursache dieser Anpassung. Die wesentliche Differenz zwischen den Theorien von Lamarck und Darwin liegt nun darin, dass die Ursache der Veränderung des Organismus nicht mehr als seine eigene Bewegung, sondern als Folge bloß äußerer Einwirkungen, als äußerer Mechanismus gedacht wird.50 Nicht aus dem Leben, sondern aus seiner Umgebung folgt seine Veränderung – es ist nicht selbst Tätiges, sondern bloß Erleidendes. Auch Lamarck sah die zufälligen unveränderlichen Umweltbedingungen als einen Ausgangspunkt der Veränderung der Organismen an, aber wirkende Ursache war deren Eigenbewegung. Darwin beschrieb einen Mechanismus, unter dem das Lebewesen nicht als tätiges Subjekt gedacht wurde. Die verändernde Kraft, heute Evolution genannt, bleibt heteronom; der Organismus ist Objekt der Evolution. Obgleich diese wissenschaftstheoretisch 48

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Charles Darwin, »Brief an J. D. Hooker, 11. Januar 1844«, in: Frederick Burkhardt (Hg.), Charles Darwin »Nichts ist beständiger als der Wandel« Briefe 1822-1859, Frankfurt a.M./Leipzig 2008, S. 169. (Künftig zitiert: Darwin, Briefe). Alfred Russel Wallace, »Zur Kenntnis der Abschnitte aus Malthus’ ›Prinzipien der Bevölkerung‹, welche Darwin und mir selbst den Gedanken der natürlichen Selektion Eingaben« (1908), zitiert nach Gerhard Heberer (Hg.), Darwin-Wallace. Dokumente zur Begründung der Abstammungslehre vor 100 Jahren 1858/59 - 1958/59, Stuttgart 1959, S. 71. Zur Frage, ob sich hieraus ein Gesetz der Evolution ableiten lasse, vergleiche Kapitel 11.2. Wobei entgegen Darwins Intention in der natürlichen Zuchtwahl zumindest bei vielen Tieren auch das Moment eines aktiven Auswählens von ›fitten‹ Sexualpartnern enthalten ist und ausführlich in Origin of Species beschrieben wird. So fällt Darwins Kritik an Lamarck, jener stelle die Organismen als Subjekte dar, hier auf ihn zurück.

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so gegensätzlich aufgebauten Theorien vom Resultat her nahezu identisch erscheinen, konnte nur Darwins Gedanke dasjenige bieten, was die Biologie auf ihrem Weg zu einer modernen Naturwissenschaft dringend brauchte: Einen Naturmechanismus aufzuzeigen, der die zufällig wirkenden mannigfaltigen Formen des Lebendigen einer zu beschreibenden äußeren Notwendigkeit im System des Naturganzen unterwirft.51 »Man hat vor allem bei den Lebewesen und hauptsächlich bei den Tieren ein Ziel der Tätigkeiten der Natur zu bemerken geglaubt. Aber dieses Ziel ist hier wie anderswo nur Schein, keine Wirklichkeit. Tatsächlich hat in jeder besonderen Organisation dieser Wesen eine Ordnung, die durch die sie herstellenden Ursachen stufenweise geschaffen wurde, durch fortschreitende Entwicklung der Teile, durch die Umstände gelenkt, zu dem geführt, was uns als Ziel erscheint, was aber tatsächlich nichts anderes als eine Notwendigkeit ist.«52 Alles geschähe gemäß den Gesetzen der Natur, die keinem Ziel folgten, sondern lediglich Wirkungen aus Ursachen hervorbrächten. Hiermit trat ein Problem auf, das an dieser Stelle nur kurz angerissen werden soll. Lamarck ging ganz selbstverständlich davon aus, dass die sie umgebende Welt die spezifischen Organisationsformen der Lebewesen nicht kausal verursachen kann – denn aus dem Faktum des Wassers lassen sich weder Flossen noch Kiemen in ihrer bestimmten Organisationsform streng ableiten. Wenn die Organismen sich im Laufe der Zeit verändern, weil sie sich an veränderte Umweltbedingungen anpassen, kann der Schwerpunkt darum nur auf der aktiven Anpassung des Organismus an die neue Umwelt liegen, eine Tätigkeit, die in ihrer Besonderheit nicht hinreichend durch die Umwelt bestimmt werden kann, welche höchstens Auslöser für den Organismus ist, seine Anpassungsaktivitäten zu entfalten. Legte man andersherum den Schwerpunkt nach Lamarck auf die Umwelt, die als Ursache die Anpassung des Organismus an sie bewirkte, wäre der Organismus in diesem Prozess passiv. Allerdings müsste dann jede neue Entwicklung hinreichend durch die veränderten Umweltbedingungen bestimmt sein, was bislang in keiner Weise bewiesen werden konnte, denn eine Vielzahl von organischen Veränderungen sind als Anpassung denkbar und warum sich gerade diese eine hiervon realisiert, ist weder hinreichend durch die Selbstorganisation des Organismus, noch durch die Umwelt zu bestimmen. Sonst wäre eine exakte Vorhersage der Evolution möglich.53 Aus diesem Grund ist ein Moment der Spontaneität zur Erklärung der Mannigfaltigkeit der Entwicklungen sowohl bei Lamarck als auch bei Darwin notwendig anzunehmen, sonst wären die Tiere aus ihrer Umgebung logisch abzuleiten. Diese Spontaneität tritt bei Lamarck offen zutage, am deutlichsten dort, wo der Wille der höheren Säugetiere Einfluss auf die Entwicklung nehmen kann. Bei Darwin, der sich von diesem

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Nur wenn dies gelingt, kann das Organische unter die Einheit der allgemeinen Zweckmäßigkeit der Natur subsumiert werden. Vgl. Kapitel 1.1. Jean-Baptiste de Lamarck, »Einleitung zur Naturgeschichte der wirbellosen Tiere«, in: Emil Ungerer (Hg.), Lamarck-Darwin. Die Entwicklung des Lebens, Stuttgart 1923, S. 36-70, S. 68, zitiert nach: Michael Weingarten, Organismen – Objekte oder Subjekte der Evolution? Darmstadt 1993, S. 145. (Künftig zitiert: Weingarten, Organismen). Vgl. Kapitel 11.7.2.

3. Darwins Evolutionstheorie hebt die Biologie in den Stand einer modernen Naturwissenschaft

›Lamarckschen Unsinn‹ abgrenzt, fällt sie dem Zufall der vererbten Abweichungen zu (heute der Mutation). Was Darwins Theorie in dieser Hinsicht vom Lamarckschen Ansatz unterscheidet (wenn auch erst durch spätere Biologen konsequent durchgeführt), ist folglich das passive, sich quasi mechanisch vollziehende Moment der Entwicklung. Bei Lamarck sind die Individuen aktiv und verändern durch ihre spezifische Aktivität ihre Erbanlagen. In der Deszendenztheorie dagegen wird das Individuum passiv gedacht. Wie die invisible hand den Markt ohne bewusstes Zutun seiner Teilnehmer formiert, so formen Selektion und Mutation (bei Darwin noch nicht so genannt) die Lebewesen im Prozess der Anpassung an ihre Umwelt. Das Individuum ist bloßes Resultat seiner Verhältnisse, nicht deren Ursache. Lamarck wollte noch erklären, was das Leben wesentlich ausmacht. Er war in großen Teilen mehr Metaphysiker als empirischer Naturforscher. Die Entwicklungsmöglichkeiten der Organismen folgen bei ihm aus der Bestimmung des Organismus als lebendig, sind also gleichsam aus dem Begriff des Lebendigen selbst deduziert. Darwin stellte sich dagegen nicht die (metaphysische) Frage, was das Leben sei. Er versuchte dagegen, induktiv aus dem empirisch vorliegenden Material der Organismen bzw. Fossilien auf den wirkenden Mechanismus der Entwicklung und Veränderung zu schließen. Mit dieser Trennung von der klassischen Metaphysik trennt sich die moderne Biologie zugleich von der naturphilosophischen Frage danach, was Leben ist. Doch naturgemäß holt diese Frage die Biologie beständig wieder ein. Darwin jedoch löste die Biologie nicht nur von der vorkritischen Metaphysik, sondern seine Theorie rettete zugleich den eigenständigen Gegenstandsbereich, das Lebendige, das sich über einen spezifischen Mechanismus organisiert, welcher sich im Unbelebten nicht findet.54 Indem die Lebewesen durch den Mechanismus von Anpassung und Selektion ihre heutigen Formen im Laufe der Zeit automatisch erhielten, muss ihnen zum einen keine eigenständige innewohnende Kraft zur gezielten Veränderung zugeschrieben werden und zugleich wurde ein Mechanismus formuliert, der einzig für den Bereich des Lebendigen Gültigkeit hat und so die Biologie spezifisch von anderen Naturwissenschaften abgrenzen kann.

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Mittlerweile wurden in der Naturwissenschaft diverse selbstorganisierende Systeme der unbelebten Natur aufgestellt, was die Eigenständigkeit der Biologie als Wissenschaft erneut in Frage stellt. Vgl. Kapitel 10.

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3.3

Die natürliche Zuchtwahl – induktiver Schluss oder Verirrung zwischen Modell und Original?55

Nach vorherrschender Auffassung gewann Darwin die Evolutionstheorie durch Induktion – also indem er aus zahlreichen beobachteten Phänomenen auf einen zugrunde liegenden allgemeinen Mechanismus der Entwicklung schloss. »Die Art, in der Darwin seine Lehre gefunden und in der er sie begründet und dargestellt hat, ist ein Musterbeispiel echt induktiver Forschung und Beweisführung. Für die Logik der Induktion würde Darwins ›Entstehung der Arten‹ auch dann ein klassisches Werk bleiben, wenn man lediglich seine Form berücksichtigt.«56 Zu Darwins Lebzeiten hatte sich insbesondere in England der pragmatische Empirismus gegen die Naturphilosophie durchgesetzt. Dass die Evolutionstheorie als ein induktiver Schluss von dem mannigfaltigen gesammelten Material auf die Mechanismen der natürlichen Zuchtwahl erscheint, hat vermutlich zur großen Akzeptanz dieser Theorie innerhalb der Naturwissenschaften beigetragen. »Erst vor dem Hintergrund dieser Ablösung der romantischen Naturphilosophie durch die analytisch-experimentelle Wissenschaftsauffassung wird verständlich, warum die Darwinsche Theorie sofort von der überwiegenden Mehrheit der Naturwissenschaftler (nicht unbedingt der Mehrheit der Biologen!) akzeptiert wurde: meinte man doch, daß Darwins Theorie der Evolution ebenfalls induktiv durch Beobachtung gewonnen wurde.«57 Aus der Summe der auf seinen Reisen gesammelten empirischen Fakten (plus Erkenntnissen von anderen Forschern aus der Geologie und verschiedenen Bereichen der Biologie, auf die er sich bezog) soll induktiv die Deszendenztheorie abzuleiten sein, oder sich geradezu selbst als Faktum aufzwingen. Im Gegensatz zu diesen Auffassungen soll im Folgenden der spekulative Gehalt der Deszendenztheorie aufgezeigt werden. 1837 erschien die Geschichte der induktiven Wissenschaften von William Whewells58 , fünfzehn Jahre zuvor veröffentlichte Auguste Comte sein grundlegendes Werk über die Positive Philosophie.59 Beide Werke bieten eine Analyse der naturwissenschaftlichen Methoden und sind hierbei zugleich wegweisend für die Auffassung davon, was eine naturwissenschaftliche Methode ausmacht und wie sie von der Metaphysik abzugrenzen sei. Der englische Materialismus, der sich im 19. Jahrhundert in Abgrenzung zur Naturphilosophie entwickelte, setzte eine mechanistische Auffassung des Organismus durch. Trotz auffälliger Parallelen (man denke an die Darstellung des Organismus als

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Ausschnitte dieses Unterkapitels sind erschienen in: Christine Zunke, »Biologie und Ideologie des homo sapiens. Theorie und Praxis heteronomer Bestimmungsgründe der menschlichen Natur«, in: Ingo Elbe/Sven Elmers u.a. (Hg.), Zeitschrift für kritische Sozialtheorie und Philosophie 2014 Ausgabe 1, Berlin/Boston 2014, S. 4-39. Cassirer, Erkenntnisproblem, S. 185. Weingarten, Organismen, S. 34. William Whewell, History of the Inductive Sciences. From the Earliest to the Present Times, London 1837. Auguste Comte, Plan de traveaux scientifiques nécessaires pour réorganiser la société, Paris 1822.

3. Darwins Evolutionstheorie hebt die Biologie in den Stand einer modernen Naturwissenschaft

Maschine bei La Mettrie60 u.a.), gab es gegenüber dem französischen Materialismus eine wesentliche Differenz: während insbesondere im Frankreich des 18. Jahrhunderts die Vernunft und der Verstand des Menschen mit der Naturwissenschaft als Mittel gegen kirchliche Dogmen und völkischen Aberglauben ins Feld geführt wurden, so wurde im Materialismus (bzw. Realismus, wie seine Vertreter ihn nannten) des 19. Jahrhunderts insbesondere in Deutschland und England die Natur selbst zur bestimmenden Ursache, welcher auch der menschliche Verstand als bloße Wirkung unterläge. Damals verbreitete Sinnsprüche wie »Ohne Phosphor kein Gedanke«, »Gedanken werden aus dem Gehirn wie Urin aus der Niere sezerniert« oder der heute noch geläufigere »Der Mensch ist, was er ißt« können diesen Charakter verdeutlichen. Emanuel Rádl brachte diese Verschiebung auf den Punkt: »Früher vertraute man übermäßig dem Verstande und hegte die Hoffnung, im Verstande die Natur entdecken zu können; jetzt herrscht Verehrung der Natur und der Verstand wird als durch die Natur bedingt dargestellt.«61 In der positivistischen Wissenschaftstradition von Bacon, Locke, Hume, Mill und Spencer versteht Darwin Naturwissenschaft als allein durch Erfahrung gewonnene Theorien zur Abbildung der Realität. Da Rádl ein Schüler der alten Naturphilosophie war, die aus dem Begriff des Lebens seine Funktionen zu deduzieren versuchte, erschien ihm dieses Vorgehen Darwins, der nicht einmal versuchte, an diese Tradition anzuknüpfen und die Evolutionstheorie auf einem Konvolut empirischer Beobachtungen, statt auf Begriffen gründete, als unwissenschaftlich: »Das Ziel der neuen Theorie war, den Naturvorgang beim Entstehen der Arten zu beschreiben (b e s c h r e i b e n nicht b e g r e i f e n!); mit dem Verstande sich so der Natur anzuschmiegen, daß unsere Erzählung zur Wiedergabe desjenigen wird, was in der Natur geschieht. Darwin verlangt das gerade Gegenteil von dem, was seine Vorgänger forderten: anstatt die Mannigfaltigkeit der Natur in allgemeine Begriffe zu fassen, stellte er das Ziel auf, den Verstand in die Einzelheiten der Dinge aufzulösen. Früher hielt man die Vernunft (Ideen, Nooumina [sic]) für die eigentliche, ewige Wahrheit, die Erscheinungen (Phenomena) für ein flüchtiges Abbild der Wirklichkeit; Darwin verfährt gerade umgekehrt: auf die Vernunft und die Begriffe achtet er überhaupt nicht, der Verlauf des Geschehens ist ihm Alles. Alles, was nach einem Begriff, nach einer Abstraktion, nach einer Logik aussieht, wird ferngehalten: Darwin hat keinen Sinn für die Theorien seiner Vorgänger und Zeitgenossen; man wird bei ihm keinen Versuch finden, die Lehre Lamarcks, E. Darwins, die Theorien L. Agassiz’, Köllikers u.a. zu zerlegen oder überhaupt zu begreifen;«62 Dass Darwin den naturphilosophischen Ansatz in wesentlichen Punkten nicht nachvollzogen hatte, wurde oben am Beispiel seiner Kritik an Lamarck gezeigt. Doch Rádl

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Vgl. Julien Offray de La Mettrie, L’Homme-Machine, Paris 1748. Emanuel Rádl, Geschichte der Biologischen Theorien in der Neuzeit, Band II, Hildesheim/New York 1970, S. 191. Emanuel Rádl, Geschichte der Biologischen Theorien in der Neuzeit, Band II, Hildesheim/New York 1970, S. 135.

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übersieht seinerseits, dass Darwin nicht bloß eine akribische Nacherzählung des Lebendigen aufzeichnete, sondern im Gegenteil versuchte, seine empirischen Naturbeobachtungen auf ein allgemeines Gesetz zurückzuführen. Ein Schlüssel hierzu bot die naturhistorische Betrachtung, die von einem Wandel durch Anpassung ausging. Darwin entdeckte nicht die Variabilität innerhalb der Arten, die längst hinreichend bekannt war. Er bewertete sie vielmehr neu, indem er ihre Grenze in Frage stellte. War es möglich, dass alle Merkmale variieren konnten und so Variationen über die Grenze der wesentlichen Eigenschaften einer Art hinaus möglich waren? Konnten ganz neue Arten durch summierte Variationen aus bestehenden Arten entstehen? So wollte er die vielfältigen Organismen, die er auf seinen Reisen sah, nicht nur in ihren Besonderheiten und Eigenschaften beschreiben, sondern die Entwicklung ihrer spezifischen Formen erklären. Über das allgemeine Gesetz der natürlichen Zuchtwahl konnte zu der Naturbeschreibung eine Naturerklärung geliefert werden.63 Was aus dem Blickwinkel der alten Naturphilosophie als eine Abkehr von der Wissenschaft erscheinen musste, erwies sich historisch tatsächlich als dasjenige Theorem, welches der Biologie erstmalig den Rang einer modernen Wissenschaft einbrachte. Allerdings nicht induktiv, sondern durch einen spekulativen Schluss von der Naturbeherrschung in der Agrikultur auf Naturprozesse. Die experimentelle Wissenschaft, insbesondere Naturwissenschaft, begann zur Zeit der Renaissance die bis dahin vorherrschende spekulative, ideell ausgerichtete Wissenschaft abzulösen. Exakte empirische Beschreibungen der Naturgegenstände traten an die Stelle logischer Reflexionen der Begriffe und bildeten den Auftakt für eine neue Naturwissenschaft, die wegen ihrer technisch praktischen Anwendbarkeit mit einer neuen Qualität der Naturbeherrschung einhergingen. England war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das erste Land, in dem die Naturwissenschaften eine stark anwendungsorientierte Ausrichtung erhielten. Im späten 18. Jahrhundert kam es in England zu einer engen Zusammenarbeit zwischen Industriellen und Naturwissenschaftlern, die sich in einer finanziellen Abhängigkeit der Forschungsprojekte64 von der Industrie und einer damit einhergehenden Herausbildung vornehmlich anwendungsorientierter Wissenschaften äußerte. Wissenschaftliche Gesellschaften wurden gegründet und von namhaften Industriellen gefördert.65 In einem Vergleich mit der damaligen Situation der Wissenschaften in Frankreich, wo um die Unabhängigkeit der Academie des sciences gekämpft wurde, schreibt Michael Weingarten:

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Vgl. Kurt Bayertz/Myriam Gerhard/Walter Jaeschke (Hg.), Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert, Band 2, Der Darwinismus-Streit, Hamburg 2007, Einleitung. Dies bedeutet nicht nur, dass die Wissenschaft ihre Vorhaben auf die Bedürfnisse der Industrie zuschneidet, sondern auch, dass viele wegweisende Forschungsprojekte erst möglich wurden, weil sie durch solche Gesellschaften gefördert wurden. Dies ist bis heute Fluch und Segen jedes Drittmittelprojektes in der Wissenschaft. Vgl. Robert E. Schofield, »Die Orientierung der Wissenschaft auf die Industrie in der Lunar Society von Birmingham«, in: Albert E. Musson (Hg.), Wissenschaft, Technik und Wirtschaftswachstum im 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1977, S. 153-164. Der Lunar Society of Birmingham, der bekanntesten dieser Gesellschaften, gehörte auch Erasmus Darwin an, der Großvater von Charles Darwin.

3. Darwins Evolutionstheorie hebt die Biologie in den Stand einer modernen Naturwissenschaft

»Ohne damit unmittelbare kausale Bezüge zwischen Theorienbildung in der Wissenschaft und Anwendungs- oder Praxisbezug der Wissenschaft behaupten zu wollen, können doch wichtige Konsequenzen aus der unterschiedlichen Aufgabenzuweisung der Wissenschaft abgeleitet werden. Eine für die Biologie wichtige Konsequenz ist, daß in Frankreich das ›Natürliche‹ und das ›Künstliche‹, vom Menschen Gemachte oder doch zumindest Modifizierte streng dichotomisch auseinandergehalten werden, während in England die Veränderung natürlicher Verläufe durch den Menschen zum Modell werden konnte auch für Veränderungen in der Natur selbst – ein […] für die Struktur der Darwinschen Theorie ganz wesentlicher Bezug.«66 Weingarten zeigt diesen Bezug in Darwins Theorie an der zentralen Bedeutung der Zuchtwahl auf. Die durch den Menschen angeleitete, künstliche Erzeugung bestimmter ausgeprägter Merkmale bei Haustierrassen durch die Auswahl der Elterntiere über viele Generationen hinweg wird zum Modell für die natürliche Zuchtwahl, also die Selektion aufgrund sich verändernder Umweltbedingungen. Hiermit ist die Evolution entgegen der landläufigen Auffassung nicht induktiv, sondern spekulativ erschlossen. Janich und Weingarten erkennen dies in Darwins Schriften (und unterstellen auch Darwin selbst diese Einsicht): »Darwin weiß, daß sich nicht induktiv aus empirisch gewonnenen Daten auf den Mechanismus der Evolution schlußfolgern läßt; mit solchen Daten liegen immer nur die Produkte bzw. Resultate eines evolutionären Prozesses vor. Der Prozeß selbst, die Art und Weise der Umwandlung aber ist grundsätzlich nicht beobachtbar. Gewonnen werde die Einsicht in die Mittel der Evolution – so Darwins revolutionäre Einsicht – durch eine genaue Analyse der menschlichen Züchtungspraxis; hierin liegt der Beweis des Kerntheorems der Darwinschen Evolutionstheorie, nämlich der Selektionstheorie. Darwin begründet also, entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil, seine Evolutionstheorie nicht durch die Aufzählung von Fakten und Tatsachen, die den naturhistorischen Vorgang der Evolution unmittelbar belegen sollen; die empirischen Fälle, die Darwin immer wieder anführt, und die leider die theoretische und methodische Struktur seiner Theorie verdecken, haben vielmehr eine andere Funktion: Sie sind Beispiele, die einen Schritt in der Argumentation näher erläutern sollen. Aber unabhängig bzw. getrennt vom modelltheoretischen Rahmen können diese empirischen Beispiele den Vorgang der Evolution nicht belegen.«67 Eine methodische Zucht wurde erst ab ca. 1800 in Europa betrieben. Durch die Industrialisierung der Landwirtschaft wurden Haustiere nicht mehr als Allrounder gebraucht, sondern gezielt für einen Zweck innerhalb historisch kurzer Zeiträume zu neuen Rassen gezüchtet. Der Mensch »macht die Wolle eines Schafes für Teppiche, die eines anderen für Tuch passender«68 . Das Studium der Zuchtwahl war grundlegend für Darwins Überlegungen zur ›natürlichen Zuchtwahl‹. 66 67 68

Weingarten, Organismen, S. 26. Peter Janich/Michael Weingarten, Wissenschaftstheorie der Biologie, München 1999, S. 241 f. Charles Darwin, »Brief an Prof. Asa Gray, 5. September 1857«, zitiert nach Gerhard Heberer (Hg.), Darwin-Wallace. Dokumente zur Begründung der Abstammungslehre vor 100 Jahren 1858/59 - 1958/59, Stuttgart 1959, S. 15.

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3.3.1

Modell und Original – ein Verwirrspiel

Die ›künstliche Zuchtwahl‹ – ein Pleonasmus, der erst in Abgrenzung zum Oxymoron der ›natürlichen Zuchtwahl‹ seinen rhetorischen Sinn entfaltet – war eines der größten Forschungsfelder von Darwin, vermutlich seine größte Materialsammlung. Nicht nur die ersten Kapitel der Entstehung der Arten behandeln ausführlichst die künstliche Zuchtauswahl, sondern auch das acht Jahre später erschienene Werk Das Variieren der Tiere und Pflanzen im Zustand der Domestikation69 , welches Weingarten als Darwins Versuch eines umfassenden empirischen Beweises seiner Evolutionstheorie bewertet. Dass dieses Modell der künstlichen Zuchtwahl nur begrenzt für die Theorie einer natürlichen Zuchtwahl tauglich ist, zeigt sich vor allem darin, dass es keine empirische Widerlegung der Theorie der Artkonstanz zu liefern vermag. Denn wie variantenreich auch immer die Zuchtergebnisse sein mögen, so ist doch die Züchtung einer neuen Art bislang nicht erfolgt. Ein explizites Verständnis der künstlichen Zucht als bloßes Modell für natürliche Selektionsprozesse findet sich in der Geschichte der Evolutionstheorie jedoch kaum. Dies ist nicht nur ein Versäumnis der Biologie, sondern ein häufiges Problem der modernen Naturwissenschaft, welcher die Differenz zwischen Modell und Original als unwesentlich gilt; eine Differenz sei immer bloßes Zeichen des Mangels des Modells, das ideale Modell wäre mit dem Original identisch. »Es ist mithin der Unterschied zwischen dem Original und dem Modell innerhalb der analytischen Methode deshalb unwesentlich, weil Original wie Modell gleichermaßen als Auswahlsysteme desselben theoretisch fixierten Grundbereichs fungieren; das Original ist nichts weiter als das zeitlich zuerst bestimmte Modell«70 . Weingarten kommentiert hierzu in Bezug auf das Verhältnis von künstlicher und natürlicher Zuchtwahl: »Wenn nun so der Unterschied zwischen Modell und Original als unwesentlich beiseite gelegt wird, aufgehoben wird, dann können auch die […] Grenzen der Erklärungskraft des Modells ›künstliche Zuchtwahl‹ für das Original nicht mehr wahrgenommen werden. Es scheint daher überflüssig zu sein, überhaupt noch das Verhältnis von künstlicher und natürlicher Zuchtwahl zu bestimmen; denn das Modell erscheint nun als eigentlich nichts wesentlich anderes als das Original selbst, ist entweder ein besonderer Anwendungsfall des Originals oder ein analoger Fall.«71 Mit diesem Ineinandergleiten von Original und Modell geht das verloren, was ein Analogon ist, nämlich wesentlich Verschiedenes mit einer Gemeinsamkeit; es bedeutet gerade nicht Identität und verweist nicht zwingend auf denselben wirkenden Mechanismus oder dasselbe Prinzip. Doch über die Vergleichbarkeit von künstlicher und natürlicher Zucht-

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Charles Darwin, The Variation of Animals and Plants under Domestication, London 1868. Peter Ruben, »Der Entwicklungsgedanke im klassischen bürgerlichen Materialismus«, in: Manfred Buhr u.a. (Hg.), Theoretische Quellen des wissenschaftlichen Sozialismus, Frankfurt a.M. 1975, S. 242268, S. 248. Weingarten, Organismen, S. 54.

3. Darwins Evolutionstheorie hebt die Biologie in den Stand einer modernen Naturwissenschaft

wahl unterstellt Darwin ein identisches Prinzip, womit das eine kein bloßes Modell für das andere darstelle, sondern tatsächlich dasselbe wäre – nur in einem Bereich, der den identischen wirksamen Mechanismus deutlicher sichtbar mache und sich so zur Erläuterung des beiden gemeinsamen Prinzips eigne, als sei die künstliche Zuchtwahl lediglich der isolierte Experimentalraum, in dem die Mechanismen der natürlichen Zuchtwahl untersucht würden. So ergibt sich die Schwierigkeit, Modell und Original in Bezug auf die Zuchtwahl auseinanderzuhalten. Ohne das Modell eines ganz besonderen Artefakts, der künstlichen Zuchtwahl, das in Darwins Theoriebildung zentral ist,72 hätte er nicht spekulativ auf ein Analogon in der sogenannten ›natürlichen Zuchtwahl‹ schließen können. Begrifflich ist die natürliche Zuchtwahl ein Widerspruch, denn die Natur ist gerade kein Subjekt, das nach Kriterien Zuchtpaare auswählen könnte, und Evolution darum keine ›Züchtung‹ von an ihre Lebensräume angepassten Arten. Und ohne ein Wissenschaftsverständnis, das von einer bloßen Analogie auf identische Mechanismen glaubt schließen zu dürfen, wäre dieser Grundpfeiler der Darwinschen Theorie längst als nicht tragfähig identifiziert worden.73 Gerade weil sich der Anpassungsprozess in der Natur nicht empirisch beobachten lässt, ist der Rückgriff auf die gezielten Veränderungen von Organismen in der Zucht das zentrale Modell für den natürlichen Anpassungsprozess. Anpassung wird so zu einem Züchtungsprozess ohne Züchter. »Die Analogie mit dem Züchter ist also, methodisch genau genommen, eine teleologische Antizipation: der Naturzüchtungsprozess geht genau so vor sich, ›als ob‹ eine Vernunft in ihm nach dem Zweck der Erhaltung des Lebens die Auslese betriebe. Die Aufgabe ist nun, anstelle dieses ›als ob‹ die tatsächlich wirkenden Ursachen der Auslese zu setzen«74 . Über das Modell der Zucht soll ein der Natur immanenter Regulationsmechanismus gefunden werden, der dasjenige, was an neuen Mutationen auftaucht, durch Selektion automatisch bewertet, indem das weniger angepasste durch die Konkurrenz im Wettbewerb um Nahrung und Fortpflanzungspartner sich aussortiert. Die künstliche Zuchtwahl fungiert bei Darwin so als Modell für die natürliche Selektion; letztere sei das Original, eben weil sie den Naturprozess ohne menschlichen Eingriff darstellt. Die natürliche Selektion stellt darum das Original dar, weil Darwin sich ihre Mechanismen analog zur künstlichen Zuchtwahl denkt, die ihm darum zum bloßen Modell werden kann. Wenn, nach Ruben, »das Original […] nichts weiter als das zeitlich zuerst bestimmte Modell« ist, dann ist jedoch die künstliche Zuchtwahl das Original, zu dem in der natürlichen Selektion ein analoges Modell gefunden wird. 72 73

74

Vgl. Charles Darwin, Das Variieren der Tiere und Pflanzen im Zustand der Domestikation (1868), Stuttgart 1906, oder auch weite Passagen in der Entstehung der Arten, insbesondere das Erste Kapitel. Eine Folge hiervon ist beispielsweise die erschreckend schwache Position der Biologie beim Streit mit den Kreationisten um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Makroevolution. Vgl. Kapitel 4.7. Nicolai Hartmann, »Philosophische Grundfragen der Biologie«, in: Nicolai Hartmann, Kleinere Schriften Bd. III, Berlin 1958, S. 78-185, S. 160. (Künftig zitiert: Hartmann, Philosophische Grundfragen).

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92

Dialektik des Lebendigen

Die Annahme, es sei gleichgültig, was Modell und was Original sei, ist irrig, denn sie unterstellt eine Identität anstelle einer bloßen Analogie – ernst genommen, müsste ein beliebiges Atommodell dann nicht nur die (oder eine mögliche) Art des inneren Aufbaus eines Atoms anschaulich machen, sondern es müsste auch die gleichen Eigenschaften haben etc., was es als Modell völlig untauglich machen würde, da Atome schon aufgrund ihrer Größe die Eigenschaft besitzen, von uns nicht sinnlich angeschaut werden zu können – und darum brauchen wir Modelle. Normalerweise ist diese Differenz zwischen Modell und Original uns bewusst. Bei natürlicher und künstlicher Zuchtwahl scheint es jedoch nicht so einfach zu sein, Modell und Original auseinanderzuhalten. Das Original ist zunächst die gezielte Züchtung von Tieren durch Menschen. Evolutionsprozesse werden in Analogie hierzu modellhaft vorgestellt. Sie werden vorgestellt als immer schon stattfindend, und werden so in der spekulativen Retrospektion der Naturgeschichte selbst zum Original, zum zeitlich ersten, das der Mensch dann in seiner Züchtung nachbildet (und schon vor Darwin unbewusst nachgebildet hat). In der Tat heißt es oft genug, die Züchtung würde ›die Methoden der Evolution anwenden‹, was das in Analogie gewonnene Resultat so vollständig von seiner Genese abtrennt, dass es umkehrbar wird: Züchtung erscheint als Modell der Evolution, dem Original, das jedoch nur über die wirkliche Tätigkeit der Züchtung (das ›historische Original‹) theoretisch gewonnen werden konnte. Das Verhältnis Modell-Original enthält hier schon den Fehler, implizit anzunehmen, das Modell sei ein Abbild eines Originals. Tatsächlich bestimmt sich das Verhältnis von Modell und Gegenstand in der Naturwissenschaft anders, als bei Artefakten (z.B. Modell-Original in der Architektur, Kunst, Ingenieurswissenschaft etc.). In der Naturwissenschaft ist das Modell insofern für den Gegenstand konstitutiv, als es ihn erst systematisch – nach einem Mechanismus, Prinzip oder mathematisch – bestimmbar macht. Es bestimmt den Gegenstand zumindest so weit, wie das Modell ihn fasst. Die Naturwissenschaft hat es in diesem Sinne gar nicht mit einem ›Original‹ zu tun, sondern immer mit Modellen. Nur am Modell lassen sich Gesetze entwickeln und aufzeigen, weil in ihm die Zusammenhänge gedacht und isoliert dargestellt werden können, die in der bloßen Wahrnehmung der Welt nicht unmittelbar gegeben sind. Der Gegenstand lässt sich nur über das Modell bestimmen – er muss gedacht werden als für sich bestimmt, aber bestimmen lässt er sich nur über ein Modell; dieses muss tauglich sein, ihn zu bestimmen, d.h. es muss die Bestimmtheit des Gegenstandes treffen. (Sonst ist es ein Modell ohne Gegenstand, also von nichts.) Hierin liegt zugleich die Grenze des Modells. Die künstliche Zuchtwahl kann als Modell der Evolution dienen. Genau gesprochen ist die Evolutionstheorie das Modell für die Evolution (Gegenstand), das anhand der künstlichen Zuchtwahl, der empirischen Grundlage des Modells, entwickelt wurde. Das Modell Evolutionstheorie besteht im Wesentlichen darin, sich die Zucht ohne Züchter zu denken. Hierüber bleibt die künstliche Zuchtwahl immer negativ integraler Bestandteil des Modells, weshalb Darwin auch so auffallend oft auf sie verweist. (Wer The Origin Of Species gelesen hat, weiß gründlich über die englische Tauben- und Schafzucht im 19. Jhd. Bescheid!) Die Evolutionstheorie, sich Zucht ohne bewussten Züchter zu denken, sondern als nach bloßen Mechanismen der Natur die Zuchtauswahl treffend, bestimmt nun den Gegenstand Evolution. Evolution ist also der Gegenstand eines Modells und augenschein-

3. Darwins Evolutionstheorie hebt die Biologie in den Stand einer modernen Naturwissenschaft

lich trifft er etwas in der Natur, ist also tauglich, Phänomene der empirischen Wahrnehmung konsistent theoretisch zu verknüpfen. Viele Erscheinungen der belebten Natur lassen sich sinnvoll unter diese Theorie subsumieren. Die Theorie der Evolution macht also einen Gegenstand bestimmbar und trifft hinreichend seine Bestimmtheit, basiert jedoch auf einem begrifflichen Widerspruch: Evolution ist Zucht ohne Züchter. Die Ursache dieses Widerspruchs zeigt sich in der Gewinnung des Modells. Die künstliche Zuchtwahl ist eine bewusste Tätigkeit von denkenden Subjekten, die ein Ziel verfolgen; die Produkte dieses gezielten Handelns sind besondere – weil lebendige – Artefakte. (Bereits im 17. Jahrhundert zählte La Chesnée Monstereul die Tulpen zu den artificialia statt zu den naturalia, weil in der Tulpenzucht der menschliche Einfluss ebenso ausschlaggebend für das Resultat ist, wie die natürlichen Eigenschaften und Anlagen.75 In neuerer Zeit belegte Karafyllis lebendige Produkte mit dem schönen Begriff ›Biofakte‹.76 ) Das Modell der natürlichen Zuchtwahl fasst also einen durch ein Subjekt gelenkten Prozess unter Absehung des Subjekts, bleibt aber immer negativ auf dieses bezogen. Nur unter der Bedingung dieser Widersprüchlichkeit kann die Evolutionstheorie aufgestellt werden. Wenn diese Widersprüchlichkeit zur Bestimmung der Evolution notwendig ist, dann ist dies ein (weiterer) Hinweis dafür, dass die moderne Biologie in eine Dialektik führt.77

3.4

Konkurrenz und invisible hand »Sonst aber traf Darwins Theorie in England auf keine besonderen Schwierigkeiten; das Denken war dort seit langem an die induktive und nationalökonomische Methode Darwins gewöhnt«78 .

Indem der Gegenstandwechsel von der durch Menschen angeleiteten Zucht – mit einem durch den Züchter festgelegten Ziel und Plan – zur natürlichen Zuchtwahl durch Auslese der bestangepassten zufälligen Variationen im Kampf um Nahrung und Fortpflanzungspartner – ohne Subjekt, Ziel und Plan – unterschlagen wird, scheint der Schluss auf die natürliche Zuchtwahl ein induktiver zu sein. Tatsächlich ist es jedoch ein Analogieschluss, der durch die stetige Vertauschung von Modellfunktion und Original jedoch nicht als solcher augenfällig wird. Der Schluss von den Darwin-Finken auf ihre gemeinsamen Vorfahren kann jedoch nicht induktiv sein. Tatsächlich macht erst

75

76 77 78

Vgl. La Chesnée Monstreul, Le Floriste Francois, Traittant de l’origine des Tulipes, Caen 1654. Vgl. Anne Goldgar, Tulipmania. Money, Honor, and Knowlegde in the Dutch Golden Age, Chicago/London 2007, S. 117. Vgl. Nicole Karafyllis (Hg.), Biofakte: Versuch über den Menschen zwischen Artefakt und Lebewesen, Paderborn 2003. Vgl. Kapitel 1.3.3. Emanuel Rádl, Geschichte der Biologischen Theorien in der Neuzeit, Band II, Hildesheim/New York 1970, S. 157.

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Dialektik des Lebendigen

der vorausgesetzte Gedanke an einen gemeinsamen Ursprung dieser Finken den Schluss auf eine naturhistorisch wirkende Ursache möglich, durch welche ihre phänotypischen Gemeinsamkeiten sowie ihre spezifischen Abweichungen insbesondere in der Schnabelform erklärlich werden. Das zugrundeliegende Prinzip der natürlichen Zuchtwahl ist tatsächlich einer ganz anderen Sphäre als der belebten Natur entnommen und musste für die Einordnung des empirischen Materials unter die Theorie bereits vorausgesetzt werden. Es entstammt der bürgerlichen Ökonomie, was sich an Begriffen wie Konkurrenz oder Arbeitsteilung, die heute noch in der Biologie Verwendung finden, gut aufzeigen lässt. Darwins Theorie ist keine Theorie, die in sich geschlossen aus Gesetzen deduziert werden kann, wie etwa Newtons Gravitationstheorie, sondern sie zeigt lediglich einen empirischen Zusammenhang auf und unterstellt das Prinzip der Nützlichkeit als regulierenden Faktor. Innerhalb von drei Jahren verwandelte sich die anfängliche Skepsis und Ablehnung der Evolutionstheorie in breite Zustimmung. Die Biologen erkannten das Potential der Theorie, die ihrer Wissenschaft eine allgemeine Grundlage verschaffen konnte. Auch der Bezug auf das populäre Werk zur Bevölkerungsentwicklung von Malthus erleichterte die wissenschaftliche Akzeptanz der Evolutionstheorie.

3.4.1

Malthus

Dass sowohl Darwin als auch Wallace das Prinzip der Evolutionstheorie durch eine Analogisierung des natürlichen Auslesemechanismus mit dem von Malthus formulierten Gesetz zur Bevölkerungsregulation79 gewannen, ist hinreichend bekannt und dokumentiert. Sowohl Darwin als auch Wallace hatten Chambers und Malthus gelesen.80 In der Entstehung der Arten wird dieser Bezug deutlich benannt: »Da also mehr Individuen erzeugt werden, als möglicherweise fortbestehen können, so muß in jedem Falle ein Kampf um die Existenz eintreten, entweder zwischen den Individuen einer Art, oder zwischen denen verschiedener Arten, oder zwischen ihnen und den äußeren Lebensbedingungen. Es ist die Lehre von Malthus, angewendet auf das gesamte Tier- und Pflanzenreich«81 . In einem Brief an Haeckel schrieb Darwin später über die Entwicklung seiner Theorie: »Als ich dann durch einen glücklichen Zufall das Buch von Malthus ›über die Bevölkerung‹ las, tauchte der Gedanke der natürlichen Züchtung in mir auf.«82 Und gegenüber Wallace, der denselben Bezug in seiner Theorie herstellte, bestätigte er: »Sie haben recht: Zu dem Schluß, daß die Selektion das Prinzip des Wandels ist, bin ich durch das Studium domestizierter Züchtungen gelangt; und bei der Lektüre von Malthus erkannte ich auf der Stelle die Wirkung dieses Prinzips. Geographische Verbreitung und die geologischen Verbindungen ausgestorbener Bewohner Südamerikas 79 80 81 82

Vgl. Thomas Malthus, An Essay on the Principle of Population, London 1798. Vgl. Robert Chambers, Vestiges of the natural history of creation, London 1844. Charles Darwin, Die Entstehung der Arten, Leipzig 1909, S. 40. Charles Darwin, »Brief an Haeckel vom 8.10.1864«, in: E. Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte, Berlin 1898, S. 119 f, zitiert nach: Cassirer, Erkenntnisproblem, S. 186.

3. Darwins Evolutionstheorie hebt die Biologie in den Stand einer modernen Naturwissenschaft

mit den rezenten hatten mich auf diesen Gegenstand gebracht. Insbesondere der Fall der Galapagos-Inseln.«83 Schon vorher hatte Darwin über gemeinsame Stammformen nachgedacht und war mit dem Problem der Erklärung der für ihn offenkundigen Angepasstheit jeder Form an ihre Lebensumstände gedanklich beschäftigt gewesen; er hatte schon herausgearbeitet, dass bei Haustieren der Züchter aktiv spezifische Anpassungen zu bestimmten Zwecken herbeiführen kann. Aber die Möglichkeit, wie ein solcher Prozess ohne gezielten menschlichen Eingriff erfolgen sollte, war ihm bis zur Lektüre von Malthus’ Schrift, so schreibt er Haeckel, ein Rätsel geblieben. »Den Anstoß für die Vorstellung von der natürlichen Auslese erhielt er [Darwin] durch einen Aufsatz von Thomas Robert Malthus (1766 bis 1834) ›Das Bevölkerungsgesetz‹ (1798): ›Man kann daher ruhig sagen, daß sich die Bevölkerung, wenn sie nicht gehindert wird, alle 25 Jahre verdoppelt oder in geometrischer Proportion zunimmt.‹ Darwin erkannte die Bedeutung der Konkurrenz zwischen Individuen derselben Art. In der Natur findet eine Überproduktion von Lebewesen statt, wobei mehr Individuen entstehen als es die Begrenztheit der natürlichen Ressourcen zulässt. In der Konkurrenz der Überbevölkerung, also im Kampf ums Dasein (›struggle for life‹), können nur diejenigen Varianten überleben, die den Umweltbedingungen am besten angepaßt sind.«84 Was ist nun der neue und für die Biologie fruchtbar zu machende Gedanke, der sich bei Malthus findet? Überlegungen dazu, dass bei der Fortpflanzung mehr juvenile Exemplare einer Art entstehen, als es später fortpflanzungsfähige adulte Individuen gibt, finden sich schon in Naturabhandlungen aus der Antike. Bis ins 18. Jahrhundert hinein wurde die Bedeutung verschiedener Fortpflanzungsraten mehrheitlich in der Funktion gesehen, die die Exemplare einer Art für eine andere Art erfüllten. Wenn also die ›natürliche Aufgabe‹ der Kaninchen darin besteht, Nahrung für Füchse und andere Raubtiere zu sein, dann müssen sie eine höhere Reproduktionsrate haben als ihre Räuber etc. Umgekehrt wurde es als ›natürliche Aufgabe‹ der Raubtiere angesehen, die Populationen von sich schnell vermehrenden Arten zu begrenzen (insbesondere, wenn es sich um landwirtschaftliche Schädlinge handelte). Es fehlte also nicht an Erklärungen eines Mechanismus zur natürlichen Populationsbegrenzung. Aber das zu Grunde liegende Prinzip ging von einer natürlichen Harmonie und Ordnung der Natur aus, die durch einen Akt göttlicher Weisheit und Schöpfung gesetzt war. Die Arten als Ganzes erfüllten ihre Funktion in dieser intelligiblen Naturordnung; die spezifischen Eigenschaften einzelner Exemplare wurden als akzidentelle vernachlässigt und ihnen kam in Bezug auf die Gesamtfunktion keinerlei Bedeutung zu. Darwins Bezug auf Malthus eröffnete die Einführung eines neuen Prinzips: »Darwin erkannte die Bedeutung der Konkurrenz zwischen Individuen derselben Art.«85 Hiermit rückte erstmalig das Individuum in den Fokus der Betrachtung; durch kleine, individuelle Abweichungen innerhalb der

83 84 85

Charles Darwin, »Brief an R. A. Wallace, 6. April 1859«, in: Darwin, Briefe, S. 355. Rainer Stripf, Evolution – Geschichte einer Idee, Stuttgart 1989, S. 74 f. Ebd.

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Dialektik des Lebendigen

Art kann die Chance, sich fortzupflanzen, vergrößert oder vermindert werden. Es war also insbesondere das von Thomas R. Malthus vertretene Prinzip des struggle for life, nicht ganz glücklich zu übersetzen mit dem Kampf ums Dasein,86 das zentralen Eingang in die Evolutionstheorie fand. Hierüber wurde dann ein Ordnungsprinzip denkbar, das ohne intelligible Planung oder Weisheit sich im Prozess der Entwicklung der Arten selbst herstellte.87

3.4.2

Die Bedeutung der Konkurrenz

Der Schluss Darwins vom Bevölkerungsgesetz auf das Gesetz der Evolution ist offenbar nicht bloß aus dem Verhältnis von Fortpflanzungsrate und Nahrungsangebot abgeleitet, sondern er enthält mit dem Begriff der Konkurrenz zwischen den Individuen einer Art ein wesentlich neues Moment. Nach den alten Vorstellungen der Harmonie der Schöpfung hatte ein junges Kaninchen seine Aufgabe erfüllt, wenn es anderen als Nahrung diente. Nach der neuen Interpretation des Evolutionsmechanismus ist ein Tier, das gefressen wird, bevor es sich fortpflanzt, in der Konkurrenz gescheitert. Das Scheitern eines Großteils der Organismen im Kampf ums Dasein wird so vorgestellt als eine notwendige Existenzbedingung des ganzen ökologischen Gefüges – sowohl anderer Arten als auch ihrer eigenen. Durch Erfolg und Scheitern der Einzelnen bilde sich so – ganz analog zur Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft – die Gesamtstruktur der organischen Welt. »[D]a jedes Tier in seiner individuellen Existenz auf sich selbst angewiesen ist, so müssen die, welche sterben, die schwächsten sein […], während die, deren Dasein länger dauert, nur die an Gesundheit und Kraft vollkommensten sein können. Es ist, wie wir eingangs vermerkten, ein ›Kampf ums Dasein‹, in dem die schwächsten und am wenigsten vollkommen organisierten stets unterliegen müssen.«88 Hier spricht recht unverhohlen die Erfahrung der ungezügelten Konkurrenz des jungen Kapitalismus. Jedes freie Rechtssubjekt ist angehalten, sich um sich selbst kümmern zu müssen, um sich in der Konkurrenz des Marktes behaupten zu können. Wie die bürgerlichen Subjekte in der Gesellschaft, so sind auch die Organismen einander formal gleich86

87

88

Die Übersetzung von Darwins Origin of Species ins Deutsche durch Heinrich Georg Bronn 1860 etablierte den Ausdruck ›Kampf ums Dasein‹ im deutschen Sprachraum. (Vgl. Sander Gliboff, H. G. Bronn, Ernst Haeckel, and the Origins of German Darwinism: A Study in Translation and Transformation, Massachusetts Institute of Technology 2008). Durch den insbesondere durch Ernst Haeckels Interpretation der Darwinschen Lehre verbreiteten Sozialdarwinismus bekam diese Übersetzung einen nationalsozialistischen Beigeschmack. Heute ist der Terminus ›suvival of the fittest‹ am gebräuchlichsten. Der inhaltliche Bezug auf das systematische Konkurrenzverhältnis bürgerlicher Subjekte bleibt in beiden Übersetzungen klar bestehen. Dieser ›struggle for life‹ findet sich der Sache nach, zumindest rückblickend, schon bei Autoren des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts: »Der ältere De Candolle, W. Herbert und Lyell haben vortrefflich über den Kampf ums Dasein geschrieben;« Charles Darwin, »Brief an Prof. Gray«, in: Darwin, Briefe, S. 16. Alfred Russel Wallace, »Über die Tendenz der Varietäten, unbegrenzt von dem Originaltypus abzuweichen« (1858), zitiert nach Gerhard Heberer (Hg.), Darwin-Wallace. Dokumente zur Begründung der Abstammungslehre vor 100 Jahren 1858/59-1958/59, Stuttgart 1959, S. 28.

3. Darwins Evolutionstheorie hebt die Biologie in den Stand einer modernen Naturwissenschaft

gestellt gegenüber ihrer Umwelt. Nur durch diesen Wechsel der Perspektive, die Aufgabe der Organismen nicht außerhalb von ihnen, nicht in einer Harmonie des Naturganzen oder der Lebenswelt, sondern bloß individuell in ihnen selbst, ihrem eigenen Überleben, zu sehen, konnten Malthus Überlegungen zur Bevölkerung fruchtbar werden, um den Mechanismus zu erkennen, nach welchem sich Arten im Laufe der Zeit verändern.89 Dies wäre in vorbürgerlichen Zeiten eine schwer zu denkende Theorie gewesen – ohne die bürgerliche Ideologie und Wahrheit, dass ›jeder seines Glückes Schmied‹ sei, hat der Mechanismus der Evolution kein Analogon, nach welchem er spekulativ zu denken gewesen wäre. Wie sollte, wenn unter feudalen Verhältnissen die Bestimmung des Lebensweges mit der Geburt weitestgehend feststeht und die gesellschaftliche Stellung der Menschen kaum von ihrem individuellen Tun und ihren Eigenschaften abhängt, die Idee entstehen, dass diese bloß zufälligen individuellen Eigenheiten einen derart großen Einfluss auf die gesamte Entwicklung von Flora und Fauna hätten? Erst mit einer neuen Gesellschaftsordnung, die ihre Bürger formal gleichstellt, entwickelt sich mit einer neuen ökonomischen Struktur eine neue Bedeutung des Individuums. Diese neue Ökonomie, deren Gesetze u.a. von Thomas Malthus, David Ricardo90 und Adam Smith91 untersucht wurden, beschreibt die Konkurrenz als Prinzip einer selbstregulierenden Ordnung.92 Der Markt wird Smith zufolge in einer Weise geregelt, ›als ob die klügsten Köpfe es geplant‹ hätten – nur, dass es einen solchen Plan nie gab. Die Konkurrenz zwischen den Unternehmen selbst bildet Mechanismen aus, die dafür sorgen, dass ökonomisch ineffiziente Unternehmen vom Markt verschwinden und die besten gefördert werden, ohne dass dies eines staatlichen Eingriffs bedürfte oder überhaupt bewusst geplant sei. Da Organismen im Unterschied zum Nichtorganischen auf Stoffwechsel angewiesen sind und so (mehr oder minder) beständig um ihren Selbsterhalt ringen, konnte dieselbe Form der Entstehung von sinnvoller, sich reproduzierender und erhaltender Ordnung, welche die Ökonomen beschrieben, ohne ein planendes Subjekt vorauszusetzen auch für die belebte Natur gedacht werden. Es war also die Formulierung eines ordnungsstiftenden Mechanismus, der ohne bewusst eingreifendes Subjekt aus einem immanenten, blind wirkenden Prinzip heraus wirksam ist, der für die Biologie so überaus fruchtbar wurde. Smith hat diesen Mechanismus für die Ökonomie als ›invisible hand‹ beschrieben: »[W]enn jeder einzelne soviel wie nur möglich danach trachtet, sein Kapital […] einzusetzen […], dann bemüht sich auch jeder einzelne ganz zwangsläufig, dass das Volkseinkommen im Jahr so groß wie möglich werden wird. Tatsächlich fördert er in der Regel nicht bewusst das Allgemeinwohl […]. Wenn er es vorzieht, die nationale Wirtschaft anstatt die ausländische zu unterstützen, denkt er eigentlich nur an die eigene Sicherheit […] und strebt lediglich nach eigenem Gewinn. Und er wird in diesem wie 89 90 91 92

So kann Dawkins später über das ›egoistische Gen‹ schreiben. Richard Dawkins, The Selfish Gene, Oxford 1976. David Ricardo, On the Principles of Political Economy and Taxation, London 1817. Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, London 1776. Vgl. auch Ulrich van Suntum: Die Unsichtbare Hand: Ökonomisches Denken Gestern Und Heute, Ausgabe 3, Berlin/Heidelberg 2005.

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Dialektik des Lebendigen

auch in anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat.«93 Einen übergeordneten Zweck zu erfüllen, der in keiner Weise geplant oder beabsichtigt war – auf ein Prinzip, das dies erklären kann, hat die Biologie spätestens seit der Aufklärung dringend gewartet. Hierüber kann die zweckmäßige Form des Organismus ohne zwecksetzendes Subjekt, also ohne Schöpfungsakt, gedacht werden. Wie die meisten seiner gebildeten Zeitgenossen war Darwin mit den neuen ökonomischen Theorien von Smith und Ricardo vertraut. In einem Brief an seine Verlobte erwähnt er, dass er mit Lyell auch ökonomische Theorien diskutiert habe. »Wir sprachen viel über Geologie und Ökonomie – welch letzteres sehr ergiebig war.«94 Ergiebig war die Diskussion der neuen ökonomischen Theorien, da so der Prozess der Artentwicklung über eine Analogisierung zur Regulation des Marktes und zur Theorie der Bevölkerungsentwicklung als ein nach selbstständigen Mechanismen sich vollziehender gedacht werden konnte. Die gesellschaftliche und ökonomische Basis, auf der die Evolutionstheorie formuliert wurde, ist seither unabtrennbarer Bestandteil der modernen Biologie.95 So kommt der Gould zu dem Schluss: »Charles Darwin kam zur Theorie der natürlichen Selektion (Zuchtwahl) mehr durch die Frage, wie er das ökonomische Laisser-Faire-Prinzip von Adam Smith auf die Natur übertragen könnte, als durch die Beobachtung der Schildkröten auf den Galapagos-Inseln.«96

3.4.3

Sparsam, arbeitsteilig, effizient

Mit dem Bezug auf den ökonomischen Mechanismus der invisible hand als selbstorganisierendes Prinzip wurden auch weitere ökonomische Kategorien unreflektiert auf die Biologie übertragen. Aspekte wie Nützlichkeit, Sparsamkeit und Produktivitätssteige-

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Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen, München 1978, S. 371 f. Das Zitat steht im Kapitel über Außenhandelspolitik. Insgesamt ist der Terminus der invisible hand bei Smith jedoch nicht zentral. (Vgl. Birger P. Priddat/Wolfram Elsner »Über die Metapher der Invisible Hand, Eine Diskussion«, in: Bremer Diskussionspapiere zur Institutionellen Ökonomie und Sozialökonomie, Nr. 17, Bremen 1997.) Er findet sich durch sein Werk nur an drei Stellen, und das auch noch in unterschiedlichen Zusammenhängen. Doch in der Rezeptionsgeschichte wurde vielfach auf die invisible hand als eine pointierte Metapher zurückgegriffen: Die durch ökonomische Mechanismen hervorgebrachte Ordnung erscheint so durchdacht, so zielgerichtet auf die Optimierung der Wirtschaft hin orientiert, als ob eine ›Hand‹ sie bewusst aufgebaut hätte; doch gibt es eine solche bewusst planende Hand nicht – sie bleibt unsichtbar. Charles Darwin, »Brief an Emma Wedgwood, 27. November 1838« in: Darwin, Briefe, S. 148. Da die Evolution eine Naturgeschichte teleologischer Strukturen erzählt, finden sich in ihr dieselben wechselnden Ideologeme und Prinzipien wieder, mit welchen auch die Geschichtswissenschaften arbeiten und hadern. Abhängigkeits- und Herrschaftsformen, ökonomischer und moralischer Fortschritt etc. bilden die analog zu Gesellschaften geformten Strukturen, über welche die Entwicklungen des Lebendigen erklärt und begründet werden. Stephen Jay Gould, »Der Vergangenheit auf der Spur – Original und Fälschung«, in: Ders. (Hg.), Das Buch des Lebens, Köln 1993, S. 6-21, S. 7.

3. Darwins Evolutionstheorie hebt die Biologie in den Stand einer modernen Naturwissenschaft

rung durch Arbeitsteilung97 gewannen für die biologische Betrachtung zunehmend an Relevanz.98 Bereits der französische Anatom und Physiologe Henri Milne-Edwards99 zeigt diesen Bezug zur bürgerlichen Ökonomie. Er erklärte die Gesetze, nach denen Organismen sich entwickeln und ausbilden, noch metaphysisch über eine wirkende Ursache, die zu dem menschlichen Verstand analog zu denken sei. Interessant ist seine Theorie in diesem Kontext deshalb, weil auch hier schon – wenngleich er einen völlig anderen Ansatz als Darwin verfolgt – die ökonomischen Sachzwänge, die sich aus den Mechanismen der kapitalistischen Ökonomie ergeben, analog auf die Gesetze der Organentwicklung projiziert werden. Die Mannigfaltigkeit der Formen wird bei ihm beschränkt durch Sparsamkeit, ebenso wie die Größe, die die vollkommeneren Tiere auszeichnet, mit einer Sparsamkeit einhergehen müsse und hieran ihr Maß habe, so dass die mögliche Anzahl und Größe der Lebewesen hierdurch beschränkt sei. Den Grad der Vervollkommnung bestimmt er über die im Organismus realisierte Arbeitsteilung. Während die Amöben noch alle Funktionen wie Verdauung, Bewegung und Fortpflanzung mit ihrem ganzen Körper ausführen, so haben vollkommenere Wesen wie beispielsweise der Mensch für jede dieser Verrichtungen ein eigenes Organ ausgebildet. Die Natur ist bei ihm handelnd, aktiv und dabei ökonomisch und wirtschaftlich orientiert. Mit dem ökologischen Umweltbewusstsein in den 1980er Jahren kam der Gedanke wieder auf, dass durch die Selektion der Bestangepassten die energiesparendsten und effizientesten Modelle sich automatisch durchsetzten – in der Technik wie im Tierreich. So heißt es bei Bear: »Das Megatherium, ein ungeheures Faultier von der Größe eines Nashorns, zeigt eine solche Verschwendung an Knochenmasse, daß bei der jetzigen Sparsamkeit der Natur fast drei Elefantenskelette daraus gebildet werden könnten.«100 Glich der Stand der Evolution im Pleistozän noch einer Party des Sonnenkönigs, so hat sie sich heute zum calvinistischen Geschäftsmann gemausert. Auch bei Riedel ist der selbstorganisierte Ordnungsvorgang durch Anpassung sachlich wie sprachlich noch sehr deutlich an ökonomische Regelungsmechanismen angeschlossen. So gibt es ›Produktionsbedingungen‹, die durch interne Selektion auf die Struktur des Organismus wirken und diese optimieren und möglichst energieeffizient gestalten. Die durch Darwin beschriebenen externen Selektionsmechanismen haben laut Riedel die Funktion,

Vgl. Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, London 1776. Dies gilt nicht nur für die Biologie, sondern auch für sozialphilosophische und moralphilosophische Theorien jener Zeit. Beispielsweise war J. S. Mill nicht nur Moralphilosoph, sondern auch Ökonom; er stellte die Theorien von Smith, Malthus und Ricardo in seinen Prinzipien der politischen Ökonomie systematisch dar. Mit diesem ökonomischen Bezug rückte Mill in seiner utilitaristischen Moralphilosophie die Nützlichkeit für die Allgemeinheit ins Zentrum seiner praktischen Philosophie. 99 Henri Milne-Edwards, Das Verfahren der Natur bei Gestaltung des Tierreichs, Stuttgart 1853, Original: Introduction à la zoologie générale, Paris 1851. 100 Karl Ernst von Baer, »Über den Zweck in den Vorgängen der Natur« (1876), in: Karl Ernst von Baer, Entwicklung und Zielstrebigkeit in der Natur, Stuttgart 1983, S. 48. (Künftig zitiert als: Baer, Zielstrebigkeit). 97 98

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Dialektik des Lebendigen

die ›Marktbeziehungen‹ zu regeln, indem die durch Mutation ›angebotenen‹ Variationen bezüglich des Grades ihrer Anpassung ›bewertet‹ werden.101 Jede organische Spezialisierung wird im Zuge dieses Wandels der biologischen Theorie als ein Fortschritt der Produktivkraft angesehen. Bei Wallace heißt es: »Sie [die Theorie dieses Prinzips der natürlichen Selektion und Variation] versieht uns auch mit einem Grunde für die ›spezialisiertere Struktur‹, die Professor Owen als charakteristisch für neue Formen, verglichen mit ausgestorbenen, ansieht und die augenscheinlich das Resultat der fortschreitenden Modifikation eines jeden Organes, das einem speziellen Zwecke in der tierischen Ökonomie dient, sein würde.«102 Arbeitsteilig wie in einer Fabrik funktioniert der Organismus als aus Subjekten zusammengesetztes Gesamtsubjekt, dessen oberstes Management im Gehirn sitzt, bei Uexküll. Er arbeitet mit dem Bild, »daß jede lebende Zelle ein Maschinist ist, der merkt und wirkt […]. Das vielfältige Merken und Wirken des ganzen Tiersubjektes ist somit auf das Zusammenarbeiten kleiner Zellmaschinisten zurückzuführen […]. Um ein geordnetes Zusammenarbeiten zu ermöglichen, bedient sich der Organismus der Gehirnzellen (auch diese sind elementare Maschinisten)«103 . Gemäß den Tugenden der Leistungsgesellschaft bestehe die gelungene Anpassung, also die ›Vollkommenheit‹ eines jeden Lebewesens, laut Uexküll in der »richtige[n] und lückenlose[n] Ausnutzung aller vorhandenen Mittel«104 . Die ökonomischen Analogien und Metaphern sind aus der Biologie nicht mehr wegzudenken, weil ihre zentrale Theorie selbst auf einem Prinzip basiert, das der kapitalistischen Ökonomie entstammt.105

Vgl. Rupert Riedl, Evolution und Erkenntnis, München 1984, S. 150 ff. Alfred Russel Wallace, Über die Tendenz der Varietäten, unbegrenzt von dem Originaltypus abzuweichen (1858), zitiert nach Gerhard Heberer (Hg.), Darwin-Wallace. Dokumente zur Begründung der Abstammungslehre vor 100 Jahren 1858/59-1958/59, Stuttgart 1959, S. 34. 103 Jakob v. Uexküll/Georg Kriszat, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, Reinbeck bei Hamburg 1956, S. 25 f. 104 Jakob v. Uexküll, Theoretische Biologie, Frankfurt a.M. 1973, S. 204. 105 So hat das spekulative Prinzip des Fortschritts der Entwicklung durch Konkurrenz auch Eingang in viele Teilbereiche der Biologie gefunden. Schon Roux übertrug es beispielsweise auf die ontogenetische Entwicklung: Wie in der Evolution »der Kampf des Ganzen zum Uebrigbleiben des Besten führte, so kann er es wohl auch unter den Theilen gethan haben und noch thun, wenn die Gelegenheit zu einer derartigen Wechselwirkung der Theile im Innern gegeben ist. Kann der Staat nicht bestehen, wenn die Staatsbürger allenthalben untereinander wetteifern und bloß die Tüchtigsten zu allgemeinerem Einfluß auf das Geschehen gelangen?« (Wilhelm Roux, Der Kampf der Theile im Organismus, Leipzig 1881, S. 65.) Hier wird wie selbstverständlich der in der bürgerlichen Gesellschaft wirkende Mechanismus der allgemeinen Konkurrenz freier und (formal) gleicher Staatsbürger als Analogon genommen, um zu plausibilisieren, dass eine Konkurrenz zwischen den Organen in der Embryogenese das beste Mittel sei, um anschließend einen optimal funktionierenden Organismus zu erhalten. Die Selbstorganisation und -regulation funktioniere beim Organismus wie beim Staat über das Prinzip der Konkurrenz, dem ›Kampf ums Dasein‹.

101 102

3. Darwins Evolutionstheorie hebt die Biologie in den Stand einer modernen Naturwissenschaft

3.4.4

Rückwendung des Prinzips der Evolution auf die Gesellschaft

Entsprechend wenig überrascht es, dass sich schon in Darwins Hauptwerk, der Entstehung der Arten von 1859, deutliche Analogien zu den gesellschaftlichen Verhältnissen seiner Zeit im beschriebenen Tierreich finden. Dies ist auch Karl Marx aufgefallen. Er schrieb an Engels, er fände es »merkwürdig […], wie Darwin unter Bestien und Pflanzen seine englische Gesellschaft mit ihrer Teilung der Arbeit, Konkurrenz, Aufschluß neuer Märkte, ›Erfindungen‹ und Malthusschem ›Kampf ums Dasein‹ wiedererkennt«106 . Diese Merkwürdigkeit lässt sich heute dadurch erklären, dass Darwin zuerst umgekehrt ökonomische und bevölkerungspolitische Phänomene in der Tier- und Pflanzenwelt ›wiedererkannte‹. Smiths invisible hand gab der Biologie zuerst den spekulativen Begriff an die Hand, mit dem auch das Lebendige durch die Mechanismen von Mutation und Selektion unter dem permanenten Druck der Konkurrenz als sich evolutionär entwickelnd gedacht werden konnte. Unter den Mechanismen von Selektion und Mutation wird Erfolg in der Konkurrenz zum einzigen Kriterium, das die Richtung der evolutionären Entwicklung angibt. Diese gelungene Projektion von gesellschaftlichen Verhältnissen auf Natur wird sich schon kurz darauf umkehren zur Projektion von evolutionären Naturmechanismen auf den Menschen und seine Gesellschaftsordnung, erst im Evolutionismus und Sozialdarwinismus, später dann im Biologismus der Soziobiologie, wie sie bis heute z.B. von Eckard Voland107 vertreten wird. Es sind insbesondere die gelungenen Projektionen, die auch später noch auf die Verbindung zwischen Ökonomie und Biologie verweisen: »Doch hat Darwin, wie wir gesehen haben, Malthus, und damit auch den klassischen Ökonomen, viel zu verdanken, deren Weisheit letzter Schluß es immer war, daß unbeschränkter Wettbewerb das beste und billigste Produkt hervorbringe. Darwins Hypothese ist vergleichbar mit einer einfachen und billigen Maschine, die einen bisher unlösbar komplizierten Vorgang mit wenigen Arbeitsvorgängen zu schaffen vermag. Sie ist eine Art perpetuum mobile, denn der Existenzkampf ist immer und ewig, ewig wie die Endlosigkeit der Variationsmöglichkeiten der Gattungen; liberale Politiker konnten sogar den ewigen Fortschritt folgern«108 . Im unmittelbaren Anschluss an Darwins Theorie (und an Lamarck) entwickelte bereits Herbert Spencer109 1860 eine an den Mechanismen der Evolution ausgerichtete Sozialtheorie. Da das Prinzip der Evolution in Analogie zu strukturbildenden Mechanismen der Gesellschaft gewonnen wurde, war auch die Rückprojektion dieses Naturmechanismus auf die Gesellschaft leicht möglich. Die Gesellschaft wird hierüber gleich zweifach ideologisch zu einem Naturding erklärt – zunächst, weil ökonomische Prozesse unreflektiert als Analogon zur Erklärung von Evolutionsprozessen herangezogen werden können; dies verstärkt sich dann im Resultat, wo umgekehrt gesellschaftliche Prozesse als

106 107 108 109

Karl Marx: »Brief an Friedrich Engels vom 18. Juni 1862«, in: MEW Bd. 30, Berlin 1974, S. 249. Vgl. Eckard Voland, Die Natur des Menschen: Grundkurs Soziobiologie, München 2007. Hannsjoachim W. Koch, Der Sozialdarwinismus, München 1973, S. 53 f. Herbert Spencer, The Social Organism, London 1860.

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natürliche Produkte der Evolutionsbewegung erklärt werden. Buchtitel wie »Die Gesellschaftsordnung und ihre natürlichen Grundlagen« von Otto Ammon (1900) sind beispielhaft und finden sich sinngemäß bis heute. Dort heißt es: »So sehen wir die Gesellschaft nicht als ein starres Gegebenes, sondern als eine Stufe der Entwicklung vor uns, die hauptsächlich durch Naturgesetze der Fortpflanzung, der Vererbung, der Ungleichheit der Anlagen […] usw. bedingt wird«110 . Statt einer göttlichen Ordnung wird in der Gesellschaft nun eine natürliche Ordnung angenommen. Da die Evolutionstheorie durch die Aufnahme von ökonomischen Prinzipien in die Biologie begründet wurde, die in der kapitalistischen Marktwirtschaft ungeplant, wie »hinter dem Rücken der Produzenten« 111 wirken, passt sie in der Rückprojektion wie angegossen auf die zur zweiten Natur entfremdete bürgerliche Gesellschaft.112

3.4.5

Evolution im ökonomischen Systemvergleich

Wenn die Evolutionstheorie in so engem Zusammenhang zu der sich bildenden kapitalistischen Ökonomie und ihren selbstregulierenden Mechanismen steht, müsste sich im Systemvergleich mit nicht-kapitalistischen Staaten auch eine andere Biologie entwickelt haben. Tatsächlich zeigt sich, dass Darwins Theorie in Ländern mit anders organisierter Ökonomie auch anders rezipiert wurde. Weingarten schreibt über die Bedeutung von Darwins Evolutionstheorie im russischen Zarenreich und der frühen Sowjetunion: »Dort hatte der bedeutende Biologe Kliment Arkadjewitsch Timirjasew schon seit 1864 versucht, die Theorie Darwins sowohl seinen Fachkollegen als auch einem breiten interessierten Publikum bekannt zu machen. In der Art der Darstellung der biologischen Evolutionstheorie findet sich ein erheblicher Unterschied zur Diskussion in Westeuropa: der ›Kampf‹ ums Dasein, das ›Überleben der Fittesten‹, insgesamt die Anlehnung an Malthus findet hier viel weniger Beachtung, ja man kann sogar sagen, daß von Timirjasew u.a. ein Darwinismus ohne Malthusianismus konzipiert wurde.«113 Dafür wurde in der Sowjetunion nicht der Begriff der Konkurrenz, sondern der Begriff der Arbeit bestimmend für die Zweckgerichtetheit der Organismen. Während Oparin die Arbeit nur als äußere Analogie zum Leben begreift, sehen spätere Biologen des Realsozialismus die Arbeit als das bestimmende Moment des Organischen an. Indem der Prozess der Aufrechterhaltung der Zweckförmigkeit als Arbeitsleistung des Organismus aufgefasst wird, wird der Arbeitsbegriff von jeder Form 110 111 112

113

Otto Ammon, Die Gesellschaftsordnung und ihre natürlichen Grundlagen, Jena 1900, S. 3. Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, Berlin 1977, S. 59. Vgl. Christine Zunke, »Natur als Herrschaftsmythos«, in: Ebke/Edinger/Müller/Yos (Hg.), Internationales Jahrbuch für Philosophische Anthropologie/International Yearbook for Philosophical Anthropology, Band 6: Mensch und Gesellschaft zwischen Natur und Geschichte. Zum Verhältnis von Philosophischer Anthropologie und Kritischer Theorie, Berlin 2017, S. 117-132. Weingarten, Organismen, S. 163.

3. Darwins Evolutionstheorie hebt die Biologie in den Stand einer modernen Naturwissenschaft

intelligibler Zwecksetzung befreit und ist somit kein spezifisches Vermögen denkender Wesen, sondern weist umgekehrt gesellschaftliche Arbeitsteilung als überindividuellen Stoffwechsel aus. Der Biologismus funktionierte also in Ost und West wesentlich identisch: Über den Systemkonflikt hinaus wird die Gesellschaftsordnung in der Rückprojektion ihrer eigenen, für die Biologie fruchtbar gemachten Mechanismen, als eine natürliche, biologische Ordnung interpretiert. Die Differenz zwischen Tier und Mensch wird hierdurch allenfalls noch graduell bestimmbar, Begriffe wie Autonomie und Freiheit werden gegenstandslos. Die ökonomische Basis, die im Ostblock zur Analogie der Naturentwicklung herangezogen wurde, war jedoch von der in kapitalistischen Ländern verschieden. Dies zeigt sich nicht nur bei Timirjasew und Oparin, sondern auch an der späteren biologischen Theorie Erwin Bauers. Dass Organismen entgegen der Entropie als Systeme im thermodynamischen Ungleichgewicht zur Umwelt bestehen und sich so als Einheiten von ihr abgrenzen, ist bei Bauer ein Widerspruch von innerer und äußerer Arbeit und so Ausdruck der den Organismen eigenen Naturdialektik. Die innere Arbeit umfasst hierbei alle Stoffwechselvorgänge, die räumlich im Organismus sich abspielen (und die sämtlich auf die Erhaltung der Gesamtstruktur gerichtet sind), die äußere Arbeit alle Bewegungen, die die Rohstoffe für die innere Arbeit liefern und andere, äußere Bedingungen zur Strukturerhaltung leisten. So gehören Jagen, Fressen, Höhlenbau etc. zur äußeren, Verdauen und Wachsen zur inneren Arbeit. Der angeblich dialektische Widerspruch bestehe nun darin, dass z.B. das Raubtier jagen muss, um neue Energie zu bekommen, die Jagd selbst aber auch wiederum Energie verbraucht: »Da äußere Arbeit nur auf Kosten der Strukturenergie der lebenden Materie stattfinden kann, so muß jede äußere Arbeit mit einer teilweisen oder vollständigen Vernichtung dieser Struktur einhergehen. Da aber nach dem Bewegungsgesetz der lebenden Materie die gesamte Strukturenergie sowie die gesamte aufgenommene Energie zur Erhaltung und Herstellung dieser Strukturenergie, also zur inneren Arbeit transformiert wird, so wird somit das Ergebnis dieser inneren Arbeit durch die äußere Arbeit vernichtet.«114 Dieser Widerspruch entfalte eine Dynamik, welche der marxistisch-leninistischen Theorie über ökonomische Entwicklungen zu folgen scheint: Wenn sich das Verhältnis der beiden Pole innerer und äußerer Arbeit hin zur Seite der inneren Arbeit verschiebt – also im Organismus das Analogon zum gesellschaftlichen Mehrprodukt hergestellt wird – so kann sich die Struktur des Organismus nicht bloß auf dem aktuellen Stand erhalten, sondern es ist eine Strukturneubildung möglich – das Analogon zur Produktivkraftsteigerung. Andersherum könne es für Organismen sinnvoll sein, über einen kurzen Zeitraum viel Energie auf Kosten der Strukturerhaltung in die äußere Arbeit zu stecken, um nicht zu verhungern, sondern neue Nahrungsquellen zu erschließen, etwa durch Wanderungen von Herden in Dürreperioden – was einer Steigerung der Produktion durch Verzicht auf einen Teil der Reproduktion entspräche. Und nach 114

Erwin Bauer, »Der Gegensatz der ›äußeren‹ und ›inneren‹ Arbeit in den lebenden Systemen«, in: Timirjasoff-Institut (Hg.), Probleme der theoretischen Biologie, Moskau/Leningrad 1935, S. 347-367, S. 347 f.

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diesen Mechanismen gehe auch die Evolution vor sich: Durch die Veränderung des Verhältnisses von innerer zu äußerer Arbeit können sich Organismen im Laufe der Zeit organisch und im Verhalten verändern und weiterentwickeln – ganz ohne Begriffe wie Kampf ums Dasein oder die Annahme von auf Konkurrenz gründenden Selektionsmechanismen. Nicht das einzelne Individuum in Konkurrenz zu anderen Exemplaren, sondern der Organismus als ›Produktionseinheit‹ und seine Reorganisation bei verändertem Bedarf oder Ressourcen ist hier das – ebenso plausible – Analogon der evolutionären Entwicklung. Die Gemeinsamkeit des Bezugs auf ökonomische Theorien erwies sich im Realsozialismus wie im Kapitalismus als gleichermaßen fruchtbar für die moderne Biologie, denn hier werden jeweils Mechanismen beschrieben, nach denen eine Ordnung der Gesellschaft über ein Prinzip sich herstellt. Dieses Ordnungsprinzip mit seinen eigenen Gesetzen und Regelungsmechanismen kann auf die belebte Welt übertragen werden. Es ist aber in jedem Falle – über den politischen Systemkonflikt hinweg – ein im Kern teleologisches Prinzip, das eine Entwicklung in Hinsicht auf einen (immanenten) Zweck (z.B. der Überlebensfähigkeit) beschreibt. Der Begriff der Arbeit enthält schon das Telos der zielgerichteten Tätigkeit, wie mit dem Begriff der Konkurrenz schon Erfolg und Misserfolg im Wettbewerb normativ voneinander unterschieden sind. Ein solches teleologisches Prinzip kann weder empirisch angeschaut noch aus den der Kausalität folgenden Naturgesetzen abgeleitet werden. Da ein Telos kein empirisches Faktum, sondern ein Reflexionsbegriff ist, ist es notwendig auf eine intelligible Sphäre verwiesen. Diese bietet in der modernen Biologie nicht länger das infinitum ens, Gott, sondern ein von Menschen und ihren Zwecken geschaffener, aber weitgehend ihrem unmittelbaren Zugriff entzogener Gegenstandsbereich: Die Ökonomie mit ihren Gesetzen und Regelmechanismen, die nicht eigens geplant und vom Parlament verabschiedet wurden, sondern sich in der Praxis des Marktgeschehens und dessen Verwaltung selbsttätig herausgebildet haben und von der Volkswirtschaft retrospektiv erkannt und formuliert wurden. Der Weg der Erkenntnis dieser ökonomischen Gesetze ähnelt dabei den Entdeckungen der Naturwissenschaft, wie auch der Umgang mit ihnen an die Versuche der technischen Anwendbarkeit von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen erinnert. Naturbeherrschung und Marktlenkung weisen starke Parallelen in ihrem Gelingen und Scheitern auf.115 Indem dieses teleologische Prinzip der ökonomischen (Selbst-)Regulation also als naturhaft erscheint, erscheint auch die in Analogie gewonnene Evolutionstheorie als bruchlos mit der modernen naturwissenschaftlichen Methode kompatibel und ist dabei bezogen auf ihren Gegenstand zugleich so erfolgreich, weil sie den teleologischen Grundgedanken nicht aufgeben muss, die Biologie also nicht auf die Mechanismen und Gesetze der unbelebten Natur zu reduzieren braucht. Der Zeitkern der Evolutionstheorie ist darum die beginnende Industrialisierung, mit der eine neue Qualität der Naturbeherrschung, ein Wandel in den empirischen Naturwissenschaften, neue ökono-

115

Vgl. Christine Zunke, »Biologie und Ideologie des Homo sapiens. Theorie und Praxis heteronomer Bestimmungsgründe der menschlichen Natur« in: Zeitschrift für kritische Sozialtheorie und Philosophie, Band 1, Heft 1, Ingo Elbe/Sven Elmers u.a. (Hg.), Berlin/Boston 2014, S. 4-39.

3. Darwins Evolutionstheorie hebt die Biologie in den Stand einer modernen Naturwissenschaft

mische und soziale Theorien und auch ein neues Selbstverständnis der Menschen als Individuen in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft einhergingen.

3.5

Die Wandlung des Evolutionsbegriffs – von der Heilslehre zur Evolutionstheorie

Der Terminus Evolution wurde erst nachträglich zur Beschreibung des historischen Hervorgehens der Arten auseinander angewandt. In Lamarcks Schriften sowie denen anderer Biologen vor Darwin taucht er nicht auf und auch in der ersten Auflage des Origin of Species (1859) sucht man ihn vergeblich.116 Der Evolutionsbegriff wurde ursprünglich in der Philosophie nicht mit der Naturentwicklung, sondern mit der geschichtlichen Entwicklung verknüpft. Im deutschen Idealismus bei Herder oder Kant war Evolution der progressive Gegenbegriff zur Revolution. Die geschichtliche Evolution bezeichnete »die allmähliche Entwicklung neuer politischer Verhältnisse aus der vorgegebenen Grundlage, die einem gewaltsamen Umsturz in einem mit Gewalt eingeführten, intellektuell entworfenen, neuen politischen und sozialen Programm entgegengehalten wird.«117 Die Evolution enthält hier explizit den geschichtsteleologischen Gedanken der stetigen Verbesserung im historischen Prozess, die eine von Menschen hervorgebrachte und durch sie gesteuerte ist. Ein langsames Fortschreiten zum Besseren durch Reformen erwartete z.B. Kant von seinem aufgeklärten Monarchen; zwar war er zutiefst angetan von den Zielen der Französischen Revolution, aber ebenso abgeschreckt von der chaotischen und gewalttätigen Form ihrer Umsetzung. So hoffte er, »daß der Staat sich von Zeit zu Zeit selbst reformiere und, statt Revolution Evolution versuchend, zum Besseren beständig fortschreite.«118 Die Zielstrebigkeit der Evolution als Bewegung der beständigen, allmählichen Verbesserung zu einem optimalen Ziel hin braucht notwendig ein Subjekt. Bei Kant ist dies der Mensch, der als Freiheits- und Vernunftwesen seinen eigenen historischen Prozess geschichtlich erzeugt. In einer heilsgeschichtlichen Wendung umfasste Evolution in der christlichen Theologie bei Franz von Baader die Naturgeschichte mit; das lenkende Subjekt sei der christliche Gott. Bei Baader erscheint der Evolutionsbegriff als Gedanke einer Entwicklung mit Zielstrebigkeit, mit Anfang und Ende, die eng an die christliche Tradition geknüpft ist.119 Das antike Denken fasste historische Entwicklungs- wie auch Lebensprozesse als zyklisch auf, als Ausdruck einer einzigen unendlichen Kreisbewegung. Im Gegensatz dazu enthält der christliche Glaube die lineare Vorstellung anfänglicher Schöpfung und eines abschließenden jüngsten Tages, zwischen denen eine – wenn auch uns unbegreifliche – Entwicklung als Verwirklichung eines göttlichen Planes im Weltganzen

116 117 118 119

Vgl. Ernst Mayr, Artbegriff und Evolution, Hamburg/Berlin 1967. Ernst Benz, »Theologie der Evolution im 19. Jahrhundert«, in: Gunter Mann (Hg.), Biologismus im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1973, S. 43-72, S. 43. Immanuel Kant, Streit der Fakultäten, Akademie-Textausgabe Band VII, Berlin 1968, S. 93. Vgl. Franz von Baader, Texte zur Naturphilosophie (1792-1808), Ausgewählte Werke Bd. 1, Paderborn 2021.

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liege. Die Biologie der Evolutionstheorie hätte mit solchen Vorstellungen konsequent brechen können, tat es jedoch oft nicht. »Wir hegen häufig die Vorstellung, daß Darwin und die Evolution die größte Wasserscheide darstellen, die in der Biologie alles geändert hat. Aber viele Standpunkte haben diese größte aller Barrieren unbeschadet überquert und tauchen unversehrt auf der anderen Seite wieder auf – in eine evolutionäre Erläuterung gewandet, aber im Grunde genommen unverändert. Die Vorstellung vom ›Aufstieg zum Menschen‹ ragt als prominenteste hervor aus diesen unveränderten, aber schmerzlich fehlerhaften Gewißheiten. Die Paläontologen vor Darwin schrieben dieses Muster der aufsteigenden Schöpfung Gottes zu; die Evolutionisten nach Darwin erzählten dieselbe Geschichte, nur bei ihnen trat die natürliche Zuchtwahl an die Stelle Gottes.«120 Dass die alten, traditionellen Vorstellungen lediglich mit einem neuen Erklärungsprinzip verbunden werden, finden wir zunächst in Darwins Schriften. Der Schlussabsatz der Entstehung der Arten macht dies exemplarisch deutlich: »Und da die natürliche Zuchtwahl nur durch und für das Gute eines jeden Wesens wirkt, so wird jede fernere körperliche und geistige Ausstattung desselben seine Vervollkommnung zu fördern streben. Es ist anziehend, eine dicht bewachsene Uferstrecke zu betrachten, bedeckt mit blühenden Pflanzen vielerlei Art, mit singenden Vögeln in den Büschen, mit schwärmenden Insekten in der Luft, mit kriechenden Würmern im feuchten Boden, und sich dabei zu überlegen, daß alle diese künstlich gebauten Lebensformen, so abweichend unter sich und in einer so komplizierten Weise voneinander abhängig, durch Gesetze hervorgebracht sind, welche noch fort und fort um uns wirken. Diese Gesetze, im weitesten Sinne genommen, heißen: Wachstum und Fortpflanzung; Vererbung, fast in der Fortpflanzung mit inbegriffen; Variabilität infolge der indirekten und direkten Wirkungen äußerer Lebensbedingungen und des Gebrauchs oder Nichtgebrauchs; rasche Vermehrung in einem zum Kampf ums Dasein und infolgedessen zu natürlicher Zuchtwahl führenden Grade, welch letztere wiederum die Divergenz des Charakters und das Erlöschen minder vervollkommneter Formen bedingt. So geht aus dem Kampfe der Natur, aus Hunger und Tod unmittelbar die Lösung des höchsten Problems hervor, das wir zu fassen vermögen: die Erzeugung immer höherer und vollkommenerer Tiere. Es ist wahrhaftig eine großartige Ansicht, daß der Schöpfer den Keim alles Lebens, das uns umgibt, nur wenigen oder nur einer einzigen Form eingehaucht hat, und daß, während unser Planet den strengsten Gesetzen der Schwerkraft folgend sich im Kreise geschwungen, aus so einfachem Anfange sich eine endlose Reihe der schönsten und wundervollsten Formen entwickelt hat und noch immer entwickelt.«121 Was hier an Hoffnungen in die Natur projiziert wird, ist eine Mischung aus christlicher Tradition und liberalem Fortschrittsglauben. Im Evolutionsverständnis von Darwin und

120 121

Stephen Jay Gould, »Der Vergangenheit auf der Spur – Original und Fälschung«, in: Stephen Jay Gould (Hg.), Buch des Lebens, Köln 1993, S. 6-21, S. 21. Charles Darwin, Die Entstehung der Arten, Leipzig 1909, S. 297.

3. Darwins Evolutionstheorie hebt die Biologie in den Stand einer modernen Naturwissenschaft

vieler Biologen nach ihm finden sich diverse Vorstellungen von Naturfinalität, der steten Höherentwicklung und steigenden Komplexität der Organismen oder einer biologischen Entwicklung des Menschen hin zum (moralisch/intellektuell) Besseren. Hierbei vermischt sich die christlich tradierte heilsgeschichtliche Bedeutung mit einem liberalen Fortschrittsglauben daran, dass die Leitung des Marktes durch die invisible hand zum nationalen und Fleiß zum persönlichen Erfolg führen wird. So zeitigte die (An-)Wendung von Darwins Evolutionstheorie auf den Menschen zwei gegenläufige Folgen: Erstens seine Degradierung zum »Affen«, also die Leugnung einer qualitativen Differenz zwischen Vernunftwesen und anderen Tieren und der Verlust der Sonderstellung des Menschen im Tierreich. So nachhaltig, wie Kopernikus den christlichen Geozentrismus, habe Darwin den Anthropozentrismus zerstört.122 Auch wenn er die Abstammung des Menschen vom Affen nicht explizit beschrieben hat und auch nicht beschreiben wollte, so folgt sie doch konsequent aus seinen Darlegungen der Entwicklungsmechanismen. In einem Brief an Lyell schreibt Darwin: »Würden Sie mir raten, Murray zu sagen, mein Buch sei nicht unorthodoxer, als der Gegenstand es unvermeidlich mache? Daß ich den Ursprung des Menschen nicht erläutere. Daß ich keine Auseinandersetzung mit der Schöpfungsgeschichte hineinbringe etc etc. und nur die Fakten darlege und die Schlüsse daraus ziehe, welche mir angemessen erscheinen.«123 Darwin war sich der gesellschaftspolitischen Brisanz dieser Schlüsse also sehr bewusst. Zweitens gab die Evolutionstheorie jedoch Anlass zu einem unerschütterlichen Optimismus, der Mensch – heute schon als relativ junge Art besonders hoch entwickelt – werde sich in Zukunft weiter zum biologisch Besseren hin entwickeln, eventuell sogar aus eigener Kraft durch Einsicht in die Evolutionsprinzipien.124 An diesen zweiten Punkt knüpft sich dann der ursprünglich heilsgeschichtliche Gehalt des Entwicklungsbegriffs; aktuelle körperliche und insbesondere auch moralische Mängel der Art Homo sapiens können als Übergangsstadien begriffen werden, die sich in Zukunft perfektionieren und vervollkommnen werden.125 Auch hier fehlt es an der Reflexion auf die Vernunft, welche den Menschen zum moralischen Subjekt, zum Ziel und Gegenstand der Würde macht.126 Denn wie Ernst Tugendhat in seiner Kritik an Peter Sloterdijks Regeln

122

Wenn der Mensch als Produkt der Evolution seinen besonderen Status unter den Organismen verloren haben sollte, so liegt dies jedoch nicht an Darwin, sondern an mangelnder Reflexion, denn indem der Mensch sich als mit anderen Lebewesen verwandt erkennt, ist zugleich seine Besonderheit als Vernunftwesen (voraus-)gesetzt. 123 Charles Darwin, »Brief an Charles Lyell, 28. März 1859« in: Darwin, Briefe, S. 351. 124 Präimplantationsdiagnostik oder Human Enhancement gelten trotz ihres unreflektierten Leistungsmaßstabs und den damit einhergehenden impliziten Diskriminierungen zynischer Weise zurecht noch als harmlose Varianten, angesichts realer und phantasierter Vernichtungsselektionen geborener Menschen zur Artoptimierung. 125 Die Nationalsozialisten haben hier entsprechende Gedanken aus dem 19. Jh. aufgenommen, in welchem der soziale Biologismus in Literatur und (Populär-)Wissenschaft emporstieg. 126 Vgl. Christine Zunke, Das Subjekt der Würde, Köln 2004.

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für den Menschenpark127 darlegt, gehört Moral nicht dem Bereich der Natur an und kann daher auch nicht Ergebnis genetischer Züchtung sein.128 Zur Rezeption der Darwinschen Evolutionstheorie gehörte von Anfang an ihr Weiterdenken in Richtung sozialdarwinistischer Rassenhygiene. So sagte schon Ludwig Büchner in seinen Sechs Vorlesungen über die Darwinsche Theorie ganz unverblümt, dass die natürliche Zuchtwahl in der Hand des Menschen alle Organismen verbessern werde und dass im Zuge eines solchen bewussten Prozesses nur die höchste menschliche Rasse übrig bleiben werde. Dieses Ziel entschädigt ihm zufolge für die Maßnahmen, die seine Erreichung fordere – dieser Hinweis macht schon sehr deutlich, dass Büchner antizipierte, dass es sich um blutige Maßnahmen handeln werde.129 In einer zunehmend biologisch ausgerichteten Anthropologie wurde der Fortschrittsglaube unter Einbeziehung des Evolutionsgedankens scheinbar naturwissenschaftlich begründbar. Bei Darwin äußert sich dies noch vorsichtig als Hoffnung: »Es ist verständlich, wenn der Mensch gewissermaßen stolz darauf ist, daß er, obgleich nicht durch eigene Anstrengung, die höchste Sprosse der organischen Stufenleiter erklommen hat; die Tatsache, daß er bis dahin gelangte, anstatt von Anfang an dahin gestellt worden zu sein, gibt ihm die Hoffnung, daß er in ferner Zukunft noch höher gelangen werde.«130 Doch in einer Zeit, in der die Naturwissenschaft zunehmend in den Dienst der Naturbeherrschung gestellt wurde, war die Vorstellung der technischen Anwendbarkeit des Wissens um die Mechanismen der organischen Entwicklung von Anfang an mit Darwins Theorie verknüpft. Bei Darwin finden sich allerdings auch genügend Textstellen, an denen er darauf Wert legt, dass das ›höher‹ in Höherentwicklung keine Wertung enthalten soll. Doch ebenso finden sich genügend Belege für eine Wertung hin zu einer immer vollkommeneren Form in der Entwicklung. Auch Wallace ging nicht von einem beständigen Fortschritt von niedriger Organisation zu höherer aus, sondern von einer Theorie der Veränderung, so dass es sowohl Varietäten hin zu mehr Organisiertheit als auch zu geringerer Komplexität gäbe, wobei beides jeweils Anpassung/Vervollkommnung sei und Fort- und Rückschritt daher nicht eindeutig voneinander zu trennen wären.131 Dieser Deutung der Ungerichtetheit der Evolution hat sich die Biologie heute weitgehend angeschlossen. »Diese Evolutionstheorie kennt auch keine Zielstrebigkeit; jeder Form von Teleologie ist die Basis entzogen. Absichtslos, wie ›unbekümmert‹, entwickelt sich das organische Weltgeschehen. Rein zufällig erscheinen die Variationen und Mutationen

Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt a.M. 2008. 128 Vgl. Ernst Tugendhat, »Es gibt keine Gene für die Moral«, in: DIE ZEIT, 23.09.1999, Hamburg. 129 Vgl. Ludwig Büchner, Sechs Vorlesungen über die Darwinsche Theorie, Leipzig 1868, S. 253 ff. 130 Charles Darwin, Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, Leipzig um 1900, S. 441. 131 Vgl. Alfred Russel Wallace, Über die Tendenz der Varietäten, unbegrenzt von dem Originaltypus abzuweichen (1858), zitiert nach Gerhard Heberer (Hg.), Darwin-Wallace. Dokumente zur Begründung der Abstammungslehre vor 100 Jahren 1858/59-1958/59, Stuttgart 1959, S. 45. 127

3. Darwins Evolutionstheorie hebt die Biologie in den Stand einer modernen Naturwissenschaft

an der Art. Jeder Zweckgedanke ist ausgeschaltet. Der Gottesglaube und die Schöpfungsidee sind überflüssig; jede Art von Metaphysik ist fehl am Platze.«132 Doch auch wenn die neue Biologie diesem Anspruch weitgehend folgt, finden sich bis heute Reste sowohl der Geschichtsteleologie als auch der technischen Beherrschbarkeit der biologischen Vervollkommnung des Menschen.

3.6

Der Widerspruch der Evolutionstheorie: Teleologie ohne Telos

Auf dem Weg der Biologie hin zu einer modernen Wissenschaft, die sich auf eine einheitliche Theorie als Prinzip stützen kann, lässt sich eine Linie von Linné und Cuvier über Buffon, Lamarck bis hin zu Darwin und Wallace erkennen. Aus der bloß ideellen Formenverwandtschaft unter Lebewesen wurde eine genealogische, empirisch reale Verwandtschaft. Aus einem Typus wurde eine Stammform. Anstelle der systema naturae trat die Phylogenetik. Das naturphilosophische Erbe der Antike, in der Logik und Ontologik noch in vielen Teilen zusammenfielen und sich die Frage nach der Differenz zwischen einer Verwandtschaft der Formen unter Gattungen und einer historisch genetischen Verwandtschaft gar nicht stellte, wurde bei diesem Schritt der Biologie hin zu einer modernen empirischen Naturwissenschaft abgestreift. Doch über diesen Prozess verblieben einige metaphysische Leichen im Keller der Biologie, insbesondere das teleologische Prinzip der inneren Zweckmäßigkeit wurde zum Wiedergänger, der bis heute alle biologischen Theorien heimsucht. Der Begriff des Lebens wurde schon in frühesten überlieferten Fragmenten der Vorsokratiker teleologisch gedacht. Mit der Trennung von der Naturphilosophie will die Biologie sich auch von teleologischen Vorstellungen trennen. Darwins Verdienst ist es, ein teleologisches Prinzip gefunden zu haben, das ohne denkendes Subjekt und ohne formuliertes Telos auskommt – weder ist hier der Mensch das zwecksetzende Subjekt seiner Geschichte, noch hat ein Gott ein unergründliches Ziel in die Entwicklungsbewegung der Organismen eingeschrieben. In Analogie zu ökonomischen Gesetzen organisiert sich das Lebendige durch bewusst- und ziellose Naturprozesse hindurch automatisch (nicht autonom) zu für sein (Über-)Leben zweckmäßigen, d.i. angepassten Formen, die sich entlang der sich verändernden Bedingungen entwickeln, ohne auf einen Endpunkt zuzusteuern. In Konsequenz kann es keine ›höchste‹ oder ›vollkommene‹ Form des Lebens geben (auch wenn die Biologie eine Weile brauchte, diese Trennung vom heilsgeschichtlichen Gehalt des Evolutionsbegriffes tatsächlich zu vollziehen). Diese aus der Ökonomie entlehnte neue Form der Teleologie verdeckt den metaphysischen Charakter des Begriffes, löst ihn aber nicht ab. Die Evolutionstheorie erklärt die jeweils spezifische Zweckmäßigkeit jedes Organismus aus seinem historischen Prozess der Anpassung an bestimmte Lebensbedingungen. Damit ist die teleologische Form des Lebendigen als Prinzip jederzeit vorausgesetzt und die teleologische Funktionalität jeder organischen Struktur entwicklungshistorisch erklärbar. So erscheint an den empirischen Organismen kein funktionaler Teil 132

Karl Schlechta, »Der Trend des Biologismus zur Weltanschauung im 19. Jahrhundert«, in: Gunter Mann (Hg.), Biologismus im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1973, S. 1-9, S. 3.

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als rätselhaft oder unerklärlich, im Gegenteil: Jedem Schulkind ist einsichtig, dass das eindrucksvolle Fell des Moschusochsen zu eisigen Schneestürmen passt, wie die Flosse des Fisches ins Wasser gehört. Mit der Evolutionstheorie ist das Prinzip der Teleologie des Lebendigen gesetzt, auch wenn wir kein zwecksetzendes Subjekt annehmen. Das Prinzip der Evolutionstheorie ist so das Prinzip einer Teleologie ohne Telos, das Darwin aus den Theorien der Ökonomie gewann. Da dieses Prinzip spekulativ allen Überlegungen zur Evolution vorausgesetzt werden muss, ist Darwins Theorie – bei allem akribischen Bezug auf das empirische Material – im Wesen nicht induktiv erschlossen, sondern spekulativ gesetzt. Auch wenn insbesondere der Bezug auf Malthus heute in vielen Werken über die Entwicklung der Evolutionstheorie hervorgehoben wird, so wird in ideologiekritischer Absicht zumeist nur die Bedeutung hervorgehoben, die dies für die Biologisierung von gesellschaftlichen Phänomenen habe. So schreibt etwa Wittkau-Horgby: »Die eigentlichen Gewinner, die durch Darwins Theorie einen wirklichen Zuwachs an Plausibilität für ihre ethischen Konzeptionen verbuchen konnten, waren die Utilitaristen, und zwar in den beiden Varianten des sozialen Liberalismus und des Sozialdarwinismus. Diese liberalistischen Konzeptionen erhielten besonderen Rückenwind dadurch, dass Darwin zeigte, dass in der Natur dieselben Prinzipien wie in der klassischen, liberalen Ökonomie zum Erfolg führen. Malthus’ Theorie des Bevölkerungswachstums hatte Darwin auf den Gedanken eines generellen Kampfes ums Dasein gebracht. Und auch sein von Adam Smith abgeleiteter Mechanismus für die Entstehung der Vielfalt der Arten erschien ›wie ein Rezept für den industriellen Fortschritt‹133 .«134 Demgegenüber wurde jedoch die Bedeutung des Bezuges auf Prinzipien, die aus Theorien über gesellschaftliche, insbesondere ökonomische Organisationsformen gewonnen wurden, für die Biologie bislang nicht hinreichend thematisiert. Nur indem die formierenden und so ordnungsstiftenden Wirkungen der ökonomischen Konkurrenz spezifisch bürgerlicher Gesellschaften als in der belebten Natur wirksam vorgestellt wurden, konnte es gelingen, das empirische Material unter einem neuen teleologischen Prinzip als geordnet zu begreifen, das in Abgrenzung zur Teleologie der klassischen Naturphilosophie fälschlich als nicht-teleologisch, sondern als induktiv erschlossenes Naturprinzip erscheint. Dies gelang zum einen, weil jenes Prinzip aus einer anderen Quelle gewonnen wurde: der Ökonomie der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die ihrerseits den wissenschaftlichen Anspruch des Empirismus teilt. Dieses Fundament bestimmt Methode und Theoriebildung der Biologie bis heute maßgeblich. Zum anderen, weil dieses neue Prinzip (bereits in der ökonomischen Theorie) im Gegensatz zur traditionellen Teleologie einen Selbstwiderspruch enthält: Es ist Teleologie ohne Telos. Weil es ohne Subjekt ist, kann es als nicht-teleologisch behauptet werden. Dennoch bleibt es der Form nach teleologisch, denn es stellt eine in sich zweckmäßige Ordnung her. Und genau darum eignet es sich zur Erklärung evolutionärer Prozesse.

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Adrian Desmond/James Moore, Darwin, München 1992, S. 475. [Verweis im Zitat]. Annette Wittkau-Horgby, »Die Ökonomik von Malthus und Smith als Modell für Darwins Theorie der Entstehung der Arten«, in: Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 2002, 1, S. 4953, S. 53.

3. Darwins Evolutionstheorie hebt die Biologie in den Stand einer modernen Naturwissenschaft

Die Meinungsverschiedenheit darüber, ob die Biologie den Begriff der Teleologie braucht oder sich im Gegenteil radikal von ihm lösen muss, wurde und wird in prägnanter Weise an der verschiedenen Beurteilung der Evolutionsbiologie deutlich. Einigen steht sie für die endgültige Abkehr der Biologie von der Teleologie, während andere gerade durch den Evolutionsgedanken die Teleologie fest in der Biologie verankert sehen. Dieser Konflikt besteht seit der Veröffentlichung von Darwins On the Origin of Species: »Während nach dem berühmten Urteil von Karl Marx Darwin der Teleologie den ›Gnadenstoß‹ versetzte, war sein eigener Sohn, Francis Darwin, davon überzeugt, eines der größten Verdienste seines Vaters für die Naturforschung bestehe gerade darin, die Teleologie wiederbelebt zu haben.«135 Der Abweis der Teleologie durch die Evolutionstheorie bestehe darin, dass kein zwecksetzender Schöpfer, kein außerhalb der Natur stehendes intelligibles Subjekt zur Erklärung der spezifischen organischen Formen angenommen werden müsse, sondern diese sich durch den bewusstlos sich herstellenden Mechanismus von Selektion und Mutation hinreichend erklären lassen. Darwins Evolutionstheorie wurde so seit dem Erscheinen seiner Entstehung der Arten als Absage an die christliche Tradition, den Schöpfungsglauben und das christliche Weltbild insgesamt verstanden. Die Mechanismen der Selektion und Mutation sollten eine planende Kraft hinter den zweckmäßig aufgebauten Organismen überflüssig machen. In Folge dieser Auffassung kamen spätere Biologen zu dem konsequenten Schluss, dass es auch keine Richtung der Evolution geben könne. So verlor der Mensch nicht nur seine Stellung als Krone der Schöpfung, sondern auch als höchste Stufe der Evolution, d.i. als weitentwickeltste Lebensform, da die Evolution gerade kein Ziel (Telos) habe, das eine Richtung ihrer Entwicklung vorgäbe. Die teleologische Grundlage der Evolutionstheorie bestehe hingegen darin, dass der bewusstlose Mechanismus von Mutation und Selektion gerade nach Maßgabe der Zweckmäßigkeit für den Organismus im Überleben der zweckmäßigsten Formen resultiert. Damit sei die Evolutionstheorie wesentlich teleologisch: »[M]an kann behaupten, daß keine frühere biologische Theorie dem Zweckbegriff eine solche Bedeutung beigemessen und ihn mit solchem Nachdruck vertreten hat, wie es im Darwinismus der Fall ist. Denn nicht nur einzelne, sondern schlechthin a l l e Erscheinungen des Lebens werden hier unter dem Gesichtspunkt ihres Leistungswertes für die Erhaltung des Organismus betrachtet.«136 Das bedeutet, Leben ist auch und insbesondere nach der Evolutionstheorie nur teleologisch zu begreifen. »Die Evolutionstheorie gilt daher heute, v.a. für Biologen, als die

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Francesca Michelini, »Darwin und das Problem der Zweckmäßigkeit in der Natur«, in: Kurt Bayertz/ Myriam Gerhard/Walter Jaeschke, Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert: Der Darwinismus-Streit (Band 2), Hamburg 2007, S. 222-244, S. 222. Cassirer, Erkenntnisproblem, S. 192.

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Theorie, die der Teleologie im Bereich des Lebendigen ein solides Fundament geliefert hat«137 . Es scheint, dass mit der Zweckmäßigkeit respektive der Teleologie hier verschiedene Dinge bezeichnet werden. Den Gegnern der Teleologie bedeutet diese die Annahme eines bewusst durch ein denkendes Subjekt gesetzten Zwecks, der sich analog zu Artefakten in den Organismen realisiere. Diesem Schöpfergedanken, von Paleys Uhrmacher bis zur Theorie des intelligenten Designs138 , hat Darwins Theorie in der Tat den ›Gnadenstoß‹ versetzt, da sie die historische Veränderung von Arten mit evolutionären Mechanismen erklärt. Die Evolutionstheorie bricht also mit dem Gedanken der intelligiblen Zwecksetzung, aber sie hat es logisch immer noch mit den Formen von Zweckmäßigkeit zu tun, weshalb andere sie zugleich als eine wesentlich teleologische Theorie begreifen. Insbesondere Ernst Mayr hat darum den Begriff der Teleonomie stark gemacht, der die tatsächliche, empirisch feststellbare Präsenz einer Zielgerichtetheit fassen soll, welche existiere, ohne dass ihr Ziel zuvor intelligibel gesetzt worden wäre.139 Mayr knüpfte offensichtlich an einen Gedanken Karl Ernst von Baers an, der bereits 1876 in seinem Aufsatz Über den Zweck in den Vorgängen der Natur dafür plädierte, eine von anthropomorphistischen Implikationen freie Terminologie in die Biologie einzuführen und anstelle von Zweckmäßigkeit lieber von Zielstrebigkeit zu reden.140 Zwischen Teleologie und Teleonomie oder Zweckmäßigkeit und Zielstrebigkeit zu trennen hat das wahre Moment, dass der Organismus kein Artefakt ist, also sein Zweck nicht heteronom durch ein denkendes Subjekt in ihn gesetzt wurde. Doch zugleich führt jeder Versuch, die Teleologie zu umgehen, indem eine Form von Zweckmäßigkeit konstatiert wird, die von bewusster Intentionalität befreit sei, auf Widersprüche im Begriff des Ziels, Plans, Programms oder Zwecks. Denn diese Begriffe sind allesamt nicht empirische, sondern ideelle Begriffe – Reflexionsbegriffe. Spätestens mit Kants Kritik der Urteilskraft setzte sich die abstraktere Vorstellung durch, dass die Zweckmäßigkeit nicht als eine eigenständige Naturkraft oder Organeigenschaft zu denken sei, also nicht als im alten Sinne ein metaphysisches Sein, sondern als transzendentalphilosophisches Prinzip, also ein Begriff, der als vorausgesetzte Bedingung im Denken die Vorstellung des Lebendigen erst ermögliche. Der Streit um die Zweckmäßigkeit des Lebendigen verschob sich in Folge dahingehend, ob dieses Ordnungsprinzip ein bloß unzureichender sprachlicher Ausdruck und im Fortschritt der Biologie durch eine neue Terminologie zu ersetzen sei, oder nicht.141 Tatsächlich hängt die Biologie nach Darwin nicht weniger am Zweckbegriff als vor ihm. Jede Variante der Evolutionstheorie ist insofern selbst zutiefst teleologisch, weil sie das teleologische Prinzip setzt und begründet, auch wenn sie teilweise andere Begriffe hierfür bemüht, um zu verdeutlichen, dass die in Organismen sich realisierenden Zwecke keine durch ein bewusstes Subjekt gesetzten sind. Wurden vor Darwin noch vielfäl-

Ulrich Krohs/Georg Toepfer (Hg.), Philosophie der Biologie. Eine Einführung, Frankfurt a.M. 2005, S. 158. 138 Vgl. Kapitel 4.7. 139 Vgl. Kapitel 7.4. 140 Vgl. Baer, Zielstrebigkeit, S. 25. 141 Vgl. Kapitel 7.4.2.1. 137

3. Darwins Evolutionstheorie hebt die Biologie in den Stand einer modernen Naturwissenschaft

tige Bezüge als zweckformend angenommen, gibt es nach Darwin nur noch den Bezug auf die Nützlichkeit im survival of the fittest, der zum Verständnis von Aufbau und Verhalten eines Lebewesens wesentlich ist. Jede Organfunktion, jede Knochenform und jede Verhaltensweise lassen sich unter dem Lichte ihres Selektionswertes verstehen, d.h. ihr biologischer Sinn erschließt sich uns dann, wenn wir den evolutionären Vorteil erkennen, den diese Strukturen haben oder hatten. Da dieser biologische Sinn über einen Naturmechanismus realisiert wird, soll diese teleologische Grundannahme zugleich nichtteleologisch sein. Anhänger der Evolutionstheorie haben daher nach Rádl seit jeher die unangenehme Tendenz, der Sache nach Teleologen zu sein, aber zugleich dem eigenen Anspruch nach alle Teleologie zu bekämpfen und sie ihren – wo auch immer verorteten – Gegnern vorzuwerfen.142 Einen Grund für diesen Widerspruch und die gleichzeitige Blindheit gegen ihn sieht Ernst Cassirer darin, dass mit der Geschichte der Entstehung der Arten auseinander zugleich eine hinreichende Erklärung für die Entstehung genau dieser Formen geliefert werden soll, was die Möglichkeiten der historischen Begriffsbildung übersteigt. »Eine der bekanntesten Leistungen des Darwinismus in erkenntniskritischer Hinsicht besteht darin, daß er dem naturwissenschaftlichen Denken gewissermaßen eine neue D i m e n s i o n der Betrachtung erschloß. Er zeigte, daß die naturwissenschaftliche und die historische B e g r i f f s b i l d u n g einander keineswegs entgegengesetzt sind, sondern daß sie einander ergänzen und einander bedürfen. Aber er konnte dem historischen Denken nur dadurch seinen Platz in der Naturwissenschaft anweisen und nur dadurch sein Recht erstreiten, daß er es in gewissem Sinne umbildete und umdeutete. Statt es in seiner spezifischen Bedeutung zu erkennen und anzuerkennen, wies er ihm Aufgaben zu, die seinem Wesen fremd sind und denen er nicht gewachsen war. Die historische B e s c h r e i b u n g sollte zugleich alle Dienste der ›Erklärung‹ erfüllen: Der Einblick in das W e r d e n der Organismen sollte zugleich das Verständnis für alle Strukturprobleme der organischen Formen und für alle physiologischen Probleme eröffnen.«143 Mit der historischen Dimension, die Darwin in die Biologie einführte,144 wurde sie von einer bloßen Aufzählung (wie noch in der Taxonomie von Linné) zu einer stringenten Erzählung – aber eine mathematische Ableitung der Formen mit ihr leisten zu wollen, wie Haeckel es postulierte und wie es für den Begriff einer Naturwissenschaft auch angemessen wäre, überhebt sie ihren Möglichkeiten. In Nachfolge Darwins, dem Neodarwinismus, ist die synthetische Evolutionstheorie heute am weitesten vertreten. Sie bezieht Erkenntnisse aus der Genetik, Populationsbiologie, Zoologie, Botanik, Paläontologie und anderen Bereichen der Biologie mit ein und vereint so die verschiedenen Abteilungen über ein gemeinschaftliches, zugrundeliegendes System, die zu Darwins Zeit noch systematisch weitgehend unverbunden nebeneinander als getrennte Disziplinen existierten. Dass es auch heute noch nicht nur

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Vgl. Emanuel Rádl, Geschichte der biologischen Theorien, Bd. II, Leipzig 1909, S. 556. Cassirer, Erkenntnisproblem, S. 199. Im 19. Jahrhundert wurde das historische Denken – u.a. durch den Einfluss von Hegel – in den Wissenschaften zunehmend verbreitet und versuchsweise auf viele Gegenstände angewandt.

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eine einzige Evolutionstheorie gibt, sondern diverse in mehr oder weniger grundsätzlichen Fragen voneinander abweichende – z.B. teilen nicht alle Anhänger des Evolutionsgedankens die Annahme, dass die Differenz zwischen Mikroevolution, also Veränderungen innerhalb einer Art, und Makroevolution, d.i. der Entwicklung neuer Arten mit neuen organischen Funktionszusammenhängen, eine bloß graduelle sei –, die sich alle gleichermaßen auf Darwins Gedanken berufen, zeigt, dass die Vorstellung einer evolutionären Entwicklung es noch nicht zu einer vollständig konsistenten biologischen Theorie gebracht hat.145 Sie reicht zwar hin, die Biologie zu einer Wissenschaft unter dem Gedanken eines Systems – dem der Verwandtschaft – zu verbinden, doch führt sie hierbei zugleich auf weitere Widersprüche. Tatsächlich erweisen sich Kernbegriffe der Biologie als in sich widersprüchlich verfasst. So benötigt der Artbegriff gleichzeitig die Prämisse der Artvarianz wie die der Artkonstanz.

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Dies gilt allerdings in gleicher Weise für die Theoreme der Physik und Chemie und stellt keine Besonderheit der Biologie dar.

4. Die Aporie des Artbegriffs »Seit Aristoteles besteht zwischen Logik und Biologie nicht nur ein Berührungspunkt, sondern eine innige Verbindung. Denn die Aristotelische Logik ist eine Logik der Klassenbegriffe, und diese Begriffe sind es, die auch für die Kenntnis und für die wissenschaftliche Beschreibung der Naturformen das unentbehrliche Rüstzeug bilden.«1

Das Lebendige erscheint in mannigfaltigen Formen. Menschen ordnen es seit jeher nach Ähnlichkeit und Differenz gewisser Merkmale, unterscheiden Tiere und Pflanzen, Blumen und Bäume, Essbares und Giftiges, Fische und Vögel, Harmloses und Gefährliches. Hieraus entstanden wissenschaftliche Ordnungen nach Gattungen und Arten. Diese taxonomische Ordnung ist bis heute in Bewegung, sowohl neue Erkenntnisse über einzelne Arten als auch neue Ordnungsschemata erfordern taxonomische Neuordnungen. Zudem unterliegen Arten der evolutionären Veränderung. Was genau eine biologische Art ist, lässt sich darum begrifflich nicht leicht bestimmen.

4.1

Taxonomie – natürliches oder künstliches System?

Schon Platons Schüler Aristoteles ordnete das Lebendige in seiner historia animalium in einer wissenschaftlichen Weise nach Gattungen, die seiner Ordnung der Logik in Klassenbegriffe entsprach.2 In Bezug auf diese Ordnungsform gliedert auch der Baum des Porphyrios die Welt nach den logischen Klassen in ein ganzheitliches System. Die hieran anknüpfende naturphilosophische Vorstellung einer scala naturae ging davon aus, dass alle Naturgegenstände in einer lückenlosen Reihe hierarchisch vom niedersten bis zum höchsten angeordnet werden können.

1 2

Cassirer, Erkenntnisproblem, S. 144. Vgl. Aristoteles, Historia animalium, in: Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, Band 16, Zoologische Schriften I., Berlin 2013.

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Nach antiken Lehren ist das Wesen (eidos) jedem empirischen Gegenstand ideell vorgeordnet. So liegen nach Platon jedem empirischen Seienden reine und unwandelbare Ideen zugrunde, an welchen es teilhat. Diese Teilhabe an der Idee ist dasjenige, was als ihr (ewiges, unveränderliches) Wesen erkannt werden kann. »Die Idee repräsentiert die inhaltliche, wesenhafte und wesentliche Einheit aller unter einen Begriff fallenden Gegenstände. Die Idee liegt also jedem dieser Gegenstände zugrunde und kommt in ihnen allen zum Ausdruck. Die Ideen sind die Urbilder der begrifflichen Allgemeinheit, die reinen objektiven Gattungsbegriffe«3 . Entsprechend waren für Platon die Arten konstant und unveränderlich, die individuellen Variationen innerhalb einer Art bloßer Ausdruck ihrer Unvollkommenheit, die empirische Abweichung von der ihnen zu Grunde liegenden Idee. Mit Bezug auf diese Ideenlehre bildete sich der typologisch-essentialistische Artbegriff. Hiernach wurden Arten als wesentlich statisch und konstant gedacht, die einzelnen Exemplare einer Art in ihren Variationen als unvollkommene Darstellungen des Wesens. Analog zu diesen antiken Vorbildern brachte der bedeutende Taxonom Carl von Linné im Systema naturae (1735) das Lebendige unter einer logischen Ordnung in ein System, das bis heute das Vorbild der Einteilung in Gattungen, Klassen, Arten und Unterarten gibt. Der Begriff der Gattung (genos) findet sich schon bei Homer und bezeichnet – vor der Trennung von Logik und Ontologik – in der Antike beides, zusammenfassender Begriff (Oberbegriff) und Kennzeichen eines gemeinsamen Ursprungs, denn ohne genuin Gemeinsames ließe sich kein Oberbegriff sinnvoll bilden. Bei Linné sind es hingegen logische, keine ontologischen Begriffe; die logischen Gegenstände der Taxonomie sind Gattung und Art, nicht lebendige Exemplare. Carl von Linné nannte selbst das von ihm aufgestellte Ordnungssystem darum ein künstliches. Er hatte mit dem Sexualsystem nur ein einzelnes Kriterium aus der Ganzheit des Organismus der Pflanze herausgelöst und hierauf – scheinbar willkürlich, aus pragmatischen Gründen, weil es sich zur Differenzierung eignete – die Grenzen der Gattungen und Arten begründet. Bedeutende Biologen wie Lamarck und Buffon haben in Ansehung der Linnéschen Taxonomie alle Systematik des Lebendigen als künstliches Gedankenprodukt kritisiert. Für Buffon (und hierin folgten ihm nicht nur Biologen, sondern auch Philosophen wie Diderot4 ) konnten die Arten keine realen Kategorien sein, da es in der empirischen Welt nur Individuen mit graduell abgestufter Ähnlichkeit und Differenz gebe. Lediglich die menschliche Abstraktionsfähigkeit sei es, welche eine pathologische Einteilung aufgrund der Gleichheit spezifischer Merkmale leisten könne.5 Dennoch waren noch Linné und die meisten Wissenschaftler seiner Zeit Vertreter der Artkonstanz. Das bedeutet für die taxonomische Ordnung, dass die Arten hiernach bloß nebeneinander existieren und nicht nach einem ihnen innewohnenden Prinzip in einen systematischen Zusammenhang gestellt werden können. Zudem war dieser postulierte Artbegriff (obgleich

3 4 5

Curt Friedlein, Lehrbuch und Repetitorium der Geschichte der Philosophie, Hannover 1968, S. 48. Vgl. Denis Diderot, »Gedanken zur Interpretation der Natur«, in: Denis Diderot, Philosophische Schriften, Bd. 1, Berlin (Ost) 1961. Vgl. Georges-Louis Leclerc Comte de Buffon, Histoire Naturelle, générale et particulière, avec la description du Cabinet du Roi, Paris 1749-1804, Band 7.

4. Die Aporie des Artbegriffs

ontologisch) metaphysisch gewonnen und daher ebenfalls ungeeignet, ein natürliches System der Arten zu bilden.

4.2

Die Bedeutung der differentia specifica als wesentliche Akzidenz

An der Frage, ob die Taxonomie ein natürliches oder ein künstliches System darstelle, taucht ein erkenntnistheoretisches Problem auf, welches Hegel in der Phänomenologie des Geistes im Abschnitt »Beobachtung der Natur« sehr treffend beschreibt: »[D]ie Grenze dessen, was wie der Elephant, die Eiche […] ausgezeichnet, was Gattung und Art ist, geht durch viele Stufen in die unendliche Besonderung der chaotischen Tiere und Pflanzen […]. [Hier] ist ein unerschöpflicher Vorrat fürs Beobachten und Beschreiben aufgetan.«6 Doch aus der bloßen Beschreibung des Beobachteten folgt noch keine Ordnung, sie bildet lediglich all die chaotische Besonderheit jedes Einzelnen ab. Um zu einer Allgemeinheit, zu einem Begriff zu kommen, muss das Spezifische, woran der Elefant als Elefant erkannt wird, aus all den vielen Eigenschaften isoliert werden. »Wenn es diesem Suchen und Beschreiben nur um die Dinge zu tun zu sein scheint, so sehen wir es in der Tat nicht an dem sinnlichen Wahrnehmen fortlaufen; sondern das, woran die Dinge erkannt werden, ist ihm wichtiger als der übrige Umfang der sinnlichen Eigenschaften, welche das Ding selbst wohl nicht entbehren kann, aber deren das Bewußtsein sich entübrigt.«7 So werden in der Taxonomie durch die spezifische Differenz wesentliche von akzidentellen Merkmalen unterschieden. Erst hierüber ist die Bildung eines Artbegriffes möglich. Das Setzen einer spezifischen Differenz ist für die Erkenntnis, die über die unmittelbare Beschreibung der Einzelwesen hinausgeht und sie zu einer Art zusammenfasst, notwendig. Doch ist die spezifische Differenz hiermit zugleich wesentlich für das Exemplar selbst? »Durch diese Unterscheidung in das Wesentliche und Unwesentliche erhebt sich der Begriff aus der sinnlichen Zerstreuung empor, und das Erkennen erklärt darin, daß es ihm wenigstens ebenso wesentlich um sich selbst als um die Dinge zu tun ist. Es gerät bei dieser gedoppelten Wesentlichkeit in ein Schwanken, ob das, was für das Erkennen das Wesentliche und Notwendige ist, es auch an den Dingen sei. Einerseits sollen die Merkmale nur dem Erkennen dienen, wodurch es die Dinge voneinander unterscheide; aber andernteils [soll] nicht das Unwesentliche der Dinge erkannt werden, sondern das, wodurch sie selbst aus der allgemeinen Kontinuität des Seins überhaupt sich losreißen, sich von dem Anderen abscheiden und für sich sind. Die Merkmale sollen nicht nur wesentliche Beziehung auf das Erkennen haben, sondern auch die wesentlichen

6 7

Hegel, Phänomenologie, S. 189. Ebd.

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Bestimmtheiten der Dinge, und das künstliche System soll dem System der Natur selbst gemäß sein und nur dieses ausdrücken.«8 Die Aufgabe, dass die taxonomisch relevanten Merkmale zur Unterscheidung in Arten, ihre spezifische Differenz, keine bloß ›künstlichen‹ Merkmale sein sollen, die also bloß für das Erkennen der Arten wesentlich sind, sondern hierbei zugleich das wesentliche erkannt sei, wodurch die Organismen für sich selbst sich von anderen Arten unterscheiden, stellte sich unmittelbar dadurch, dass Linné selbst und andere wie Buffon sein taxonomisches System der Arten als ›künstliches‹, also als ein an den Erfordernissen unserer Erkenntnis ausgerichtetes kritisierte. Doch die spezifische Differenz als dasjenige ›woran die Dinge erkannt werden‹ ist für den Organismus selbst nur ein Merkmal unter vielen ›sinnlichen Eigenschaften, welche das Ding selbst wohl nicht entbehren kann‹. Ein natürliches System, so die Überlegung der Taxonomen, müsste darum gegenüber dem künstlichen System von Linné alle Organe und Eigenschaften des Organismus berücksichtigen.9 Cuviers Typenbegriff trat an, ein solches natürliches System des Organischen zu formulieren. Anders als Linné griff er keine einzelnen Merkmale aus dem Organismus zu dessen taxonomischer Bestimmung heraus; vielmehr verstand er den ganzen Organismus als eine in jeder Einzelheit aufeinander bezogene Einheit, die sich nicht als ein bloßes Aggregat von Teilen begreifen lasse.10 Das Allgemeine, das hier zu finden sei, sei kein kausales Gefüge von Ursachen und Wirkungen, sondern ein Strukturverhältnis. Er stellte darum die Morphologie ins Zentrum seiner Forschungen. Da auch Cuvier von konstanten Grundtypen ausging, konnte er das gemeinsame Auftreten bestimmter Kennzeichen einer Klasse von Organismen – bspw. Paarhufigkeit mit mehrteiligem Wiederkäuermagen – nicht, wie später Darwin, durch den Grad ihrer evolutionären Verwandtschaft erklären. Doch durch die Betrachtung der Beziehung der einzelnen Merkmale anstelle des Herauslösens einzelner Kennzeichen zur Bestimmung von Arten und Klassen konnte Cuvier eine allgemeine Gültigkeit der von ihm erkannten Strukturverhältnisse annehmen und legte so die Grundlage für die Vorstellung, dass es möglich sei, die natürliche Einteilung des Organischen durch empirische Erforschung eben dieser Strukturzusammenhänge zu erkennen. Dies geht logisch mit der Annahme einer festen Artkonstanz einher, weil der Übergang von einem Strukturplan zum nächsten die Prämisse des notwendigen Zusammenstehens bestimmter Merkmale durch die Möglichkeit von Misch- oder Übergangsstrukturen widerlegen würde. Die Artkonstanz ist in diesem vorevolutionstheoretischen natürlichen taxonomischen System nicht bloßes Dogma, sondern »methodisches Prinzip«11 . Die Ordnung der Gattungen bleibt so jedoch eine bloß äußerliche, die den Grad der Strukturgleichheit abbildet, ihn aber nicht in einen innerlichen Zusammenhang zu stellen vermag.

8 9 10 11

Hegel, Phänomenologie, S. 189 f. Nach Linné sei ein solches natürliches System das höchste Ziel der Botanik. Vgl. auch Erik Nordenskiöld, Biologins historia, Bd. II, Stockholm 1925, S. 129 ff. Vgl. Kapitel 8.7. Cassirer, Erkenntnisproblem, S. 154.

4. Die Aporie des Artbegriffs

Erst mit der Evolutionstheorie wurde das taxonomische System als eine Ordnung der Verwandtschaftsverhältnisse begriffen, das einen inneren Zusammenhang zwischen den Arten und Gattungen herstellt. Die Verwandtschaft stiftet eine historische Verbindung aller Lebewesen und damit auch die natürliche Einheit des taxonomischen Systems, wobei hieraus umgekehrt jedoch keine systematische Trennung in Gattungen und Arten folgt. Die unzähligen graduellen Verschiedenheiten der sämtlich verwandten Exemplare ordnet diese nicht aus sich heraus in Gattungen, Klassen und Arten. So bleibt das System des Lebendigen zunächst spekulativ und muss sich in der empirischen Forschung als gültig erweisen, denn »[d]er Gedanke der A b s t a m m u n g gibt keine logische A b l e i t u n g an die Hand«12 . Keine biologische Art lässt sich aus dem Prinzip der Evolution ableiten.13 Das Prinzip dieser Ordnung zu finden ist Aufgabe der theoretischen Biologie oder Naturphilosophie. Eine biologische Ordnung in Arten hat zur Voraussetzung, dass die zu Ordnenden sich untereinander vergleichen und unterscheiden lassen. Vergleichen lassen sie sich, insofern sie sich auf dieselbe Gattung beziehen, welche die evolutionäre Verwandtschaft bezeichnet. Unterschieden sind die Arten durch ihre jeweilige spezifische Differenz. Das Prinzip der Ordnung nach Verwandtschaftsverhältnissen ist ein regulatives Prinzip der formalen Zweckmäßigkeit, das sich in seiner Anwendung am Material erst bewähren muss. »Wir setzen diese Verwandtschaft voraus, ohne sie a priori beweisen zu können; aber es bedarf eines solchen Beweises nicht, solange wir uns nur daran erinnern und streng daran festhalten, daß wir es hier nicht mit einem objektiven Grundsatz, sondern mit einer ›Maxime‹ zu tun haben. Ob diese Maxime sich bewährt, ob eine durchgängige Systematik der Naturformen nach Klassen und Arten, Familien und Ordnungen erreichbar ist: darüber kann uns nur die Erfahrung belehren.«14 Und diese Erfahrung lehrt uns, dass es im Großen und Ganzen sehr gut funktioniert, ein taxonomisches System auf dem Prinzip der Evolution zu gründen, um eine nicht (bloß) künstliche, sondern eine (auch) natürliche Ordnung der Lebewesen aufzustellen, dass im Kleinen und in Teilen jedoch viele Unklarheiten über die konkreten Zuordnungen herrschen. Im Zuge der Forschung wechseln Arten immer wieder die Gattung, Familie oder sogar das Reich, jedoch stets auf Grundlage des zugrunde gelegten Prinzips, das hierdurch also nicht in Frage gestellt wird. Überall dort, wo der ideelle Gehalt der Einheit der Art auf ein eindeutiges empirisches Korrelat zurückgeführt werden soll, aber nicht eindeutig zurückgeführt werden kann, ergibt sich das Problem, ob der Artbegriff als bloß ideeller willkürlich sei. Hieraus nun zu schließen, dass es ›in Wahrheit‹ keine Arten gebe, sondern bloß Einzelexemplare,15 verkennte, was die Biologie als eine Naturwissenschaft ausmacht: Die Lebewesen ordnen sich nicht von selbst zu Arten, sie tun das so wenig, wie der vom Baum fallende

12 13 14 15

Richard Kroner, Zweck und Gesetz in der Biologie, Tübingen 1913, S. 105. Vgl. Kapitel 11.7.2. Cassirer, Erkenntnisproblem, S. 146. Wobei sich hier unmittelbar das logische Problem auftut, nicht angeben zu können, Exemplare von was diese Individuen denn seien.

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Apfel das Gesetz der Gravitation in sich enthält. Man kann darum in der empirischen Zergliederung eines Organismus in seine Merkmale so wenig Artzugehörigkeit finden, wie Gravitation im Kerngehäuse des Apfels. Die Einteilung des Lebendigen unter die ideell gestifteten Einheiten der Gattungen und Arten muss gedanklich geleistet werden, ohne dabei bloß ausgedacht zu sein. Wenn die Einteilung der Organismen in Arten eine wissenschaftliche ist, muss sie das Material treffen, indem sie ein Allgemeines dem Besonderen überordnet und das Besondere dadurch in seinem allgemeinen Zusammenhang zu Anderem bestimmt. Genau dies leisten die Taxonomie oder Systematik, indem sie das vielfältige Material entlang ausgewählter Eigenschaften ordnen. Hierfür ist es, wie gezeigt, erforderlich, dass diejenige Eigenschaft, an welcher die Artzugehörigkeit eines Organismus erkannt werden kann, von allen anderen Eigenschaften isoliert und als wesentliches neben bloß akzidentellen Merkmalen erkannt wird. Dies führt jedoch auf ein logisches Problem: Das Wesen (eidos) stellt sich in Unwesentlichem (Materie) dar, das von uns nur sinnlich empirisch aufgefasst werden kann; doch auch die in der Unvollkommenheit des Materials gegründete Abweichung jedes Exemplars einer Art von ihrem Wesen, die Varietäten, werden uns bloß empirisch gegeben. Dasjenige, was die Abweichung ist, ist also Abweichung bezogen auf ein NichtEmpirisches, das Wesen, welches sich jedoch gleichfalls nur im Empirischen darstellen kann, also in demjenigen, was von ihm abweicht. Aus diesem logischen Problem folgt für die Biologie die Schwierigkeit, die differentia specifica von Akzidenzien zu unterscheiden; zudem zeigt sich, dass die getroffenen Unterscheidungen selbst auch wieder bloß akzidentellen Charakter bekommen, sobald einem Exemplar der Art wesentliche Merkmale mangeln. So sind die den Haussperling von anderen Webervögeln unterscheidenden wesentlichen Merkmale: »Kopf oben grau oder graubraun. Wangen weiß ohne schwarzen Fleck. Flügel mit 1 weißen Binde.«16 Nun können durch natürliche Variation solche Merkmale auch bei anderen Webervögeln auftreten oder umgekehrt bei einem Haussperling ausbleiben, ohne dass das einzelne Exemplar hierdurch die Artzugehörigkeit wechselte. Die Art muss also auch jene Variationen umfassen, die typische Eigenschaften nicht aufweisen. Hierdurch werden die wesentlichen Eigenschaften wieder zu akzidentellen Merkmalen und die Frage nach dem Erkennen der Artzugehörigkeit wieder vakant. Eine Lösung dieses Problems besteht darin, durch das unveränderliche Wesen darauf zu schließen, dass alle variierenden Merkmale innerhalb einer Art keine wesentlichen sein können, und so eine Grenze der möglichen Variationsbreite innerhalb einer Art anzugeben, wie beispielsweise Charles Lyell oder Georges Cuvier es taten.17 Auch ein Albinosperling, der nicht die oben aufgeführten Merkmale aufweist, teilt eine organische Strukturgleichheit mit normal gefärbten Hausspatzen. Doch auch in der Struktur können Variationen auftreten: ein Flügel, ein Bein etc. kann verkümmern, sich verdoppeln oder verloren gehen und immer noch ist der Spatz als Spatz erkennbar. Wesentlich ist die Artzugehörigkeit, vor der alle Eigenschaften potentiell akzidentell

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Schaefer/Brohmer, Fauna von Deutschland, Heidelberg/Wiesbaden 1994, S. 623. Vgl. Charles Lyell, Principles of geology, London 1830-1833 und Georges Cuvier, Discours sur les révolutions de la surface du globe, et sur les changemens qu’elles ont produits dans le règne animal, ohne Ort 1825.

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werden. Die ideelle, oder auch ›normale‹ (d.i. normative), Organstruktur wird hier als Maßstab, als Idee gesetzt. Die Grenze der Variationsbreite ist tatsächlich nur negativ zu bestimmen: Was nicht als Spatz erkannt werden kann, ist auch keiner. Die spezifische Differenz bleibt ideell und so stellt sich wieder die Frage – da nur das Empirische erscheinen kann, nicht das Ideelle – woran die Artzugehörigkeit eigentlich hängt. Eine strenge empirische Differenz zwischen Organismen wäre die Summe aller Akzidenzien, wobei keines als wesentlich vor anderen hervorstäche. Doch diese gibt uns kein Artmerkmal an die Hand, es würde vielmehr jedes Exemplar zu seiner eigenen Art erklärt, denn kein Individuum gleicht vollständig dem anderen. Wenn angenommen würde, dass alle Merkmale an einem Organismus zunächst gleichwertig nebeneinander vorhanden sind, stellte sich das Problem, dass die Arten erst durch die willkürliche Festlegung eines dieser Merkmale als spezifisch getrennt würden. Wählten wir z.B. Masse und Farbe als spezifische Merkmale, so erhielten wir etwa die Art der dreieinhalb Kilogramm schweren und grau gefärbten Organismen, unter denen sich nach unserem gewöhnlichen Artverständnis dann gleichermaßen Hühner, Karpfen, Katzen etc. befänden. Dass kein Mensch jemals auf eine solche Taxonomie verfiel, zeigt uns, dass die Arten als natürliche Einheiten stets vorausgesetzt werden, wenn es gilt, ihre je spezifische Differenz zu anderen Arten zu finden. Denn bei einer Ordnung nach bloß zufälligen empirischen Merkmalen (Gewicht, Farbe …) wird der Organismus offensichtlich nicht begriffen. Eine akribisch geführte Gewichts- und Farbtabelle aller Tiere der Welt enthielte nichts als leere Fakten und könnte uns nicht den Begriff einer einzigen Tierart – und damit auch nicht den eines einzigen Tieres – geben.18 Die differentia specifica unterscheidet spezifisch zwischen Arten, nicht zwischen Individuen – also zwischen Huhn und Karpfen, nicht zwischen weißem Huhn und schwarzem Huhn. Die Kunst der Taxonomie besteht somit darin, die wesentlichen Eigenschaften von den bloß akzidentellen zu unterscheiden. Diesen Unterschied kann jedoch die bloße Erfahrung nicht liefern, ihn zu finden erfordert die Reflexion auf (und bisweilen auch die Spekulation über) Gattungsprozess und Lebensweise der Organismen. Die Artunterschiede entlang bestimmter Akzidenzien unterstellen also eine Differenz in der Substanz oder im Wesen. Ein braunes Huhn und eine braune Katze bleiben wesentlich verschieden, auch wenn sie bestimmte Akzidenzien teilen, und eine Katze 18

Im Roman Rayuela/Himmel und Hölle von Julio Cortázar schreibt Ceferino Piriz als Insasse der von den handelnden Figuren betriebenen und teilweise auch belegten Irrenanstalt von den Körperschaften einer klassifizierten Welt: »40) Nationale Gilde der Beauftragten für farbige Gattungen von roter Farbe und der Häuser für die Arbeit an Gattungen von roter Farbe […] (Ursprüngliche Gattungen von roter Farbe: Tiere mit rotem Fell, Pflanzen mit roten Blüten und Gesteine mit rötlichem Aussehen.)« (Julio Cortázar, Rayuela/Himmel und Hölle, Frankfurt a.M. 1987, S. 586.) Es folgen die Gilden der Beauftragten für farbige Gattungen von schwarzer, brauner etc. Farbe sowie mischfarbiger Gattungen. Doch diese nach Farben unterschiedenen Gattungen sind nicht natürliche, sondern künstliche Gattungen und es ist die Aufgabe der genannten Beauftragten, diese ›ursprünglichen‹ Gattungen herzustellen und zu erhalten, »damit sich die ursprünglichen Gattungen innerhalb ihrer Klassen nicht kreuzen, weder die eine Klasse mit der anderen, noch ein Typus mit dem anderen […], noch die Farbe einer Gattung mit einer anderen Farbe einer anderen Gattung usw.« (Ebd., S. 588). In dieser Welt gäbe es keine Hühner und Katzen, sondern nur braune und weiße etc. Gattungen, sowie ihre Beauftragten, neben deren praktischer Ordnungstätigkeit der Fleiß eines lediglich Kunst aufräumenden Ursus Wehrli als reiner Müßiggang erschiene.

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bleibt wesentlich, d.i. der Substanz nach, eine Katze, auch wenn ihr diverse Akzidenzien und sogar Propria der Art individuell fehlen mögen. Artspezifische Merkmale setzen die Artdifferenz immer schon als spezifisch voraus, wie Linné schrieb: »Es ist die Gattung, aus der sich die Merkmale ergeben, und nicht die Merkmale, welche die Gattung erfordern«19 . Darum sortieren wir die Lebewesen nicht nach bloß willkürlichen oder für unsere eigenen Zwecke nützlichen Kriterien, wie Kinder Knöpfe nach täglich neuen Ordnungsschemata sortieren, sondern wir klassifizieren Populationen, die durch verschiedene Grade der Verwandtschaft miteinander verbunden sind und die spezifisch aufeinander bezogen sind in Merkmalen, Verhaltensweisen, Lebensraum usw. Die Schwierigkeit für eine empirische Naturwissenschaft besteht nun darin, mit der differentia specifica ein Merkmal als wesentlich für die Artzugehörigkeit hervorheben zu müssen und es damit von allen anderen, unwesentlichen oder bloß akzidentellen Merkmalen, abzusondern. Da es kein empirisches Merkmal der Unterscheidung von bloßer Akzidenz und spezifischer Differenz geben kann, fällt es zunächst dem Wissenschaftler zu, über die Qualität der gefundenen Merkmale zu entscheiden. In den Jahren, nachdem Linné sein taxonomisches System der Arten formulierte, führte dies zu einem regelrechten Artenboom, denn alle Feldforscher waren auf der Suche nach spezifischen Differenzen, um den verzweigten Baum der Taxonomie zu vervollständigen. Viele der damals neu bestimmten Arten mussten später zurückgenommen werden, weil die Klassifizierung zu unübersichtlich wurde und es zu Überschneidungen kam, wenn Exemplare mehrere spezifische Differenzen aufwiesen. Arten wurden so zurückgestuft zu Unterarten oder auch zu bloßen Variationen innerhalb einer Unterart. Auch die Methoden der Gensequenzierung haben zu neuen Einteilungen geführt, wobei jedoch die grundlegende Schwierigkeit der Einteilung eher verstärkt als behoben wurde, da hier bloß noch graduelle Verschiedenheit erscheint und so im Zweifelsfall auf den Phänotyp zurückgeschaut werden muss. Diese Schwierigkeit der Bestimmung der spezifischen Differenz stellt sich zunächst jeder Form der Artbestimmung, sei es die vordarwinistische, rein an Phänotypen ausgerichtete Beschreibung von Arten oder sei es die Bestimmung von Arten mit Verfahren der molekularen Systematik.20 Auch dort werden bestimmte DNA-Abschnitte als wesentlich (oder, um den Gebrauch philosophischen Vokabulars zu vermeiden: als artspezifisch) definiert. Hieraus können ganz neue systematische Einteilungen entstehen, was den Verdacht, dass die Art ein je nach gewählter differentia specifica variierendes und damit willkürliches Konstrukt des Menschen sei, verstärkt. Gewählt werden können die für die Art jeweils spezifischen phänotypischen wie die DNA-Merkmale nur unter der Voraussetzung einer schon bestehenden Vorstellung der zu bestimmenden Art – nur die Erfahrung mit den jeweiligen Organismen kann uns dazu bringen, eine bestimmte Eigenschaft zu suchen, die eine schon vorausgesetzte Menge von Exemplaren miteinander teilen. Bei nicht-phänotypischen Merkmalen wird

19 20

Linneaus, Philosophia botanica, ohne Ort 1751, These 168, zitiert nach Mayr, Entwicklung der biologischen Gedankenwelt, S. 144. Hierzu gehören z.B. Isoenzymanalysen, Fingerprint-Techniken oder RestriktionsfragmentLängenpolymorphismus.

4. Die Aporie des Artbegriffs

dies noch deutlicher: Hier werden DNA-Sequenzen gesucht, die allen Exemplaren einer notwendig schon vorausgesetzten Art gemein sind; erst im Resultat können dann Verwandtschaftsbeziehungen erschlossen werden, die phänotypisch nicht augenfällig sind, sondern bloß auf genetischer Ebene erscheinen. Hier droht die Gefahr, jedem öfter vorkommenden Merkmal eine eigene Art zuzuschreiben. Es gibt sicherlich eine Grauzone zwischen gründlicher Taxonomie und ›Artmacherei‹21 , doch was jenseits dieser Grauzone liegt, ist die Verschiebung der Klassifizierung von Organismen hin zur Klassifizierung von Merkmalen. Mayr und Simpson22 warnten davor, dass hiermit die Organismen nicht mehr als funktionelle Einheiten, sondern als bloße Cluster von Merkmalen aufgefasst würden. Wie schon Linné erkannten sie, dass die Art ihrer Klassifizierung durch Merkmale vorausgesetzt werden muss und nicht aus ihr erst folgt: »Dagegen [den Artbegriff auf ein Cluster von positiven Merkmalen zu reduzieren] steht die Einsicht des biologischen Artbegriffs […] Merkmale sind als Indizien für die Artzugehörigkeit anzusehen, aber nicht als deren Grund: Individuen sind nicht deswegen eine Art, weil sie gemeinsame Merkmale haben, sondern umgekehrt: sie haben gemeinsame Merkmale, weil sie eine Art sind – also Gruppen von sich fortpflanzenden Populationen mit gemeinsamer Abstammung. Für ihr Art-Sein sind die gemeinsamen Merkmale ein Anzeichen. – Von der reduktionistischen Seite also, der Zerstückelung der Lebewesen in isolierte Merkmale, wird die Art, eine die Merkmale übergreifende Einheit, als überflüssig angesehen.«23 Die Auswahl der jeweils als spezifisch für die eine Art geltende Differenz zu anderen Arten bestimmt die Artgrenzen, und ihr scheint etwas willkürlich Gesetztes anzuhaften, auch wenn diese Auswahl tatsächlich niemals völliger Willkür unterliegt. Dennoch gilt – in gewissem Rahmen – was Mayr feststellte: »Je nachdem, welche Merkmale man bei den ersten Schritten der Unterteilung auswählt, erhält man zwangsläufig gänzlich verschiedene Klassifikationen«24 . Die Bestimmungen, was eine Art sei, differieren von Disziplin zu Disziplin (z.B. zwischen Zoologie und Botanik), von Zeit zu Zeit oder auch von Fall zu Fall, weil sie sich den jeweiligen Erfordernissen des zu untersuchenden Materials gemäß machen müssen, um zu brauchbaren Ergebnissen zu gelangen (und auch die Kriterien, wann ein Ergebnis ›brauchbar‹ ist, wandeln sich). Dies gilt für jede Form der Artbestimmung, ob auf phänotypischer oder genetischer Grundlage. Doch ist diese Einteilung, wie gezeigt, nicht gänzlich unserer Willkür unterworfen. Man muss also

21

22 23

24

Die Mehrzahl der heutzutage ›neu entdeckten‹ Arten werden nicht in der Feldforschung, sondern durch Veränderung der taxonomischen Ordnung ›entdeckt‹ – wenn z.B. nach einem bestimmten Artbegriff dort ein ›wesentlicher‹ Unterschied gefunden wird, wo zuvor ein akzidenteller war und so aus einer Unterart eine neue eigenständige Art wird. Vgl. Ernst Mayr, Grundlagen der zoologischen Systematik, Hamburg/Berlin 1975 und George G. Simpson, Principles of animal taxonomy, New York 1961. Gabriele Abram-Zurek, Konzeption zur Art in der Biologie – vom typologisch-essentialistischen zum biologischen Artbegriff, unveröffentlichtes Manuskript der Diplomarbeit im Studiengang Biologie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Januar 2010. Mayr, Entwicklung der biologischen Gedankenwelt, S. 130.

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davon ausgehen, dass bestimmte Merkmale oder Eigenschaften sich besser zur Klassifikation eignen als andere, d.h. dass sie die Eigentümlichkeit des zu erkennenden Materials besser fassen, der Natur der Sache näherkommen als andere. Die Biologie geht also davon aus, dass es Arten als ›reale‹ Einheiten gibt, d.h. dass es einen zureichenden Grund im Material der gegebenen lebendigen Individuen gibt, bestimmte von ihnen unter distinkte Einheiten zu fassen – auch wenn diese Einteilung nicht immer jedem einzelnen Exemplar einen eindeutigen Platz zuordnen können wird, da zugleich von einer kontinuierlichen Entwicklung und Veränderung der Arten ausgegangen werden muss. Das sich hierbei ergebende logische Problem, diskrete Einschnitte in einem Kontinuum abzubilden, ist seit Zenons Aporien bekannt. Aber die Organismen bilden kein durchgehendes Kontinuum, ihre Entwicklung ist nicht gleichmäßig, sondern diskontinuierlich und sprunghaft: Einige Arten bleiben in ihren Merkmalen über einen sehr langen Zeitraum weitgehend stabil, andere machen in relativ kurzen Zeitabschnitten gravierende Veränderungen durch, verzweigen sich in Unterarten, isolieren sich zu neuen Arten, von denen einige dann stabil bleiben mögen, andere hingegen nicht. Gleichzeitig bleibt in diesen Veränderungen zumeist die Zugehörigkeit unter die Einheit der Gattung erhalten, für die als übergeordnete Einheit bestimmter Arten dasselbe gilt, wie für die Subsumtion einzelner Exemplare unter eine bestimmte Art. Was die Art (und Gattung) dabei ausmacht, ist wesentlich ihre Einheit, die sich nicht auf das Sammelsurium ihrer empirischen Merkmale reduzieren lässt, sondern gemeinsame Merkmale als Ausdruck ihrer Einheit besitzt. Der hierin notwendig sich ergebende Widerspruch ist, dass die differentia specifica, da sie das Wesentliche der Art bezeichnet, empirisch nicht zu bestimmen ist, aber zugleich ein empirisches Merkmal sein muss, über das eine Artbestimmung praktisch möglich ist. Die differentia specifica als wesentliche Akzidenz ist so eine contradictio in adiecto. Darwin attestierte der Bestimmung wesentlicher Merkmale zudem einer Art selbsterfüllende Zirkularität: »Ich bin überzeugt, dass die erfahrensten Naturforscher erstaunt sein würden über die Menge von Fällen von Variabilität sogar in wichtigen Teilen des Körpers […]. Man muss sich aber dabei noch erinnern, dass die Systematiker durchaus nicht erfreut sind, Veränderlichkeit in wichtigen Charakteren zu entdecken, und dass es nicht viele gibt, welche mühsam innere wichtige Organe untersuchen und in vielen Exemplaren vergleichen. […] Die Schriftsteller bewegen sich oft in einem Kreis, wenn sie behaupten, dass wichtige Organe niemals variieren; denn diese selben Schriftsteller zählen in der Praxis diejenigen Organe zu den wichtigen (wie einige wenige ehrlich genug sind, zu gestehen), welche nicht variieren, und unter dieser Voraussetzung kann dann allerdings niemals ein Beispiel angeführt werden von einem wichtigen Organ, welches variiere; aber von jedem anderen Gesichtspunkt aus lassen sich deren ganz sicher viele aufzählen.«25

25

Darwin, Entstehung der Arten, S. 77 f.

4. Die Aporie des Artbegriffs

Als empirische Merkmale sind alle Merkmale – phänotypische wie DNA-Merkmale – einander gleich und nicht von sich aus in einer Hierarchie geordnet. Wenn ein Merkmal zur Bestimmung der Artzugehörigkeit als wesentlich erkannt wird, erhält es gegenüber den anderen Merkmalen eine Macht, indem jene als bloß akzidentell dem wesentlichen Merkmal untergeordnet werden. Hegel zeigt diese Dialektik von Akzidenz und Wesen klar auf: »Die Akzidenzien als solche […] haben keine Macht übereinander. […] Insofern ein solches Akzidentielles über ein anderes eine Macht auszuüben scheint, ist es die Macht der Substanz, welche beide in sich begreift, als Negativität einen ungleichen Wert setzt«26 . Die Hierarchisierung in zur Artbestimmung (nicht jedoch zwangsläufig auch zum Überleben des Exemplars) wichtige und unwichtige Eigenschaften stellt einen Akt menschlicher Zuordnung dar – und die Frage ist, wie dieser willkürlich erscheinende Akt durch natürliche Eigenschaften der Organismen gerechtfertigt werden kann, oder ob er, wenn er nicht durch das Material zu rechtfertigen ist, bloß willkürliche Zuordnung bleibt. Dann aber wären die Arten – anders als die einzelnen Organismen – unsere eigene Schöpfung oder bloßes Konstrukt. Als solches müsste eine naturwissenschaftliche Biologie dazu drängen, sich von diesem bloß spekulativen Begriff zu lösen. Doch ohne Artbegriff ist die Biologie als systematische Wissenschaft nicht möglich. Die Taxonomie ordnet ihren gesamten Gegenstandsbereich. Gibt es also doch einen Weg, wie die Eigenschaften im Material sich selbst in eine Hierarchie stellen? Am Einzelorganismus sicherlich nicht, aber über die Vererbbarkeit von spezifischen Eigenschaften in Populationen kann eine solche Trennung in wesentliche und akzidentelle Eigenschaften durchaus nicht-willkürlich gezogen werden. Schließlich bietet die Evolutionstheorie auch hier eine Lösung, wie akzidentielle und wesentliche Artmerkmale zu differenzieren seien. Diejenigen Strukturen, welche sich evolutionshistorisch erhalten und sich variierend in unterschiedliche Ausformungen und verschiedenen Funktionsweisen durch phänotypisch und lebensweltlich unterscheidbare Arten hindurch erhalten, verweisen auf eine sukzessive abnehmende Verwandtschaft und bestimmen die Familien oder Gattungen. Jene Merkmale, welche evolutionshistorisch jüngeren Datums sind, aber sich dennoch allgemein in der Fortpflanzungsgemeinschaft finden und nicht bloß individuell auftreten, eignen sich als Kriterien der Unterscheidung in Arten oder Unterarten. Eine genaue Grenzziehung nach einem festen Kriterium gestattet auch dies nicht, einzelne Exemplare können durch Mutationen aus dieser Ordnung fallen; aber es gibt immerhin den Taxonomen eine Richtschnur an die Hand, welche eine Fundierung über das Prinzip der Verwandtschaft für sich beanspruchen darf und also nicht in bloß anthropomorpher Willkür aufgeht. »Wie wir gesehen haben, ist die Tatsache, dass alle früheren und jetzigen organischen Wesen in einige wenige große Klassen und in Gruppen geordnet werden können, welche anderen Gruppen subordiniert sind und wobei die erloschenen Gruppen oft zwischen die noch lebenden fallen, aus der Theorie der natürlichen Zuchtwahl

26

Hegel, Logik II, S. 221.

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Dialektik des Lebendigen

mit den mit ihr in Zusammenhang stehenden Erscheinungen des Erlöschens und der Divergenz des Charakters erklärbar. Aus denselben Prinzipien ergibt sich auch, warum die wechselseitige Verwandtschaft von Arten und Gattungen in jeder Klasse so verwickelt und weitläufig ist. Es ergibt sich, warum gewisse Charaktere viel besser als andere zur Klassifikation brauchbar sind; warum Anpassungscharaktere, obschon von oberster Bedeutung für das Wesen selbst, kaum von irgendeiner Wichtigkeit bei der Klassifikation sind; warum von rudimentären Organen abgeleitete Charaktere, obwohl diese Organe dem Organismus zu nichts dienen, oft einen hohen Wert für die Klassifikation besitzen;«27 Mit Hegel ist diese Erkenntnis Darwins ein Urteil der Reflexion. »Sie drücken eine Wesentlichkeit aus, welche aber eine Bestimmung im Verhältnisse oder eine zusammenfassende Allgemeinheit ist.«28 Das Prädikat ist hier das Allgemeine, indem es das Subjekt äußerlich als zugehörig zu der durch dieses Prädikat gestifteten Gattung bestimmt. So wird das Einzelne, das Subjekt, zur Akzidenz, das Prädikat zu seinem allgemeinen Wesen. Im universellen Reflexionsurteil enthält das Subjekt die an ihm gesetzte Allgemeinheit der Gattung zugleich als vorausgesetzte. »›Alle Menschen‹ drückt erstlich die Gattung Mensch aus, zweitens diese Gattung in ihrer Vereinzelung, aber so, daß die Einzelnen zugleich zur Allgemeinheit der Gattung erweitert sind; umgekehrt ist die Allgemeinheit durch diese Verknüpfung mit der Einzelheit ebenso vollkommen bestimmt als die Einzelheit; hierdurch ist die gesetzte Allgemeinheit der vorausgesetzten gleich geworden.«29 Im Resultat der Bewegung des Begriffs der Art oder der Gattung ist die Voraussetzung eingeholt und Allgemeinheit und Einzelheit sind wechselseitig durcheinander bestimmt. So kann kein Exemplar durch individuelle Abweichung der empirischen Merkmale aus der Art herausfallen, weil mit diesem Exemplar derlei mögliche Abweichungen in der Art gesetzt sind. Das Subjekt, z.B. ›alle Menschen‹, streift seine Formbestimmung ab und wird zu ›der Mensch‹.30 »Die Allgemeinheit, die hierdurch entstanden ist, ist die Gattung, – die Allgemeinheit, welche an ihr selbst Konkretes ist. Die Gattung inhäriert dem Subjekte nicht oder ist nicht eine einzelne Eigenschaft, überhaupt nicht eine Eigenschaft desselben; sie enthält alle vereinzelte Bestimmtheit in ihrer substantiellen Gediegenheit aufgelöst.«31 So erhalten wir im Resultat ein Urteil der Notwendigkeit, denn das Wesen bestimmt die objektive Allgemeinheit der Gattung oder Art ungeachtet der zufälligen Besonderheiten einzelner Exemplare. Darum kann einem Exemplar der Art die spezifische Differenz als Eigenschaft fehlen, ohne dass dies die Artzugehörigkeit in Frage stellte. Der Organismus ist eine Ganzheit, alle Teile verweisen wechselseitig aufeinander, so dass unter der Voraussetzung des Artbegriffs die Akzidenzien auf das Wesen verweisen. 27 28 29 30 31

Darwin, Entstehung der Arten, S. 570 f. Hegel, Logik II, S. 326. Hegel, Logik II, S. 332 f. Vgl. Hegel, Logik II, S. 334 f. Hegel, Logik II, 333 f.

4. Die Aporie des Artbegriffs

Darum wird die Klassifizierung in der Feldforschung auch nicht (nur) über festgeschriebene Merkmale spezifischer Differenz geleistet, sondern art- und situationsabhängig über ein Konglomerat von Indizien, welches in historischer Erfahrung erworben wurde. So geben beispielsweise ein Ruf, eine Losung, eine Kratzspur, in bestimmter Weise angefressene Pflanzen, die Tages- und Jahreszeit der Sichtung etc. dem Zoologen Hinweise darauf, welche Tierarten im untersuchten Gebiet vorkommen. Wie bei Platon ist dasjenige, worauf diese gefundenen ›Artmerkmale‹ dann bezogen werden, also die Art, ideell vorausgesetzt – allerdings nicht in einem transzendenten Ideenhimmel, sondern als transzendentale Bedingung der Möglichkeit ihrer Erkenntnis.

4.3

Die Einheit der Art als Fortpflanzungsgemeinschaft

Organismen stellen sich uns als distinkte Arten dar, als klar voneinander abgegrenzte Einheiten mit spezifischen Differenzen gegeneinander. Der Erscheinung des Lebendigen in abgegrenzten Arten entspricht der typologisch-essentialistische Artbegriff: Arten sind diskontinuierlich und trennscharf zu unterscheiden. Doch worin besteht die scharfe Trennlinie, wenn sie nicht immer eindeutig über empirische Kennzeichen der spezifischen Differenz in jedem variierenden Einzelfall zu ziehen ist? John Ray löste dieses Problem elegant über den Artprozess selbst. Er definierte die Arten Ende des 17. Jahrhunderts als Fortpflanzungsgemeinschaften und die Grenzen zwischen ihnen folglich über Unfruchtbarkeit,32 was in den Grundzügen auch für die heutige Biologie noch gilt. Arten werden also nicht nur nach äußerer stofflicher Ähnlichkeit oder gleicher Funktion unter einen Begriff subsumiert wie natürliche unbelebte Gegenstände und Artefakte, sondern sie sind reflexiv im Prozess ihrer Reproduktion real aufeinander bezogen; eine Art ist insofern nicht nur begriffliche, sondern auch reale Einheit. Diese wird als Fortpflanzungseinheit bestimmt – auch wenn empirisch nicht sichergestellt werden kann, dass alle gegengeschlechtlichen Exemplare einer Art tatsächlich untereinander fortpflanzungsfähig sind. Der Zusammenhang der Art als Fortpflanzungsgemeinschaft ist individuell retrospektiv wirklich – alle Exemplare werden von Exemplaren derselben Art gezeugt –, aber als Gesamtzusammenhang weitestgehend ideell – viele Exemplare einer Art sind lange Phasen ihres Lebens oder auch gänzlich unfruchtbar; etwa bei staatenbildenden Insekten bilden unfruchtbare Exemplare sogar den Großteil der Populationen. Die Nachkommen von Exemplaren einer Art gehören immer zur selben Art wie ihre Eltern und alle Unterschiede in den Merkmalen zwischen Eltern und Nachkommen oder auch zwischen Geschwistern sind per definitionem bloß akzidentelle Variationen

32

Vgl. John Ray, Historia generalis plantarum, ohne Ort 1686. Die Einführung der Sterilität von Artbastarden als ein biologisches Artkriterium markierte auch einen weiteren Schritt der Biologie hin zu einer eigenständigen Wissenschaft, da dieser Begriff der Art nun nicht mehr auf Mineralien angewandt werden konnte. Vgl. Peter McLaughlin, »Cartesische und newtonianische Biologie«, in: Petra Bahr/Stephan Schaede (Hg.), Das Leben. Historisch-systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs, Bd. 1, Tübingen 2009, S. 305-322, S. 305.

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Dialektik des Lebendigen

innerhalb der Art. Dies impliziert strenggenommen, dass die Arten wirklich diskontinuierlich sind, d.h. auch unabhängig voneinander entstanden sein müssten. Unter der Prämisse der Evolution sind aber alle Arten letztendlich miteinander verwandt und stellen so historisch eine einzige Fortpflanzungsgemeinschaft dar. Dies würde wiederum bedeuten, dass es nur eine Art von Leben auf der Erde gibt und dass das, was wir gemeinhin Arten nennen, ihre Variationen darstellen. Doch diese Variationen des Lebendigen, also die heute existierenden verschiedenen Arten, sind i.d.R. nicht untereinander fortpflanzungsfähig und bilden also empirisch keine reproduktiven Einheiten. Es gibt allerdings Ausnahmen, Hybride, wie das bekannte Maultier, eine Mischung aus Pferd und Esel, das selbst jedoch keine eigenen Nachkommen hervorbringen kann.33 Den Elterntieren unfruchtbarer Nachkommen wird jedoch nicht abgesprochen, zu ein und derselben Art zu gehören. Dies gilt nur umgekehrt: Wenn die Nachkommen von artverschiedenen Elterntieren sich als unfruchtbar erweisen, wird der Grund hierfür der Artverschiedenheit der Eltern zugeschrieben. Buffon erweiterte darum die Artbestimmung von Ray, indem er hinzufügte, dass die Nachfahren selbst fortpflanzungsfähig sein müssen, wenn beide Elterntiere zur selben Art gehörten.34 Mittlerweile kennen wir nicht nur die üblicherweise tatsächlich unfruchtbaren Maultiere und -esel. Insbesondere die Gruppenhaltung in zoologischen Gärten bescherte uns ein breites Spektrum an teilweise untereinander fruchtbaren Artkreuzungen.35 Am spektakulärsten und darum wohl bekanntesten sind die Kreuzungen zwischen Tigern und Löwen, die Carl Hagenbeck gezielt für Tierschauen züchtete. Die Liger (engl. Liger) oder Töwen (engl. Tigon) erreichen deutlich größere Körpermaße als ihre Elterntiere und ihre Weibchen sind wiederum mit Löwen und Tigern fruchtbar. Da die Männchen bislang unfruchtbar waren, stellt Panthera leo x tigris respektive Panthera tigris x leo keine eigene Art dar, jedoch gibt es mittlerweile zum Leidwesen der Systematiker Hybrid-Hybride, nämlich Kreuzungen zwischen weiblichen Ligern und männlichen Töwen. Die hieraus hervorgehenden Tölige (engl. Tilons) sind untereinander fruchtbar. Es gibt zahlreiche weitere Beispiele, so sind auch viele Hybride von Schmuckschildkröten äußerst fertil. Unter der Prämisse der Evolution dürfte dies eigentlich nicht überraschen. Tiere oder Pflanzen, die sich erfolgreich über die Artgrenzen hinaus fortpflanzen, gehören bislang immer derselben Gattung an und sind also evolutionshistorisch eng miteinander verwandt.36 Dennoch stört dieses sexuelle Artendurcheinander, das unter künstlichen Haltungsbedingungen produziert wurde, den Artbegriff als empirischen Begriff 33 34 35

36

Ausnahmen bestätigen auch hier, dass es sich um eine bloße Regel handelt, nicht um ein Gesetz. Vgl. Georges-Louis Leclerc Comte de Buffon, Histoire Naturelle, générale et particulière, avec la description du Cabinet du Roi, Paris 1749-1804, Band 2. Weitere bekannte Hybridbildungen gibt es z.B. zwischen Ziegen und Schafen (Schiegen), Kamelen und Lamas (Camas) oder Kleinen Schwertwalen und Großen Tümmlern (Wolphin). Auch der weitverbreitete und fertile Teichfrosch ist eine Hybride aus Kleinem Wasserfrosch und Seefrosch. Die genaue ›Nähe‹ solcher evolutionären Verwandtschaftsverhältnisse ist schwer zu bestimmen; das Maß, an dem sie gemessen werden könnte, wäre die Anzahl trennender Zwischenformen zwischen zwei Arten. Doch diese ist, da es sich um ausgestorbene Arten handelt, nicht zu ermitteln. Die ›missing links‹ sind zunächst bloße Vorstellungen, die die Lücken in der evolutionären Entwicklung von einer Art zur nächsten gedanklich schließen, um das Kontinuum der Evolution vorstellbar

4. Die Aporie des Artbegriffs

der realen Fortpflanzungsgemeinschaft. Daher wurden als weiteres einschränkendes Kriterium die natürlichen Fortpflanzungsbarrieren mit einbezogen. Wenn Tiere sich also in freier Wildbahn nicht miteinander paaren – sei es aufgrund verschiedener Verbreitungsgebiete, sei es aufgrund verschiedenen Paarungsverhaltens –, obwohl sie es unter künstlichen Bedingungen durchaus erfolgreich tun und hierbei auch fertiler Nachwuchs entstehen kann, bilden sie keine Art. Dies scheint ein sicheres Kriterium zu sein, denn wenn Arten sich unter natürlichen Bedingungen mischen würden, dann lägen sie heute nicht als getrennte Arten vor, sondern als eine Art. Doch auch hier bringen empirische Studien Ausnahmen an den Tag, da die natürlichen Bedingungen sich verändern. Vermutlich durch den Klimawandel und den dadurch hervorgerufenen Rückgang des arktischen Eises wird z.B. eine geologische Barriere zwischen Braunbären und Eisbären offenbar durchlässiger. Die Braunbären (vor allem Grizzlys, eine Unterart des Braunbären) wandern in arktische Gebiete ein, wo sie in den letzten Jahren schon mehrfach fertile Nachkommen mit Eisbären gezeugt haben. Vielleicht werden diese Hybridbären sich künftig in der Arktis besser behaupten können, als die dort heimischen Eisbären, die immer häufiger verhungern, weil das Meer, auf dessen Eis sie jagen, zunehmend spät im Jahr zufriert.37 Hieraus ist deutlich ersichtlich, dass auch die Fortpflanzungsfähigkeit als empirisches Merkmal genommen kein eindeutiges Kriterium zur Bestimmung von Artgrenzen sein kann; die meisten Exemplare einer Art haben keine Nachkommen miteinander und nicht alles, was irgendwie fruchtbaren Nachwuchs zeugen kann, bildet eine Art. Es gilt also nicht: alles, was sich empirisch nachgewiesen über mehrere Generationen fortpflanzen kann, gehört zu einer Art, sondern andersherum: Es gehört prinzipiell zu einer Art, dass ihre Exemplare sich über Generationen hinweg miteinander fortpflanzen. Doch wenn wir davon ausgehen, dass neue Arten entstehen können – sei es durch Kreuzungen und Bildung von Hybridarten, sei es durch sich isolierende Varietäten –, dann muss es Bereiche geben, die sich nicht trennscharf eindeutig zu der Einheit Art zusammenfassen lassen, weil sie (noch) keine isolierte Einheit sind und zugleich trennende Merkmale zu anderen Exemplaren aufweisen, die ›wesentlicher‹38 sind, als dass es bloße Varietäten wären. Dies zeigt sich beispielhaft in der Existenz von Ringspezies wie dem Grünlaubsänger. Dieser Singvogel besiedelt in verschiedenen Populationen das Gebiet rund um das Himalaya-Gebirge, wobei die Exemplare der benachbarten Populationen jeweils untereinander fortpflanzungsfähig sind und fertile Nachkommen

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38

zu machen. Da es sich um einen Entwicklungsprozess handelt, lassen sich mehr oder weniger distinkte Zwischenstufen denken. Im Zoo Osnabrück wurden 2004 zwei solcher Hybridbären geboren; rückblickend könnte dieser Zoo in einigen Jahren der erste werden, der eine Art ausstellte, bevor es sie gab. Vgl. Hybridbären Tips und Taps im Zoo Osnabrück: https://www.zoobesuche.org/tips-und-taps vgl. auch: https://www.geo.de/natur/tierwelt/hybride---cappuccino-baeren--erobern-nordamerika-305 00766.html (Zugriff am 20.08.2022). Da das Wesen die qualitative Differenz zwischen Arten setzt, kann der Begriff logisch nicht graduell gefasst werden. Dass er hier dennoch im Komparativ verwendet wird, verdeutlicht die systematische Schwierigkeit, dass im Prozess der Artentstehung eine qualitative Differenz nicht plötzlich erscheint, sondern sich herausbildet und erst retrospektiv, wenn sie sich im Artprozess als spezifisch gefestigt hat, auch den frühen Exemplaren dieser Art zugesprochen werden kann und muss.

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Dialektik des Lebendigen

hervorbringen. Zugleich sind sie jedoch unfruchtbar mit Exemplaren aus weiter entfernten Populationen, so dass dort, wo der Ring sich trifft, eine Fortpflanzungsschranke besteht.39 Ob einzelne Populationen nur Varietäten oder doch Stammeltern einer neuen Art sind, lässt sich erst entscheiden, wenn sich im Resultat historisch eine neue Art herausgebildet haben wird – oder eben nicht; und selbst dann bleibt notwendig ein Spielraum, innerhalb dessen der Zuordnung von Individuen bzw. Populationen zu der einen oder anderen Art etwas Willkürliches anhaftet. Organismen mit uniparentaler Fortpflanzung wie Prokaryonten und die meisten Eukaryonten bilden streng genommen keine Populationen, sondern Gruppen von Klonen. Bei vielen Organismen gibt es auch unklare Zwischenbereiche, beispielsweise die Jungfernzeugung bei zweigeschlechtlichen Arten (fakultative Parthenogenese), wie sie bei vielen Phasmidenarten beobachtet werden kann, oder Gendrift bei Bakterien, also Rekombination genetischen Materials bei sich ungeschlechtlich reproduzierenden Organismen. Doch die Art hängt nicht am einzelnen Exemplar, sondern umgreift alle ihr zugehörigen Organismen zur Einheit; Fragen nach der Individualität von Einzellern, also danach, ob bei der Reproduktion durch Zellteilung bei Einzellern das Elternexemplar individuell ausgelöscht wurde, in einem der neu entstandenen Lebewesen weiterexistiert oder alle seine ›Nachkommen‹ nur ein Individuum sind, machen also in Bezug auf Arten, für deren Reproduktion sich nicht getrennte Individuen sexuell aufeinander beziehen müssen, keinen Sinn. Die Zusammenfassung der sich asexuell vermehrenden Organismen (zwischen deren Exemplaren es also keine Rekombination des genetischen Materials bei der regulären Vermehrung gibt) unter die Einheit der Art ist jedoch der Sache nach richtig, denn auch diese Einheit erhält sich, indem die (genetisch identischen) Individuen auseinander hervorgehen. Denn die Einheit der Art lässt sich nie auf einen empirisch zu beobachtenden Sachverhalt reduzieren, sondern ist immer ideell bestimmt. Darum müssen nicht alle Exemplare einer Art empirisch beweisen, dass sie sich sämtlich erfolgreich untereinander fortpflanzen könnten und auch ihre Nachkommen noch fertil wären – allein diese Vorstellung ist aberwitzig. Die ideelle Einheit der Arten hat ihren realen Grund im wechselseitigen Bezug ihrer Exemplare auf einander in der sexuellen Fortpflanzung. Darum ist die reale Fortpflanzungsgemeinschaft dasjenige, woran der Begriff der Art allein sich bilden kann, auch wenn eine Übertragung des an der geschlechtlichen Fortpflanzung gewonnenen Artbegriffes auf sich asexuell reproduzierende Organismen möglich ist. Die zweigeschlechtlichen Arten reproduzieren sich durch den wechselseitigen Selbstbezug (die Art bezieht sich auf sich), indem sich unterschiedliche Exemplare einer Art sexuell aufeinander beziehen. Als dieser Selbstbezug der Art auf sich, in dem sie durch Schlupf oder Geburt, Fortpflanzung und Tod der variierenden Einzelexemplare hindurch sich gleich bleibt, sind Arten ideell. Somit sind sie begrifflich nur als konstant zu fassen. Tatsächlich identische Reproduktion kann zwar dem Begriff einer Gemeinschaft sich im wechselseitigen Bezug hervorbringender Exemplare unter der Einheit der Art nicht gerecht werden, aber zugleich trifft sie eine wichtige Bedingung des Artbegriffs 39

Vgl. Miguel Alcaide/Elizabeth S. C. Scordato/Trevor D. Prince/Darren E. Irwin, »Genomic divergence in a ring species complex«, in: Nature 511 (2014), S. 83-85.

4. Die Aporie des Artbegriffs

besser als die geschlechtliche Fortpflanzungsgemeinschaft: Gleiches geht aus Gleichem hervor. Die Arten müssen als ideelle Einheiten als konstant gedacht werden, denn ohne das Axiom der Artkonstanz ließe sich kein konsistenter Artbegriff bilden. Der Artbegriff gibt damit ein biologisches Prinzip – das Prinzip der reproduktiven Einheit, welches im Widerspruch zur Evolutionstheorie steht.

4.4

Das Problem der Artvarianz

Wenn in einer ontologischen Artdefinition davon ausgegangen wird, Arten seien natürliche Einheiten, nicht begriffliche Abstraktionen, dann müssen alle Exemplare der Art gleich sein und identische Nachkommen liefern. Hühner zeugen Hühner, Katzen zeugen Katzen etc. Die Identität der Exemplare wird ebenso konstant gedacht, wie der Begriff es fordert. Dies widerspricht der Evolutionstheorie, die uns erst den unverzichtbaren taxonomischen Gesamtzusammenhang über die Grade der Verwandtschaft der Arten untereinander an die Hand gibt. Eine Lösung bietet die synthetische Theorie der Evolution.40 Sie löst das Problem von Artkonstanz und Artvarianz auf, indem sie zwischen Art – dem konstanten Abstraktum – und Population – den empirischen Individuen – trennt. Die Population ist in ständiger Dynamik, jedes Exemplar in ihr unterscheidet sich graduell von jedem anderen und im Reproduktionsprozess ist jede Generation neu zusammengesetzt und von der vorherigen unterschieden. Die Trennung von Artbegriff und Populationsdynamik führt zu einer Betrachtungsweise, die die Art zum bloßen Sammelbegriff Verschiedener macht: indem sich bei der geschlechtlichen Fortpflanzung so immer nicht-identische Exemplare kreuzen, führt dieser Prozess notwendig zu immer abgeänderten Individuen. Bei einer Anhäufung veränderter Merkmale in einer Population kann dann überlegt werden, diese unter einem neuen Artbegriff zu versammeln.41 Die Art ist nicht lebendig, etwa in ihren Exemplaren, sondern bloß Begriff; so kann sie statisch sein, während die Organismen es nicht sind und sie bleibt im Wandel der Evolution als Beharrliches, während die Organismen sich wandeln. Der Begriff des Sinodelphys bleibt sich gleich, auch wenn diese Beutelsäuger seit etwa 125 Millionen Jahren nicht mehr existieren. Dies als Mangel zu sehen und darum etwa lieber von dynamischen Populationen als von Arten zu reden, scheint konsequent zu sein. Doch es verkennt die Aufgabe der Naturwissenschaft, die durch solch ein begriffsloses Anschmiegen an die empirische Erscheinungsform der Beschreibung das Primat vor der Erkenntnis gibt. Erst die begriffene spezifische Differenz zu anderen Arten als Gesamtheit ist als Artbegriff eine Erkenntnis des Gegenstandes. Das Summieren von Exempla40

41

Die synthetische Evolutionstheorie ist die verbreitete Fortführung der klassischen Evolutionstheorie von Darwin, die durch neuere Erkenntnisse aus der Populationsbiologie, Genetik, Paläontologie etc. erweitert wurde. Die Forschungen bekannter Autoren wie Ernst Mayr, Julian Huxley, George Gaylord Simpson oder Sewall Wright gingen in die synthetische Evolutionstheorie ein. Dies wird an dem von Darwin gesammelten Material über künstliche Zuchtwahl deutlich: Die Zuchtexemplare werden gerade aufgrund ihrer besonderen Abweichungen zu anderen Exemplaren zur Weiterzucht bestimmt, andere werden aufgrund ihrer besonderen Eigenschaften von der Zucht ausgeschlossen.

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Dialektik des Lebendigen

ren zur Population hingegen führt auf keinen Artbegriff, sondern setzt diesen vielmehr als dasjenige, unter dem die Exemplare subsumiert werden können, voraus. Doch im Unterschied zum Reden von Populationen führt die mit dem Artbegriff gewonnene Erkenntnis auf eine Aporie. Seit Darwins Evolutionstheorie muss die Biologie so mit einem widersprüchlich verfassten Artbegriff arbeiten. Unter der Prämisse der Evolutionstheorie gilt: Die spezifische Differenz muss immer zugleich wesentlicher Unterschied und bloß graduelle Verschiedenheit sein. D.h., dass die Annahme einer bloß graduellen Verschiedenheit zwischen Mensch und Schimpanse evolutionsbiologisch genauso wahr ist, wie das Beharren auf der wesentlichen Differenz beider Arten.

4.5

Die Aporie von Artvarianz und Artkonstanz

Die Vorstellung der Evolution droht den Artbegriff logisch zu destruieren: Wenn Arten Fortpflanzungsgemeinschaften sind und sich also nicht über ein gemeinsames Wesen, sondern über Verwandtschaft herstellen, wenn aber zugleich die Arten nicht kontinuierlich sind, sondern sich stetig verändern und neue Arten aus alten hervorgehen, wenn nun schließlich die gesamte Evolution spekulativ bis zu den ersten Lebensformen zurückverfolgt werden kann, von denen alle heutigen Lebensformen abstammen, dann bildet entweder alles Belebte eine einzige Art oder jedes Individuum muss aufgrund seiner Verschiedenheit von jedem anderen als eigene Art betrachtet werden. Beide Varianten würden dem Artbegriff jeden Gehalt entziehen und das Konzept der Art somit auflösen. Doch die Biologie braucht den Artbegriff, um das Material ihres Gegenstandsbereiches erschließen und ordnen zu können. Aber jede scharfe Abtrennung zwischen den Arten droht unter der Prämisse der Evolution zur bloß willkürlich und damit vom Menschen künstlich gezogenen Grenze in einem natürlichen Kontinuum zu werden. Schon bei Lamarck zeigte sich, dass der fortschrittliche Artbegriff unter der Prämisse des historischen Wandels von Eigenschaften widersprüchlich wird: »Wenn nun eine Menge dieser versteinerten Muscheln Verschiedenheiten aufweisen, die uns nach den angenommenen Ansichten nicht gestatten, sie für Analoga der bekannten verwandten Arten zu halten, folge daraus mit Notwendigkeit, daß diese Muscheln wirklich ausgestorbenen Arten angehören? […] Wäre es im Gegenteil nicht möglich, daß die versteinerten Individuen, um die es sich handelt, noch lebenden Arten angehören, die sich indessen seither verändert und die Entstehung der gegenwärtig noch lebenden verwandten Arten veranlaßt haben?«42 Die Fossilien ausgestorbener Arten hätten durch Wandel die Entstehung der gegenwärtigen Arten veranlasst und seien darum keine Angehörigen ›wirklich ausgestorbener Arten‹, sondern Angehörige noch lebender – bloß veränderter – Arten. In diesem Widerspruch, dass die neuen Arten zugleich identisch mit den ausgestorbenen Arten 42

Jean-Baptiste de Lamarck, Zoologische Philosophie, Erster Teil, Drittes Kapitel, ›Über die sogenannten ausgestorbenen Tiere‹, zitiert nach Sinai Tschulok, Lamarck, eine kritisch-historische Studie, Zürich/ Leipzig 1937, S. 147.

4. Die Aporie des Artbegriffs

seien, weil erstere von letzteren abstammten und sie also insgesamt eine Fortpflanzungsgemeinschaft bildeten, äußert sich die Aporie von Artkonstanz und Artvarianz. Der evolutionstheoretisch verstandene Artbegriff ist durch die gleichzeitige Annahme von Artkonstanz (Hühner zeugen Hühner) und Artvarianz (aus dem Tyrannosaurus rex werden Hühner) unweigerlich in sich widersprüchlich. Einerseits erhält sich die Art, d.h. innerhalb einer Art werden alle Exemplare wesentlich identisch gesetzt, und gleichzeitig verändern sich Arten hin zu neuen Arten, die sich wesentlich von ihren Vorfahren unterscheiden. Die Exemplare einer Art sind sich damit zugleich gleich und ungleich, und beides ist für einen evolutionären Artbegriff notwendig. Eine Auflösung dieses Widerspruches hätte entweder die Negation des Artbegriffs oder die Negation des Prinzips der Evolution zur Folge: Auf der einen Seite des Widerspruchs sind alle Exemplare als Variationen voneinander spezifisch unterschieden und der Artbegriff löst sich auf, denn alles Leben gehörte als eine einzige Fortpflanzungsgemeinschaft einer Art an; auf der anderen Seite des Widerspruchs wird unter der Prämisse der Identität der Exemplare in der Generationenfolge das Prinzip der Evolution negiert. Hieraus könnte man folgern, dass der Artbegriff, wie Linné es befürchtete, ein künstliches, pragmatisches Konstrukt sei. Dass die Biologie sich heute in einer Vielzahl der Artbegriffe verzettelt, scheint hierfür ein Indiz zu sein.43 Dies zeigt zunächst, dass der Begriff der Art in der Biologie nicht klar bestimmt ist, sondern es divergierende Auffassungen davon gibt, was eine Art sei. In der theoretischen Diskussion führte dies u.a. zu der Auffassung, dass der Artbegriff offensichtlich verzichtbar sei, weil ihm nichts Eindeutiges im Material korrespondiere oder dies nicht erkennbar sei. Praktisch arbeiten mit konkreter Forschung befasste Biologen jedoch immer mit (irgend-)einem Artbegriff. Naturphilosophisch betrachtet zeigt das vor allem, dass die Biologie bislang daran scheiterte, Artvarianz und -konstanz dialektisch zusammen zu denken und dabei die ideell gestiftete Einheit der Art zugleich als adäquaten Ausdruck wesentlicher realer Verschiedenheiten von Populationen in der Natur zu begreifen. Der Widerspruch im evolutionstheoretischen Artbegriff muss nicht (und kann nicht) gelöst werden, er muss in seiner adäquaten Struktur dialektisch begriffen werden. Artkonstanz und Artvarianz sind tatsächlich beide für die Annahme der Einheit des Lebendigen und seine Erschließung über die Einteilung in Arten notwendige Annahmen, da beides wechselseitig aufeinander verweist. Die Arten stehen in dem empirisch durch ihre evolutionäre Entwicklung gestifteten Zusammenhang der Einheit des Lebendigen auf der Erde, sie verändern sich und gehen ineinander über, so dass die taxonomische Bestimmung kleiner Populationen oder gar einzelner Exemplare als Art, Unterart, Mutation oder Hybrid dieser Dynamik durch Mangel an Exaktheit Rechnung tragen muss. Zugleich lassen sich Arten in der empirischen Beobachtung eindeutig durch ihre Strukturpläne und ihre Lebensweise voneinander abgrenzen und bilden disparate Einheiten,

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Z.B. zählte Mayden 22 Artbegriffe in der zeitgenössischen Biologie. (Vgl. R. L. Mayden, »A hierarchy of species concepts: the denouement in the saga of the species problem, in: Species: The Units of Biodiversity, M. F. Claridge/H. A. Dawah/M. R. Wilson (Hg.), London 1997.) John S. Wilkins kam wenige Jahre später (2002) schon auf 26 Artbegriffe. Vgl. Wilkins: http://researchdata.museum.vic .gov.au/forum/wilkins_species_table.pdf (Zugriff 8.3.2013).

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Dialektik des Lebendigen

die sich auch nach Grundtypen oder Klassen distinkt voneinander trennen lassen und kein gleichförmiges Kontinuum der Evolution bilden. »Freilich existieren die Arten nicht als für sich bestehende Dinge, aber sie sind der Ausdruck für beständige Relationen. Diese Relationen dichten wir der Natur nicht an, sondern wir finden sie auf Grund der Beobachtung vor.«44 Diese Beobachtung ist zunächst unmittelbar, richtet sich nachfolgend jedoch zunehmend nach den wissenschaftlich aufgestellten Ordnungskriterien. Jeder kann einen Spatzen von einer Taube oder einer Kuh unterscheiden und angeben, dass die Verwandtschaft zur ersteren näher ist als zur letzteren. Dass das Zwergkaninchen (Brachylagus idahoensis) mit den Hasen enger verwandt ist, als die unter gleichem Namen bekannte Zuchtform des Hauskaninchens (Oryctolagus cuniculus forma domestica), ist dem Laien dagegen weniger evident und erfordert tiefere Einsicht in die Ordnungskriterien der Taxonomie. Die Frage, ob die Einteilung der Organismen in Arten und Klassen eine natürliche sei, oder ob sie ein bloß ausgedachtes System, einen Anthropomorphismus darstelle, ist insofern falsch gestellt, als sie von einem Begriff der Realität als ›Ding an sich‹ ausgeht. Selbstverständlich ist der Artbegriff (wie jeder Begriff) etwas Gedachtes – und die Biologie hat hinreichend erwiesen, dass dieser Begriff etwas trifft, dass uns Organismen empirisch in der Beobachtung mit spezifischen Gemeinsamkeiten und Unterschieden gegeben werden, die der Artbegriff sinnvoll fasst, und dass mit ihm darum empirische Erkenntnisse über das Belebte möglich sind, die wir ohne eine solche Einteilung in Arten niemals haben könnten. Dies geht auf die grundsätzliche Möglichkeit der Erkenntnis des Lebendigen durch seine Einteilung in Klassen, Gattungen, Arten, Unterarten, die gar nicht möglich wäre, wenn sie dem zu ordnenden Material nicht entspräche. Wenn beispielsweise jedes Tier einen in seiner Struktur einmaligen, individuellen Knochenbau, Zellaufbau, Organe etc. hätte, dann könnten wir uns kein klassifizierendes Schema denken, und darum gäbe es auch objektiv keine Arten, weil es objektiv keine Arten gäbe. Das heißt nicht, dass jede gemachte Einteilung richtig ist und keine andere Ordnung möglich wäre – die Dynamik in der Taxonomie bis heute zeigt sowohl, dass die Ordnung grundsätzlich möglich ist, als auch, dass einzelne Gruppen sich als zu sperrig für die bisher gefundene Ordnung erweisen und neue Ordnungskriterien zu ihrer Untersuchung einfordern. Der Artbegriff ordnet den ganzen Gegenstandsbereich des Lebendigen und macht ihn so erst systematisch erschließbar. Deshalb ist es ebenso richtig, zu sagen, dass es objektiv Arten gibt, wie es richtig ist, zu sagen, dass der Mensch dieses Ordnungsraster denkend auf die Welt des Organischen legt.

4.6

Sprünge in der Evolution?

Bislang wurde vorausgesetzt, dass distinkte Arten evolutionär sukzessive entstehen, und hierüber die Aporie im Artbegriff entwickelt. Ein weiteres Problem, das mit der Bestimmung der spezifischen Differenz zusammenhängt und die Biologie beschäftigt, 44

Cassirer, Erkenntnisproblem, S. 157.

4. Die Aporie des Artbegriffs

ist die Frage danach, wie ein evolutionärer Übergang von einer Art zur nächsten gedacht werden kann, insbesondere, wenn hierdurch neue Gattungen entstehen, die sich durch neue Strukturen und Funktionszusammenhänge auszeichnen. Für die Entwicklung von neuen Arten gibt es keine empirisch beobachtbaren Beispiele, mit denen sich experimentieren ließe, weil die Zeiträume für die Manifestation genetischer Veränderungen in Populationen für jede sinnvolle Untersuchung zu lang sind. Daher wird Evolution entweder im Computer simuliert45 oder aufgrund von paläontologischen Funden rekonstruiert, wobei beides bis zu einem gewissen Grad spekulativ interpretiert werden muss. Darwin ging aufgrund seiner Beobachtungen insbesondere in der Taubenzucht davon aus, dass der Übergang von Varietäten zu Unterarten und eigenständigen neuen Arten nicht exakt zu bestimmen sei, sondern sukzessive als Prozess sich summierender Veränderungen vor sich gehe. Hinweise hierfür fand er auch in der Taxonomie, wo er insbesondere in der Botanik verschiedene Klassifikationen fand, die ein und dieselbe Pflanze einmal als bloße Varietät, ein andermal als eigene Art bezeichneten.46 Als Grund der Veränderung und Spezialisierung nannte er die natürliche Zuchtwahl, welche eine zunehmende Anpassung an die veränderlichen Umweltbedingungen zur Folge habe. Doch auch bei gleichbleibender Umwelt fände unter den Individuen einer Art ein ›Konkurrenzkampf‹ statt, der zu Veränderungen führen kann, die neue Bereiche der Umwelt erst als Lebensraum erschließen. Exemplarisch hierfür sind die DarwinFinken auf den Galapagos-Inseln: Indem sie sich auf verschiedene Nahrungsquellen spezialisierten, bildeten sich nicht nur Varietäten weiter zu festen Unterarten, sondern zugleich können insgesamt mehr Finken im selben Lebensraum siedeln, da die Nahrungskonkurrenz nur unter den Individuen der jeweiligen Unterart auftritt, nicht unter allen Finken. Nach dem Prinzip der Arbeitsteilung würden so aus einer Art diverse spezialisierte Unterarten. Desmond und Moore sehen hier in der fortschreitenden Arbeitsteilung zur Produktionssteigerung ein ökonomisches Vorbild für das von Darwin am Beispiel der Darwin-Finken aufgestellte Prinzip der Herausbildung der Arten durch Evolution: »[J]eder Großbürger, der von seinen Industrieaktien lebte, verstand das Prinzip der Arbeitsteilung. In der dampfgetriebenen Epoche war es das Synonym für Spezialisierung und Geschwindigkeit. Es versprach Reichtum und florierende Märkte, und diese industrielle Metapher schien nun auch für die Natur selbst Gültigkeit zu haben.«47 Vom Resultat her ist diese Analogie plausibel genug. Doch während ein Produktionsprozess als ganzer bewusst umstrukturiert werden kann, so dass alle Teilprozesse in neuer Organisation sinnvoll ineinander greifen, wirft die Vorstellung einer sukzessiven

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46 47

Seit Ende der 1990er Jahre nehmen die Forschungen mit digital simulierten evolutionären Prozessen dank frei verfügbarer Software wie ›Altruist‹ erheblich zu. Vgl. Agner Fog, »Simulation of Evolution in Structured Populations: The Open Source Software Package Altruist«, in: Biotech Software & Internet Report. Vol. 1, No. 5, 2000, S. 226-229. Vgl. Darwin, Entstehung der Arten, S. 80-87. Adrian Desmond/James Moore, Darwin, München 1992, S. 475.

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Dialektik des Lebendigen

Änderung der Gesamtstruktur hin zu neuer Funktionalität beim Organismus die Frage nach dem Übergang auf. Wo neue Eigenschaften des Organismus sich bilden, die, obgleich anfangs noch in der Entwicklung begriffen und somit unvollständig, doch schon von Beginn an funktional sein müssen, um seinem Träger einen Reproduktionsvorteil zu verschaffen, stellt sich die Frage nach der vorauszusetzenden Funktionseinheit des Organismus ganz konkret. Denn zweckmäßige Eigenschaften eines Organismus sind immer schon ein Zusammenspiel verschiedener Teile – es wäre zu kurz gedacht, eine Eigenschaft mit einem Teil gleichsetzen zu wollen; der längste Schnabel nützt nichts, wenn der Hals nicht die Muskeln hat, ihn zu benutzen oder der Magen nicht die Möglichkeit, die hiermit besonders gut zu erreichende Nahrung zu verdauen (denn dann wäre es keine Nahrung). Bertalanffy macht darum darauf aufmerksam, dass sowohl bei der Erklärung der Entstehung des Lebens48 als auch bei der Entstehung neuer Eigenschaften von Organismen jede mechanistische Erklärung an ihre Grenze stößt: »[Es] ist zu bemerken, daß der Selektionismus gar nicht die organische Ganzheit erklärt, sondern sie vielmehr in den Lebensfunktionen der Organismen schon voraussetzt. Nur dadurch, daß sie ›ganzheitserhaltende‹ oder ›dauerfähige‹ Wesen sind, können die Organismen um ihr Dasein miteinander kämpfen. Der Darwinsche Zufall bedeutet nichts anderes, als den Verzicht auf die Einsicht in die Gesetze der Entwicklung der organischen Zweckmäßigkeit […]. Darwin […] hat so vollständig den prinzipiellen Unterschied zwischen einer Eigenschaft und einem Teil übersehen. Wollen wir Darwins Gedankengänge auf das Entstehen von Organsystemen anwenden, so müssen wir diese in viele kleine Teile zerlegen können, jeder Teil so klein, daß wir sein zufälliges Erscheinen als zufällige Variation verstehen können, doch müssen diese Teile an und für sich Selektionswert haben […]. Würde ein Teil als Variation auftreten, z.B. ein Muskel ohne regulierende Nervenverbindung, er wäre einer Geschwulst zu vergleichen, bedeutete keine Überlegenheit des Besitzers über die anderen. Der Darwinismus der Organsysteme gründet sich so auf eine Summe von Krankheiten und nicht auf eine Summe von nützlichen Abänderungen […]. Es ist also abermals das Problem der organischen Ganzheit, die nicht in Teile zerschlagen werden kann, welches die Grenze für die mechanistische, hier selektionistische Erklärung bildet«49 . Weingarten diagnostiziert hier anhand biologischer Theoretiker wie Hartmann »ein der darwinistischen Theorie immanentes Problem: die Anpassung oder besser Angepaßtheit kann zwar erklärt werden, nicht aber der Prozeß, der zu diesem Resultat hingeführt hat. Denn die organisatorischen Notwendigkeiten, die zur Erstellung eines funktionsfähigen organismischen Individuums führen, lassen eigentlich nicht den Spielraum für beliebige Abänderungen, der erforderlich ist zur Erklärung evolutionärer Transformationen.«50

48 49 50

Vgl. Kapitel 5. Ludwig von Bertalanffy, Theoretische Biologie, Bd. I, Berlin 1932, S. 59 ff, zitiert nach Weingarten, Organismen, S. 102 f. Weingarten, Organismen, S. 154.

4. Die Aporie des Artbegriffs

Anfänge evolutionärer Veränderungen sind erst einmal Mutationen, die, sofern sie tatsächlich individuell die Funktionszusammenhänge verändern, als Abweichung von der Norm und damit als Missbildung, also Dysfunktionalität gelten. Erst retrospektiv können sie als Transformationsschritte hin zu neuen Arten oder sogar Gattungen gelesen werden.51 Die neue Art braucht jedoch mehr, als eine bloße Variation geben kann: eine spezifische Differenz, die sich im Struktur- und Funktionsganzen des Organismus bewährt und ihn wesentlich von Exemplaren anderer Arten unterscheidet. Dies ist ein Wechsel in der Qualität, der nicht sukzessive entstehen kann, sondern gesetzt werden muss (da es keine graduelle Artzugehörigkeit gibt, sondern ein Exemplar seiner Art immer gänzlich zugehört). Dies führte zu der These, dass die Evolution notwendig Sprünge mache, wenn aus einer Art eine neue Art entsteht. Die Reflexion, welche in die Theorie einer sprunghaften Artentwicklung mündet, wird vor allem in der Theoretischen Biologie Uexkülls deutlich. Uexkülls These, dass die Evolution Sprünge mache, ist nicht empirisch begründet – etwa durch das Fehlen von missing links –, sondern wurde von ihm logisch erschlossen. Sprunghafte Einpassung in Lebensräume sei notwendig, da alle Zwischenformen per definitionem suboptimal angepasst wären. Ein Organismus ist spezialisiert an seine Umwelt angepasst. Darum können kleine Veränderungen an der Organisation nur schädlich für die Funktion der Lebenserhaltung, nämlich der optimalen Ausnutzung der zur Verfügung stehenden Mittel zum Überleben sein, weil geringfügige Änderungen, die keine gänzlich neue Funktion mit sich bringen (können), eine Verschlechterung der vorher als optimal angenommenen Funktionsfähigkeit des Organismus sein müssen. Dies bedeute, dass die Funktionskreise eines Organismus nicht kontinuierlich entstehen könnten und erst recht nicht durch die sukzessive, allmähliche Veränderung eines Funktionskreises ein neuer Funktionskreis entstehen könne, da die gesamten Generationen der Zwischenformen zwischen dem alten und dem neuen Funktionskreis eine für beide Funktionen eingeschränkte Funktionsfähigkeit besäßen. Also wären sie nicht oder nur unzureichend lebensfähig, weil sie nicht angepasst wären, was dem Grundgedanken der Deszendenztheorie widerspräche. Um an der Theorie der Veränderung der Arten im Laufe der Zeit durch Anpassung an neue Umweltbedingungen festhalten zu können, müsse darum von einer »sprungweisen Einpassung«52 anstelle einer kontinuierlichen Abwandlung ausgegangen werden.53 Die Ausdifferenzierung des Lebens in viele verschiedene Gattungen und Arten, die in der Stammesgeschichte der Evolution gerne als Baum gezeichnet wird, müsse so interpretiert werden, dass an jeder Astgabel ein Sprung hin zu einem neuen Funktions-

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52 53

Marvels X-Men sind darum in der ersten Generation trotz der unwahrscheinlichen Funktionalität ihrer divergenten Mutationen zunächst bloße ›Monster‹; erst mit dem Auftauchen immer weiterer Mutanten im Marvel-Universum können sie (biologisch und politisch) für sich beanspruchen, den evolutionären Fortschritt in der Entwicklung des Homo sapiens darzustellen. Jakob von Uexküll, Theoretische Biologie, Frankfurt a.M. 1973, S. 259. Uexküll ist grundsätzlich ein Befürworter des Darwinschen Gedankens der Evolution, führt in diesem Punkt jedoch Argumente an, die später durch kreationistische Bewegungen bekannt wurden.

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Dialektik des Lebendigen

kreis stattfand, dem eine neue organische Struktur entsprach, anstatt dass sich eine allmähliche Veränderung eines bestehenden Funktionskreises vollzog. »Eine neue Mannigfaltigkeit drückt sich nicht im Wechsel der Eigenschaften aus, sondern in der Umstellung des Bauplans. Es muß im Bauplan ein neuer Funktionskreis auftreten, wenn man von echter Mannigfaltigkeit reden will. Ein allmählicher Übergang von einer Mannigfaltigkeit zur anderen ist grundsätzlich unmöglich, weil es sich immer um eine Umstellung des gesamten Körpermechanismus handelt, wenn ein neuer Funktionskreis auftritt. Die Änderung einzelner Bestandteile würde das Funktionieren unmöglich machen. Deshalb kann die Steigerung der Mannigfaltigkeit nie anders als in Sprüngen erfolgt sein […]. Jeder neu auftretende Funktionskreis begründet eine neue Art von Tieren. Und diese besitzen, dank seiner doppelseitigen Umklammerung der Objekte, die sichere Gewähr für eine fehlerlose Einpassung in die neue Umwelt.«54 Grundlage für diese Argumentation bildet die Prämisse von der Vollkommenheit, also der optimalen Angepasstheit des Organismus. Mit der Diskontinuität im Übergang von einer vollkommen entwickelten Funktion zu einer anderen wird es rätselhaft, wie eine neue organische Funktion überhaupt entstehen kann. Termini wie die ›Fulguration‹ bei Lorenz oder später die ›Emergenz‹ (u.a. bei Mayr) liefern keine Erklärung für dieses Rätsel, sondern bezeichnen lediglich den angenommenen Sprung von einer voll ausgebildeten organischen Funktion zu einer anderen. Doch schon Darwin selbst zeigte in der Entstehung der Arten, dass nicht von einer Vollkommenheit des Organismus im Uexküllschen Sinne ausgegangen werden kann, da die Art sich nichtidentisch reproduziere und so als reale Population selbst eine Gruppe von Variationen darstelle. Diese Variationen sind dasjenige, was Evolution zur Folge hat, da die Chancen zur Fortpflanzung für jede Variante (unter gleichfalls nicht statischen Umweltbedingungen) unterschiedlich sind, so dass einige Individuen mehr Nachkommen zeugen, als andere – ganz ohne zusätzlichen Naturplan, der als wirkende Kraft die Entwicklung neuer Funktionskreise erst konstituiert. Unter der Prämisse optimaler Angepasstheit sind dagegen alle Variationen dysfunktional, solange sie keinen qualitativen ›Sprung‹ in einen neuen optimalen Funktionskreis vollziehen. Diese Prämisse ist angesichts der zahlreichen Weisen, wie Organismen an ihrer eigenen Reproduktion sowie der der Art scheitern, nicht zu halten. Der logische Sprung von einer spezifischen Differenz zur anderen, der für die Artbestimmung notwendig ist, um die Arten voneinander abzugrenzen, darf nicht verwechselt werden mit einem empirischen Entwicklungssprung der Organismen (die solcher logischen Probleme enthoben sind). Letztere werden oft erst retrospektiv einer Art zugeordnet – ihnen wird also erst nachträglich der ›Sprung‹ in eine neue taxonomische Abteilung zugemutet.

54

Jakob von Uexküll, Theoretische Biologie, Frankfurt a.M. 1973, S. 290 f.

4. Die Aporie des Artbegriffs

4.7

Intelligent Design (Kreationismus) »Tot sunt species, quod diversas formas ab initio produxit infinitum ens.«55

Darwins Theorie der Evolution wurde seit ihrer ersten Veröffentlichung von der christlichen Theologie angegriffen. Besonders die Vorstellung, der Mensch sei nicht Ebenbild Gottes, sondern ein fortgeschrittener Affe, wurde mit Spott abgetan. Aufgrund des hohen naturwissenschaftlichen Erklärungspotentials der Evolutionstheorie stieg ihre Akzeptanz jedoch und bald war es kein Widerspruch mehr, (wie Darwin selbst) sich zum christlichen Glauben zu bekennen und zugleich eine natürliche Entwicklung der Arten durch Selektion und Mutation anzunehmen. Doch entwickelte sich insbesondere unter den Evangelikalen und anderen fundamentalistischen Christen in den USA eine breite Strömung, welche die Schöpfungsgeschichte wörtlich verstanden haben will und daher die Evolutionstheorie als atheistische Ideologie ablehnt und verfolgt.56 Diese Kreationisten halten daran fest, dass Gott die Pflanzen und Tiere – jedes nach seiner Art – direkt geschaffen habe. Sie bestreiten die Urknalltheorie, die geologische Erdgeschichte und insbesondere die Evolution.57 Um ihre religiöse Darstellung der Entstehung der Welt und der Organismen zu verbreiten, engagieren sie sich für die Aufnahme des Kreationismus in die Lehrpläne. Doch da die US-amerikanische Verfassung die Trennung von Kirche und Staat ernst nimmt und, anders als in Europa, religiöse Inhalte im Schulunterricht nicht vorgesehen sind, wurden diese Versuche gerichtlich vereitelt. Als Reaktion hierauf entstand Anfang der 1990er Jahre die Intelligent-DesignBewegung (ID). Diese vertritt, dass sich bestimmte kosmologische und insbesondere die organischen Phänomene durch die Annahme eines intelligenten Urhebers besser erklären lassen, als ohne. Obgleich eine bloß taktische Abspaltung des Kreationismus, 55 56

57

»Es gibt ebenso viele Arten, als das Unendliche Wesen von Anfang an verschiedene Formen erschaffen hat.« Carl von Linné, Systema naturae (1735). Als große Bewegung entstand der Kreationismus als dezidiert christliche Kritik an naturwissenschaftlichen Welterklärungen, welche dem Wortlaut der Bibel widersprächen. Es gibt auch unter orthodoxen Juden Anhänger kreationistischer Theorien, aber keine kreationistische Bewegung. Im Islam findet der Kreationismus derzeit zunehmend Verbreitung, insbesondere seit Harun Yahya öffentlichkeitswirksam für ihn eintritt; Yahya arbeitet hierzu mit christlichen Kreationisten und der Intelligent-Design-Bewegung zusammen. (Vgl. Harum Yahya, Der Evolutionsschwindel. Der wissenschaftliche Zusammenbruch der Evolutionstheorie und ihr ideologischer Hintergrund, Istanbul/ Köln 2014.) Seit der Erkenntnis allgemeiner Naturgesetze – also spätestens seit Newton – lassen sich naive theosophische Vorstellungen dergestalt, dass Gott jedes Steinchen einzeln zu Boden fallen lässt, in keiner Weise mehr halten; die Bewegungen der Körper folgen allgemein mechanischer Notwendigkeit und sind nicht jeweils individuell von Gott gelenkt. Auch die Theologie wurde durch den Fortschritt in den Naturwissenschaften angeleitet, zu avancierten Vorstellungen zurückzugehen, nach denen Gott als erste Ursache oder unbewegter Beweger, also als Grund der Naturgesetzmäßigkeit überhaupt gedacht wird. Das Lebendige jedoch bleibt bis heute Reservat naiv theologischer/theosophischer Vorstellungen, weil seine organisierte Struktur nicht hinreichend aus Notwendigkeit nach Gesetzen, wie sie in der Mechanik schon lange bekannt sind, abgeleitet werden kann.

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Dialektik des Lebendigen

die einen nicht näher religiös zugeordneten ›intelligenten Designer‹ an die Stelle des christlichen Gottes setzt, hat das ID einen etwas anderen Fokus als der Kreationismus: Während der Kreationismus sich zum Beleg seiner Thesen positiv auf die Bibel beruft und vor allem die Widersprüche zwischen naturwissenschaftlichen Forschungsergebnissen und heiliger Schrift hervorhebt, ist das ID darauf beschränkt, die immanenten Widersprüche und Erklärungslücken naturwissenschaftlicher Theoreme aufzuzeigen, um über den hier diagnostizierten Mangel die Annahme eines intelligenten Designers als plausibler darstellen zu können. Damit ist das ID hoch sensibel für alle Probleme, welche die Biologie mit der Entstehung des Lebens, der Bewegung der Evolution und dem Artbegriff hat und trifft aufgrund der teleologischen Erklärungsart von Schöpfungstheorien – obgleich es sich hierbei um äußere, nicht um innere Zweckmäßigkeit handelt – zielsicher den Punkt, wo Erklärungsarten nach der bloßen Kausalität des nexus effectivus als nicht hinreichend zur Erklärung des Gegenstandes erscheinen. Daher ist die Biologie das Hauptziel des ID, denn sie ist seit jeher wesentlich auf teleologische Erklärungsarten verwiesen und versucht dabei erfolglos selbst, diesen teleologischen Teil ihrer Theoriebildung als unwissenschaftlich abzustoßen. Da die Biologie ihre Gegenstände nicht (allein) nach der Kausalität der Natur erkennen kann, sondern die Lebewesen als in sich zweckmäßig begreifen muss, um einen ihnen adäquaten Begriff bilden zu können, der sie von der unbelebten Materie trennt, ist sie stets auf das transzendentale Prinzip der teleologischen Zweckmäßigkeit verwiesen. Da sie dies jedoch nicht als ihr notwendiges Moment reflektiert und als Naturwissenschaft des aufgeklärt-rationalistischen Zeitalters sich gegen dieses transzendentale Prinzip in der Annahme eines Selbstzweckes ihrer Objekte wehrt, entsteht eine immer schon metaphysisch bestimmte Lücke in der Erklärung ihrer Gegenstände, die sich ID-Theoremen bereitwillig darbietet sie auszufüllen. Obgleich es genau dies tut, verwahrt das ID sich gegen den Vorwurf, Löcher in der naturwissenschaftlichen Systematik mit ›Gott‹ stopfen zu wollen: »Der ID-Ansatz versteht sich nicht als Lückenbüßer für Ungeklärtes aufgrund offener Fragen, sondern beansprucht, positive Evidenz für seine Position vorbringen zu können.«58 Diese positive Evidenz zieht das ID vor allem daraus, dass es sogenannte ›Design-Signale‹ gäbe – gemeint ist die eine teleologische Beurteilung erfordernde funktionale Struktur der Organismen –, die keine andere Erklärung als die einer bewussten, geplanten Organisation der Materie zum Lebewesen plausibel erscheinen lassen. Das ID macht nun aus der Aporie im Artbegriff in positivistischer Manier ein naturhistorisches Problem: Nicht das Denken stehe vor der Aufgabe, die kontinuierliche Entwicklung vom Urschleim zum Menschen zugleich als Entwicklung distinkter Arten zu begreifen, sondern der Urschleim müsse wegen der grundsätzlichen Verschiedenheit daran scheitern, Mensch zu werden, da er aus sich heraus keine neuen funktionalen Zusammenhänge setzen kann. Die Lösung besteht darin, dass ein ›intelligenter Designer‹ die spezifischen Funktionszusammenhänge jeder Art oder zumindest jeder Grundform organischer Strukturzusammenhänge erdacht und geschaffen habe – den 58

Reinhard Junker/Siegfried Scherer, Evolution. Ein kritisches Lehrbuch, Gießen 2006 (erste Auflage 1998), S. 306. Das Buch erhielt 2002 den Deutschen Schulbuchpreis. (Künftig zitiert: Junker/ Scherer, Evolution).

4. Die Aporie des Artbegriffs

aminosäurehaltigen Schleim als Schleim und den Menschen als Menschen. Hierbei wird im ideengeschichtlichen Rückgriff die Analogie von Artefakt und Organismus durch eine gemeinsame Ursache – einen intelligenten, planenden Designer – zur Identität erklärt. Dieser Gedanke ist als eine Form des Gottesbeweises schon lange bekannt. In seiner Metaphysischen Abhandlung schreibt Voltaire unter der Zwischenüberschrift Übersicht der Gründe für die Existenz Gottes: »Es gibt zwei Wege, zum Begriff eines Wesens zu gelangen, welches das Universum regiert. Der dem gewöhnlichen Fassungsvermögen natürlichste und vollkommenste ist, nicht allein die Ordnung im Universum, sondern das Ziel zu bedenken, auf das jedes Ding sich offenkundig bezieht. Über diesen einen Gedanken sind viele dicke Bücher geschrieben worden, und alle diese dicken Bücher zusammen enthalten nichts als dies eine Argument: Wenn ich eine Uhr sehe, deren Zeiger die Stunden anzeigt, so schließe ich, daß ein intelligentes Wesen die Federn dieser Maschine so angeordnet hat, daß der Zeiger tatsächlich die Stunden anzeigt. Wenn ich ebenso die Federn des menschlichen Körpers betrachte, so schließe ich, daß ein intelligentes Wesen diese Organe eingerichtet hat, um empfangen und neun Monate im Mutterleib ernährt zu werden; daß die Augen uns zum Sehen, die Hände zum Greifen gegeben wurden usw. Aus diesem einzigen Argument kann ich nichts anderes schließen, als daß es wahrscheinlich ist, daß ein intelligentes Wesen die Materie mit Geschick bearbeitet und geformt hat;«59 1802 nahm Paley dieses Beispiel auf.60 Sein Werk über die Theologie der Natur ist einer der Grundlagentexte des modernen ID. Unabhängig davon, dass Organismen vom ID zu Artefakten eines übermenschlichen intelligenten Wesens erklärt werden, wofür es keinen hinreichenden Grund in ihrer teleologischen Organisationsform gibt, sollen hier einige für die Biologie und Naturphilosophie wichtige Aspekte des ID vorgestellt und diskutiert werden, die im Kern auf die Aporie im Artbegriff rekurrieren.

4.7.1

Mikro- und Makroevolution

Die Möglichkeit der Klassifikation der Arten als natürliches System über das Prinzip der Verwandtschaft ist für Darwin das stärkste Argument gegen eine (kreationistische) Schöpfungstheorie – denn als unmittelbar geschöpfte stünden alle Arten gleichermaßen nebeneinander; der Adler wäre dem Rotkehlchen nicht näher oder ferner als dem Rind oder dem Wiesenschaumkraut, denn sie wären nicht graduell durch Verwandtschaft, sondern alle bloß qualitativ durch denselben Ursprung verbunden. »Diese große Tatsache der Gruppierung aller organischen Wesen in ein sogenanntes natürliches System ist nach der gewöhnlichen Schöpfungstheorie ganz unerklärlich.«61 Nun hat

59 60 61

Voltaire, »Metaphysische Abhandlung«; in: Voltaire, Recht und Politik, Schriften 1, Frankfurt a.M. 1978, S. 14. Vgl. Kapitel 2.2.1.1. Darwin, Entstehung der Arten, S. 563.

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Dialektik des Lebendigen

zwar nach der christlichen Schöpfungstheorie Gott die Organismen ›ein jegliches nach seiner Art‹ geschaffen, jedoch zugleich schon in Gattungen geordnet und teilweise in verschiedenen Schöpfungsphasen: Am dritten Tag »Gras und Kraut, das sich besame, und fruchtbare Bäume, da ein jeglicher nach seiner Art Frucht trage, und habe seinen eigenen Samen bei ihm selbst«62 , am fünften Tag »große Walfische und allerlei Tier, das da lebt und webt, davon das Wasser sich erregte, ein jegliches nach seiner Art, und allerlei gefiedertes Gevögel, ein jegliches nach seiner Art.«63 Am sechsten Tag folgten »Vieh, Gewürm und Tiere auf Erden, ein jegliches nach seiner Art« und schließlich »Menschen […] die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf Erden kreucht«64 . Gegen Darwins Argument, dass die Arten der Organismen sich nach Gattungen gruppieren lassen und also nicht taxonomisch bloß nebeneinander stünden, sondern sich nach evolutionären Verwandtschaftsverhältnissen ordnen ließen, wenden die Kreationisten also schlicht ein, dass auch diese übergeordnete Ordnungsform der Arten in Gattungen sich im selben Schöpfungsakt vollzog, in dem die Arten entstanden. Der ID, der sich nicht explizit auf die Bibel berufen möchte, sondern immanent biologische Argumente gegen die Evolution vorzubringen versucht, beruft sich auf das Erkenntnisideal des (logischen) Empirismus, indem er vor allem darauf hinweist, dass Evolution kein beobachtbarer Prozess sei und daher ein bloß metaphysisches Konzept, nicht eine wissenschaftlich gesicherte Theorie. Sie gehen davon aus, »dass die Mechanismen für Makroevolution ebenso unbekannt sind wie die Vorgänge, die zur Entstehung des Lebens geführt haben.«65 Dem ID zufolge findet nur sogenannte Mikroevolution statt, d.h. dass die funktionale Grundstruktur und damit die spezifische Differenz der Gattung oder Familie gleich bleibt und nur funktional unbedeutende Akzidenzien sich verändern können – so, wie Darwin es für die Taubenzucht aufgezeigt hat. Zwar lassen sich mitunter starke Variationen einer Art in der Natur ohne menschliche Einflussnahme sowie im Experiment an Kleinstlebewesen mit rascher Generationenfolge beobachten, doch die Entwicklung von in neuen Strukturen realisierten neuen Funktionskreisen, z.B. vom Maul zum Schnabel, ist aufgrund des langen anzunehmenden Zeitraumes dieses Entwicklungsprozesses unserer Beobachtung entzogen. Das Argument des ID gegen die sogenannte Makroevolution stützt sich darauf, dass jede vergangene Entwicklung sich der empirischen Untersuchung entzieht und dass die zur Zeit beobachtbaren Veränderungen an Organismen wie auch die experimentell hervorzurufenden Veränderungen oder das Herauszüchten besonderer Merkmale nur 62

63 64 65

1. Mose 1.11., Bibel nach der deutschen Übersetzung D. Martin Luthers, Britische und Ausländische Bibelgesellschaft (Hg.), Berlin 1903. (Künftig zitiert: Die Bibel). Am Anfang des Satzes heißt es »Die Erde lasse aufgehen Gras und Kraut« etc., was sich auch so interpretieren lässt, dass der Schöpfungsakt darin bestand, der Erde das Vermögen zu geben, Organismen hervorzubringen (vgl. 11.8.). Der ID vertritt jedoch die Lesart des unmittelbaren Schöpfens der fertigen Arten, weshalb das Zitat hier entsprechend verkürzt wiedergegeben wird. 1. Mose 1.21., Die Bibel. 1. Mose 1.26., Die Bibel. Junker/Scherer, Evolution, S. 306.

4. Die Aporie des Artbegriffs

eine Mikroevolution zeigen, d.h. nur eine Veränderung schon vorhandener Merkmale, nicht aber die Erzeugung qualitativ neuer Funktionen. Dies wird durch ein weiteres, nicht empirisches, sondern systematisches Argument gestützt: Die funktionale Struktur von in sich zweckmäßig organisierten Wesen sei irreduzibel komplex, d.h. jede Veränderung der funktionalen Zusammenhänge der Gesamtorganisation führe zur Aufhebung der gesamten Funktionalität, also zum Tod des Organismus. Mit dieser Annahme einer irreduziblen Komplexität von Lebewesen wird die Unmöglichkeit einer Makroevolution begründet und die Notwendigkeit einer bewussten Organisation positiv aufgezeigt: »Ein System ist irreduzibel komplex, wenn es aus mehreren miteinander zusammenhängenden und fein aufeinander abgestimmten Teilen besteht, so dass die Entfernung eines beliebigen Teils die Funktion restlos zerstört. Die irreduzible Komplexität muss daher in einer einzigen Generation entstehen, sie kann nicht kumulativ (schrittweise) aufgebaut werden, da Zwischenstadien der Selektion zum Opfer fielen.«66 So könne sich etwa die Brutzeit, die Größe oder Färbung von Vögeln durch Variation und Auslese verändern, aber ein Schnabel oder Flügel lasse sich nicht aus einer unbeschnabelten und ungeflügelten Lebensform erzeugen, da die anzunehmenden Zwischenformen nicht funktionsfähig wären – und damit nicht lebensfähig. Aus diesem Grund hatte Uexküll für Sprünge in der Evolution argumentiert. Da auch solche Sprünge sich nicht empirisch beobachten lassen und eine von vornherein funktionale Mutation mit ganz neuen strukturellen Funktionszusammenhängen nach heutigem Kenntnisstand extrem unwahrscheinlich ist, lehnen Vertreter des ID diese Theorie ab. Sie kommen stattdessen zu dem Schluss, dass ein intelligenter Designer jede Grundform mit allen ihren wesentlichen Funktionen auf die Erde gesetzt haben müsse. Diese naive theologische Auffassung der Schöpfung, welche Gott als Bastler zweckmäßiger Formen in Analogie zum Handwerker vorstellt, lässt sich dann auch mit der gemeinsamen DNA aller Lebewesen vereinbaren, die sich nur in der Anordnung ihrer Tripletts bei unterschiedlichen Lebewesen unterscheidet: »Ein Schöpfer ist in der Anordnung der Bauteile frei, unterschiedlichste Kombinationen und Konstellationen zu verwirklichen.«67 Die DNA wird so zu Gottes Legokasten, mit dem er frei und kreativ verschiedenste Formen und Funktionen des Lebendigen realisieren könne. Für die Biologie ist die DNA dagegen eine gemeinsame Grundstruktur aller Lebewesen, die den Schluss auf eine ›Urform‹ des Lebens zulässt, aus der sich alle Arten entwickelt haben. Das ID trifft hierbei einen wunden Punkt der Biologie: Es gibt tatsächlich keinen empirischen Beweis für die Existenz von sogenannter Makroevolution, weil das entsprechende Forschungsprojekt zu langwierig wäre, um Drittmittelgeber zu finden; dass alle Organismen sich über die DNA genetisch reproduzieren, lässt sich verschieden interpretieren. Weingarten deutet an, dass das Problem, dass sich nur empirische Belege für Mikroevolution, nicht aber für Makroevolution finden lassen, seinen Grund in den Grenzen der Zulässigkeit des Darwinschen Analogieschlusses von künstlicher auf die natürliche Zuchtwahl haben könnte: 66 67

Junker/Scherer, Evolution, S. 306. Junker/Scherer, Evolution, S. 91.

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Dialektik des Lebendigen

»Resultat der von Darwin so geschätzten Taubenzucht waren immer nur Tauben, wenn auch in allen möglichen Variationen und Abänderungen. Allgemein muß daher als unbezweifelbar gültig festgehalten werden, daß ein Organismus sich nicht durch die Eingriffe eines Züchters beliebig ummodeln läßt. Und genau hierin offenbaren sich die Grenzen des Modells ›künstliche Zuchtwahl‹ für die Erklärung der ›natürlichen Zuchtwahl‹, für den Vorgang der Evolution.«68 Streng genommen kann es kein Experiment für Evolutionsvorgänge geben, weil hier immer künstliche Zuchtwahl stattfände. Das Modell für Makroevolution bleibt spekulativ. Darum findet eine religiös inspirierte Theorie wie das ID bei Naturwissenschaftlern Gehör, indem sie sie an ihrem eigenen naturwissenschaftlichen Ideal blamiert. Eine naturphilosophisch an Kants Kritik der Urteilskraft orientierte Kritik am ID formuliert Michelini. Diese besagt, dass der ID den Fehler begeht, die innere Zweckmäßigkeit der Organismen zu einer äußeren zu erklären. Kants Begriff der inneren Zweckmäßigkeit von Organismen ist in jedem Falle deutlich abgegrenzt gegen metaphysische Vorstellungen von Lebewesen als bewusst in der Schöpfung gestalteter Formen. »Es ist kaum zu bestreiten, daß Kant sich mit diesem Konzept eines Organismus und des damit zusammenhängenden Begriffs der inneren Zweckmäßigkeit von der Vorstellung einer ›intentionalen‹ Teleologie entfernt. Sowohl die wechselseitige Abhängigkeit der Teile eines Ganzen untereinander und des Ganzen von seinen Teilen als auch die Definition des ›Naturzwecks‹ selbst stehen der Vorstellung eines planenden Geistes entgegen. Der Organismus ist eine von Geburt an in sich vollendete Einheit, die unter Wahrung dieser Vollendetheit heranwächst und sich entwickelt. Kein (konstitutiver) Teil kommt in einer folgenden (Lebens-)Phase hinzu: In seinem Entwicklungsprozeß verwirklicht sich der Organismus als der, der er schon ist, und somit im Gegensatz zum planenden Geist, der etwas zunächst bloß Vorgestelltes verwirklicht, das noch nicht ist. Ein Naturzweck, der seine eigene Ursache und Wirkung ist, verwirklicht in seiner Entwicklung sich und nicht etwa einen anderen oder etwas anderes als sich wie im Falle der äußeren Zweckmäßigkeit. Ein Organismus ist mithin kein Produkt eines externen Geistes wie eine Maschine, sondern er ist das Prinzip seiner eigenen Organisation.«69 Ohne Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Zweckmäßigkeit gäbe es keine Differenz zwischen einem Naturzweck (Organismus) und einem aus menschlicher Vernunft oder Willkür gesetzten realisierten Zweck (Artefakt). Diese Differenz verkennt das ID, wie Michelini klar aufzeigt. Doch hiermit ist das zu Grunde liegende Problem noch nicht gelöst und die Argumentation des ID noch nicht widerlegt, da hier vom Resultat der existierenden Organismen ausgegangen wird, die von Geburt an in sich vollendete Einheiten darstellen, was die Frage nach der Ursache der Existenz solcher Einheiten 68

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Weingarten, Organismen, S. 45. Wie durch die Prämissen des empirisch-analytischen Wissenschaftsverständnisses die Bedeutung eines Analogons sich zu einem Fall identischer Mechanismen fälschlich verschiebt, vgl. Kapitel 2.2. Francesca Michelini, »Darwin und das Problem der Zweckmäßigkeit in der Natur«, in: Kurt Bayertz/ Myriam Gerhard/Walter Jaeschke (Hg.) Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert, Band 2: Der Darwinismus-Streit, S. 222-244, S, 237.

4. Die Aporie des Artbegriffs

nur erdhistorisch verlagert. Und auch Kant kam bei der Frage nach der Differenz in der Beurteilungsart von Organismen mit innerer Zweckmäßigkeit und der äußeren Zweckmäßigkeit von Artefakten nicht weiter als bis zu dem in sich widersprüchlichen Punkt, dass erstere so zu denken seien, als ob sie wie letztere von einem vernünftigen Wesen erschaffen wären, ohne dass man dies jedoch annehmen dürfe.

4.7.2

Beispiel: Evolution des Auges

Seit William Paley 1802 seine Theologie der Natur veröffentlichte, wird von Vertretern wie Kritikern des ID und des Kreationismus die Evolution des Auges zum Beleg ihrer Theorien heranzitiert. Unter der Überschrift »In allen Werken der Natur wird augenscheinlich ein gewisser Plan, eine weise Absicht bemerkbar« verwies Paley in seinem zweiten Kapitel auf die bewundernswerte Funktionalität des Auges (die kein Biologe je bestreiten wollte) und schloss hiervon noch recht naiv darauf, dass solche Strukturen kein Zufall sein könnten, sondern notwendig auf einen intelligenten Schöpfer verwiesen.70 An diesem Beispiel zeigt sich heute vor allem, dass die Vertreter des ID im Zweifelsfall die besseren Positivisten sind. Sie stützen sich darauf, dass Makroevolution ein spekulativer Vernunftschluss ist, wobei der Maßstab des Grades der Entwicklung vorausgesetzt werden muss. In der Darstellung, dass Licht nur dann Licht ist, wenn es ein Auge gibt (und ohne dieses bloß physikalische Welle bliebe) wird aufgezeigt, dass die Umwelt den Bauplan der Organismen nicht vorschreiben kann, da sie erst durch den spezifischen Bau des Organismus zu dessen für sein Leben relevanter Umwelt wird.71 So haben z.B. die Homo sapiens keinen Sinn für das Magnetfeld, das ihren Planeten umgibt, während andere Organismen es vermutlich zur Navigation benutzen. Das Beispiel der Evolution des Auges findet sich auch bei Darwin72 und es wird bis heute in der Debatte um Mikro- und Makroevolution von beiden Seiten gern bemüht. Die Kreationisten wollen anhand der komplexen Organstruktur, in der jedes Element wechselseitig als funktional für das Funktionieren des anderen erscheint, aufzeigen, dass diese Struktur nur als Ganzes zu dem Zwecke, zu sehen, einen Sinn ergibt; beim Fehlen eines Elementes in der gelungenen Form wäre das ganze Organ sinn- weil funktionslos (heißt: nicht zum Sehen geeignet), weshalb es keine unfertigen Vorstufen geben könne. Augenvorformen, die Jahrtausende lang zu nichts taugen, bis die Teile irgendwann zufällig mal so zusammenbestehen, dass sie ein Auge bilden, diesen Gedanken müssten auch und gerade Evolutionsbiologen verwerfen.

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Vgl. Paley,Theologie der Natur, S. 36 ff. Dass gerade das Beispiel des Auges so populär wurde, ist vielleicht seiner Stellung in Paleys Werk zu verdanken. In späteren Kapiteln exerziert er dasselbe Argument anhand von Halswirbelsäule, Handknochen, Knorpelgewebe, Sehnen und Nerven, Muskeln, Mund und Zunge, Kinnbacken etc. pp. durch. Wer es schon im zweiten Kapitel begriffen hat, kann sich den Rest der Lektüre weitgehend ersparen. Auch hier gibt es Anleihen an Uexküll, dem zufolge erst die spezifische Körperlichkeit und Sinnlichkeit die spezifische Umwelt schaffe. Er prägte den Umweltbegriff so als einen, der im Gegensatz zu einer objektiven physikalischen Realität für jede Art von Lebewesen spezifisch ist. Vgl. Charles Darwin, Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, Stuttgart 1899, S. 202 f.

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Doch diese gehen gar nicht von solchen dysfunktionalen Präformen aus, sondern von einer Entwicklung von einfachen lichtempfindlichen Zellen, welche es dem Organismus ermöglichen, Hell und Dunkel zu unterscheiden, über viele jeweils funktionale und nützliche Zwischenformen bis hin zu so komplexen und aus vielen funktional zusammenspielenden Elementen bestehenden Sehorganen, wie das Insekten- oder das Vogelauge. Die Möglichkeit der Entstehung des komplexen Funktionszusammenhangs des Auges, bei der jedes Entwicklungsstadium von der lichtempfindlichen Zelle bis zum heutigen Linsen- oder Facettenauge einen Selektionsvorteil darstellen kann, ist ausführlich dargelegt worden.73 Darwin ging, ganz wie heutige Biologen, davon aus, dass »zahlreiche Abstufungen von einem unvollkommenen und einfachen bis zu einem vollkommenen und zusammengesetzten Auge […] nachgewiesen werden können«74 . Dieser Nachweis erfolgt allerdings über die Augenformen, die sich heute bei verschiedenen Lebewesen finden. Wenn über die Denkmöglichkeit evolutionärer Entwicklungen hinaus diese als eine empirische Tatsache dargelegt werden sollen, steht der Biologe vor der Schwierigkeit, keine Zeitreise unternehmen zu können, um seine These am Material zu belegen. Die als Tatsache behauptete naturhistorische Entwicklung bleibt spekulativ. »Darwin bedient sich hier offenkundig eines Tricks. Er argumentiert nämlich: weil wir heute im Tierreich mannigfaltige Abstufungen von Augen feststellen können, von ganz einfachen Pigmenten bis zum Wirbeltierauge, dann muß das Auge sich doch auch von einem einfachen Pigment bis zu dem hochentwickelten Organ phylogenetisch herausgebildet haben können; er interpretiert hier also die synchrone Mannigfaltigkeit als einen historisch repräsentativen Querschnitt durch die Phylogenese.«75 Unter der Prämisse der Evolutionstheorie ist es hochgradig plausibel, dass die Entwicklung des Auges mit einfachen Fotorezeptoren ihren Anfang nahm; doch die heutige Existenz solcher Zellen kann streng genommen nicht als faktischer Beweis hierfür herangezogen werden. Indem sie es dennoch tut, macht die Evolutionstheorie ihren spekulativen Gehalt vergessen. Bei Darwin, dem vorsichtigen Denker, findet sich der Hinweis auf diesen spekulativen Gehalt noch in dem Verweis auf den hierin enthaltenen Vernunftschluss, der nicht bloß die Empirie, sondern sogar die Einbildungskraft übersteige: »Die Vernunft sagt mir, dass wenn zahlreiche Abstufungen von einem unvollkommenen und einfachen bis zu einem vollkommenen und zusammengesetzten Auge, die alle nützlich für ihren Besitzer sind, nachgewiesen werden können, was sicher der Fall ist, – wenn ferner das Auge auch nur im geringsten Grade variiert und seine Abänderungen erblich sind, was gleichfalls sicher der Fall ist, – und wenn solche Abänderungen je nützlich für ein Thier sind, dessen äussere Lebensbedingungen sich ändern: dann dürfte die Schwierigkeit der Annahme, dass ein vollkommenes und zusammengesetztes Auge durch natürliche Zuchtwahl gebildet werden könne, wie un-

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Z.B. von Simon Ings, Das Auge. Meisterstück der Evolution, Hamburg 2008. Charles Darwin, Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, Stuttgart 1899, S. 202. Weingarten, Organismen, S. 216.

4. Die Aporie des Artbegriffs

übersteiglich sie auch für unsere Einbildungskraft scheinen mag, doch die Theorie nicht völlig umstürzen.«76 Hier werden die Probleme deutlich, der sich die Evolutionstheorie stellen muss. Die Vernunft, nicht die Erfahrung, sagt Darwin, dass die Bildung eines komplexen Auges über viele weniger komplexe und dennoch in ihrer Weise funktionale und für den Organismus nützliche Stufen durch natürliche Zuchtwahl denkbar ist. Das heißt nur, es ist abstrakt möglich, sich diese Entwicklung über das Prinzip der Evolution zu denken, ohne in einen Widerspruch zu geraten – auch wenn dieser Gedanke eine solche Vielzahl von funktionalen Abstufungen enthält, dass diese konkret vorzustellen unsere Einbildungskraft übersteigt. Die Entwicklung vom unvollkommenen zum vollkommenen Sehorgan zu denken ist und bleibt spekulativ und setzt schon einen Maßstab voraus, welcher einer grundlegenden Annahme dieser Theorie widerspricht. So, wie das Auge in Aufbau, Funktion und Leistung immer wieder mit optischen Geräten analogisiert wurde, so soll seine Aufgabe analog zu der eines solchen Artefakts wie Teleskop/Mikroskop/Kamera etc. in der möglichst genauen hochauflösenden Abbildung der Welt liegen; das beste Auge ist wie die beste Kamera also eines, mit dem möglichst Vieles möglichst detailgetreu im Nah- und Fernbereich gesehen werden kann. Augen mit weniger Leistung seien demnach unvollkommener, aber gleichzeitig auch funktional für den Organismus. Dies setzt voraus, dass dieser spezifische Organismus für seine Lebensweise keine ›bessere‹ Sehfunktion braucht. Ein Adler, der bloß ein paar lichtempfindliche Proteine am Kopf hätte, würde nicht das für seine Art typische Jagdverhalten zeigen können; einer sich nach der Sonne ausrichtenden Pflanze reichen ein paar Photorezeptoren dagegen völlig, sie sind hinreichend vollkommen für ihre Zwecke – mit einem Adlerauge könnte die Sonnenblume schon aufgrund des fehlenden Zentralnervensystems wenig anfangen, die bloß auf Helligkeitsdifferenzen reagierenden Photorezeptoren sind insofern nicht weniger vollkommen als das komplexeste bekannte Sehorgan, weil sich die Augen nicht miteinander vergleichen, sondern jeweils für ihre Funktionalität für eine bestimmte Art von Organismen ›vollkommen‹ sein müssen, da der Organismus mit diesem Sehapparat sich und seine Art erfolgreich reproduziert, solange es diese Art gibt. Mit anderen Augen würden sich vermutlich andere Nahrungsquellen, Verhaltensweisen etc. herausbilden. Hier liegt ein weiteres Problem: Darwins Evolutionstheorie setzt als Ursache für Organveränderung wie in Konsequenz auch für die ursprüngliche Bildung bestimmter (Sinnes-)Organe eine Anpassung an die Umwelt voraus. Doch aus welchen Umweltbedingungen heraus sollte sich überhaupt ein lichtempfindliches Organ wie das Auge gebildet haben? Die Antwort: ›Weil es Licht gibt‹, ist trügerisch; denn sie ist nur negativ richtig. In einer Umwelt ohne Helligkeitsdifferenzen sind lichtempfindliche Wahrnehmungsorgane überflüssig. Aber umgekehrt lässt sich aus dem Licht das Sehen nicht ableiten. Es gibt vielfältige physikalisch für uns messbare Größen, für die wir kein natürliches Wahrnehmungsorgan haben. Manche Lebewesen verfügen über Wahrnehmungsorgane, mit denen sie Bereiche oder Größen wahrnehmen können, für

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Charles Darwin, Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, Stuttgart 1899, S. 202 f.

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Dialektik des Lebendigen

die andere Organismen im gleichen Lebensraum kein Sensorium haben.77 Dass manche Organismen manche Wahrnehmungsarten darum nicht besitzen, weil diese für sie nicht funktional wären, ist wiederum insofern zirkulär, als offenkundig ist, dass sie ohne sie zurechtkommen. Eine organische Kommunikation über Radiowellen oder der Röntgenblick würde sicherlich seine nützliche bis unverzichtbare Anwendung finden, wenn man ihn hätte. Die Strahlung der Sonne lässt sich auf verschiedene Weise wahrnehmen und ein gut differenzierendes Wärmesensorium könnte bei vielen Organismen der Funktion nach das Licht sehende Auge durchaus vollständig ersetzen; bei Organismen mit Photosynthese und innerlichem Geschmackssinn könnte die wechselnde Intensität der Süße die Orientierung nach den Parametern Hell/Dunkel ersetzen. Die Qualität der Empfindung hängt also nicht von dem wahrgenommenen Objekt ab, sondern von der Art der Sinnlichkeit, die diese Empfindung vermittelt; Licht ist nur Licht, wenn es mit einem Auge gesehen wird.78 Unterhalb der Ebene entwickelter Sinnesorgane lässt sich eine Reaktion auf bestimmte äußere Reize feststellen, etwa vermehrte Zellaktivität durch Wärme, die eine Gerichtetheit auf diesen Reiz im Organismus und hierdurch einen Reproduktionsvorteil ermöglichen. Doch ob hieraus die Wirklichkeit einer – und wenn, welcher – Sinneswahrnehmung wird, ist letzten Endes zufällig. Organismen erhalten keine Instruktionen für ihren Bau von außen, von der Umwelt, und darum sind ihre je spezifischen Formen und Leistungen auch nicht aus ihrer Umwelt abzuleiten. Sie müssen sich lediglich in einer Form entwickeln, die an diese Umwelt angepasst ist, was heißt, sie müssen in ihr leben können. Lungenatmer in der Tiefsee müssen ab und an auftauchen, um zu atmen. Hitzeempfindliche Organismen in der Wüste müssen sich eingraben oder sonst wie schützen. Aber dass es in der Tiefsee lungenatmende Säugetiere79 gibt, ist aus dem bloßen Blick auf diese Umwelt in keiner Weise ersichtlich. Und die Wirklichkeit des Auges ist jeder Vorstellung seiner evolutionären Weiterentwicklung immer schon vorausgesetzt. Man hat empirisch immer einen ganzen Funktionszusammenhang des Organismus, nie einen ›unfertigen‹, also auch keinen, der grade im Entstehen ist. Erst retrospektiv kann eine stattgefundene Veränderung als Entwicklung zu einem Ziel hin interpretiert werden. Doch bei Vorgängen in der Natur wird in der Vorstellung zielgerichteter Entwicklung von einem zielsetzenden Subjekt und einem intelligiblen Telos der Evolution ausgegangen, was dem wissenschaftlichen Begriff der Natur widerstreitet. Ohne Telos gedacht war die Entwicklung des Auges also keine, bei der jedes Stadium einen weiteren Schritt hin zum heutigen Auge darstellte, sondern die Stadien erscheinen erst bei der Betrachtung der Genese der Entwicklung als ›Vorstufen‹, stellen aber jedes für sich eine vollständige und fertige Funktionsform dar. Mikro- und Makroevolution sind nur im

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Ultravioletter Farbbereich, hoch- bzw. niederfrequente Töne, Ultraschall (z.B. Fledermaus), elektromagnetische Felder (z.B. Lorenzinische Ampullen z.B. bei Haien), Druckunterschiede; Wasserschwingungen (z.B. Seitenlinienorgan bei Fischen) etc. Vgl. Hermann von Helmholtz, Natur und Naturwissenschaft, München ohne Jahr, S. 85. Nämlich den dort Riesenkalmare jagenden Pottwal (die Angaben in der Fachliteratur über die maximal zu erreichende Tauchtiefe der Wale variieren ebenso stark wie die Größe der Kalmare; vermutlich darf man von ca. 2500m und 13m ausgehen).

4. Die Aporie des Artbegriffs

Denken getrennt, wo der Schluss auf eine neue Qualität des Funktionszusammenhangs einen ›Sprung‹ in der Evolution darstellt.

4.7.3

Grundformen des Lebens

Wenn nicht von einer Makroevolution ausgegangen wird, weil sich hierfür keine direkten empirischen Beobachtungen finden und auch die Spekulation beim Denken des sukzessiven Übergangs von einer qualitativen Struktur in die nächste auf Widersprüche stößt, aber die wesentliche Verschiedenheit zumindest der Gattungen anerkannt wird, dann muss – so der konsequente Schluss des ID – das Leben schon in verschiedenen Grundformen spezifisch organisierter Typen von Organismen entstanden sein. Den Ursprung der Arten verfolgte auch Darwins Spekulation nur bis zu solchen organischen Grundformen: »Organe in einem rudimentären Zustand beweisen oft, dass ein früherer Urerzeuger dieselben Organe in vollkommen entwickeltem Zustand besessen habe; daher setzt ihr Vorkommen in manchen Fällen ein ungeheures Maß von Abänderungen in dessen Nachkommen voraus. Durch ganze Klassen hindurch sind mancherlei Gebilde nach einem gemeinsamen Bauplane geformt […]. Daher hege ich keinen Zweifel, dass die Theorie der Deszendenz mit allmählicher Abänderung alle Glieder derselben Klasse oder desselben Reiches umfasst. Ich glaube, dass die Tiere von höchstens vier oder fünf und die Pflanzen von ebenso vielen oder noch weniger Stammformen herrühren. Die Analogie würde mich noch einen Schritt weiterführen, nämlich zu glauben, dass alle Pflanzen und Tiere nur von einer einzigen Urform herrühren; doch könnte die Analogie eine trügerische Führerin sein.«80 Die Grundformen werden hier, wo Darwin sich auf rudimentäre Organe zur Zuordnung einer heutigen Art zu einer stammesgeschichtlichen Klasse von Arten bezieht, als die voll entwickelten Formen gegenüber den späteren Abweichungen gedacht. Die Urform eines biologischen Reiches enthalte alle wesentlichen Merkmale der Klasse im vollkommenen Umfang, aber zugleich enthält sie offenbar nur die wesentlichen Merkmale, während alle weiteren Spezialisierungen sich späteren Anpassungsprozessen verdanken. Die Urform ist hier (wie Goethes Urpflanze) voll entwickeltes Wesen, wird aber zugleich als weniger spezialisiert vorgestellt als die evolutionär jüngeren Arten, zu denen sie sich im Laufe des Konkurrenzkampfes ausdifferenziert haben soll, d.h. sie hat keine bestimmten Akzidenzien. Die erste und einzige Urform des Lebens – wenn man sich von der Analogie führen ließe – müsste demnach zwar wesentlich vollständig bestimmt, aber zugleich gänzlich unspezialisiert gewesen sein. Das Leben in seiner ›einfachsten‹ Form erweist sich so als eine bloße Abstraktion von jeder bestimmten Funktion, und nicht als eine ›einfache‹ Funktion. Die Spekulation über die Urform mündet so, wenn sie nicht die wesentlichen Merkmale eines biologischen Reiches, sondern die aller Lebensformen tragen soll, in einer Hypostasierung abstrakter Funktionalität, nicht im Aufweisen einer einfachsten Form des Lebens, denn ohne spezifische Funktionen kann kein Organismus 80

Darwin, Entstehung der Arten, S. 577 f.

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konkret existieren, aber jede spezifische Funktion verweigert sich systematisch dem Anspruch, allgemein einfacher Ausdruck jeder möglichen Funktion des Organischen zu sein. Hierzu bemerkt Weingarten: »Gerade in dem der Klassifikation der Organismen gewidmeten Kapitel 14 der ›Entstehung der Arten‹ treten die Probleme des Atomismus klar zutage. Denn Darwin muß, um den genealogischen Zusammenhang der Organismen rekonstruieren zu können, als Ur-Ahn einer Organisationsform den reinen Typus dieser Organisationsform postulieren, der durch Abstraktion von allen Spezialisierungen und Anpassungen gewonnen werden könne. Umgekehrt stellt sich dann Evolution dar als immer weiter fortschreitende Spezialisierung des ursprünglichen Typus hinsichtlich der Anpassung an die Erfordernisse unterschiedlicher ökologischer Nischen. Der durch den Typus gesetzte allgemeine Zusammenhang der Organisation wird dabei invariant gesetzt, so daß nicht zu sehen ist, wie durch die spezialisierende Ausgestaltung eines Typus dieser Typus überschritten werden könne zu einer neuen Organisationsform. Zugleich muß bedacht werden, daß dadurch der als Typus einer Organisationsform begriffene Ur-Ahn nicht mehr durch Rekurs auf Anpassungserfordernisse erklärt werden kann. Deutlich wird dies an einem von Darwin selbst formulierten Beispiel: ›Die Knochen eines Beines können in jedem Masse verkürzt und abgeplattet, sie können gleichzeitig in dicke Häute eingehüllt werden, um als Flosse zu dienen; oder ein mit einer Bindehaut zwischen den Zehen versehener Fuss kann alle seine Knochen oder gewisse Knochen bis zu jedem beliebigen Masse verlängern und die Bindehaut im gleichen Verhältnis vergrössern, so dass er als Flügel zu dienen im Stande ist; und doch ist ungeachtet aller so bedeutender Abänderungen keine Neigung zu einer Änderung der Knochenbestandteile an sich oder zu einer andern Zusammenfügung derselben vorhanden. Wenn wir annehmen, dass ein alter Vorfahre oder der Urtypus, wie man ihn nennen kann, aller Säugethiere, Vögel und Reptilien Beine besass, zu welchem Zwecke sie auch bestimmt gewesen sein mögen, welche nach dem vorhandenen allgemeinen Plane gebildet waren, so werden wir sofort die klare Bedeutung der homologen Bildung der Beine in der ganzen Classe begreifen‹ (Darwin 1899, S. 507). Evolutionsbiologisch interessant ist aber gerade die Erklärung der Entwicklung von Beinen, nicht so sehr die Veränderungsmöglichkeiten, die gegeben sind, wenn Beine schlichtweg als vorhanden vorausgesetzt werden.«81 Was über die Entwicklung des Auges in der Auseinandersetzung mit kreationistischen Theorien spekulativ entwickelt wurde, ließe sich auch für Beine annehmen – von der leichten Unebenheit am Rumpf, die auf dem Untergrund mehr Halt oder im Wasser mehr Stabilität gegen die Strömung bietet, über die Vergrößerung und Stabilisierung dieser Unebenheit durch Gewebe und Knochen bis hin zur differenzierten Bewegungsfähigkeit durch Gelenke lassen sich alle Zwischenstadien als sinnvoll denken – aber die meisten der beschriebenen historischen Stadien bleiben spekulativ und entspringen der gedanklich als Sukzession vorgestellten Verknüpfung von einem angenommenen Zustand ›Ohne-Bein‹ zu einem empirischen Zustand ›Mit-Bein‹. Derlei Spekulationen machen damit eher die Evolutionstheorie selbst plausibel als die Entwicklung 81

Weingarten, Organismen, S. 143.

4. Die Aporie des Artbegriffs

von beispielsweise Beinen. Diese bleibt hochgradig zufällig. Warum vier, sechs, acht Beine? Warum diese Gelenke? Tendenziell unendlich viele andere Entwicklungswege wären denkbar; und die heutigen Tiere lassen darauf schließen, dass die Beinigkeit in der Geschichte der Lebewesen nicht oft entstand, und wenn, dann immer als kompletter Funktionszusammenhang z.B. bei der Vierbeinigkeit der Wirbeltiere. Zudem müssen teilweise sehr spezifische Umweltbedingungen erdacht werden, in denen beispielsweise ein sich-zum-Flügel-entwickelndes-aber-noch-flugunfähiges-Bein als Selektionsvorteil wirken kann.82 Auch die evolutionär hohe Beständigkeit der einmal entwickelten Formen, welche die vergleichende Anatomie erst möglich und zur ersten Grundlage der Taxonomie machte, kann durch die Evolution selbst nicht hinreichend erklärt werden. Das heutige ID geht von deutlich mehr Grundformen aus als Darwin, weil es bloß die Mikroevolution (leichte Variationen schon vorhandener Funktionen) als wissenschaftlich-empirisch für nachweisbar hält und jede Makroevolution, welche keine bloße Modifikation von Strukturen, sondern die Entstehung neuer Funktionszusammenhänge umfasst, als überschießende Spekulation abtut. Hiernach wären mit jeder Grundform die grundlegenden Strukturen als Funktionszusammenhang gegeben bzw. ›designed‹. Diese Grundformen richten sich streng nach taxonomischen Familien, so dass z.B. Hundeartige (Canoidea) und Katzenartige (Feloidea) jeweils eine Grundform darstellen. Die Erklärung eines evolutionären Zusammenhangs zwischen fixen und einziehbaren Krallen (einem wesentlichen Unterscheidungsmerkmal zwischen diesen Familien) gehört nach der Prämisse des ID schon in den Bereich der unwissenschaftlichen Spekulation, weil eine solche Verwandtschaftsvermutung empirisch nicht zu belegen ist. Dass der Designakt sich ebenfalls der empirischen Beobachtung verschließt, ist für die Funktion des Arguments von Seiten des ID unbedeutend, weil die Beweislast bei der Evolutionsbiologie liege. Da beide Varianten nicht streng empirisch beweisbar seien, sollen sie z.B. als gleichberechtigte Theorien im Schulunterricht behandelt werden. Das ID beharrt also formal nicht auf der Wahrheit seiner Theorie eines intelligenten Designers, sondern will sie lediglich als wissenschaftlich gleichwertig mit der Evolutionstheorie beweisen, indem es aufzuzeigen versucht, dass die Annahme der evolutionären Entwicklung ebenso spekulativ bleibt wie die eines Schöpfungsaktes. Eine fundierte biologische Kritik am ID müsste also bei einer erkenntnistheoretischen Reflexion über den spekulativen Gehalt der eigenen Wissenschaft ansetzen, um hierüber die Differenz zum Schluss auf einen transzendenten Urheber des Organischen zu begründen.

4.8

Die christliche Kritik am Kreationismus

Was die heutige Biologie dem ID entgegensetzt, ist erschütternd wenig. Nur wenige Theoretiker wie der (leider verstorbene) US-amerikanische Evolutionsbiologe Stephen

82

Selbstredend gibt und gab es solche spezifischen Umweltbedingungen, in denen sich z.B. der Gleitflug für waldbewohnende Arten als nützliche Funktion erweist. Bekannt hierfür sind etwa Riesengleiter (Dermoptera) oder Schmuckbaumnattern (Chrysopelea), wobei niemand heute sagen kann, ob diese sich jemals zu geflügelten Arten weiterentwickeln werden.

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Jay Gould83 oder der (weniger avancierte) deutsche Evolutionsbiologe Ulrich Kutschera84 setzen sich intensiv und öffentlichkeitswirksam kritisch mit den kreationistischen Theorien des ID auseinander – und damit auch mit den dort zentralen Fragen nach der erkenntnistheoretischen Grundlage heutiger Biologie. Doch eine Vielzahl der Biologen lehnt den Kreationismus zwar leidenschaftlich ab, ist gegenüber dem durch die Kritik des ID an der Evolutionstheorie aufgezeigten spekulativen Gehalt ihrer Wissenschaft jedoch ebenso skeptisch wie ratlos, so dass ihre Verteidigung der Deszendenztheorie eben jene Mängel perpetuiert, welche dem ID sein Material liefern.85 Zwar zeigt die C-14-Methode, dass die Dinosaurierknochen tatsächlich älter sind als manche Kreationisten die Sintflut datieren und es fehlt auch nicht an Theorien darüber, wie heutige Organfunktionen sich aus weniger komplexen, aber durchaus funktionsfähigen Formen gebildet haben mögen (z.B. von lichtempfindlichen Zellen zum Auge), aber weil der Sinn, also der Zweck der Organe letztlich nicht in bloßen Kausalfunktionen zu fassen ist und weil die Spekulation und nicht die Empirie hierbei entscheidende Lücken schließt, findet das ID auch unter Naturwissenschaftlern immer mehr Anhänger. Eine systematische Kritik an der angeblichen Evidenz von Design-Signalen kommt jedoch aus dem Vatikan. Katholische Theologen haben in den letzten Jahren die avancierte Kritik des ID geleistet, zu der die Biologie bislang nicht fähig ist, weil sie hierzu ihr eigenes Verhältnis zu ihrem teleologisch bestimmten Begriff des Lebens und ihre spekulative Theorie der Evolution naturphilosophisch reflektieren und erklären müsste. Gegen die kreationistische Auffassung des Schöpfungsaktes als Design-Akt schreibt Horst Seidl, Philosophieprofessor an der päpstlichen Lateranuniversität in Rom: »[D]ie Kirchenväter [konnten] doch aus Plotin entnehmen, wie der vom ersten Gott ausgehende Akt, der anderes Seiendes ins Sein setzt, als Schöpfungsakt philosophisch erklärt werden kann: nämlich in der Weise, dass seine machtvolle Wirkung sich substantialisiert zu einem bestimmten Seienden. Dabei ist es wichtig zu sehen, dass das aus dem Schöpfungsakt hervorgehende Seiende nicht die konkreten Weltdinge sind, sondern ihre Form- und Zweckursachen. In platonisch-neuplatonischem Sinne bestünden sie getrennt von den Dingen, die nur flüchtige Erscheinungen wären, während in der aristotelisch-thomasischen Richtung [welche Seidl vertritt] die Wesensformen in den Dingen sind, die sie konstituieren. In der Tat, als Gott die Welt erschuf, hat Er nicht Pflanzen und Tiere auf die Erde gesetzt, sondern deren Lebensursachen, bestimmte Naturprinzipien, die sich dann nach ihren Gesetzen zu konkreten Dingen entwickeln.«86 Seidl denkt die Evolutionstheorie und die christliche Schöpfungslehre als miteinander sehr wohl vereinbar, wobei der klassischen Naturphilosophie, die sich bei ihm haupt-

83 84 85 86

Vgl. Stephen Jay Gould, Rocks of Ages. Science and Religion in the Fullness of Life, New York NY 1999. Vgl. Ulrich Kutschera, Streitpunkt Evolution: Darwinismus und Intelligentes Design, Berlin 2007. Hierzu zählen Werke wie RichardDawkins, The Blind Watchmaker: Why the Evidence of Evolution Reveals a Universe without Design, New York 1986. Horst Seidl, Evolution und Naturfinalität. Traditionelle Naturphilosophie gegenüber moderner Evolutionstheorie, Hildesheim/Zürich/New York 2008, S. 79. (Künftig zitiert: Seidl, Naturfinalität).

4. Die Aporie des Artbegriffs

sächlich auf Aristoteles und Thomas von Aquin stützt, eine vermittelnde Funktion zukommt. Er trennt »zwischen den immanenten Zweckursachen in den Naturdingen und der transzendenten Zweckursache, Gott. Die ersteren führen die Entwicklungsprozesse in Pflanze, Tier und Mensch jeweils zu sich selber hin; denn die Zweckursache in jedem dieser Naturdinge ist sein vollendetes aktuelles Sein, das ›Worum-willen‹ der ganzen Entwicklung. Ganz anders hingegen ist der transzendente Zweck, Gott, das ›Wofür‹ alles Geschaffene ihm dienstbar ist, wenn es seinen immanenten Zweck verwirklicht und vollendet hat. Gott ist eben nicht der immanente Zweck der gesamten Naturentwicklung.«87 Gott ist nach Seidl so zwar Grund der Naturfinalität, nicht aber unmittelbare Ursache jedes einzelnen Naturgegenstandes oder -vorgangs. Gegenüber der naiven Auffassung der Kreationisten und ihres intelligenten Designers versteht Seidl den Schöpfungsakt Gottes als außerzeitlichen Akt für alle Zeiten – weder habe die Schöpfung nur einmal am Anfang stattgefunden, noch seien in der Erdgeschichte neu entstehende Arten auf spätere, einzelne Schöpfungsakte zurückzuführen. Vielmehr sei der Artenreichtum in all seinen Gestalten und Wandlungen Ausdruck einer Schöpfung, die in der Welt ist, weil sie die Welt ist. Sie konstituiere die Welt und sie habe das Prinzip – bei Seidl die Zweck-, Bewegungs- und Formursache – des Lebendigen ebenso hervorgebracht wie die nach Gesetzen nachvollziehbare Ordnung, die auch in der unbelebten Materie Ursache ihrer bestimmten Formen und gesetzmäßigen Veränderungen ist. Gott sei also nicht die unmittelbare (und schon gar nicht die empirische!) Ursache der Erscheinungen und ihrer Bewegungen, sondern die transzendente Ursache des Weltganzen in all seinen Ausformungen und Veränderungen. Diese gegenüber der kreationistischen Vorstellung in ihrem Bezug auf die aristotelische Ursachenlehre theoretisch deutlich avanciertere Haltung zur Schöpfung findet sich schon bei Augustinus. Thomas von Aquin schreibt hierzu: »Doch weicht Augustinus in seiner Meinung über die Hervorbringung der Pflanzen von den anderen Heiligen ab. Die anderen Erklärer sagen, die Pflanzen seien fertig in ihren Arten an diesem dritten Tage hervorgebracht worden, dem ersten Anschein des Wortlautes entsprechend. Nach Augustinus aber ist der Ausdruck: die Erde habe Gräser und Bäume hervorgebracht, ursächlich zu verstehen, also daß es heißt, die Erde habe die Kraft empfangen, sie hervorzubringen. […] Das wird auch durch die Vernunft bestätigt. Denn in jenen ersten Tagen hat Gott die Welt dem Ursprung oder der Ursache nach erschaffen, ein Werk, von dem Er später ausruhte. Und doch wirkt Er, wenn man die Betreuung der geschaffenen Dinge betrachtet, im Werk der Entwicklung bis heute weiter. Die Hervorbringung der Pflanzen aus der Erde gehört nun aber zum Werk der Entwicklung. Also sind die Pflanzen am dritten Tag nicht in fertigem Zustand, sondern nur in ihrer Ursache geschaffen.«88 Über die Deutung der Schöpfung als Setzung der Ursachen und nicht der Dinge distanziert sich Seidl nicht bloß vom Kreationismus und ID, sondern hierüber kann er sich

87 88

Seidl, Naturfinalität, S. 122. Thomas von Aquin, Summa Theologica, 5. Band: Das Werk der sechs Tage, Salzburg/Leipzig 1934, S. 90.

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154

Dialektik des Lebendigen

– anders als die Kreationisten – positiv auf die Evolutionstheorie beziehen, ohne hierdurch seinen christlichen Glauben an die Welt als Schöpfung Gottes bedroht zu sehen. Im Gegenteil zeigt er auf, dass der unmittelbare, lenkende Zugriff Gottes als permanenter Eingriff in das Weltgeschehen den monotheistischen Glauben an ein höchstes, transzendentes Wesen untergräbt: »Bereits der Begriff der Schöpfung als des Hervorrufens von ›Phänomenen in der Welt‹ ist unzutreffend; denn erstens hat Gott auch die Welt selbst geschaffen und zweitens hat Er nicht Tiere, sichtbare Phänomene, auf die Erde gesetzt. Vielmehr gingen die sichtbar in Erscheinung tretenden Pflanzen und Tiere aus natürlichen Entstehungsprozessen hervor, wie auch heute noch, dank natürlicher Lebens- bzw. Zweckursachen. Und diese wurden zuerst von Gott geschaffen. Der Evolutionsprozess wurde also von solchen den Lebewesen immanenten Naturursachen ›gesteuert‹, nicht von Gott, der vielmehr (erste) Ursache dieser (zweiten) Ursachen ist. Andernfalls würde Gott an die Stelle der Naturursachen treten, und die ›grenzüberschreitende‹ Hypothese würde in einen Pan(en)theismus verfallen.«89 Die den Lebewesen immanenten Zweckursachen sollen als natürliche anerkannt werden, was auf ihre transzendente Ursache – Gott – schließen lasse. Das erkenntnistheoretische Problem wird so nicht auf Grundlage von Vernunft und Reflexion philosophisch gelöst, also nicht im Denken, sondern über den Glauben. Für eine Wissenschaft im Zeitalter nach der Aufklärung ist der Glaube jedoch kein tragendes Fundament. Das Grundproblem bleibt folglich bestehen: Die Kausalität ist ein reiner Verstandesbegriff a priori und damit ermöglichende Bedingung der Erfahrung, die Zweckmäßigkeit nicht; sie ist als intelligibler Begriff zugleich nicht a posteriori aus der Erfahrung gewonnen, sondern muss durch ein Subjekt denkend gesetzt werden. In Kants Kritik der Urteilskraft wird sie durch das Subjekt der Erkenntnis selbst gesetzt, als Form der Beurteilung. In Folge ist die Zweckmäßigkeit keine Eigenschaft, die den Organismen an sich selbst zukäme (sie verbleibt im Modus des ›Als-ob‹), sondern nur in der Form der Erkenntnis dieser Gegenstände als lebendige liegt – und so uns eine spezifische Klasse von Objekten erst gibt, weshalb die Organismen objektiv teleologisch verfasst sind (im Widerspruch zum ›Als-ob‹). Dem Schöpfungsglauben folgend hat Gott im Schöpfungsakt die Form der Zweckmäßigkeit als spezifisches Prinzip des Lebendigen gegeben, die Organismen seien daher durch IHn an sich selbst zweckmäßig, was sich mit der empiristischen Bedeutung von objektiver Zweckmäßigkeit der Organismen deckt. (Im ID hingegen ist die Zweckmäßigkeit der Organismen eine heteronome, und eine prinzipielle Differenz zu Artefakten gibt es nicht.) Entsprechend versucht Seidl, sich bei der Bestimmung der inneren Zweckmäßigkeit der Lebewesen von der Kantischen Formulierung des ›als ob‹ es zweckmäßig sei, abzugrenzen; denn er halte nichts von der Anmaßung der Kantischen kopernikanischen Wende, nach der die Gegenstände sich nach unserem Denken zu richten hätten. Eine Formulierung, Lebewesen seien so aufgebaut und verhalten sich so, als ob sie in sich und für sich zweckmäßig seien, leugne, dass sie auch tatsächlich zweckmäßig sind und

89

Seidl, Naturfinalität, S. 49.

4. Die Aporie des Artbegriffs

könne somit keine positive Bestimmung des Lebendigen liefern, sondern »nur das Negative, dass sie nämlich in Parallele zum Willen kein[en] Willensakt«90 in sich enthalten. In ihnen wirke jedoch eine »nicht-materielle, irrationale Lebenskraft, die zweckvoll tätig ist. […] Während aber der Mensch mit Verstand seinen Zweck verfolgt, wirkt die Natur ihren Zweck ohne Verstand.«91 Auch wenn Seidl eine positive Bestimmung eines Lebensprinzips hochhält, so kann auch er sie doch offenbar bloß negativ bestimmen – als irrational und ohne Verstand, aber doch bloß analog zu diesem zu begreifen. Genau dies drückt sich aber bei Kant in der umstrittenen Formulierung des ›Als-ob‹ aus. Seidls Kritik an Kant verweist so, entgegen seiner Intention, der Sache nach auf die Notwendigkeit einer negativen Bestimmung des Lebens, die, theoretisch konsequent ausgeführt, um den Preis einer positiven Bestimmung des Lebendigen auch ohne einen göttlichen Schöpfungsakt formuliert werden kann.92 Die auf eine positive Bestimmung des teleologischen Naturzwecks in Organismen zielende avancierte christliche Theorie, welche die erkenntnistheoretische Aporie im Naturzweck über den Glauben an eine Schöpfung als erste transzendente Ursache löst, hat gegenüber dem derzeitigen naturwissenschaftlichen Standpunkt der Biologie nicht nur den Vorteil, dass die objektive Zweckmäßigkeit der lebendigen Organismen und ihre Evolutionsgeschichte widerspruchsfrei angenommen werden kann, sondern umgeht darüber hinaus auch die Widersprüche, in welche die biologischen Theorien zur Entstehung des Lebens sich unweigerlich verstricken müssen, wenn sie den Übergang von unbelebter Materie zu belebter positiv und widerspruchsfrei erklären wollen.

90 91 92

Seidl, Naturfinalität, S. 118. Seidl, Naturfinalität, S. 118 f. Vgl. Kapitel 12.

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5. Die Aporie der Entstehung des Lebens »Es ist vielleicht möglich, den ›Ursprung der Arten‹ durch den Konkurrenzkampf zwischen den Organismen zu erklären; aber dieser Kampf ums Dasein erklärt ganz sicher nicht, wie es zur Entstehung dieses allgemeinen Typus von Objekten – komplexer Organismen mit geringer Überlebensfähigkeit – kommen konnte.«1

Die Grundannahme der Theorien zur Entstehung des Lebens ist so einfach wie zwingend: Da es Organismen nicht schon immer gab, müssen sie entstanden sein. Da es vor der Entstehung des Lebens nur unbelebte Materie gab, muss das Leben aus dem Unbelebten entstanden sein. Doch bei der Frage, wie das Leben aus dem Unbelebten entstanden sein könnte, fangen die Probleme an. Um eine Entstehung des Belebten aus dem Unbelebten zu erklären reicht es nicht aus, dass die chemischen Verbindungen immer zahlreicher und komplexer wurden, denn Organismen sind nicht bloß komplexe Verbindungen; sie sind darüber hinaus in sich zweckmäßig funktional aufgebaut, um sich zu erhalten und um sich fortzupflanzen. Um die Entstehung des Lebens zu erklären, muss also ein Übergang vom Prinzip des nexus effectivus zum nexus finalis konstatiert werden.

5.1

Die Aporie der Entstehung des Lebens und drei Arten, mit ihr umzugehen

Die logische Schwierigkeit, eine Entstehung des Lebens aus nichtbelebter Materie zu denken, hat bereits Thomas von Aquin gesehen: »Avicenna nahm an, alle Tiere könnten entstehen aus einer Art Vermischung der Grundstoffe ohne Samen, sogar auf natürlichem Wege. Das scheint sinnwidrig, denn

1

Alfred North Whitehead, Die Funktion der Vernunft, Stuttgart 1974, S. 6.

158

Dialektik des Lebendigen

die Natur erreicht ihre Wirkungen durch bestimmte Mittel; darum kann das, was natürlicherweise aus dem Samen entsteht, nicht auch natürlicherweise ohne Samen entstehen.«2 Der hieraus zu ziehende Schluss, dass es das Leben immer schon gab, ist jedoch erdgeschichtlich betrachtet unhaltbar.3 Eine wesentliche Bestimmung des Lebendigen ist die Fortpflanzung: Lebendiges geht aus Lebendigem hervor (generatio univoca). Dies ist Teil des Begriffs des Lebendigen. Also muss als Ursprung des Lebens etwas angenommen werden, was der begrifflichen Bestimmung des Lebendigen widerspricht. Dass das Leben empirisch wie logisch nur aus Leben entsteht, zugleich jedoch erdgeschichtlich entstanden sein muss, ist ein Widerspruch. Diese Aporie zeigt sich durchgehend in den Theorien zur Entstehung des Lebens.

5.1.1

Die Theorie der Urzeugung und ihre Widerlegung durch Pasteur

Durch die Fortschritte in der Optik und die Entwicklung des Mikroskops wurde der Wissenschaft im 17. Jahrhundert eine neue Welt kleinster Lebewesen erschlossen, die sogenannten animalcula. Sie wurden als ein Bindeglied zwischen der unbelebten Materie und den sichtbaren Organismen aufgefasst und verhalfen dadurch der alten These der generatio ex putrefactione (Entstehung aus Fäulnis) zu neuer Nahrung, denn sie schienen sich direkt und selbständig in feucht-warmer Umgebung bilden zu können. Aus ihnen sollten sich alle weiteren Organismen entwickelt haben. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts zeigten neue Experimente, dass diese Entstehung von Kleinstlebewesen mehr Bedingungen hat, als zuvor angenommen, was eine spontane Erzeugung zweifelhaft machte. Lazzaro Spallanzani, Priester und Universalgelehrter, veröffentlichte 1768 seine Versuche gegen die These spontaner Urzeugungen, indem er zeigte, dass animalcula nicht in organischen Flüssigkeiten entstehen können, wenn diese abgekocht und in luftdicht verschlossenen Gefäßen aufbewahrt werden. Schwann führte diesen Gedanken in seinen Experimenten mit Erhitzung unter Luftabschluss fort. Mit den Studien von Louis Pasteur, der 1861 nachweisen konnte, dass sich unter sterilen Bedingungen in Nährflüssigkeit keine Bakterien ansiedeln, wurde endgültig bewiesen, dass sich Leben nur aus Leben bildet. Für diesen Nachweis erhielt Pasteur 1864 den Preis der französischen Akademie. Pasteurs Forschungsergebnisse waren technisch für die Haltbarmachung von Lebensmitteln ein großer Fortschritt; doch für die Biologie warfen sie eine grundlegende Frage auf: Wenn das Leben nur aus Leben entstehen kann, woher kommt es dann? Dies war der historische Ausgangspunkt für die naturwissenschaftliche Brisanz der Frage nach der Entstehung des Lebens. Vorher dachte man im Allgemeinen, dass das Leben in seinen einfachen Formen immer und überall aus dem Unbelebten neu hervorkomme, wenn es geeignete Bedingungen vorfände. Mit der empirischen Widerlegung der

2 3

Thomas von Aquin, Summa Theologica, 5. Band: Das Werk der sechs Tage, Salzburg/Leipzig 1934, S. 113. Man geht heute davon aus, dass erstes Leben vor etwa 3,77 Milliarden Jahren entstand. Vgl. Dodd/ Papineau/Grenne/Slack/Rittner/Pirajno/O’Neil/Little, »Evidence for early life in Earth’s oldest hydrothermal vent precipiates«, in: nature, 543, S. 60-64 (2017).

5. Die Aporie der Entstehung des Lebens

Urzeugung durch Pasteur bleibt nur die Prämisse: Omne vivum e vivo, alles Lebende entsteht aus Lebendem. So kommt William Preyer 1878 zu dem Schluss: »Alle lebenden Wesen haben lebende Vorfahren gehabt«4 . Da ein Übergang vom Unorganischen zum Organischen sowohl logisch widersprüchlich als auch empirisch durch Pasteur widerlegt war, blieb nach Preyer nur der Weg denkmöglich, anzunehmen, dass das Leben nicht entstanden sei, sondern es schon seit Anbeginn der Welt existiert habe. Doch auch gegen diese These, dass das Leben schon immer vorhanden war, sprechen deutliche empirisch vermittelte Belege. Da es das Leben nachweislich nicht schon immer gab, es also entstanden sein muss, es jedoch zugleich nicht aus unbelebter Materie entstanden sein kann, sofern sich dieser Übergang weder empirisch noch logisch bestimmen lässt, führt die Frage nach der Entstehung des Lebens in eine Aporie. Hierbei lassen sich grundlegend drei verschiedene Arten des Umgangs mit diesem Widerspruch unterscheiden.

5.1.2

Die räumliche Verschiebung des Widerspruchs: Panspermie

Die Theorie der Panspermie, nach der die Erde durch im Weltall treibende Mikroorganismen mit Leben befruchtet wurde, geht auf den Chemiker und Physiker Arrhenius zurück.5 Arrhenius stellte 1906 die These auf, dass das Leben möglicherweise durch Meteoriteneinschläge auf die Erde gelangt sei.6 Im Jahr 1984 veröffentlichte der Geologe Hans Pflug an der Universität Gießen seine Entdeckung von Strukturen im Murchison-Meteoriten, die er als Mikrofossilien interpretierte, wodurch die Panspermie-These an Wahrscheinlichkeit und neue Anhänger gewann.7 Die gefundenen ›Mikrofossilien‹ ähneln dem eisenoxidierenden Bakterium Pedomicrobium, sind allerdings etwa zehnmal so groß. Darüber hinaus wurden in dem Meteoriten Kohlenwasserstoffe nachgewiesen, von denen Pflug annahm, dass sie als organische Verbindungen nur von Lebewesen gebildet werden konnten (die Entstehung von Kohlenwasserstoffen in Gesteinen ohne Beteiligung von Lebewesen ist nach heutigem Wissensstand jedoch nicht auszuschließen). Die Vorteile der Panspermie-Hypothese liegen darin, dass die Bedingungen, unter denen Leben ursprünglich entstanden sei, sich praktisch unserem Zugriff entziehen und darum theoretisch beliebig variiert werden können; dies steigert die Wahrscheinlichkeit der Entstehung des Lebens enorm, wenn die Erklärung seiner Genese nicht innerhalb bestimmter gegebener Parameter auf der Erde geleistet werden muss. Aus diesem Grund, weil die Entstehung des Lebens nicht exakt lokalisiert und darum 4 5

6 7

William Preyer, »Ueber den Lebensbegriff«, in: Kosmos 2, 1878, S. 204-217, S. 217, zitiert nach: Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie, Artikel: Urzeugung, S. 613. Schon dem Vorsokratiker Anaxagoras wird die Äußerung zugesprochen, das Leben komme aus dem Kosmos und wurzele überall dort, wo es günstige Bedingungen vorfände. Doch die Gründe für diese Annahme im Zeitalter des ersten Überganges vom Mythos zum Logos sind derart verschieden von denen moderner Naturwissenschaft, dass diese und andere eher zufällige Koinzidenzen für heutige Überlegungen zum Ursprung des Lebens nicht betrachtet werden. Vgl. Svante Arrhenius: Worlds in the Making, London 1908. Hans D. Pflug, »Ultrafine structure of organic matter in meteorites«, in: Chandra Wickramasinghe (Hg.), Fundamental Studies and the Future of Science, Cardiff 1984.

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Dialektik des Lebendigen

höchstens spekulativ rekonstruiert werden kann, kann in Panspermie-Theorien auf eine Erklärung der ursprünglichen Entstehung des Lebens auch ganz verzichtet werden und das Leben schlicht als gegeben vorausgesetzt werden. Diese Theorie löst zudem die Frage, warum das Leben auf der Erde nur in einer Grundform mit einer einheitlichen DNA-Struktur als Doppelhelix mit Paaren aus vier Basen vorkommt. Da jedoch in dem kleinen Bereich des Universums, der unseren Forschungen technisch bislang zugänglich ist, keine eindeutigen Hinweise auf die Existenz extraterrestrischer Lebensformen gefunden wurden,8 wird diese Theorie der extraterrestrischen Befruchtung der Erde heute seltener vertreten. Das größte empirische Problem der Panspermie-Hypothese ist aus heutiger Sicht, dass jede Form des Lebens, die auf der Erde heimisch ist oder war, eine Reise durch den Weltraum ohne aufwändige technische Hilfsmittel nicht überleben könnte. Sowohl die Strahlungsschäden bei der Reise durch das Weltall wie auch der Einschlag auf die Erde würde jedes noch so robuste Bakterium wohl zerstören, was eine Entstehung des Lebens auf der Erde durch einen mit Mikroorganismen kontaminierten Meteoriten extrem unwahrscheinlich bis unmöglich macht. Abgesehen von der Frage danach, wie die Bakterien denn auf den Meteoriten gelangt sein sollen, sprachen diese Probleme rein immanent gegen eine Panspermie, bis der Physiker und Biochemiker Francis Crick hierfür eine kuriose Lösung ersann: Crick – der 1962 zusammen mit James Watson und Maurice Wilkins den Medizin-Nobelpreis für die Entdeckung der Molekularstruktur der DNA erhielt – veröffentlichte unter dem Titel Life itself 1981 die Hypothese der gelenkten Panspermie. Seine Theorie nimmt den Grundgedanken der Panspermie auf und modifiziert ihn dergestalt, dass Mikroorganismen weite Strecken im All zurücklegen könnten, ohne Schaden zu nehmen: »Wir nehmen an, daß die Mikroorganismen, um Beschädigungen zu vermeiden, im Kopf eines unbemannten Raumschiffs gereist sind, das von einer höheren Zivilisation, die sich andernorts vor einigen Milliarden Jahren entwickelt hatte, zur Erde geschickt wurde. Das Raumschiff ist unbemannt, um ihm die größtmögliche Reichweite zu sichern. Das Leben begann hier bei uns, als die Organismen in das Urmeer entlassen wurden und sich zu vermehren begannen. Wir gaben unserer Idee den Namen gelenkte Panspermie«9 . Die Gründe, die Crick dazu trieben, sich zum Däniken der Mikrobiologie zu disqualifizieren, liegen im immanenten Mangel der Panspermie-Theorien und sind unter diesem Blickwinkel durchaus schlüssig. Denn selbst wenn es auf anderen Planeten im Universum Leben gäbe, wäre eine Befruchtung gerade unseres für Leben geeigneten Planeten hochgradig unwahrscheinlich: Ein belebter Planet müsste zerstört werden, so dass Teile von ihm als Meteoriten im Weltall unterwegs wären. Die dortigen Lebensformen müssten sowohl die Vernichtung ihres Planeten als auch die lange Reise durchs Weltall un-

8 9

Man sucht allerdings weiter. Der aktuelle Stand findet sich z.B. beim astrobiologischen Institut der NASA. https://astrobiology.nasa.gov/ (Zugriff 26.10.2020). Francis Crick, Das Leben selbst. Sein Ursprung, seine Natur, München/Zürich 1983 (orig. Life itself. Its Origin and Nature, New York 1981), S. 12.

5. Die Aporie der Entstehung des Lebens

beschadet überstehen, darüber hinaus die Landung auf der Erde überleben, die ihnen zufällig genau die Lebensbedingungen zur Weiterentwicklung bieten müsste, welche diese Aliens benötigen. Dass man von einer intelligent gelenkten und geplanten Panspermie unter eigens hierfür geschaffenen Bedingungen ausgehen muss, um diesen Gedanken auch nur einigermaßen im Rahmen eintretender Wahrscheinlichkeit halten zu können, ist nachvollziehbar. Auch hier ließe sich immanent diskutieren, ob modernere Formen der Teleportation wie das Beamen nicht die effektivere und schonendere Transportmöglichkeit von Lebenskeimen für eine hochentwickelte Alientechnologie darstellen würden; eingedenk der Tatsache, dass die Fernsehserie Star Treck schon seit 15 Jahren auf Sendung war, als Crick seine Überlegungen veröffentlichte, wirkt sein bleiummanteltes Raumschiff doch einigermaßen anachronistisch. Ernst zu nehmen ist allerdings das hinter den Panspermie-Theorien liegende Problem: Sie alle erscheinen als Notlösung angesichts der unlösbar scheinenden Schwierigkeiten, vor die uns die Frage stellt, wie die Entstehung von belebter Materie aus unbelebter Materie – auf der Erde oder sonst wo – zu begreifen sei. Dieses Problem wird von Theorien der Panspermie allerdings auch nicht gelöst, sondern bloß umgangen, indem es räumlich auf einen anderen Planeten und womöglich in eine andere Galaxie verlagert wird.

5.1.3

Die Verschiebung des Widerspruchs ins Transzendente durch die Annahme eines externen Schöpfers oder des ›heiligen Zufalls‹

Die Frage nach der Entstehung des Lebens hängt mit der Frage nach seiner zweckmäßigen Struktur zusammen. Der Begriff der Naturteleologie ist in zwei Hinsichten widerspruchsvoll: Wenn die Natur keinen Zweck hat oder stiften kann, sind Organismen für uns unerkennbar; aber wenn sie einen eigenen Zweck hat, wird sie entweder selbst zu einem intelligiblen Subjekt hypostasiert oder der Zweck ist nicht ihrer, sondern er wird einem ihr äußeren Subjekt zugesprochen. Denn »das, was kein Bewußtsein hat, tendiert in ein Ziel nur, wenn es von einem bewußten und intelligenten Wesen gelenkt wird, wie der Pfeil vom Schützen«10 . Wenn es ein schöpfendes Subjekt gibt, kann dieses den Zweck in das Material gelegt haben – analog zum Artefakt, das der Mensch zweckmäßig gestaltet. Ein göttliches Wesen, das außerhalb von Raum und Zeit in diese eingreifen kann, steht nicht unter den Beschränkungen der kausalen Naturgesetze und kann Lebendiges aus Unbelebtem oder auch aus reinem Schöpfungsakt setzen.11 Da wir als empirische Sinnenwesen – obgleich vernünftig – unter den Schranken leben und forschen müssen, welche die Physik uns auferlegt, könnten wir das Wie jenes Schöpfungsaktes prinzipiell nicht erkennen, sondern nur glauben; oder hoffen, dass er uns offenbart werde. 10

11

Thomas von Aquin, Summa theologica I, qu. 2, a. 3., zitiert nach: Robert Spaemann, »Natur«, in: H. Krings/H.M. Baumgertner/C. Wild (Hg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe,, Band 4, München 1973, S. 956-969, S. 959. Da dies eine naturphilosophische Arbeit ist, die als Gegenstand die Naturwissenschaften hat, wird den durchaus interessanten philosophischen Aspekten diverser Schöpfungsmythologien und insbesondere der Schöpfungsgeschichte monotheistischer Religionen hier kein weiterer Raum gegeben.

161

162

Dialektik des Lebendigen

Eine Variante des Schöpfungsgedanken findet Dauvillier12 im ›heiligen Zufall‹, nach dem im Laufe der Erdgeschichte irgendwann durch einen höchst unwahrscheinlichen Zufall exakt jene Stoffe unter genau den spezifischen Bedingungen einmalig zusammentrafen, dass im Resultat das Leben entstand. Oparin analysiert diesen sich bis in heutige Vorstellungen durchziehenden Fehler sehr präzise: »Im Grunde lassen sich alle diese Versuche [das Leben und seinen Ursprung mechanistisch über seine Genstruktur begreifen zu wollen] auf ein und dieselbe Vorstellung zurückführen. In der primären, noch leblosen Lösung organischer Stoffe bildeten sich auf irgendeine Weise Teilchen von Eiweiß, Nukleinsäure oder Nukleoproteid aus, deren innermolekularer Aufbau sofort bei ihrer Entstehung außergewöhnlich vollkommen an die Verwirklichung der Selbsterneuerung und andere Lebensfunktionen angepaßt war. Auf diese Weise entstand die ›primäre lebende Matrize‹, die immer komplizierter werden und sich mit Protoplasma umgeben konnte, deren ›zweckmäßige‹ lebensbestimmende Struktur im Prinzip sofort die gleiche war, die sie auch heute noch ist. Aber nun tritt natürlich gleich die Frage auf, auf Grund welcher Gesetzmäßigkeiten eine an die Durchführung bestimmter Funktionen derart angepaßte innermolekulare Struktur entstehen konnte. Spontan kann sich in der anorganischen Natur unter bestimmten Umständen ein formloses Stück Eisen bilden und auch vorhanden sein, jedoch, wie schon Aristoteles schrieb, kann sogar das Schwert an sich ohne Beteiligung des Menschen nicht auf diese Weise entstehen, weil sein Bau auf die Erreichung eines bestimmten Zieles abgestimmt ist. Genauso – wie wir später noch sehen werden – konnten die physikalischen und chemischen Gesetze, die allein im Urozean herrschten, völlig ausreichend sein, um die spontane Bildung hochmolekularer eiweißähnlicher Polymere und Polynukleotide mit mehr oder weniger regelmäßiger Anordnung der Mononukleotidreste in diesen Gewässern zu ermöglichen. Allein reichen diese Gesetze jedoch nicht aus, um die gesetzmäßige Möglichkeit der Entstehung irgendeiner an die Erfüllung bestimmter Funktionen angepaßten Struktur erklären zu können. Deshalb ›erklären‹ alle Vertreter der dargelegten Vorstellungen sozusagen die Entstehung der zweckmäßigen Struktur ihrer primären ›Matrize‹ mit einem ›glücklichen Zufall‹ oder ›einfach reiner Zufälligkeit‹, in der Dauvillier folgerichtig ›die Hand eines eigentümlichen Schöpfers‹ sieht. Ihrem Wesen nach unterscheidet sich diese Hand durch nichts von der ›göttlichen Quantenmechanik‹ Schrödingers oder sogar auch von der ›göttlichen Willkür‹ des Hl. Augustinus.«13 Wegen der verbreiteten falschen Maschinen-Analogie kommen Oparin zufolge statische Konstruktionsmodelle wie das von Schrödinger (DNA = Bauplan)14 notwendig implizit zu metaphysischen Schlüssen, d.i. zum Schöpfungsgedanken. Weil Schrödinger davon ausgeht, dass die DNA, also der Bauplan des Lebens, logisch und zeitlich dem ersten Organismus vorgeordnet sein muss und daher noch nicht nach den bekannten Mechanismen repliziert werden konnte, ist ihre Entstehung in höchstem Maße zufällig. Für

12 13 14

Vgl. A. de Dauvillier/E. Desguin, Le genèse de la vie – Phase de l’evolution géochimique, Paris 1942. Oparin, Leben, S. 25 f. Vgl. Kapitel 9.

5. Die Aporie der Entstehung des Lebens

das zufällige spontane Werden einer Struktur, die dann zweckmäßige, geordnete Strukturen hervorbrachte, findet er keine andere Metapher als den des göttlichen Ursprungs und nennt das Leben »das feinste Meisterstück […] von Gottes Quantenmechanik«15 . Dieser heilige Zufall, durch den anorganisches Material den Weg ins Leben gefunden haben soll, hätte für die wissenschaftliche Befassung mit seinem Produkt einen gewaltigen Nachteil, nämlich »wie kann man eine Erscheinung studieren, die im günstigsten Falle während der ganzen Zeit der Existenz unserer Erde einmal stattgefunden haben konnte?«16

5.1.4

Das Verstecken des Widerspruchs im sukzessiven Prozess

Solange man das Problem der Entstehung des Lebens nicht bloß verlagert – etwa in die Macht eines unerkennbaren Schöpfers oder durch die Annahme, erste Lebensformen seien auf Meteoriten zur Erde gestürzt und hätten dort dann gute Bedingungen vorgefunden, sich zu den heute existierenden Formen zu entwickeln –, muss man die Frage beantworten: Wie wurde zu einem bestimmten erdhistorischen Zeitpunkt unter dort herrschenden spezifischen empirischen Bedingungen aus unbelebter Materie belebte, ohne dass diese Entstehung so unwahrscheinlich war, dass sie einem ›heiligen Zufall‹ gleichkommt? Hierbei wird das logische Problem des Wechsels im Erklärungsprinzip von kausal zu teleologisch als ein empirisches Problem verhandelt, indem jene chemischen Bedingungen gesucht werden, unter denen der Wechsel von unbelebter zu belebter Materie erdhistorisch mit großer Wahrscheinlichkeit stattfinden konnte. Die meisten Biologen ziehen aus der notwendig anzunehmenden Prämisse, dass Leben aus Unbelebtem entstand, den vorschnellen Schluss, dass sich das Leben hinreichend aus dem Unbelebten erklären lassen müsse: »Aus wissenschaftlicher Sicht wird allgemein angenommen, dass sich Leben aus Unbelebtem entwickelt hat und ein naturalistischer Ansatz zur Erklärung des Lebens möglich ist.«17 Der hier durch das ›und‹ vollzogene Umkehrschluss ist anzuzweifeln; er bekommt seine Plausibilität zunächst nur dadurch, dass der Gedanke, das Leben sei aus Unbelebtem entstanden, notwendig ist, da es Organismen erst seit ca. 4 bis 3,5 Milliarden Jahren gibt. Doch dass das Leben offenkundig entstanden ist, enthebt das Denken nicht von der Aporie, dass der Wechsel im Erklärungsprinzip vom nexus effectivus zum nexus finalis nicht aus ersterem abgeleitet werden kann. Im Folgenden wird anhand verschiedener Theorien zur Entstehung des Lebens zu zeigen sein, wo in der Vorstellung des sukzessiven Übergangs jeweils der qualitative Wechsel vom kausalen zum teleologischen Erklärungsprinzip sich vollzieht.

15

16 17

Erwin Schrödinger, Was ist Leben? Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet, München/ Zürich 1987, S. 147. Original: What is Life?, Cambridge/London/New York/Melbourne 1944. (Künftig zitiert: Schrödinger, Was ist Leben?). Oparin, Leben, S. 27. Michael Esfeld/Christian Sachse, Kausale Strukturen. Einheit und Vielfalt in der Natur und den Naturwissenschaften, Berlin 2010, S. 143. (Künftig zitiert: Esfeld/Sachse, Kausale Strukturen).

163

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Dialektik des Lebendigen

5.1.4.1

Chemische Evolution: Das Miller-Urey-Experiment und die RNA-Welt-Hypothese

Stanley Miller und Harold Clayton Urey führen 1953 ein bekannt gewordenes Experiment durch, das die Hypothese der abiogenen Entstehung von organischen Molekülen, wie sie von Oparin oder auch J. B. S. Haldane vertreten wurde, unter Bedingungen einer angenommenen Uratmosphäre bestätigte. Für die Simulation der frühen Erdatmosphäre wurden Wasser, Ammoniak, Methan, Wasserstoff und Kohlenmonoxyd gemischt. Unter der Simulation von Blitzeinschlägen durch starke elektrische Ladungen bildeten sich organische Moleküle wie Harnsäure, Milchsäure und einige proteinogene Aminosäuren, die Bausteine der Proteine.18 Es ist also davon auszugehen, dass die frühe Erdatmosphäre organische Moleküle und vielleicht sogar Proteine enthielt. Doch mit organischen Molekülen – die nur rückblickend als organisch bezeichnet werden können, weil die Trennung in organische und anorganische Chemie nur aufgrund der Differenz von belebter und unbelebter Materie vollzogen werden kann, weshalb jene frühen Aminosäuren noch keine qualitative Differenz zu anderen Molekülen aufweisen konnten, da sie nicht Teil organischer Lebewesen waren – hat man noch kein Leben auf der Erde. Sie sind ohne Zweckbegriff zu denken und weisen also noch kein spezifisches Kennzeichen des Lebendigen wie identische Reproduktion oder Stoffwechsel auf. Ein weiterer Schritt in der Theorie der chemischen Evolution waren die 1965 gelungenen Experimente Sol Spiegelmanns zur Replikation kurzer RNA-Polymere. Ihm gelang die Vervielfältigung des Erbguts eines Phagen19 im Reagenzglas (ohne Wirtszelle). Da die bei dieser künstlichen Replikation auftretenden Mutationen in ihrer künstlichen Umgebung keinem organisch zweckgebundenem evolutionären Druck ausgesetzt waren, replizierten sich unvollständige RNA-Ketten schneller, so dass nach 75 Generationen eine RNA-Kette vorlag, die nur noch ca. 20 % der Nukleotide der ursprünglichen RNA enthielt. Spiegelmann publizierte dieses Experiment als eine Form von Evolution, die direkt das Genom verändert, abgekoppelt vom Phänotyp.20 Dies verändert jedoch den Gehalt des Informationsbegriffs, der bloß noch als Analogon der Information fungieren kann, die bei der Replikation des ursprünglichen Phagen über die RNA weitergegeben wird. Denn in diesem Experiment findet eine Evolution des reinen Erbguts über das Kriterium der Replikationsgeschwindigkeit statt – die Information ist hierbei ›leer‹, sie codiert keine organische Funktion und Struktur außer der, die sie selbst ist. Wenn die RNA oder DNA hingegen im Reproduktionsprozess des Lebendigen die Information des ganzen Organismus codiert, ergibt sich ein logisches Problem. Denn das Genom muss auch die Information zur Synthese solcher Proteine enthalten, deren Funktion nicht auf die Neubildung des Erbguts beschränkt ist. Der Nachweis einer

18 19 20

Vgl. S. L. Miller/H. C. Urey: »Organic Compound Synthesis on the Primitive Earth«, in: Science. Band 130 (3370), 1959, S. 245-251. Der Phage Qβ ist ein Virus mit einer positiv-einzelsträngigen RNA, der Escherichia coli befällt. D. R. Mills/R. L. Peterson/S. Spiegelman: »An extracellular Darwinian experiment with a self-duplicating nucleic acid molecule«, in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America, Band 58, Nummer 1, Juli 1967, S. 217-224.

5. Die Aporie der Entstehung des Lebens

selbstreplikativen Funktion der RNA ist also für die Erklärung der Entstehung des Lebens oder selbst von einfachen Viren noch nicht hinreichend. Doch wie auch spätere Experimente zur Erzeugung künstlicher DNA durch Craig Venter wurden Spiegelmanns Ergebnisse in der breiteren Öffentlichkeit als die Erschaffung neuen Lebens diskutiert. Von der damaligen Presse mit den Experimenten von Shellys Doktor Frankenstein verglichen, wurden die künstlich replizierten RNA-Polymere unter dem Namen ›Spiegelmanns Monster‹ bekannt, wobei er selbst diesen Namen für die kurze Phagen-RNA zwar ironisch aufnahm, aber stets darauf hinwies, dass er in diesem Prozess kein Leben geschaffen habe, sondern das lebendige Virus als Ausgangspunkt seinen Experimenten vorausgesetzt ist. Auch wenn er keine Urform des Lebens erschaffen hat, so waren ›Spiegelmanns Monster‹ doch wegweisend für weitere Forschungen zur chemischen Evolution. Mit ihrer Hilfe gelang es, Lösungen für das ›präbiotische Henne-Ei-Paradox‹ zu entwickeln: Es war Francis Crick, der postulierte, dass die Information immer von der Nukleinsäure zum Protein wandert, niemals umgekehrt, eine These mit zentraler Bedeutung für die Molekularbiologie. Also kann sich zu einer abiogen entstandenen Aminosäure keine diese codierende DNA bilden. So müsste der Bauplan – der für sich genommen funktionslos ist und kein Organismus – vor dem Organismus entstanden sein, den er codiert. Zugleich findet die Replikation der DNA nur in der lebenden Zelle des Organismus statt und die wechselseitigen Funktionen der einzelnen Teile des Organismus, deren Information die DNA enthält, sind in der DNA selbst funktionslos; also müsste der Körper vor dem Bauplan existieren. Was war also zuerst da – die Information, also die DNA mit der ›Bauanleitung‹ organischer Proteine, oder die Proteine, die sich ohne DNA jedoch nicht replizieren können und nur allenthalben zufällig (anorganisch) entstehen? Laut Monod sind die Proteine für die teleonomischen Eigenschaften des Organismus verantwortlich21 , während die Invarianz an die Nukleinsäure gebunden ist22 . Ihm zufolge geht die Invarianz immer notwendig der Teleonomie voraus. Doch wenn es ein Stadium gab, in dem die Aufgaben der Proteine von den Nukleinsäuren erfüllt wurden, dann heißt dies, dass für den Beginn des Lebens Invarianz und Teleonomie als ungetrennte Einheit gedacht werden müssen. Mit Spiegelmanns Experiment wurde klar, dass die RNA, im Gegensatz zur DNA, nicht nur Informationen speichern, sondern zugleich enzymatisch wirken kann und so zumindest ihre eigene Reproduktion zu katalysieren in der Lage ist. In der RNA sind wie in der DNA Erbinformationen gespeichert, doch anders als die DNA kann die RNA zugleich in chemischen Reaktionen als Katalysator wirken und so die Funktion übernehmen, welche in DNA-basierten Organismen bestimmte Proteine haben. Damit begann eine Forschung, die mit dem Fokus auf den chemischen Eigenschaften der RNA die Selbstreplikation als Informationsübertragung als den Beginn des Lebens setzt.23 Manfred Eigens und Ruthild Winklers Theorie des autokatalytischen Hy-

21 22 23

Vgl. Monod, Zufall und Notwendigkeit, S. 61. Vgl. Monod, Zufall und Notwendigkeit, S. 138. Der neue Ansatz hat den alten, nach dem die räumliche Isolierung organischen Materials zu einer zellgleichen ›Einheit‹ den Beginn des Lebens markiere, nicht vollständig abgelöst. Tatsächlich finden sich zu beiden Ursprungshypothesen weitere Forschungen, etwa die von S. Fox nachgewie-

165

166

Dialektik des Lebendigen

perzyklus24 entwickelt 1971 ein solches Modell der Entstehung des Lebens: Nach ihnen bildeten sich zuerst replikative chemische Systeme durch die Kopplung von Zyklen aus RNA- und Proteinmolekülen, dann die Enzyme und schließlich Zellen als durchlässige räumliche Isolierung. Im Hyperzyklus sind Einzelzyklen zusammengefasst, in denen RNA-Moleküle die Bildung von Proteinen katalysieren, welche ihrerseits als Katalysatoren der Bildung von RNA-Molekülen dienen. Hier finden schon Mutationen und Evolution statt, da unterschiedliche Eigenschaften sich auf die Replikationsrate auswirken.25 Damit sei eine der Selektion unterliegende Weitergabe von Information gegeben. Der Übergang von chemischer zu biologischer Evolution wird heute i.d.R. wie in der Theorie des Hyperzyklus an die Weitergabe von Information in der Replikation gekoppelt. Der qualitative Wechsel des Erklärungsprinzips vollzieht sich hier unbemerkt darüber, dass mit dem Begriff der Information ein Intelligibles gesetzt ist, das der Replikation ihr teleologisches Moment verleiht. Urnau und Barthel fanden weitere RNA-Moleküle, welche neben anderen Bestandteilen des Zellstoffwechsels auch Bausteine ihrer eigenen Replikation produzierten.26 So ist eine hypothetische frühe Lebensform denkbar, sogenannte Ribozyten, katalytisch aktive RNA-Moleküle, in denen die RNA beide Funktionen übernimmt, die Informationsspeicherung und die Katalyse chemischer Reaktionen im Stoffwechsel und in der identischen Reproduktion. So gehen viele Biologen heute davon aus, dass vor ca. 3,8 Milliarden Jahren die RNA-Welt27 als frühe Form des Lebens entstanden ist. Doch der Übergang zur Selbstreplikation als Informationsübertragung wird auch hier nicht entwickelt, sondern gesetzt. Ist dies geschehen, können spätere Formen des Lebens aus dieser angenommenen Frühform widerspruchsfrei entwickelt werden, da das teleologische Prinzip schon in der Frühform enthalten ist.

5.1.4.2

Viren als erste Lebewesen

Im Prozess ihrer Entstehung müssen Zwischenstadien zwischen belebter und unbelebter Materie angenommen werden, die keine eindeutige Zäsur zulassen, weshalb die Frage, ob Rybozyme als ›Vorformen‹ heutiger Lebewesen selbst lebendig waren oder nicht, in eine Aporie mündet, denn als qualitative Differenz zum Unbelebten kann Lebendigkeit nicht graduell, also quantitativ, gefasst werden. Letztendlich entscheidet sich die Frage nach der Vorform des Lebens nicht an den Eigenschaften der in Frage kommenden chemischen Strukturen und Verbindungen, sondern allein retrospektiv daran, ob aus diesen Formen tatsächlich das heutige Leben entstand. Vielfältige komplexe,

24 25 26

27

sene Bildung von Mikrosphären, die sich durch eine semipermeable Membran von der Umgebung räumlich abgrenzen, Proteine aufnehmen, wachsen und sich teilen können. Wie Oparins Koazervate haben sie die Funktion, Modelle für die Bildung von organischen Zellen zu sein. Vgl. Manfred Eigen/Ruthild Winkler, Das Spiel – Naturgesetze steuern den Zufall, München/Zürich 1976. Vgl. auch Manfred Eigen/Peter Schuster, The Hypercycle – A Principle of Natural Self Organization, Berlin 1979. Vgl. P. J. Unrau/D. P. Bartel, »RNA-catalysed nucleotide synthesis«, in: Nature, 395, Sept. 1998, S. 260263. Und vgl. T. A. Lincoln/G. F. Joyce, »Self-sustained replication of an RNA enzyme«, in: Science, 323, Feb. 2009, S. 1229-1232. Die RNA-Welt-Hypothese wurde explizit erstlich von Walter Gilbert formuliert: Walter Gilbert, »Origin of life: The RNA world«, in: Nature, 319, 1986, S. 618-618.

5. Die Aporie der Entstehung des Lebens

räumlich abgegrenzte oder selbstreplikative Strukturen mögen erdhistorisch entstanden sein, doch nur einige oder sogar nur eine Form davon ist retrospektiv als Vorform und Beginn des Lebens zu bezeichnen. Woraus sich kein Leben entwickelte – auch wenn es sich hätte entwickeln können – ist keine Vorform des Lebens. Doch was eine Vorform des Lebens ist, das steht in der logischen Beurteilung schon unter dem Telos, Leben zu werden und wird also teleologisch beurteilt. Insofern sind die Rybozyme der RNA-Welt, wenn man dieser Hypothese folgt, als lebendig zu beschreiben. Da die Erbinformation bei Viren zumeist nicht als DNA, sondern als RNA vorliegt, sehen einige Forscher in ihnen Nachkommen frühester Lebensformen. Da Viren nach gängiger Definition keine Lebewesen sind – weil sie sich nicht selbständig vermehren, sie keinen Stoffwechsel haben und ihnen damit wesentliche Kennzeichen des Lebendigen fehlen – aber sie dennoch einige Kennzeichen des Lebendigen aufweisen, eignen sie sich logisch als Zwischenstadium. Allerdings nur, wenn man davon ausgeht, dass ihre Vorformen sich nach der RNA-Welt-Hypothese eigenständig vermehren konnten und sie damit früher, als sie sich noch selbst vermehrten, lebendig waren. Jedes angenommene Zwischenstadium muss nämlich mit Hinblick auf die qualitative Differenz zwischen Belebtem und Unbelebtem eindeutig als entweder das eine oder das andere bestimmt werden, so dass es zwar so etwas wie einfache erste Lebensformen oder komplexe unbelebte organische Molekülverbindungen, aber keine eigentlichen Zwischenstadien geben kann. So werden jene Viren, die als erste Lebensformen diskutiert werden, im Gegensatz zu heutigen Viren als mit allen wesentlichen Kennzeichen des Lebendigen ausgestattet vorgestellt. Karin Mölling zählt das Ribozym der RNA-Welt zu den Viren und geht davon aus, dass Viren die ersten Lebensformen waren.28 Die Entdeckung der Gigaviren, die größer sein können als Bakterien und – anders als andere Viren – Bausteine zur Proteinsynthese besitzen, könnten diese These bestätigen. Mölling nimmt an, dass unsere DNA sich ursprünglich aus Viren-RNA gebildet habe, da sich umgekehrt das Genom mancher Viren aus unserer DNA wiederherstellen lasse.29 Nachweislich können heutige Viren nur von und in lebenden Zellen von Organismen vermehrt werden, sie sind obligat intrazelluläre Parasiten. Die Neubildung von Virenmolekülen oder ihren spezifischen Nukleoproteinen ist nach Oparin daher »nur beim Vorhandensein einer ausschließlich dem Leben eigentümlichen Organisation möglich«30 . Oparin schließt hieraus: »Folglich bildet also nicht das Virus den Anfang des Lebens, sondern es konnte im Gegenteil […] selbst nur als Produkt der biologischen Organisationsform entstehen.«31 Ein einzelner, zufällig entstandener Virus wäre – so unwahrscheinlich seine Entstehung ist – nicht nur kein Virus, weil er ohne zu infizierenden Organismus keine viralen Eigenschaften hätte, er hätte nicht einmal außerhalb der Individualität dieser einzelnen, zufälligen

28 29

30 31

Vgl. Karin Mölling/Ferdinand Hucho (Hg.), Biologische Erbschaften, Berlin 1993. Heidmann/Pierron/Dewannieux rekonstruierten 2006 einen replikationsfähigen Virus aus menschlicher DNA, den sie ›Phönix‹ nannten. Vgl. »Phoenix rising: Scientists resusciate a 5 million-year-old retrovirus«, in: Genome Research, 31. Oktober 2006, http://genome.cshlp.org/site/pres s/Herv_K.xhtml (Zugriff 27.08.2022). Oparin, Leben, S. 60. Ebd.

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Dialektik des Lebendigen

Molekülbildung, eine Art gebildet, weil es keine Vermehrung hätte geben können. Oparin argumentiert hier von der Funktion des (heutigen) Virus aus, während Mölling in ihrer Hypothese von einer Entwicklung vom Einfachen (RNA) zum Komplexeren (DNA) ausgeht und den Virus hierfür als selbstreplikative einfache Lebensform bestimmt.

5.2

Das Problem der Vorstellbarkeit des Übergangs vom Unbelebten zum Belebten soll über die Annahme von Zwischenformen gelöst werden

Die dargestellten Theorien zur Entstehung des Lebens benennen keinen expliziten Wechsel des Prinzips oder der Qualität des Gegenstandes von kausaler Verknüpfung zu teleologischem Prozess, sondern unterstellen eine durchgängige Kausalität in der Entwicklung und nehmen den Wechsel des Prinzips der Beurteilung nur implizit vor (durch die Einführung der intelligiblen Information, die in einfachen Formen der immer schon teleologischen Selbstreplikation übermittelt wird). Moderne biologische Theorien zur Entstehung des Lebens nehmen ein (kausales) sukzessives Werden des Organischen aus dem Unorganischen an, was das Problem der Zwischenstadien aufwirft. Das Problem der Zwischenstadien entsteht dort, wo aus dem funktionellen Ganzen der bestehenden Organismen, die als solche hochkomplexe Gebilde sich niemals bloß durch eine zufällige Anordnung von Teilen gebildet haben können, Teilstrukturen (z.B. Zelle, DNA, RNA) herausgelöst werden, deren Bildung wahrscheinlicher erscheint und die sich dann später in der weiteren Entwicklung zu ganzen Organismen zusammengeschlossen haben könnten. Nach dieser Annahme beschrieb schon der antike Philosoph Empedokles, wie zuerst einzelne Organe entstanden seien, die sich erst später ›zweckmäßig‹ zu ganzen Körpern zusammengesetzt hätten: »So wuchs eine Vielzahl von Köpfen ohne Hälse, irrten bloße Hände ohne Schultern umher, bewegten sich Augen ohne Stirn«32 . Diverse in der Biologie geschilderte Prozesse zur Entstehung erster Zellen erinnern an diese Schilderung des Empedokles, da in einem sukzessiven Prozess nicht alle Teile in wechselseitigem Funktionszusammenhang zugleich entstehen, sondern nacheinander zunächst einzeln vorliegen und sich erst im Laufe der Entwicklung zu einem Ganzen zusammenschließen. Nach Haeckel beispielsweise besteht dieses Übergangsstadium aus unfertigen Zellen, bei denen Kern und Protoplasma noch nicht differenziert sind. Diese unfertigen Zellen nennt er Moneren, die als Masse den Plasson (Bildungs- oder Lebensstoff) bilden. Diese Übergangsstadien sollen zeigen, dass die besondere Eigenschaft von Materie, lebendig zu sein, sich hinreichend auf eine bestimmte chemische Zusammensetzung des Stoffes zurückführen lasse. Als Analogon der Moneren dient ihm die strukturlose Zellform, die im Prozess der Befruchtung bei der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle zum Zeitpunkt der Auflösung der ursprünglichen Ei- bzw. Samenzelle vorkommt. Mit diesem Analogon soll zugleich auch die Möglichkeit aufgezeigt sein, dass solche strukturlosen Moneren sich zu vollwertigen Zellen ausdifferenzieren können:

32

Empedokles, zitiert nach: Oparin, Leben, S. 27.

5. Die Aporie der Entstehung des Lebens

»Denn sie [die strukturlosen Formen im Prozess der Zellverschmelzung] zeigen uns erstens, wie das Leben anfänglich mit der Bildung einer homogenen, form- und structurlosen Masse beginnt, die in sich so gleichartig ist, wie ein Krystall; sie erläutern uns zweitens, wie eine solche Cytode trotz des Mangels aller Organe doch sämtliche ›Lebenserscheinungen‹: Ernährung und Fortpflanzung, Empfindung und Bewegung zu vollziehen im Stande ist; sie liefern uns damit drittens den klaren Beweis, dass das ›Leben‹ auch im engeren Sinne nicht an einen bestimmt geformten und morphologisch gesonderten Körper mit verschiedenen Organen, sondern eine formlose Substanz von bestimmter physikalischer Beschaffenheit und chemischer Zusammensetzung gebunden ist; und sie lehren uns viertens, wie eine solche, bloß aus Plasson bestehende Cytode sich durch Sonderung von Kern und Protoplasma in eine echte Zelle verwandeln kann«33 . Haeckel postuliert die naturhistorische Wirklichkeit von Moneren und Plasson, weil nur sie uns eine Vorstellung davon geben könnten, wie das Leben entstanden sei: »Daher stehen auch die Moneren auf der Grenze zwischen organischer und anorganischer, zwischen sogenannter ›lebendiger und todter Natur‹. Daher können sie allein uns auch eine Vorstellung [!] davon geben, wie ursprünglich die erstere aus der letzteren entstanden ist, sie allein können uns das große Problem der Entstehung des Lebens lösen.«34 Das Problem der Entstehung des Lebens ist kein Problem der Materie, denn das Leben ist offenbar entstanden; folglich ist seine Entstehung möglich. Das Problem ist nach Haeckel also ein anderes, nämlich wie wir uns diese Entstehung vorstellen können. Es ist ein Problem des Denkens: Wie lässt sich dieser Prozess seiner Entstehung konsistent denken, wie lässt sich der Übergang von linear-kausaler zu teleologisch-reflexiver Struktur vorstellen? Mit dem Wissen seiner Zeit gewinnt Haeckel diese Vorstellung an der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle, zu etwas Strukturlosem, aus dem dann ein funktionierender, strukturierter Organismus wird. Spätere Forschungen gewinnen ihre Vorstellungen der Entstehung des Lebens an anderen Modellen, die über andere Analoga plausibilisiert werden; doch die epistemologische Funktion bleibt die gleiche: Indem ein wirklicher teleologischer Prozess als Analogon dient, überspringt die denkende Vorstellung mit dem Bezug auf die Analogie den Wechsel im Erklärungsprinzip. Hierbei wird jedoch der reale Prozess, der dieser Vorstellung als Matrize dient, zugleich als etwas wesentlich anderes gedacht, als er ist, denn wir kennen heute keinen realen Prozess, in dem Leben aus Unbelebtem tatsächlich entsteht. So wird von Haeckel der amorphe Zustand der Zelle im Prozess der Befruchtung als Vorstellung mit einem Unbelebten assoziiert, während spätere Forscher umgekehrt die rein chemische Erzeugung von Aminosäuren als Beginn des Lebens vorstellen.

33 34

Ernst Haeckel, Gemeinverständliche Vorträge und Abhandlungen aus dem Gebiete der Entwicklungslehre, Bonn 1878/1879, S. 53. Ernst Haeckel, Gemeinverständliche Vorträge und Abhandlungen aus dem Gebiete der Entwicklungslehre, Bonn 1878/1879, S. 50.

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Dialektik des Lebendigen

Die Vorstellung, zweckmäßige ›Bauteile‹ für den Organismus oder die Zelle seien vor ihr entstanden ist in sich widersprüchlich, weil die Zweckmäßigkeit schon vorausgesetzt werden muss, damit etwas retrospektiv als zweckmäßiger Bestandteil eines Funktionszusammenhangs betrachtet werden kann. Dies entspricht ganz dem Widerspruch der Antinomie im Lebensbegriff: Der Zweck ist ideell vorausgesetzt und zugleich nur retrospektiv, materiell im empirischen Organismus, wirklich. Sich entwickeln und komplexer werden kann nur ein schon funktionsfähiger, d.h. der Form nach nur durch das Prinzip der Zweckmäßigkeit zu erkennender Organismus. Diesen hervorzubringen dürfen wir laut Oparin von der unbelebten Materie nicht erwarten: »Alles, was wir mit Recht von den einzig und allein an der Oberfläche der noch leblosen Erde herrschenden physikalischen und chemischen Gesetzmäßigkeiten erwarten können, ist die Bildung mehr oder weniger regelmäßig gebauter Polymere mit zufälliger [!] Anordnung der Peptide und Mononukleotide, denen deshalb jede ›zweckmäßige‹ Anpassung an die Ausübung bestimmter Lebensfunktionen vollkommen fehlt.«35

5.2.1

Der spekulative Sprung in der Vorstellbarkeit

Es gibt heute viele Theorien zur möglichen Entstehung des Lebens, die von verschiedenen chemischen Szenarien ausgehen; ihnen ist jedoch gemeinsam, dass sie bloß notwendige, jedoch keine hinreichenden Bedingungen zur Entstehung des Lebens aufstellen können. Frühere Biologen und Naturphilosophen gingen zumeist davon aus, dass es viele Wege zur Entstehung des Lebens gäbe. Dem entspricht heute eine Vielzahl von Theorien, unter welchen Bedingungen das Leben auf der Erde entstanden sein könne. Während Oparin noch von einer Entstehung an der Oberfläche der Meere ausging, wurden später eher Orte gesucht, die stabilere Temperaturbedingungen bieten und daher unter Wasser liegen. So könnten sich in heißen Quellen in der Tiefsee, wo konstant hohe Temperaturen herrschten, vor gut drei Milliarden Jahren Prokaryonten als Formen des Lebens gebildet haben.36 Unterseeische Vulkane, sogenannte ›schwarze Raucher‹, in deren Umgebung auch heute noch viele Mikroorganismen zu finden sind, werden ebenfalls als Ausgangsort zur Bildung ersten Lebens diskutiert.37 Die Verbindung der RNA mit Fettsäuren wie Decanoinsäure könnte ihnen eine erste Hülle (Vesikel) verschafft haben.38 Oder unterseeische Einschlüsse von Bläschen im Gestein könnten im Anfangsstadium der Bildung von echten Zellen die Zellwand ersetzt haben. Wegen des

35 36 37

38

Oparin, Leben, S. 28. Vgl. Birger Rasmussen, »Filamentous microfossils in a 3,235-milion-year-old volcanogenic massive sulphide deposit, in: Nature, 405, 8 June 2000, S. 676-679. Vgl. W. Martin/M.J. Russell: »On the origins of cells: a hypothesis for the evolutionary transitions from abiotic geochemistry to chemoautotrophic prokaryotes, and from prokaryotes to nucleared cells«, in: Philosophical Transactions of the Royal Society of London, Serie B 358, 2003, S. 59-85. Vgl. R. A. Black/M. C. Blosser, »A self-assembled aggregate composed of a fatty acid membrane and the building blocks of biological polymers provides a first step in the emergence of protocells«, in: Life, 6(3), 33, 2016 (life6030033).

5. Die Aporie der Entstehung des Lebens

Vorkommens von Gasen wie Carbonylsulfid (COS), das bei der Verbindung von Aminosäuren zu Eiweißmolekülen als Katalysator dient, wurden auch oberirdische Vulkane als Ort der Entstehung des Lebens vermutet.39 Neuere Forschungen finden Antworten auf bislang ungeklärte chemische Fragen mit der Hypothese, das Leben sei gar nicht im Wasser, sondern in der Erdkruste entstanden. Insbesondere das Vorhandensein von CO2 , das ab 800 m Tiefe in den ›überkritischen Zustand‹ übergeht und so bestimmte Eigenschaften hat, die für die Bildung organischer Moleküle erforderlich sind, spreche für diese Hypothese: »The worldwide discussion on the origin of life encounters difficulties when it comes to estimate the conditions of the early earth and to define plausible environments for the development of the first complex organic molecules. Until now, the role of the earth’s crust has been more or less ignored. In our opinion, deep-reaching open, interconnected tectonic fault systems may provide possible reaction habitats ranging from nano- to centimetre and even larger dimensions for the formation of prebiotic molecules. In addition to the presence of all necessary raw materials including phosphate, as well as variable pressure and temperature conditions, we suggest that supercritical CO2 as a nonpolar solvent could have played an important role.«40 Und es werden sicherlich noch weitere neue Konstellationen gefunden, die bei der Entstehung des Lebens auf der Erde eine wichtige Rolle gespielt haben könnten. Gemeinsam ist diesen neueren Theorien, dass keine von einer notwendigen Entwicklung ausgeht. Seit der dialektische Materialismus (aus politischen Gründen) seinen Einfluss auf die Naturwissenschaft verloren hat, ist keine materialistische oder physikalistische Theorie mehr mit dem Anspruch angetreten, die Entstehung des Lebens anders als naturnotwendig oder streng kausal zu erklären. Im Gegenteil wird trotz der vielfältigen aufgeführten Bedingungen, die seine Entstehung ermöglichten, von einem hochgradigen Zufall ausgegangen, der dazu führte, dass das Leben tatsächlich entstand.41 Dies liegt daran, dass (ohne vorausgesetzte teleologische ›Bewegungsgesetze der Materie‹) der Wechsel im Prinzip der Organisation von linear-kausal zu teleologisch sich nicht physikalisch-chemisch erklären oder ableiten lässt und daher auch keine hinreichende Bedingung in irgendeiner möglichen abiogenen Molekülverbindung haben kann. Die Vorstellbarkeit der Entstehung des Lebens liegt also nicht in den entwickelten Szenarien begründet, sondern darin, dass das Leben offenkundig entstanden sein muss. Der

39 40

41

Vgl. Luke Leman/Leslie Orgel/M. Reza Ghadiri, »Carbonyl Sulfide-Mediated Prebiotic Formation of Peptides«, in: Science, 306, Oct. 2004, S. 283-286, S. 283. Ulrich Schreiber/Oliver Locker-Grütjen/Christian Mayer, »Hypothesis: Origin of Life in DeepReaching Tectonic Faults«, in: Origins of Life and Evolution of Biospheres, Volume 42, Issue 1 (2/2012), S. 7-54. Dieser hochgradige Zufall macht die Existenz von extraterrestrischem Leben so unwahrscheinlich, auch wenn teilweise analoge chemische Bedingungen auf anderen Planeten nachgewiesen wurden. Denn dann müsste dieser Zufall sich auf mehr als einem Planeten ereignet haben. Oparin, der von einer notwendigen Entwicklung nach den dialektisch-materialistischen Bewegungsgesetzen der Materie ausging, musste dagegen zu dem Schluss kommen: »Deshalb dürfen wir in unserer Erde keinesfalls die einzige Heimstatt des Lebens sehen. Identische Bewegungsformen der Materie muß es auch auf anderen näheren und weiteren Planeten geben.« (Oparin, Leben, S. 177)

171

172

Dialektik des Lebendigen

nicht ableitbare Sprung in der Vorstellung von einem Erklärungsprinzip zum anderen wird dann als Zufall interpretiert.

5.3

Das Leben entstand nur einmal

Einer der bedeutendsten Biologen, der die Ursprünge des Lebens im frühen 20. Jahrhundert untersuchte, ist der bereits eingeführte Alexander I. Oparin. Er geht davon aus, dass auf der Erde organische Stoffe anfänglich abiogen entstanden sind, heute allerdings nicht mehr entstehen, da dieser Prozess »durch die rascher ablaufende biogene Synthese verdrängt wurde«42 . Darum sei die erdhistorische Geschichte bei der Frage nach dem Wesen des Lebens so entscheidend und jede punktuelle Lösung, die von dem fertigen Resultat, nämlich den heutigen Lebewesen ausgehend, die Frage nach der Entstehung des Lebens zu klären versucht, sei notwendigerweise zum Scheitern verurteilt. Denn wenn in heutigen Lebensprozessen Leben nur aus Leben entsteht und aufgrund der hierdurch veränderten Bedingungen kein Leben mehr aus abiogenen Prozessen sich bildet, entstehe der Schein, dass die Entstehung des Lebens aus unbelebter Materie unmöglich sei. Wenn also Pasteur die Urzeugung unter heutigen Bedingungen (mit seinen damaligen Methoden) widerlegte oder Thomas von Aquin sie logisch widerlegte, indem er den Fortpflanzungsprozess als zum Begriff des entwickelten Lebens notwendig zugehörig voraussetzt, dann seien dies Trugschlüsse, die von einem ahistorischen, den gegebenen Zustand als statisch setzenden Lebensbegriff ausgingen. »Logischerweise müßten die Lebewesen durch die Evolution der in ihnen enthaltenen organischen Stoffe entstanden sein. Wenn sich aber diese Stoffe unter natürlichen Verhältnissen nur durch die Lebenstätigkeit der Organismen bilden können, kommen wir unwillkürlich zu einem Trugschluß, aus dem es gewissermaßen keinen Ausweg mehr gibt. Die erwähnte Schwierigkeit tritt jedoch nur dann auf, wenn wir unser Urteil nur auf die in der augenblicklichen Epoche auf der Erde gegebene Situation begründen.«43 Die Entstehung des Lebens sei heute darum nicht mehr nachvollziehbar, weil es nicht mehr entsteht; es entstand historisch nur einmal. Das Leben, sobald es sich einmal entwickelt hatte, veränderte die Umweltbedingungen auf der Oberfläche der Erde in einem Maße, dass sich optimale Bedingungen zu seinem Fortbestand ergaben (Sauerstoffatmosphäre, Humusboden usf.), aber eine erneute Bildung des Lebens aus abiogenen Prozessen nicht mehr möglich war. Oparin fasst die Antwort auf die Frage nach dem Grund der Einmaligkeit der Entstehung des Lebens prägnant zusammen: »So paradox das auf den ersten Blick auch scheinen mag, ist die Hauptursache für die Unmöglichkeit der spontanen Entstehung von Leben unter heutigen Bedingungen jedoch die Tatsache, daß es schon entstanden ist.«44

42 43 44

Oparin, Leben, S. 43. Oparin, Leben, S. 42. Oparin, Leben, S. 56.

5. Die Aporie der Entstehung des Lebens

Das Leben konnte also erdhistorisch nur einmal entstehen, weil es mit seiner Entstehung im Prozess seiner Fortentwicklung genau die Bedingungen zerstörte, unter denen Leben entstehen kann, zugleich aber Bedingungen geschaffen hat, unter denen das Leben bestehen, sich verkomplizieren und fortentwickeln könne. Ausschlaggebend hierfür sei u.a. der Sauerstoff in der Atmosphäre. Auch das Wasser der Ozeane ist heute größtenteils mit Sauerstoff gesättigt und bietet von daher nicht die Bedingungen, die vor der Entstehung des Lebens dort herrschten. Die Ozeane sind reich an Produkten biogener Prozesse, so dass sich abiogene Bildungen organischer Stoffe praktisch nicht mehr beobachten lassen. Hierin stimmt Oparin auch mit Darwin überein, der lakonisch feststellte, dass jede abiogen entstandene organische Verbindung heute gefressen werden würde, ehe sie Zeit gefunden hätte, sich zu komplexeren Formen zu entwickeln: »Häufig sagt man, daß heute alle Bedingungen für die primäre Entstehung von Lebewesen vorhanden sind. Wenn (und was für ein Wenn und Aber), wenn wir uns also vorstellen könnten, daß in irgendeinem warmen, nicht zu großen Gewässer, in dem alle Formen von Ammonium- und Phosphorverbindungen, Licht, Wärme, Elektrizität usw. vorhanden sind, auf chemischem Wege ein Eiweißstoff gebildet wäre, der zu weiteren, komplizierteren Umwandlungen befähigt wäre, so müßte heute ein solcher Stoff gefressen oder sonst irgendwie aufgenommen werden, was jedoch in der der Entstehung von Lebewesen vorangegangenen Periode nicht stattfinden konnte.«45 Unter bestimmten Umweltbedingungen bilden sich organische Stoffe ohne biogenen Ursprung; hier setzen alle naturwissenschaftlichen Theorien zur Entstehung des Lebens auf der Erde an: dass irgendwann organische Verbindungen entstanden, aus denen dann sich Leben entwickelte, weshalb diese spezifischen chemischen Verbindungen dann retrospektiv als ›organische‹ erkannt werden können. So lässt sich also heute davon ausgehen, dass organische Moleküle wie Eiweiße zu einer bestimmten erdgeschichtlichen Zeit abiogen gebildet wurden und heute nicht mehr (oder nur ausnahmsweise und ohne weitere Entwicklungsmöglichkeiten) gebildet werden. Gleichzeitig muss man aber davon ausgehen, dass diese Eiweiße »mit ziemlich wahlloser Anordnung der einzelnen Molekülglieder gebildet wurden, d.h. Verbindungen, die bezüglich ihrer inneren Organisation mit den heutigen Eiweißstoffen und Nukleinsäuren nicht vergleichbar sind, deren ›zweckmäßiger‹ Bau durch die wesentlich später entstandenen biologischen Gesetzmäßigkeiten bestimmt wird.«46 Zwar kann man recht leicht die Ursachen benennen, die vermutlich dazu geführt haben, dass das Leben sich nach seiner Entstehung nicht noch einmal entwickeln konnte – aber die Ursachen benennen, die hinreichend die Entstehung des Lebens erklären könnten, stellt weiterhin ein Problem eigener Art dar; denn die innere Organisationsform als auf sich gerichtet, als zweckmäßig (oder reflexiv) folgt noch lange nicht aus der abiogenen Bildung größerer Eiweißmoleküle. Es stellt sich also weiterhin die Frage:

45

C harles Darwin, The life and letters ofC harles Darwin, ohne Ort 1887, zitiert nach: Oparin, Leben, S. 55 f.

46

Oparin, Leben, S. 58.

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Dialektik des Lebendigen

»Kann nicht eventuell bei der endlosen Vielzahl der möglichen Varianten zufällig, vielleicht nur einmal in der ganzen Zeit der Erdexistenz, ein derartiges Molekül einer Nukleinsäure oder eines Nukleoproteids gebildet worden sein, dessen innerer Aufbau seine Selbsterzeugung ermöglichte?«47 Diese These, dass zufällig irgendwann ein solches Eiweiß entstanden ist, das sich wieder selbst erzeugt hat, das also die Form der inneren Zweckmäßigkeit oder des Eigenbezugs spontan zufällig enthielt, ist bis heute als Vorstellung weit verbreitet.48 Es ist die oben beschriebene Theorie des ›heiligen Zufalls‹.

5.3.1

Das Leben entstand nicht zufällig, sondern gesetzmäßig, also notwendig

Oparin richtet sich mit seiner Theorie gegen einen ›heiligen Zufall‹, indem er davon ausgeht, dass das Leben gesetzmäßig und mit Notwendigkeit entstanden sei. Er geht bei seiner Theorie zur Entstehung des Lebens zunächst von chemischen Prozessen aus, die mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit (oder sogar Notwendigkeit) unter den Bedingungen der Uratmosphäre49 stattfanden. Da Organismen größtenteils aus Kohlenwasserstoff bestehen, setzt er bei der chemischen Bindungs- und Reaktionsfähigkeit des Kohlenstoffs an. Die Form, in welcher der Kohlenstoff zuerst auf der Erdoberfläche in fester Form in Erscheinung treten konnte oder vermutlich in Erscheinung trat, war die der Karbide oder auch des Graphits.50 Graphit und Karbide finden sich auch heute noch teilweise in Meteoriten. Die abiogene Bildung von Kohlenwasserstoffen während der Bildungsprozesse eines der Erde ähnlichen Planeten ist Oparin zufolge nicht bloß wahrscheinlich, sondern sogar ein chemisch notwendiger Prozess.51 Die besonderen Bedingungen der Uratmosphäre, die gänzlich unterschieden sind von der heutigen erst durch das Leben in dieser Form hervorgebrachten Sauerstoff-Atmosphäre, beförderten durch ihre besondere Zusammensetzung, ultraviolette Strahlung und elektrische Ladungen die abiogene Bildung organischer Stoffe. Einfache organische Stoffe, wie Kohlenwasserstoffe, mussten sich so im Laufe der Planetenentwicklung aufgrund der herrschenden Bedingungen als chemische Verbindung bilden, ohne dass ein Zufall hieran beteiligt wäre, auch wenn diese Prozesse heute nicht mehr beobachtet werden. »Mit dem Auftreten des Lebens entstanden jedoch neue, äußerst vollkommene Methoden zur Synthese organischer Stoffe, insbesondere die Photosynthese, bei der die unerschöpflichen Energiequellen des Sonnenlichts ausgenutzt werden. Infolgedessen wurde die Hauptmenge des Kohlenstoffs auf der Erdoberfläche in den biologischen Prozess einbezogen, während die alte, abiogene Methode zur Bildung von Kohlenwasserstoffen in den Hintergrund trat, so daß wir in der heutigen Erdepoche ihre

47 48 49 50 51

Oparin, Leben, S. 58 f. Vgl. Kap. 5.1.4.1. Gemeint ist der Zustand der Atmosphäre vor dem Auftreten größerer Sauerstoffkonzentrationen, welche erst eine Folge der Entwicklung des Lebens sind. Vgl. Oparin, Leben, S. 48. Vgl. Oparin, Leben, S. 48.

5. Die Aporie der Entstehung des Lebens

schwachen Erscheinungsformen nur noch mit Mühe entdecken. Im Prinzip ist sie aber noch heute möglich«52 . Mit der abiogenen Bildung von Kohlenwasserstoffen sei eine notwendige Bedingung zur Entstehung des Lebens erfüllt. Als nächster Schritt müsse Oparin zufolge eine räumliche Isolierung der gebildeten organischen Stoffe eintreten, welche sie vom abiogenen Material trennt und so eine (körperliche) Grenze zwischen Organischem und Anorganischem bildet. Leben ist nach Oparin ein komplexes, räumlich deutlich abgegrenztes System von Molekülen, das nur unter Bedingungen räumlicher Isolierung entstehen konnte. Erst auf der Basis einer stabilen, d.i. längerfristig sich aufrechterhaltenden Wechselwirkung dieser isolierten Systeme mit dem sie umgebenden äußeren Medium konnten »Eiweißstoffe, Nukleinsäuren und andere ›zweckmäßig‹ gebaute, funktionell angepaßte, den heutigen Organismen eigentümliche Stoffe«53 entstehen. Laut Oparin gibt es viele Möglichkeiten, wie solche räumlichen Isolationen organischer Stoffe zustande kommen könnten; er geht von der Entstehung dieser Systeme als Koazervattröpfchen aus. Auch ihre Bildung war chemisch notwendig: »[W]eil die Bildung der Koazervattröpfchen keinerlei spezifischer Bedingungen bedarf, sondern durch einfaches Vermischen der Lösungen verschiedenartiger Polymere erfolgt, war sie eine unmittelbare und notwendige Folge der Entstehung dieser Polymere im Urozean.«54 Dass Koazervate notwendig im Urozean entstehen mussten, macht es für Oparin so wahrscheinlich, dass sie die erste räumlich abgetrennte Stufe auf dem Weg zur Entwicklung des Lebens darstellen. Doch räumliche Isolierung ist kein hinreichendes Kriterium für die Entstehung des Lebens – im Gegenteil wäre eine völlige Abgeschlossenheit ein statischer, d.i. toter Zustand. Das Leben ist jedoch dynamisch, es steht in spezifisch gerichteter Wechselwirkung mit seiner Umwelt. Auch hier zeige sich schon ein Moment lebendiger Dynamik in den an sich statischen Koazervattröpfchen, da sie keine geschlossenen Systeme bilden, sondern stets bestimmte Stoffe aufnehmen können, also in Wechselwirkung mit dem äußeren Medium stehen. Zudem sei auch der »heutige materielle Träger des Lebens«55 , das Protoplasma, ein komplexes Koazervat, allerdings eines, das schon in sich dynamisch gerichtet sei. Die Grenze der verschiedenen die Organisation bestimmenden Prinzipien von Belebtem und Unbelebtem zieht sich bei Oparin also quer durch Kohlenstoffverbindungen und Koazervate und trennt das Protoplasma als zum Lebendigen gehörend von anderen Koazervaten ab. »Das künstlich hergestellte Koazervat oder der auf natürlichem Wege durch Abscheidung aus der organischen Lösung des Meerwassers entstandene Tropfen sind an sich statische Systeme. Die Dauer ihrer Existenz ist mit der zeitlichen Konstanz der Eigenschaften des Systems verbunden und hängt davon ab, ob sie sich in einem thermodynamisch stabilen Zustand befinden. Je beständiger ein Koazervattropfen in kolloid-

52 53 54 55

Oparin, Leben, S. 49. Oparin, Leben, S. 61. Oparin, Leben, S. 64. Ebd.

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Dialektik des Lebendigen

chemischer Hinsicht ist, umso geringer ist die Chance, daß er mit anderen Tropfen zusammenfließt oder in der umgebenden Lösung aufgeht. Im Gegensatz dazu existiert die dem lebenden Protoplasma eigene Koazervatstruktur nur solange, wie darin in kontinuierlicher Folge und mit großer Geschwindigkeit zahlreiche biochemische Prozesse verlaufen, die in ihrer Gesamtheit den Stoffwechsel darstellen (als dynamischer chemischer Prozess). Sowie diese Prozesse unterbrochen werden oder sich grundsätzlich verändern, wird auch das Protoplasma selbst gestört. Seine dauernde Existenz und die Konstanz seiner Form sind nicht mit Unveränderlichkeit und Ruhe, sondern mit ständiger Bewegung verbunden.«56 Diese Besonderheit des Protoplasmas als Lebendigem liegt also nicht in der Spezifität von Koazervaten begründet, sondern kommt als neue Qualität hinzu – als die Qualität, die das Leben ausmacht und ihm allein eigen ist. »Charakteristisch für den lebenden Körper ist, daß diese gesamte komplizierte und gesetzmäßige Ordnung unveränderlich auf die ständige Selbsterhaltung und Selbsterzeugung des ganzen lebenden Systems unter den gegebenen Umweltbedingungen gerichtet ist.«57 Nur hierüber, dass sie auf sich selbst als Lebendige gerichtet sind, ergeben die komplexen chemischen Prozesse des Protoplasmas – im Gegensatz zu allen anderen komplexen chemischen Prozessen – einen »biologischen Sinn«58 . Dies unterscheidet sie wesentlich von allen anderen chemischen Abläufen und erst diese Gerichtetheit mache den ›fließenden‹ oder ›offenen‹ dynamischen chemischen Prozess zu einem selbstorganisierenden und selbsterhaltenden System,59 dem Organismus als Einheit, denn ohne Selbsterhalt würde es, gerade weil es nicht statisch stabil ist, sofort zerfallen. Der Organismus muss sich entgegen der Entropie im Prozess seines Daseins erhalten. Auch so ist der Organismus als einzelner nur begrenzt haltbar; zum Leben gehört, dass er nicht bloß sich in gewissem Zeitrahmen erhält, sondern Systeme seiner Art produziert – und genau die Dauer der Artreproduktion bestimmt das Minimum der durchschnittlichen Lebensdauer dieser Systeme. Trotz der hier gemachten wesentlichen Bestimmung der ›ständigen Selbsterhaltung und Selbsterzeugung‹ scheint Oparin im weiteren, wenn er die Spezifität des lebenden Protoplasmas beschreibt, doch wieder bloß die Komplexität der chemischen Prozesse und nicht den ›biologischen Sinn‹ d.i. die teleologische Struktur, als Ursache ihrer Gerichtetheit auf Selbsterhaltung und damit als spezifische Qualität des Lebendigen anzuführen: »Faßt man das Gesagte zusammen, so ist vor allem auf die große Kompliziertheit und Vielfalt jener Faktoren hinzuweisen, die die Organisation des heutigen Protoplasmas bestimmen, jener unmittelbaren Ursachen, von denen der Bau des Netzes der chemischen Stoffwechselreaktionen abhängt.«60

56 57 58 59 60

Oparin, Leben, S. 65. Oparin, Leben, S. 68. Oparin, Leben, S. 67. Vgl. Kapitel 10.2. Oparin, Leben, S. 71.

5. Die Aporie der Entstehung des Lebens

Als spezifische Funktionen können genau die tatsächlich vorhandenen Stoffwechselprozesse nur in genau diesen chemischen komplexen Verkettungen und Wechselwirkungen von Reaktionen stattfinden. Neben diesen ›unmittelbaren Ursachen‹, die chemisch genau die stattfindenden Stoffwechselprozesse gesetzmäßig bestimmen, muss Oparin als konsequenter Denker jedoch noch eine intelligible Ursache annehmen (die er als dialektischer Materialist niemals so nennen würde), nämlich die Ursache für genau dieses Zusammentreffen chemischer Prozesse als für den Organismus funktional. Die Ursache für den ›biologischen Sinn‹, der zwar chemisch komplex verwirklicht, aber hierüber nicht hinreichend begründet werden kann, kann nach Oparin keine bloß physikalische oder chemische sein: »Wir können also feststellen, wie im Protoplasma diese oder jene Verbindungen und Strukturen entstehen, und wie sie die Geschwindigkeit und Reihenfolge der biochemischen Reaktionen, also das gesamte Stoffwechselnetz, beeinflussen. Aber allein auf Grund dieser Gesetzmäßigkeiten nur durch die physikalische und chemische Erforschung der lebenden Körper in der Form, in der sie heute existieren, werden wir niemals in der Lage sein, eine Antwort auf die Frage zu geben, warum diese lebendige Ordnung so und nicht anders ist, so abgestimmt und angepaßt an die ständige Selbsterhaltung und Selbsterzeugung des lebenden Systems als Ganzes unter den gegebenen Existenzbedingungen.«61 Diese Frage nach dem ›biologischen Sinn‹ oder der ›Zweckmäßigkeit‹ lässt sich nicht umgehen, weil die von Oparin dargestellten chemischen Notwendigkeiten zur Entstehung des Lebens allesamt zwar notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für seine Existenz enthalten. Denn sie können keinen ›biologischen Sinn‹ stiften und erst dieser formiert chemische Prozesse zu einer dynamisch gerichteten Einheit, dem Organismus.

5.3.2

Leben als eine neue Bewegungsform der Materie

Oparin spricht also davon, dass das Leben sich nicht zufällig, sondern notwendig entwickelt habe, doch auch er kann – wie alle Forschung an der chemischen Evolution – zunächst nur die notwendigen Bedingungen für eine mögliche Entstehung des Lebens nachzeichnen. Wie lässt sich also von einer Notwendigkeit der Entstehung des Lebens ausgehen, für die nicht nur die notwendigen, sondern auch die hinreichenden Bedingungen gegeben sein müssen? Maturana und Varela lösen dieses Problem durch einen schlichten Zirkel: Ihnen zufolge »können wir annehmen, daß es unvermeidlich zur Bildung von autopoietischen Systemen gekommen ist, als in der Geschichte der Erde die hinreichenden Bedingungen gegeben waren.«62 Das ist sicherlich richtig und erklärt gar nichts, weil eben diese hinreichenden Bedingungen nicht konkret benannt werden (können). Bei anderen Autoren findet sich oft die implizite Annahme, dass das Leben entstehen musste, sobald die notwendigen Bedingungen seiner Entstehung gegeben waren, so dass der Übergang von notwendigen zu hinreichenden Bedingungen 61 62

Oparin, Leben, S. 72. Humberto R. Maturana/Francisco J. Varela, Der Baum der Erkenntnis, Bern/München 1990, S. 58 f.

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Dialektik des Lebendigen

übersprungen wird. So heißt es bei Eigen: »Leben entstand, sobald der chemische und thermodynamische Zustand unseres Planeten dies zuließ.«63 Dies unterstellt der Sache nach einen Faktor, der das Leben zu seiner Entstehung treibt und das Vorliegen notwendiger Bedingungen zur tatsächlichen Realisierung des Lebens aktiv nutzt. Ein solcher Faktor hätte den problematischen Status einer vitalistischen Lebenskraft64 , der sich nicht innerhalb der Grenzen der kausalen Naturforschung erklären ließe. Oparin dagegen hat den Anspruch, die Notwendigkeit der Entstehung des Lebens materialistisch zu begründen, auch wenn er zunächst auf der chemischen Ebene nur notwendige Bedingungen auftun konnte. Die gesetzmäßige chemische Bildung komplexer Kohlenstoffverbindungen unter durchlässiger räumlicher Isolierung ist nach Oparin chemisch notwendig, aber stellt für sich noch keine hinreichende Bedingung zur Entstehung des Lebens dar. Die vielfältige Verbindungsfähigkeit der Kohlenwasserstoffe, die den gesamten Bereich der organischen Chemie ausmacht, weist ihnen eine »Sonderstellung auf den Wegen65 zur Entstehung des Lebens«66 zu. »Das Leben konnte auf der Erde nur durch die gesetzmäßige Komplizierung organischer Stoffe entstehen; ohne diese kann es deshalb auch kein Leben geben, obwohl wir theoretisch in der Lage wären, uns sehr komplizierte Organisations- und Bewegungsformen der Materie vorzustellen, die auf anderen Grundlagen und anderen Wegen als das Leben entstanden sein müßten.«67 Auch die Komplexität ist also nur notwendige und nicht hinreichende Bedingung der Entstehung des Lebens. Allein eine steigende Komplexität der Verbindungen mache nicht die spezifische Differenz zwischen belebt und unbelebt aus. Zwar sei die Komplexitätssteigerung in der Entwicklung zum und im Leben notwendig, aber das Spezifische des Lebendigen verdanke sich eines dialektischen Umschlags in eine neue ›Bewegungsform der Materie‹, die eine neue Qualität darstellt. Für Oparin »ist das Wichtigste für die Erkennung des Lebens die Bestimmung der qualitativen Unterschiede gegenüber den anderen Formen der Materie, des Unterschiedes, der uns dazu zwingt, das Leben als eine besondere Bewegungsform zu betrachten.«68 Dieser qualitative Unterschied muss also mit der Entstehung des Lebens zugleich als eine neue Bewegungsform der Materie auftreten. Erst die Notwendigkeit dieser besonderen Bewegungsform der Materie, die sich aus den allgemeinen Bewegungsgesetzen der Materie ableite, setze die hinreichende Bedingung zur Entstehung des Lebens.

63 64

65 66 67 68

Manfred Eigen, Das Urgen, Halle 1980, S. 3. Vgl. Kapitel 8. Insgesamt tauchen die vitalistischen Argumente für die Notwendigkeit eines zu den bekannten Naturkräften hinzutretenden Faktors im Organischen bei der Frage nach der Entstehung des Lebens wieder auf. [Der Plural unterstreicht, dass es sich nicht um einen einmaligen Zufall handelt] Oparin, Leben, S. 50. Ebd. Oparin, Leben, S. 6.

5. Die Aporie der Entstehung des Lebens

5.3.3

Die neue Bewegungsform der Materie ist das Gesetz der Evolution

Die Ursache für die spezifische Selbstgerichtetheit chemischer Prozesse des Lebens kann nach Oparin nicht bloß zufällig entstanden sein; sie müsse vielmehr gesetzmäßig entstanden sein, weil sie die Materie nach einem besonderen Gesetz organisiert, das die Differenz zwischen belebt und unbelebt begründet. Dieses Gesetz der Materie müsse darum von den Gesetzen der Physik und Chemie unterschieden sein. »Das Leben ist also seiner Natur nach materiell, andererseits jedoch keine integrierende Eigenschaft der gesamten Materie überhaupt. Mit ihm sind nur lebende Wesen ausgestattet. Es ist eine besondere, qualitativ von der anorganischen Welt unterschiedene Bewegungsform der Materie, und den Organismen sind besondere, spezifisch biologische Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten eigentümlich, die sich nicht nur mit den in der anorganischen Natur herrschenden Gesetzen erklären lassen.«69 Als grundlegendes spezifisch biologisches Gesetz bestimmt er die Evolution, die auf die Selbsterhaltung und Selbstreplikation organisierter Strukturen hin gerichtet ist. »Vor allem infolge dieser gerichteten Evolution änderte sich der Charakter der Beständigkeit der ursprünglichen Kolloidsysteme prinzipiell.«70 Die Evolution ist gerichtet, d.i. teleologisch, und sie wirke als Gesetz schon vor der Entstehung des Lebens in der Materie und lenke als ideelle Ursache die Bedingungen dahingehend, dass eine Entstehung des Lebens notwendig wird. Hiernach entstand schon vor der Existenz erster Organismen aufgrund »der Evolution der Materie eine gewisse ›Auslese‹ organisierter Kolloidsysteme, je nachdem, ob deren Organisation der Aufgabe, das gegebene System bei ständiger Wechselwirkung mit der Umwelt zu erhalten, gerecht wurde oder nicht.«71 Damit ist Evolution keine Eigenschaft des Lebendigen, sondern das teleologische Gesetz des Lebendigen, ihm also logisch – und im vorgestellten Entwicklungsprozess bei Oparin auch zeitlich – vorgeordnet. Dies ist die Hypostasierung der Evolution zu einer wirkenden Kraft, dem neuen Bewegungsgesetz der Materie.72 Da diese von Oparin in der chemischen Evolution angenommene ›Auslese‹ zeitlich vor der Existenz von sich selbst dynamisch erhaltenden organischen Systemen stattfinden sollte, gab es die ›Aufgabe‹ der Selbsterhaltung noch gar nicht. Erst retrospektiv, vom Standpunkt des Lebens aus betrachtet, kann es als Gesetz der Evolution erscheinen, eine Auslese zu treffen, in der jene Strukturen einen Vorteil haben, welche die ›Aufgabe‹ der Selbsterhaltung und -replikation besser erfüllen und so zur Entstehung

69 70 71 72

Ebd. Oparin, Leben, S. 75. Oparin, Leben, S. 74. Eine Hypostasierung der Evolution zu einer lenkenden Kraft, welche zur Entwicklung des Lebens führe, finden wir nicht nur bei Oparin, sondern auch bei diversen späteren Biologen, die aus Mangel des Setzens einer qualitativen Differenz zwischen Belebtem und Unbelebtem die biologische Evolution des Lebens im Zusammenhang mit der physikalischen Evolution des Universums erklären wollen; der homonyme Begriff einer kosmologischen Evolution in der Physik scheint den irrigen Gedanken nahezulegen, dass es sich um dasselbe Prinzip der Entwicklung handele. Vgl. z.B. Wuketits in Kapitel 11.7.2.

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Dialektik des Lebendigen

des Lebens führen können. Das teleologische Prinzip wird hier auf die noch unbelebte Materie projiziert im Hinblick auf die Frage, wie teleologische Objekte aus einem ›zweckfreien Zustand‹ entstanden sein können, indem der teleologische Zweck dem Leben als »gerichtete Evolution«73 vorausgesetzt wird. »Diese Ausbildung der Fähigkeit zur Selbsterhaltung kann man als erstes Resultat der gerichteten Evolution unserer Ausgangssysteme ansehen.«74 Auch hiermit wird das Problem der Entstehung des Lebens verlagert, nicht zeitlich oder räumlich, sondern in ein vorausgesetztes Prinzip – die Evolution. Die Evolution ist bei Oparin wie schon bei Darwin (dem Realsozialismus zum Trotz) sehr eng an die zweite Natur, also die naturhaft erscheinenden ökonomischen Gesetze bürgerlicher Ökonomie von Konkurrenz und Wettbewerb angelehnt:75 »Es entstand ein eigenartiger Wettbewerb der Tropfen um die Geschwindigkeit der in ihnen ablaufenden Prozesse und ihres Wachstums. […] Von diesem Zeitpunkt an [der Fähigkeit zur Selbsterneuerung] kann man von der Entstehung des Lebens sprechen. Auf diesem Stadium der Evolution der Materie erwarb die natürliche Auslese in vollem Umfang ihren biologischen Sinn, und auf ihrer Grundlage begann sich eine immer bessere Anpassungsfähigkeit der lebenden Organismen an die Existenzbedingungen auszubilden, die tiefgreifende Übereinstimmung aller Einzelheiten ihrer inneren Organisation mit den auszuübenden Lebensfunktionen, d.h., es entstand jene ins Auge fallende ›Zweckmäßigkeit‹ des Baues lebender Körper, von der wir bereits sprachen.«76 Über die empirische Betrachtung der Formen dieser ›ins Auge fallenden Zweckmäßigkeit‹ kommt Oparin schließlich auf die üblichen empirischen Kennzeichen des Lebendigen,77 anstatt das Leben über ein Prinzip innerer Zweckmäßigkeit namens Evolution zu bestimmen, mit dem allein er seine Entstehung und seine spezifische Qualität erklären kann.78

5.3.4

Die Bewegungsgesetze der Materie des ›dialektischen Materialismus‹ münden in metaphysischen Setzungen

Das Leben entstand laut Oparin durch eine chemische Evolution der Kohlenwasserstoffe, die dann eine neue Bewegungsform der Materie begründet haben und sie darum begründen konnten, weil sie die besondere chemische Eigenschaft haben, überaus vielfältige und komplexe Molekularverbindungen bilden zu können. Dies münde nach dem dialektischen Gesetz des Umschlages von Quantität in Qualität in ein neues Prinzip der Organisation, dem spezifischen Bewegungsgesetz der Materie des Lebendigen, welches ›biologischen Sinn‹ stifte – also teleologisch ist. So sei das Leben nach Oparin

73 74 75 76 77 78

Oparin, Leben, S. 75. Oparin, Leben, S. 76. Vgl. Kapitel 3.5. Oparin, Leben, S. 78 f. Vgl. Kapitel 6. Vgl. Oparin, Leben, S. 179.

5. Die Aporie der Entstehung des Lebens

materialistisch – und nicht etwa idealistisch respektive vitalistisch – durch die chemischen Eigenschaften des Kohlenstoffs begründbar, dabei jedoch zugleich nicht auf Chemie reduzierbar, da ein neues Bewegungsgesetz der Materie als Evolution hinzutrete.79 Das »Gesetz des Umschlagens von Quantität in Qualität«80 des dialektischen Materialismus übernimmt hier die Funktion der späteren Emergenztheorie, eine neue Qualität zu setzen und dabei ihre Ableitbarkeit aus einem vorherigen, qualitativ unterschiedenen, komplexen Zustand zu behaupten. Da der neu gesetzte qualitativ unterschiedene Zustand jedoch zugleich nicht auf den vorhergehenden Zustand reduziert werden kann, ist die Ableitung nicht durchführbar. Diesem Widerspruch soll die Dialektik Rechnung tragen, da in ihr – anders als in bloß widersprüchlichen Emergenztheorien81 – die neue Qualität grade aus der Bewegung der Widersprüche resultiere. Bei Oparin liegt die Notwendigkeit der Entstehung des Lebens also nicht in einem physikalischen oder chemischen Gesetz begründet, sondern im Gesetz des dialektischen Materialismus, das schon in sich teleologisch ist, indem es den gerichteten Fortschritt der Entwicklung der Materie als Bewegungsgesetze der Materie postuliert. Diese neue Bewegungsform der Materie, welche sich im Lebendigen realisiert, ist also nicht hinreichend durch die beschriebene chemische Entwicklung/Reaktionsfähigkeit des Kohlenstoffs begründet, sondern muss zusätzlich als ›Evolution‹ gesetzt werden. Diese Ansicht Oparins verkennt, dass der dialektische Umschlag von Quantität in Qualität bei Hegel seine Notwendigkeit aus dem erkannten begrifflichen Mangel der bloßen Quantität erhält. Davon ausgehend, dass Materie kein Bewusstsein ihrer selbst und damit auch keines ihres Mangels als nach bloß quantitativen ›Bewegungsgesetzen‹ bestimmter habe, nach dessen Auflösung sie streben könne, ist diese Erklärung der Entstehung des Lebens für einen Materialisten wie Oparin idealistisch erschlichen.

79

80 81

Zugleich spekuliert Oparin auch über eine chemische Differenz zwischen Belebtem und Unbelebtem: »Während der allmählichen Komplizierung der organischen Moleküle erwerben diese auf einer bestimmten Stufe des Prozesses eine neue, vorher nicht vorhandene Eigenschaft, nämlich die der Asymmetrie.« (Oparin, Leben, S. 52.) Die spiegelverkehrte Bildung von Molekülen (Razemat) spielt hierfür eine besondere Rolle. Die unter Laborbedingungen zufällige und daher gleichmäßig verteilte Bildung von spiegelverkehrten Antipoden findet sich in Organismen nicht – hier finden sich ausschließlich linke Antipoden, ihre »Gegenstücke« fehlen. Hieran hatte bereits Pasteur die spezifische Differenz zwischen Belebtem und Unbelebtem festmachen wollen: »Dieses Merkmal scheint möglicherweise die einzige scharfe Grenze darzustellen, die heute zwischen der Chemie der toten und der lebenden Natur existiert.« (Louis Pasteur, Über die Asymmetrie bei natürlich vorkommenden organischen Verbindungen, Leipzig 1907, zitiert nach Oparin, Leben, S. 53.) Oparin greift dies als materielle Differenz zwischen Belebtem und Unbelebtem auf. Diese asymmetrischen Synthesen würden von Lebewesen verwirklicht, weil die linksgerichtete Asymmetrie schon in ihnen bestehe. Oparin geht entsprechend dem wissenschaftlichen Stand seiner Zeit davon aus, dass asymmetrische Aminosäuren abiogen durch zirkular polarisiertes ultraviolettes Licht entstanden sind, wie es unter natürlichen Bedingungen auf der noch nicht belebten Erde vorhanden war. Auch eine Bildung auf der Oberfläche asymmetrisch rechts- bzw. linksdrehender Quarzkristalle erscheint Oparin als eine mögliche Ursache. Friedrich Engels, Dialektik der Natur, MEW Bd. 20, Berlin 1990, S. 348. Vgl. Christine Zunke, Kritik der Hirnforschung, Berlin 2008, S. 196 ff.

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Dialektik des Lebendigen

Bei Hegel führt der Mangel der ärmeren Bestimmung in der denkenden Reflexion logisch notwendig auf die weitere Bestimmung, die sich also nicht bloß ›automatisch‹ ergibt, sondern aus Einsicht in den Widerspruch denkend gesetzt werden muss, um als Denkbewegung den Begriff zu entwickeln. So bestimmt der Geist die Materie. In Marx’ materialistischer Wende der Hegelschen Dialektik wird dieser Prozess umgekehrt (vom Kopf auf die Füße gestellt), indem die materielle Realität der ökonomischen gesellschaftlichen Formierung selbst Widersprüche enthält, die sich in bestimmten Formen ideologischen oder notwendig falschen Bewusstseins widerspiegeln. So bestimmt die gesellschaftlich bestimmte Materie das Denken, ihre realen Widersprüche finden ihre Entsprechung in Widersprüchen des Bewusstseins und streben darüber zur revolutionären, also realen Aufhebung durch historische Tat. Die teleologische Gerichtetheit des historischen Prozesses geht hierbei auf die Menschen als gesellschaftliche Subjekte zurück; die historische Bewegung von der Sklavenhaltergesellschaft über den Feudalismus hin zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft bis zur Forderung der Realisierung des »Vereins freier Menschen«82 ist kein natürlicher Mechanismus83 , sondern gesellschaftspolitische Tat. Diese geschichtsphilosophische Auffassung des historischen Materialismus wird im dialektischen Materialismus von den Subjekten losgelöst und zu einem universalen Naturmechanismus hypostasiert. Der dialektische Materialismus sei ein »allgemeines Gesetz der Natur-, Gesellschafts- und Denkentwicklung«84 . So schreibt Engels zum Beginn der Dialektik der Natur: »Es ist also die Geschichte der Natur wie der menschlichen Gesellschaft, aus der die Gesetze der Dialektik abstrahiert werden. Sie sind eben nichts andres als die allgemeinsten Gesetze dieser beiden Phasen der geschichtlichen Entwicklung sowie des Denkens selbst. Und zwar reduzieren sie sich der Hauptsache nach auf drei: das Gesetz des Umschlagens von Quantität in Qualität und umgekehrt; das Gesetz von der Durchdringung der Gegensätze; das Gesetz von der Negation der Negation. Alle drei sind von Hegel in seiner idealistischen Weise als bloße Denkgesetze entwickelt: […] Der Fehler liegt darin, daß diese Gesetze als Denkgesetze der Natur und Geschichte aufoktroyiert, nicht aus ihnen abgeleitet werden. Daraus entsteht dann die ganze gezwungene und oft haarsträubende Konstruktion: Die Welt, sie mag wollen oder nicht, soll sich nach einem Gedankensystem einrichten, das selbst wieder nur das Produkt einer bestimmten Entwicklungsstufe des menschlichen Denkens ist. Kehren wir die Sache um, so wird alles einfach und die in der idealistischen Philosophie äußerst geheimnisvoll aussehenden dialektischen Gesetze werden sofort einfach und sonnenklar.«85

82 83

84 85

Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW Bd. 23, S. 92. Im Gegenteil ist es Teil des ›notwendig falschen Bewusstseins‹, dass die ökonomischen Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise wie Naturgesetze erscheinen. Vgl. Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW Bd. 23, S. 765. Friedrich Engels, Dialektik der Natur, MEW Bd. 20, Berlin 1990, S. 353. Friedrich Engels, Dialektik der Natur, MEW Bd. 20, Berlin 1990, S. 348.

5. Die Aporie der Entstehung des Lebens

Der Fehler, den zu begehen Engels Hegel hier unterstellt, wird durch seine eigene Auffassung der universalen Gültigkeit der dialektischen Gesetze absolut. Denn indem es kein Subjekt mehr gibt, welches die dialektische Bewegung denkend vollzieht und etwa die Begriffe von Qualität und Quantität entwickelt, werden diese Abstrakta zu Eigenschaften hypostasiert, welche der Materie an sich selbst zukommen sollen. Erkenntnisprozess und natürlicher Entwicklungsprozess werden synonym, wenn beide als den gleichen heteronomen ›dialektischen Entwicklungsgesetzen‹ unterliegend gedacht werden und werden so gleichermaßen zu Objekten dialektischer Naturentwicklung. Was bei Hegel also noch als Entwicklung des Begriffs ein Erkenntnisprozess war, wird nun, geronnen in der starren Form von ›Denkgesetzen‹, als Gesetze der Natur und Geschichte diesen tatsächlich ›aufoktroyiert‹. Was unter der epistemologisch unreflektierten und also positivistischen Wissenschaftsansicht von Engels ihm als eine Ableitung erscheint, ist in Wahrheit nichts weiter, als die unreflektierte Projektion der Hegelschen ›Denkgesetze‹ auf die äußere Natur. In Folge erscheint die Natur bei Engels, da sie von ihm nach den ›dialektischen Entwicklungsgesetzen‹ erklärt wird, so, als ob diese Gesetze empirische Naturgesetze wären. Diese vorgeblichen Naturgesetze dialektischer Entwicklung sollen dann ungeschieden auch für gesellschaftliche Entwicklungen gelten. Damit wird über das Postulat einer Dialektik der Natur der Mensch als Subjekt historischer und gesellschaftlicher Entwicklung letztlich negiert. Dabei beruft Engels sich auf Hegel, um aufzuzeigen, dass dieser selbst die Dialektik der Natur betrieben habe: »Wer übrigens seinen Hegel nur einigermaßen kennt, der wird auch wissen, daß Hegel an Hunderten von Stellen aus Natur und Geschichte die schlagendsten Einzelbelege für die dialektischen Gesetze zu geben versteht.«86 Und er bringt zum Beleg ein Beispiel aus der Enzyklopädie: »›So ist z.B. der Temperaturgrad des Wassers zunächst gleichgültig in Beziehung auf dessen tropfbare Flüssigkeit; es tritt dann aber beim Vermehren oder Vermindern der Temperatur des flüssigen Wassers ein Punkt ein, wo dieser Kohäsionszustand sich ändert und das Wasser einerseits in Dampf und andrerseits in Eis verwandelt wird.‹ (Hegel ›Enzykl.‹, Gesamtausg., Bd. VI, S. 217.)«87 Hegel schreibt in der Enzyklopädie jedoch differenzierter, die Dialektik als Denkform finde sich »auch schon in allem sonstigen [nicht bloß im philosophischen] Bewußtsein und in der allgemeinen Erfahrung. Alles, was uns umgibt, kann als ein Beispiel des Dialektischen betrachtet werden.«88 Ein Beispiel des Dialektischen ist es jedoch nur im Bewusstsein, nicht für sich selbst, da natürliche Dinge als Realität die Idealität des Fürsich-Seins niemals erreichen.89 D.h. für uns können natürliche Prozesse als ein Beispiel des Dialektischen betrachtet werden, aber sie zu einem ›Bewegungsgesetz der Materie‹ selbst zu erklären, bedeute, ihnen unzulässiger Weise eine Idealität zuzusprechen, welche der Natur als vernunftloser Materie abgeht. Wenn der zu erkennende Gegenstand in sich logisch widersprüchlich verfasst ist, ist die Dialektik die »Möglichkeit, noch den

86 87 88 89

Friedrich Engels, Dialektik der Natur, MEW Bd. 20, Berlin 1990, S. 349. Friedrich Engels, Dialektik der Natur, MEW Bd. 20, Berlin 1990, S. 350. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Bd. I, Frankfurt a.M. 1986, S. 174. (Künftig zitiert: Hegel, Enzyklopädie I). Vgl. Hegel, Enzyklopädie I, S. 204.

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Dialektik des Lebendigen

Widerspruch als notwendig zu begreifen und damit die Rationalität auf ihn auszudehnen.«90 Nicht die Materie, sondern das Denken ist dialektisch, wenn es Widersprüche rational als solche erfasst. Indem er diese Denkbewegung zu einer Bewegungsform der Materie selbst verklärt, mündet Engels’ Versuch, die Denkbewegung der Dialektik aus dem Idealismus loszulösen und materialistisch zu erden, selbst in der hinter Hegels Stand der Reflexion zurückfallenden Metaphysik, der bloßen Materie eine Idealität, ein Für-sich-Sein, eine vom Geist abgetrennte Wahrheit zuzusprechen. Wie Sartre erkannte, mündet diese Auffassung nicht nur in einer Idealisierung der Natur, sondern zugleich auch in einer Naturalisierung des Menschen und seiner Negierung als freies politisches Subjekt: »I was ignorant of dialectical materialism, although I should add that this later allowed me to assign certain limits to it – to validate the historical dialectic while rejecting a dialectic of nature, in the sense of a natural process which produces and resolves man into an ensemble of physical laws«91 . Diese – im Grunde undialektische – materialistische Wendung der hegelschen Dialektik in eine ›Dialektik der Natur‹ macht sie zu einer Comtesschen ›Tatsache‹92 , als welche auch Oparin sie betrachtet. Die teleologische Form der gerichteten Zweckmäßigkeit erhielt sie ursprünglich durch das denkende und erkennende Subjekt; als objektives Gesetz von diesem abgetrennt, erscheint die inhärente Teleologie als von der Natur selbst abgeleitet und alle vitalistischen Zweifel sind nicht ausgeräumt, sondern lediglich in das neue Bewegungsgesetz der Natur verschoben worden.

5.4

Kein ›Newton des Grashalms‹ – die Aporie entsteht notwendig

Theorien von der Entstehung des Lebens müssen von einem bestimmten Zeitpunkt ausgehen, zu dem die notwendigen Bedingungen zur Entstehung des Lebens gegeben waren und die ersten Organismen entstanden. Diese Theorien haben gemeinsam, dass allenfalls notwendige, aber keine hinreichenden Bedingungen aufgestellt werden können, welche die Entstehung des Lebens notwendig machten. Hinzu kommt, dass das logische Problem des qualitativen Wechsels von linearer Naturkausalität zu selbstbezüglicher Teleologie gelöst werden soll durch die Vorstellung eines empirischen Prozesses, der aus der linearen Naturkausalität heraus die hinreichenden Bedingungen für eine selbstbezügliche teleologische Struktur erzeugt. Ein logisches Problem wird dann wie gezeigt durch eine Veränderung der angenommenen äußeren Bedingungen zu lösen versucht und/oder durch Schöpfungsfloskeln bzw. einen ›heiligen‹ Zufall übersprungen. Das logische Problem des Wechsels der Qualität – von linearer Naturkausalität zu teleologischer Selbstbezogenheit, die eine Einheit des Organismus stiftet – muss jedoch

90 91 92

Theodor W. Adorno, »Zur Logik der Sozialwissenschaften«, in: Theodor W. Adorno u.a. (Hg.), Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied/Berlin 1972, S. 125-144, S. 130. Jean-Paul Sartre, »Interview: Itinerary of a Thought«, in: New Left Review 58 (1969), S. 43-66, S. 46. Auguste Comte bezeichnet in seiner positiven Philosophie gedanklich erfasste Zusammenhänge wie die Gravitationskraft als ›Tatsachen‹. Vgl. Auguste Comte, Positive Philosophie, Erster Band, Leipzig 1883, S. 4 ff.

5. Die Aporie der Entstehung des Lebens

in der Abstraktion von dem empirischen Problem – unter welchen äußeren Bedingungen sind spezifische Ursachen für bestimmte, im Resultat lebensbildende Wirkungen gegeben – getrennt betrachtet werden. Denn auch die optimalsten empirischen Bedingungen können logische Probleme nicht lösen. Dass das Leben entstanden ist, ist notwendig vorauszusetzen. Da es wirklich ist, muss es auch möglich (gewesen) sein. Vom Resultat aus muss also das empirische Problem der Entstehung des Lebendigen als in einem Naturprozess gelöst angenommen werden. Der Fehler liegt darin, hieraus zu schließen, dass damit auch das logische Problem des qualitativen Wechsels als ein sukzessiver Übergang vom Unbelebten zum Belebten als widerspruchsfrei denkbar vorauszusetzen sei. Man muss davon ausgehen, dass Belebtes aus Unbelebtem entstanden ist, aber da ein Wechsel im Prinzip der Organisation vorliegt, lässt sich diese Genese prinzipiell nicht bruchlos darstellen. Dies ist ein Bruch im Denken, das den Wechsel von Naturkausalität zu Teleologie nicht aus der Naturkausalität ableiten kann (was nicht heißt, dass das Leben nicht empirisch aus Unbelebtem entstanden sein kann!), sondern die Erkenntnis von Lebewesen erfordert ein anderes Prinzip als die Naturkausalität, das schlicht gesetzt werden muss. Wenn wir Lebendiges erkennen, dann denken wir die Organismen als nach einem anderen Prinzip organisiert als die unbelebte Natur. Dieses teleologische Prinzip muss als spontan hinzutretend angenommen werden, ohne kausale Ursache, denn sonst wäre es selbst kausal und kein teleologisches Prinzip. Das heißt nicht, dass der Prozess der Entstehung des Lebens nicht zugleich als sukzessive Entwicklung im Material angenommen werden kann und muss, doch es muss zugleich auf die Unvermeidlichkeit dieses Bruchs im Denken reflektiert werden. Damit entsteht eine Aporie, denn beide Annahmen sind notwendig und sie lassen sich nicht widerspruchsfrei zusammen denken. Ohne Reflexion auf diese aporetische Struktur münden Theorien zur Entstehung des Lebens entweder in widersprüchlichen Theorien (Zweckmäßiges formte sich, bevor der Zweck war, zu dem es allein zweckmäßig ist; Augen ohne Körper, reproduktionsfähige DNA ohne Reproduktion) oder es findet eine Verlagerung des Bruches im Erklärungsprinzip in die Welt statt (Panspermie, Schöpfung, heiliger Zufall). Da das, was wirklich ist, möglich sein muss, müssen wir davon ausgehen, dass Leben sich aus unbelebter Materie und dass denkende, selbstbewusste Lebewesen sich aus nicht-denkenden Lebewesen entwickeln können, weil sie sich hieraus entwickelt haben. Das Problem, das die Naturphilosophie (und also auch die Physik und Biologie) mit diesen Übergängen hat, liegt darin begründet, dass hier ein jeweils nach einem neuen Prinzip zu begreifender Gegenstandsbereich sich eröffnet, der sich nicht aus dem Prinzip, nach dem der vorige Zustand zu begreifen ist, ableiten lässt. Der Übergang von einem Zustand zum anderen mag sich im empirischen Material sukzessive abgespielt haben, aber zu denken ist er nicht ohne einen Bruch in der Art des bestimmenden Prinzips. Unbelebtes und Belebtes muss nach zwei unterschiedenen Prinzipien erklärt werden, denn sonst wäre es nicht zu unterscheiden! In den Beschreibungen der sukzessiven Entwicklung des Lebens aus Unbelebtem, wie er in den Theorien zur chemischen Evolution versucht wird, wird diese Aporie nicht gelöst, sondern nur verdeckt. Hier erscheint der Wechsel im Erklärungsprinzip nicht, das Leben wäre also nicht qualitativ vom Unbelebten unterschieden, die Biologie hätte

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keinen eigenständigen Gegenstandsbereich und die teleologische Struktur des Organischen wird zugleich angenommen und geleugnet. Ein anderer Umgang mit der Aporie besteht darin, davon auszugehen, dass das Leben nicht entstanden ist. Die Annahme, dass das Leben nicht aus dem Unbelebten entstanden sei, sondern als schon immer bestehend gedacht werden muss, ergibt sich nicht aus empirischen Hinweisen darauf, dass das Leben schon immer gemeinsam mit der unbelebten Materie existiert habe; im Gegenteil spricht alles dagegen. Diese Annahme verdankt sich allein dem Scheitern der widerspruchsfreien Erklärung der Entstehung des Lebens und ist ein Versuch, die hier entstehende Aporie zu vermeiden. »[E]s scheint mir ein vollkommen richtiges Verfahren zu sein, wenn alle unsere Bemühungen scheitern, Organismen aus lebloser Substanz sich erzeugen zu lassen, dass wir fragen: ob überhaupt das Leben je entstanden, ob es nicht ebenso alt wie die Materie sei, und ob nicht seine Keime, von einem Weltkörper zum andern herübergetragen, sich überall entwickelt hätten, wo sie günstigen Boden gefunden?«93 Diese Annahmen verlagern die Entstehung des Lebens ins Unvordenkliche – oder zumindest bis zum Urknall –, um dann das Leben analog zum Unbelebten als gegebene, empirisch vorfindliche Tatsache behandeln zu können. Da das Wie der Entstehung des Lebens nicht kausal zu beantworten ist, wird so versucht, die Frage zu umgehen.

5.4.1

Die Evolutionstheorie erklärt die Entwicklung des Lebens (generatio univoca), nicht die Entstehung des Lebens (generatio aequivoca)

Entstehung ist eine fortschreitende Entwicklung nach Gesetzen; der vorherige Zustand ist hierbei die hinreichende Bedingung für den folgenden. Schöpfung ist der Akt, der unmittelbar Seiendes ins Sein setzt – oder auch der Akt, der ein Prinzip, eine neue Ursache, ins Sein setzt. Bei der Frage nach dem Ursprung des Lebens geraten der Verstand, der nach den Bedingungen zurück in der Zeit fragt, und die Vernunft, die das unbedingte Prinzip erkennt, in einen Konflikt: Denn mit dem Lebendigen ist zum einen ein neues Prinzip in die Welt gesetzt, das vorher nicht da war – das Prinzip der Zweckmäßigkeit in der Organisation der Materie – und das seine hinreichende Bedingung nicht in den Gesetzen der unbelebten Materie haben kann, sich also nicht aus ihr entwickelt haben kann, also ein Unbedingtes ist. Zum anderen muss das Leben, das erst lange nach der Entstehung der unbelebten Materie als empirischer Gegenstand auftaucht, entstanden sein aus etwas, was es nicht ist. Dies erfordert keine materielle creatio ex nihilo, da das Material (die Atome und ihre Verbindungen) aus denen Lebewesen bestehen, bereits vorher vorhanden war. Aber sie entstehen nicht bruchlos aus ihm; es erfordert die Annahme eines neuen Prinzips, um das Leben adäquat zu erkennen. Dieses neue Prinzip erkennt die Vernunft als Unbedingtes, es ist insofern als spontan gesetzt (entweder autonom, oder heteronom als eine Schöpfung) zu begreifen und nicht als etwas Entstandenes, wobei 93

H. Helmholtz/G. Wertheim (Hg. und Übers.): Handbuch der theoretischen Physik von W. Thomson und P.G. Tait, Braunschweig 1874, Bd. 1, S. XI. zitiert nach: http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/ object/goToPage/bsb11189808.html?pageNo=15 (Zugriff 22.11.2021).

5. Die Aporie der Entstehung des Lebens

das Leben zugleich nur als Entstandenes und sich Entwickelndes verstanden werden kann, durch Rückführung auf seine jeweiligen Bedingungen, wie die Evolutionstheorie sie aufzeigt. Was hier ohne einen Prozess der Entstehung spontan ins Sein tritt, ist nicht das Material, sondern seine (Selbst-)Organisation, seine innere Zweckmäßigkeit, das Prinzip des Lebendigen. Das Lebendige unterscheidet sich qualitativ vom Unbelebten, indem es über ein anderes Prinzip beurteilt wird, das Prinzip der inneren Zweckmäßigkeit. Eine Theorie von der Entstehung des Lebens aus dem Unbelebten muss also zeigen können, wie dieser qualitative Wandel im Prinzip der Organisation der Materie sich vollzieht, vom Kausalprinzip des Unbelebten hin zur auf sich selbst gerichteten Funktionalität der Organismen. Oft wird hier schon der Gedanke einer Evolution der Materie aufgeführt, was jedoch die teleologische Gerichtetheit organischer Prozesse als logische Voraussetzung der Erklärung ihrer angepassten, funktionalen Form und Reproduktion ihnen auch zeitlich voraussetzt und so ein Lebensprinzip im Unbelebten konstatiert, um hieraus die Entstehung jener Gebilde zu erklären, für die allein dieses Prinzip konstitutiv ist. In § 80 der Kritik der Urteilskraft von 1790 stellt Kant siebzig Jahre vor dem Erscheinen von Darwins Origin of Species 1859 Überlegungen zur ›komparativen Anatomie‹ (Morphologie) an, die den spekulativen Schluss angehen, aufgrund der Systemähnlichkeit verschiedener Arten von Organismen ein gemeinsames Erzeugungsprinzip anzunehmen. »Die Übereinkunft so vieler Tiergattungen in einem gewissen gemeinsamen Schema, das nicht allein in ihrem Knochenbau, sondern auch in der Anordnung der übrigen Teile zum Grunde zu liegen scheint, […] verstärkt die Vermutung einer wirklichen Verwandtschaft derselben in der Erzeugung von einer gemeinschaftlichen Urmutter, durch die stufenartige Annäherung einer Tiergattung zur anderen«94 . Diese spekulative Überlegung, dass die zweckmäßige Form der belebten Natur sich durch Vererbung erhalte und fortsetze und das Leben auf der Erde also eine »große Familie von Geschöpfen«95 als eine »durchgängig zusammenhängende Verwandtschaft«96 sei, nennt Kant »ein gewagtes Abenteuer der Vernunft […]; und es mögen wenige, selbst von den scharfsinnigsten Naturforschern, sein, denen es nicht bisweilen durch den Kopf gegangen wäre.«97 Obgleich abenteuerlich spekulativ, sei der Gedanke nicht ungereimt, dass »etwas Organisches aus einem anderen Organischen, obzwar unter dieser Art Wesen spezifisch von ihm unterschiedenen, erzeugt würde; z.B. wenn gewisse Wassertiere sich nach und nach zu Sumpftieren, und aus diesen nach einigen Zeugungen zu Landtieren ausbildeten. A priori, im Urteile der bloßen Vernunft, widerstreitet sich das nicht.«98 Denn eine solche Erzeugung wäre eine generatio univoca,

94 95 96 97 98

Kant, KdU, S. 285 f [368 f]. Kant, KdU, S. 286 [369]. Kant, KdU, S. 286 [369]. Kant, KdU, S. 286 [370]. Kant, KdU, S. 287 [370].

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da alles Leben unter dem gleichen Prinzip der Zweckmäßigkeit stehe.99 Aber die Frage nach der Entstehung des Lebens bliebe von dieser Hypothese unberührt. »Allein er [der von dieser Hypothese ausginge] muß gleichwohl zu dem Ende dieser allgemeinen Mutter eine auf alle diese Geschöpfe zweckmäßig gestellte Organisation beilegen, widrigenfalls die Zweckform der Produkte des Tier- und Pflanzenreiches ihrer Möglichkeit nach gar nicht zu denken ist. Alsdann aber hat er den Erklärungsgrund nur weiter aufgeschoben«100 . Ungereimt sei nicht der Gedanke einer evolutionären Entwicklung, sondern der Gedanke einer Entstehung des Lebens aus dem Unbelebten. Dieser wäre eine generatio aequivoca, »die Erzeugung eines organisierten Wesens durch die Mechanik der rohen unorganisierten Materie«101 . Die Annahme der Evolution führe also nicht dazu, dass hierdurch die Existenz der organisierten und sich selbst organisierenden Form der Materie erklärt wäre. Die Frage nach der Entstehung des Lebens verlagert sich bei einer solchen Annahme bloß von jeder einzelnen Form, jeder einzelnen Art oder Gattung, hin zu der spekulativ angenommenen ›Urmutter‹ – man könnte also sagen, dass hiermit zwar eine quantitative Begrenzung auf der empirischen Ebene gegeben wäre, da das Leben nur einmal entstanden sein müsste (wovon heute aus mehreren Gründen auszugehen ist), das (logische wie empirische) Problem des qualitativen Sprungs von einer rein kausal verknüpften Materie zur teleologischen Form ihrer Organisation bleibt jedoch auch unter der Prämisse der Evolution in gleicher Weise bestehen. Da der Übergang von einem Prinzip zum anderen nicht aus diesem selbst deduziert werden kann, ist die Frage nach der Entstehung des Lebens aus dem Unbelebten laut Kant unlösbar: »Es ist nämlich ganz gewiß, daß wir die organisierten Wesen und deren innere Möglichkeit nach bloß mechanischen Prinzipien der Natur nicht einmal zureichend kennen lernen, viel weniger uns erklären können; und zwar so gewiß, daß man dreist sagen kann, es ist für Menschen ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen, oder zu hoffen, daß noch etwa dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch

99

Entgegen der einhelligen Auffassung der Sekundärliteratur folgt aus der teleologischen Urteilskraft in der Kritik der Urteilskraft keine Artkonstanz. Dass Kant mit den meisten Naturforschern seiner Zeit von einer solchen ausging, hatte keine prinzipiellen Gründe, die sich aus seiner Theorie zum Naturzweck und zum Organischen mit Notwendigkeit und Allgemeinheit ergäben. Sein Argument gegen eine evolutionäre Entwicklung ist lediglich ein empirisches: »Allein die Erfahrung zeigt davon kein Beispiel« (Kant, KdU, S. 287 [370]). Wenn also beispielsweise Janich und Weingarten Kant den »gewichtigen methodischen Fehler« (Peter Janich/Michael Weingarten, Wissenschaftstheorie der Biologie, München 1999, S. 117) unterstellen, die Artkonstanz mit Bezug auf die damalige Forschung aus der Funktion der Fortpflanzung abgeleitet zu haben, und feststellen, dass »auf der Basis der so vorbelasteten Organismus- und Art-Begriffe […] entwicklungstheoretische Überlegungen von vornherein ausgeschlossen« seien (ebd.), dann ist dies schnell mit einem Blick in den § 80 der KdU zu widerlegen. Was allerdings umgekehrt Kant auch nicht zu einem Vordenker Darwins macht. 100 Kant, KdU, S. 286 f [370 f]. 101 Kant, KdU, S. 287 [370].

5. Die Aporie der Entstehung des Lebens

nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde«102 . Die Entstehung des Lebens ist ein prinzipielles Problem, das zu einem Widerspruch in den Begriffen und Urteilen der reinen Vernunft führt. Der Mechanismus der Anpassung setzt immer schon einen angepassten Organismus voraus – über die Evolution lässt sich die Entstehung des Lebens also nicht erklären, das Leben ist ihr immer schon vorausgesetzt. Das erste Lebewesen kann sich also nicht durch die Mechanismen der Evolution gebildet haben. Und es kann sich auch nicht aus den kausalen Mechanismen der unbelebten Materie gebildet haben, weil diese weder teleologisch verfasst sind, noch ein teleologisches Prinzip begründen können. Das Lebendige existiert offenbar als zweckmäßige Einheit von Ursache und Wirkung als Ursache seiner selbst. Für das Leben als Einheit von Ursache und Wirkung lässt sich logisch keine außer ihm liegende Ursache angeben, die diese Einheit verursachte. Es muss als negative (auto-)generatio ex nihilo gedacht werden, ohne Subjekt, ohne Schöpfer, ohne hinreichende äußere Ursache, will man nicht in einen der hier aufgezeigten Fehler verfallen oder das Problem bloß verschieben. Als solche negative (auto-)generatio ex nihilo verstanden braucht und kann die unbelebte Materie nicht schon die hinreichende Ursache des Lebens in sich enthalten. Denn erst das Leben selbst ist das Prinzip der Differenz zum Unbelebten. Da dieses Prinzip, wie sich bereits angedeutet hat, sowohl teleologisch als auch im Widerspruch hierzu nicht intelligibel gesetzt und somit in sich widersprüchlich ist, wird das Lebendige in der modernen Biologie nicht über sein Prinzip bestimmt, sondern über das Vorhandensein bestimmter typischer Kennzeichen definiert.

102

Kant, KdU, S. 265 [337 f].

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6. Positive Definition des Lebens über empirische Kennzeichen? »Nicht durch die Definition wird die Anwendung eines Begriffes festgelegt, sondern die Verwendung des Begriffes legt das fest, was man seine ›Definition‹ oder seine ›Bedeutung‹ nennt.«1

In seinem 1999 erschienenen Buch Biogenesis – Theories of Life’s Origin führt Noam Lahav 48 verschiedene Definitionen des Lebens aus den letzten hundert Jahren auf.2 In Knaurs Buch der modernen Biologie heißt es: »Aber was das Leben eigentlich ist, das hat noch niemand überzeugend zu sagen vermocht.«3 Die Definition wird darum in ihrer Negation gegeben: »Man möchte […] sagen, das Leben sei dadurch charakterisiert, daß es sich jeder umfassenden Definition entzieht.«4 Dieses Scheitern einer Definition bezieht sich zumeist auf die Versuche, den Wesensbegriff oder das Prinzip des Lebendigen anzugeben. Moderne Realdefinitionen arbeiten stattdessen mit der Angabe von Merkmalskombinationen, die für belebte Gegenstände charakteristisch sind. Doch auch hier gibt es keine einheitliche Definition, was auf das grundsätzliche Problem der Gegenstandsbestimmung der Biologie zurückverweist.

6.1

Belebtes und Unbelebtes ist intuitiv leicht zu unterscheiden, jedoch theoretisch schwer zu differenzieren

In der Biologie hat man es zunehmend mit der Erforschung von Teilprozessen zu tun, wofür ein genauer Begriff davon, was ›das Leben‹ oder ›das Lebendige‹ ist, nicht benötigt wird. Die Schwierigkeiten, auf die man beim Versuch einer Definition des Lebendigen stößt, fallen nicht in den üblichen Arbeitsbereich der verschiedenen Teildisziplinen 1 2 3 4

Karl R. Popper, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie. Aufgrund von Manuskripten aus den Jahren 1930-1933, 2te, verbesserte Auflage, Tübingen 1994, S. 366. Vgl. Noam Lahav, Biogenesis – Theories of Life’s Origin, New York 1999. Hans Joachim Bogen, Knaurs Buch der modernen Biologie, München 1967, S. 15. Ebd.

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Dialektik des Lebendigen

der Biologie, so dass biologische Fachbücher zumeist auf eine Definition des Lebens verzichten können. Die Differenz zwischen Organismen und unbelebten Gegenständen scheint evident zu sein, sie ist intuitiv auch ohne biologische Vorbildung leicht zu erfassen, zumindest bei komplexeren Lebensformen wie den meisten Tieren und Pflanzen. Jeder Laie unterscheidet in der Regel sicher zwischen Belebtem und Unbelebtem und auch Biologen haben mit dieser Unterscheidung solange keinerlei Probleme, bis sie sie streng begrifflich formulieren wollen. Diese Differenz zwischen Belebtem und Unbelebtem theoretisch zu fassen, ist offenbar ungleich schwerer und bis heute nicht hinreichend geleistet worden, so dass es keine allgemeinverbindliche Definition des Lebendigen gibt. In der Fachliteratur finden sich verschiedene Konglomerate von empirischen Kennzeichen des Lebendigen, die jedoch die Grenze zum Unbelebten nicht sicher dort ziehen können, wo die Intuition sie setzen will und wo der tatsächliche Arbeitsbereich der Biologie endet. Diese Schwierigkeit der Realdefinition hat ihren Grund darin, dass zunächst intuitiv eine Grenze zwischen Belebt und Unbelebt vorausgesetzt wird, anschließend bestimmte Kennzeichen von den als belebt vorgestellten Gegenständen abgezogen und zu einer Definition zusammengestellt werden und diese Definition dann zurück auf die Gegenstände gerichtet wird, um die vorausgesetzte Unterscheidung am Material zu vollziehen und Lebendiges von Unbelebtem zu trennen. So kehrt sich das Bestimmungsverhältnis von Grund und Folge um; denn es ist etwas anderes, zu sagen, ein Lebendiges bewege sich eigenständig, oder zu sagen, etwas sei lebendig, weil es sich eigenständig bewege. Waren die Kennzeichen als bloße Eigenschaften des Lebendigen Folge seiner Belebtheit, so werden sie, wenn das Lebendige in einer Realdefinition über bestimmte Kennzeichen definiert ist, zum Grund dafür, etwas als lebendig zu beurteilen.

6.2

Die Materialisierung der differentia specifica

Die spezifische Differenz im klassischen arbor porphyriana trennt Körper in belebte und unbelebte, bzw. beseelte und nicht-beseelte. Die lebendigen Körper sind also hier zunächst durch ihre Belebtheit von den unbelebten unterschieden. Diese Zirkularität der Gegenstandsbestimmung hat sich bis heute im Alltagsbewusstsein durchgehalten. So heißt es in Wikipedia: »Leben ist der Zustand, den Lebewesen gemeinsam haben und der sie von toter Materie unterscheidet«5 . Was diese Differenz bis zur neuzeitlichen Naturforschung ausmachte, war (in theologischer Anlehnung an Aristoteles) die Seele; der Unterschied zwischen Belebtem und Unbelebtem ist also traditionell ein immaterieller, metaphysischer. Gegen den metaphysischen Seelenbegriff und gegen den reduktiven Mechanismus, der das Spezifische der Differenz zwischen lebendigen und unlebendigen Gegenständen leugnen muss, bemühte sich der Vitalismus darum (vergeblich, wie später noch 5

https://de.wikipedia.org/wiki/Leben (Zugriff: 18.1.2015). Mittlerweile wurde der Text auf Wikipedia geändert. Da es sich jedoch um eine gern zitierte Quelle handelt, ergab eine Google-Suche nach diesem Satz kurz vor Drucklegung ca. 300 exakte Treffer.

6. Positive Definition des Lebens über empirische Kennzeichen?

gezeigt wird)6 , diese spezifische Differenz durch eine natürliche Lebenskraft und damit quasi-physikalisch zu bestimmen. Eine solche Kraft wäre, als mechanische Kraft, anders als ein metaphysisches Konzept dem empirischen Zugriff nicht entzogen und somit eine empirisch messbare Eigenschaft lebendiger Körper. Die Zirkularität – lebendig ist das Lebendige – wäre damit zwar nicht aufgehoben, aber zumindest aus der Metaphysik in die Erscheinungswelt gerettet. Die Folgen dieser Versuche waren jedoch Gegenstandsbestimmungen, die an der Wirklichkeit des Gegenstandsbereiches der Biologie vorbeigingen. So bestimmte beispielsweise Christian August Crusius die spezifische lebendige Kraft mechanistisch als die Kraft zur eigenständigen Bewegung. Ausgehend von dem empirischen Befund, dass Lebewesen vor allem darüber erkannt werden, dass sie sich eigenständig und zielgerichtet bewegen können und dass sie diese Fähigkeit verlieren, wenn sie tot sind, schloss er auf die Eigenbewegung als die dem Lebendigen spezifisch zukommende Kraft. Folglich seien alle Dinge, die diese Fähigkeit zur Eigenbewegung empirisch messbar aufweisen, Lebewesen, weil sie die spezifisch lebendige Eigenschaft aufweisen. Bei Crusius, der seine eigene am intuitiv vorausgesetzten Lebendigen gewonnene Definition nun nachträglich auf die empirischen Gegenstände anwandte, führte dies konsequent dazu, dass er Pflanzen als unbelebt, weil unbewegt, und Artefakte mit Eigenbewegung als belebt definieren musste.7 Damit wurden im Resultat die in der Definition verbleibenden Lebewesen durch den impliziten Wechsel von der (metaphysischen, aber als empirisch vorgestellten) Lebenskraft zur mechanischen Bewegung in streng mechanistischer Manier zu sich bewegenden Apparaten, indem die bewegende Lebenskraft zur bloß physikalischen Kraft wurde. Im Resultat erscheint das Spezifische des Lebendigen, sobald es den Raum des Metaphysischen verlässt und sich als ein Physikalisches gleichsam manifestiert, nicht länger als dasjenige, was dem Lebendigen im Unterschied zum Unbelebten spezifisch eigen ist. Die das Lebendige vom Unbelebten trennende Eigenschaft wird, sobald sie im Rahmen empirischer Naturwissenschaft bestimmt ist, zwangsläufig eine empirische, also physikalische Eigenschaft sein, die Belebtem und Unbelebtem gemein ist. Die geleistete Identifizierung des spezifischen Kennzeichens des Lebendigen hebt so den durch es zu definierenden Gegenstand auf.

6.3

Realdefinition des Lebens als Konglomerat von Kennzeichen

Da die Definition des Lebendigen über eine spezifische Differenz zu den benannten logischen Schwierigkeiten führt, die sich auch im Versuch der pragmatischen Anwendung solcher Definitionen niederschlagen, kam man zu dem Schluss, dass Organismen 6 7

Vgl. Kapitel 8. Vgl. Christian August Crusius, Entwurf der nothwendigen Vernunft-Wahrheiten, wiefern sie den zufälligen entgegengesetzt werden, ohne Ort 1766, §458, S. 944. Die unmittelbar absurd anmutende Verschiebung der üblichen Grenze zwischen dem Belebten und dem Unbelebten verdankt sich nicht einem besonderen Fehler, den Crusius macht; im Gegenteil ist dieser Fehler weit verbreitet. Sie verdankt sich vielmehr der gegen jede Intuition durchgehaltenen Konsequenz, mit der er seinen theoretischen Schlüssen folgt.

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Dialektik des Lebendigen

zu unterschiedlich aufgebaut sind, um sie über ein gemeinsames Kennzeichen definieren zu können. Man verlegte sich in der Biologie stattdessen darauf, mehrere Kennzeichen in Kombination zur Bestimmung des Lebendigen heranzuziehen, ohne dass ein einzelnes dieser Kennzeichen beanspruchen muss oder kann, für jedes Lebendige oder ausschließlich für Lebendiges kennzeichnend zu sein.

6.3.1

Roux: Organische Selbstleistungen als empirische Kennzeichen

In seinem Aufsatz Das Wesen des Lebens stellt Wilhelm Roux zunächst die herkömmliche funktionelle Definition des Lebens dar: »1. V e r ä n d e r u n g, D i s s i m i l a t i o n. Diese findet beständig statt, solange das Lebewesen wirklich lebt. […] 2. Die A u s s c h e i d u n g des bis zur Unbrauchbarkeit Veränderten. 3. Die A u f n a h m e neuer Substanz, der sog. Nahrung in das Innere, zum Ersatz der veränderten Lebenssubstanz. […] 4. Die A s s i m i l a t i o n, die Umwandlung der Nahrung in neue Lebenssubstanz, resp. in neue, zum bloßen Betriebe der Lebenstätigkeit geeignete Substanz.«8 Diese vier Leistungen des Organismus lassen sich auch als Stoffwechsel zusammenfassen. Dazu kommt: 5. das Vermögen »des s p e z i f i s c h e n M a s s e n w a c h s t u m s […] [und] 6. der a k t i v e n B e w e g u n g […] 7. die V e r m e h r u n g der Zahl der Lebewesen mit der Erhaltung ihrer Eigenart, also 8. mit V e r e r b u n g. […] Das sind die a c h t E l e m e n t a r f u n k t i o n e n, die allen Lebewesen von den niedersten bis zu den höchsten Tieren und Pflanzen zukommen. […] Von den allerniedersten, allereinfachsten Lebewesen abgesehen, kommt allen anderen noch 9. das Vermögen der sog. E n t w i c k l u n g, das ist […] die Gestaltbildungen […] [zu]. Das ist die Übersicht über die neun seit langem bekannten Leistungen der Lebewesen, welche diese Körper als Lebewesen charakterisieren. Sie bestehen also im Stoffwechsel, in Bewegung, Wachstum, Vermehrung mit Vererbung und meist noch Entwicklung. Alle diese Leistungen sind nicht bloß erschlossen, sondern durch tausendfältige Beobachtungen und Experimente sicher ermittelt. Durch die Gesamtheit dieser Leistungen unterscheiden sich die Lebewesen schon deutlich von den Anorganen.«9 Auf dem Boden der jeweils gegenwärtigen Forschungen lasse sich so eine funktionelle Definition des Lebens gewinnen, die insofern beschränkt oder vorläufig sei, als durch

8

9

Wilhelm Roux, »Das Wesen des Lebens«, in: C. Chun/W. Johannsen (Hg.), Die Kultur der Gegenwart, Dritter Teil, Vierte Abteilung, Erster Band: Allgemeine Biologie, Leipzig/Berlin 1915, S. 173187, S. 175 f. (Künftig zitiert: Roux, Wesen des Lebens). Roux, Wesen des Lebens, S. 176 f.

6. Positive Definition des Lebens über empirische Kennzeichen?

neue Forschungsergebnisse neue notwendige Eigenschaften des Lebens entdeckt und ergänzt werden können.10 Doch Roux erscheint diese funktionelle Definition nicht bloß kontingent, sondern noch in anderer Hinsicht als unbefriedigend und auch im Rückgriff auf andere Bestimmungen des Lebens von Haeckel, Spencer oder Rawitz findet er das Gesuchte nicht, welches er zunächst sehr vage als bloßes Gefühl eines Mangels beschreibt: »Wenn wir uns das uns bekannte Lebensgeschehen recht deutlich und vollständig vorstellen, so haben wir das Gefühl, daß uns doch bei der vorstehenden Definition noch etwas den Lebewesen allgemein Eigenes, und zwar etwas sehr Wesentliches, Charakteristisches fehlt. Es ist keine einzelne besondere Art der Leistung, etwa wie die Drüsensekretion […], sondern etwas Allgemeineres, etwas allen Leistungen Zukommendes.«11 Roux gibt sich nicht zufrieden mit einem empirisch belegten, aber doch willkürlichen Sammelsurium. Er sucht kein bloßes Konglomerat zufälliger Eigenschaften, sondern einen Begriff des Wesens des Lebens, ein allgemeines Prinzip, das allen Elementarfunktionen des Lebendigen zugrunde liegt. Im Resultat fasst er nochmal die (erfüllten) Bedingungen seiner Definition zusammen: »Wir haben jetzt eine rein t a t s ä c h l i c h e, eine alle bekannten allgemeinen Tatsachen umfassende Definition vom Wesen des Lebens gewonnen und haben es dadurch genauer bezeichnet, als die üblichen, den speziellen Inhalt verflüchtigenden oder Wesentliches übergehenden Definitionen der Philosophen und selbst der Physiologen. Ein Lebewesen ist durch unsere Definition vollkommen kenntlich bestimmt. Jedes Gebilde, welches alle die erst genannten acht Leistungen mit Autoergie und Selbstregulation vollzieht, werden wir ein Lebewesen nennen, mag es irgendwie chemisch oder physikalisch beschaffen und irgendwie entstanden oder künstlich hervorgebracht sein. […] Glauben wir somit das Leben durch seine Leistungen im allgemeinsten v o l l k o m m e n c h a r a k t e r i s i e r t zu haben, so ›behaupten‹ wir aber keineswegs, damit auch die letzten Ursachen seines Seins und Geschehens erfaßt zu haben.«12 Indem die ›letzten Ursachen‹ nicht erfasst seien, soll das von ihm in den Selbstleistungen des Organismus entwickelte wesentlich Allgemeine kein Metaphysisches sein. Als allgemeinste Charakterisierung des Lebens umfasst seine Definition nicht nur alles wirkliche, sondern alles mögliche Leben, womit es über die Empirie hinausweist; zugleich soll sie wie die Leistungen der bloß funktionellen Definition gänzlich auf empirischer Grundlage stehen, womit er sich auch deutlich gegen vitalistische Ansätze als »Verlegenheitsannahmen«13 ausspricht.

10 11 12 13

Zu aktuellen Definitionen des Lebendigen über Kennzeichen und seine Problematik vgl. https://w ww.synthetische-biologie.mpg.de/17480/was-ist-leben (Zugriff 14.07.2020). Roux, Wesen des Lebens, S. 178. Roux, Wesen des Lebens, S. 183. Ebd.

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Dasjenige, was das Wesen des Lebens nach Roux ausmacht, sei seine Innerlichkeit. Diese Innerlichkeit »besteht offenbar in noch etwas ganz Besonderem außer den einzelnen Leistungen.«14 Diese Innerlichkeit des Organismus bestehe genauer in der Selbstregulationsfähigkeit und der Selbsttätigkeit. Die Selbstregulation zeige sich beispielsweise in der Nahrungsaufnahme durch Hunger, durch Änderung des Aufenthaltsortes (Regulation von Temperatur, Umgebungsfeuchtigkeit etc.) oder auch als gestaltliche Selbstregulation im Entwicklungsprozess.15 Die neun Leistungen der zuvor dargestellten herkömmlichen funktionellen Definition des Lebens ließen sich allesamt als Selbsttätigkeit, Autoergie, begreifen. »Die oben aufgeführten neun Leistungen sind also alle Selbstleistungen, somit im einzelnen: 1. Selbstveränderung, Autodissimilatio. 2. Selbstausscheidung, Autoexkretio (und Autosekretio). 3. Selbstaufnahme, Autorezeptio. 4. Selbstassimilation, Autoassimilatio, chemische und morphologische. 5. Selbstwachstum, Autocrescentia. 6. Selbstbewegung, Autokinesis. […] 7. Ferner Selbstvermehrung, Autoproliferatio, mit 8. Vererbung, Hereditas […]. Dazu 9. Selbstentwicklung, Autophaenesis.«16 Indem er die herkömmlichen Leistungen des Organismus als Selbstleitungen beschreibt, sind sie keine bloß physikalischen Abläufe, sondern werden von einem Subjekt, einem ›Selbst‹, aktiv geleistet. Hierdurch gewinnt er die neue von ihm geforderte Dimension der Innerlichkeit des Lebewesens. »Durch die Erkenntnis dieser Selbsttätigkeit sind wir nun dem Wesen der Lebewesen viel näher gekommen. Das Lebewesen hat nun ein eigenes Selbst und damit eine sog. Innerlichkeit.«17 Roux überschreitet hier die von ihm gesetzte und eingeforderte Grenze zwischen empirischer Tatsachenfeststellung und metaphysischer Zuschreibung, indem er den Organismen die Autonomie zuerkennt, ein Selbst zu sein und Selbstleistungen zu erbringen. Die reflexive Struktur, die mit der Vorsilbe ›Selbst‹ angenommen wird, ist den Verfahrensweisen eines empirischen Experiments nicht zugänglich. »Vielmehr ist sie die Voraussetzung der Interpretation der einzelnen experimentell untersuchten physikalischen und/oder chemischen Abläufe als Abläufe im Organismus und nicht als identisch mit solchen Verläufen, die in der anorganischen Natur zu finden seien. Nicht also die einzelnen funktionellen Leistungen ergeben eine Definition des Lebens, sondern erst deren Interpretation als Selbstleistungen eines Organismus. Der Interpretationsrahmen kann aber von Roux nicht eingeführt werden als experimentell abgesicherte Tatsache, sondern greift auf ein intuitives lebensweltlich abgesichertes Vorwissen von Organismen zurück, ohne selbst dann in der Theorie genau expliziert zu werden.«18 Nach Roux’ eigener Einsicht kann weder eine chemische, noch eine statisch-physikalische Definition des Lebens gegeben werden; weil das Leben Geschehen sei, Prozess,

14 15 16 17 18

Roux, Wesen des Lebens, S. 179. Vgl. Roux, Wesen des Lebens, S. 181 f. Roux, Wesen des Lebens, S. 179. Ebd. Weingarten, Organismen, S. 88.

6. Positive Definition des Lebens über empirische Kennzeichen?

darum sei auch nur eine funktionelle Definition möglich, die er dann in die beschriebenen Selbstleistungen überführt, wodurch das Lebewesen eine Innerlichkeit erhält. Diese Innerlichkeit des Lebewesens ist jedoch selbst schon eine metaphysische Verlegenheitsannahme; ohne sie wären alle Selbstleistungen nicht zu denken, sondern würden sich in bloße chemisch-physikalische Prozesse auflösen. Roux unterstellt diese Autoergasien zwar als empirisch aufgefundene und nachzuweisende Kennzeichen, doch sie enthalten tatsächlich allesamt ein über die Reflexion erschlossenes Intelligibles. Auf solche reflexiven Begriffe wie Selbstwachstum oder Selbstbewegung wird in der Biologie heute zumeist verzichtet, doch in der gängigen Beschreibung des Organismus als selbstorganisiertes System kehrt das reflexiv erschlossene Intelligible der Rouxschen Autoergie wieder.19

6.3.2

Nicht-reflexive Kennzeichen des Lebendigen

Die Biologie bestimmt bis heute das Lebendige über Kennzeichen, nicht über eine Begriffsbestimmung des Lebens. Sie tut dies, weil jede Begriffsbestimmung auf die Schwierigkeit der teleologischen Verfasstheit des Lebendigen stößt: Lebewesen sind in sich zweckmäßig, reflexiv in ihren Funktionen auf sich selbst, d.i. auf ihr eigenes Lebendigsein gerichtet. Diese teleologische Struktur zeigte sich noch deutlich in Roux’ Selbstleistungen des Organismus. Auf solche Begriffe wird heute oft verzichtet, so dass das teleologische Moment in der Realdefinition unsichtbar wird, was den von Roux bemerkten Mangel erzeugt, dass das eigentlich Lebendige am Lebewesen nicht erfasst wird. Doch gerade in Bezug auf die Funktionalität der Teile für den Gesamtorganismus werden teleologische Strukturzusammenhänge auch oft betont.20 So finden wir in einem Lexikon der Biologie folgende ›Eigenschaften‹ als Charakteristika des Lebens gegenüber unbelebter Materie: »1.) Individualisierung: Leben existiert nur in Form abgegrenzter Gebilde […]. 2.) Chemisch ist lebende Substanz durch energiereiche Makromoleküle charakterisiert […]. 3.) Stoffwechsel, Energiefluß und Homöostase: […] Das offene System ›Lebewesen‹ befindet sich also in einem Zustand des dynam. Gleichgewichts (Fließgleichgewicht […]). […] 4.) Informationsträger – Funktionsträger: […] Alle Lebewesen […] benutzen doppelsträngige Desoxyribonukleinsäuren (DNA) als Träger der genet. Information, […] Proteine […] sind die Funktionsträger der Lebewesen […]. 5.) Fortpflanzung […] 6.) Wachstum – Differenzierung – Tod […] 7.) Mutation, genetische Variabilität und Einzigartigkeit […] 8.) Evolution – Artenmannigfaltigkeit – Anpassung: […] Die Strukturen v. Lebewesen sind Funktionsstrukturen, die für die Aufrechterhaltung des Lebens und die Fortpflanzung ›dienlich‹ sind. Lebewesen sind ›zweckmäßig‹ organisiert. Die Frage ›wozu?‹ ist in der Biol. daher legitim […]. 9.) Reizbarkeit […] 10.) Motilität: Lebewesen verfügen im allg. über Beweglichkeit (Motilität).«21 19 20 21

Vgl. Kapitel 10. Oft unter neuer Terminologie wie ›teleonomisch‹ oder ›teleomatisch‹ um zu verdeutlichen, dass kein intelligibel gesetztes Telos angenommen wird. Vgl. Kapitel 7. Arno Bogenrieder, Lexikon der Biologie in acht Bänden, Fünfter Band, Freiburg/Basel/Wien 1985, Artikel: Leben, S. 211-214.

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Dialektik des Lebendigen

Im Schülerduden Biologie sind die Kennzeichen schlichter gehalten. Dort heißt es: »Allen Lebewesen sind folgende Merkmale des Lebens eigen: 1. Stoffwechsel; 2. Fortpflanzung; 3. Vererbung; 4. Veränderung der genetischen Information (Mutation, Faktorenaustausch); 5. Aufbau aus einer oder mehreren Zellen; 6. Besitz bestimmter Strukturen (Organellen) innerhalb der Zellen; 7. Reizbarkeit.«22 Als Kennzeichen des Lebendigen finden sich in Schulbüchern gewöhnlich Stoffwechsel, Wachstum, Vermehrung, Reizbarkeit, Regulationsfähigkeit, Angepasstheit, Wechselwirkung zwischen Organismen »und oft auch Bewegung«23 . Diese Kennzeichen oder Grundfunktionen sind dem Biologen Indizien dafür, es mit einem belebten Ding zu tun zu haben. Sie gelten nicht ausschließlich für Lebendiges – Wachstum als Volumenzunahme findet man auch bei Bergketten oder Kristallen – und es müssen nicht alle Kennzeichen für alle Lebewesen zutreffen – wie etwa die eigenständige Bewegungsfähigkeit. Damit bleibt der Begriff des Lebens unterbestimmt. »Ein Problem des Ansatzes, den Lebensbegriff über eine Liste von Grundfunktionen als Kriterien der Lebendigkeit zu definieren, liegt also darin, dass damit das Phänomen des Lebens als einheitlicher Gegenstand zu verschwinden droht.«24 Da die verschiedenen Kennzeichen nicht auf ein gemeinsames zu Grunde liegendes Prinzip zurückgeführt werden, bleiben sie zufällig aufgesammelt, erscheinen unverbunden und willkürlich. Schaut man sich diese Kennzeichen auch in heutigen Varianten genauer an, so verweisen sie implizit auf etwas, das nicht in der Physik oder Chemie aufgeht. Denn Berge oder Inseln können zwar größer werden, aber sie wachsen durch bloß äußere Einflüsse, nicht nach einer von innen festgelegten Struktur; anders als Kristalle oder Organismen, die nicht zufällig und ungerichtet neues Material anlagern, sondern nur bestimmte Stoffe an bestimmten Stellen in sich integrieren, wodurch sich eine Form ergibt, die ihnen wesentlich ist: Natriumchlorid kristallisiert als Hexaeder, Katzen haben vier Beine. Äußere Einflüsse, Beschädigungen und Verletzungen greifen zwar in die Form ein, aber nur negativ; sie bestimmen nicht das Grundmuster. Organismen scheiden zusätzlich, anders als Kristalle, auch Stoffe wieder aus und bauen nicht nur welche in ihre Struktur ein; sie haben tatsächlich einen Stoff-Wechsel. Doch anders, als durch die Strömung eines Flusses Wasser, Geröll und Sedimente eines Abschnittes beständig wechseln, ist der Stoffwechsel im Organismus durch seine Zielgerichtetheit, den Körper zu erhalten, nur reflexiv bestimmbar. Ebenso die Bewegung als Selbstbewegung des Organismus. Das Blatt im Wind bewegt sich nicht, es wird bewegt, ebenso wie der Stein im Fluss. Um Bewegung als Eigenbewegung erkennen zu können, wie sie Lebewesen eigen ist, ist zunächst vorausgesetzt, dass sich das Lebewesen spontan und von sich aus, d.i. zielgerichtet, bewegt. Doch dies reicht nicht hin, es könnten mechanische Ursachen sein – wie beim Artefakt. Darum

22 23 24

Redaktion Naturwissenschaft und Medizin des Bibliographischen Instituts unter Leitung von KarlHeinz Ahlheim (Hg.), Schülerduden, Die Biologie, Mannheim 1976, S. 262. Herrmann Lindner, Biologie. Lehrbuch für die Oberstufe, Stuttgart 1987, S. 9. Georg Toepfer, »Leben«, in: Kirchhoff/Karafyllis u.a. (Hg.), Naturphilosophie. Ein Lehr- und Studienbuch, Tübingen 2017, S. 159-164, S. 162.

6. Positive Definition des Lebens über empirische Kennzeichen?

muss man die Bewegung als selbstintendierte gezielte Bewegung begreifen – also nicht bloß mechanisch nach einer äußeren Ursache (die auch eine Muskelkontraktion sein kann), sondern auf ein intelligibles Ziel hin, das in der Struktur selbst liegt und nicht heteronom in sie gelegt wurde. In diesem Sinne kann dann auch das Wachstum der Pflanzen als Bewegung gelten, wenn sie ihre Blätter oder Blüten gezielt zum Licht hin ausrichten und die Wurzeln in den Boden treiben. Auch die ›Reizbarkeit‹ der Organismen ist nur teleologisch zu begreifen. Magnesiumpulver reagiert heftig, wenn man auf seine Oberfläche einen Tropfen Wasser aufbringt; desgleichen die Katze. Doch die Reaktion des ersteren wird im Gegensatz zu letzterer nicht Reizbarkeit genannt, denn die chemische Reaktion wird bloß kausal gedacht (die Ursache ist chemischer Art), während wir der Katze unterstellen, sie wolle nicht nass werden und dies sei der Grund ihrer Reaktion; denn ihre Reaktion folgt, selbst wenn sie zuverlässig reproduzierbar sein sollte, keiner chemischen Notwendigkeit. Da dieser Selbstbezug der Organismen keiner der gedanklichen Reflexion ist, die ein Selbstbewusstsein und damit Freiheit voraussetzte, sondern im körperlichen verbleibt, bestimmte Kant ihn als Willkür: »Was in der Welt ein Prinzipium des Lebens enthält, scheint immaterieller Natur zu sein. Denn alles Leben beruht auf dem Vermögen, sich selbst nach W i l l k ü r zu bestimmen.«25 Die Kennzeichen des Lebendigen verweisen also sämtlich auf etwas, das mehr ist, als bloßes Kennzeichen; auch wenn er nicht benannt wird, enthalten sie der Sache nach einen bewusstlosen reflexiven Selbstbezug wie die Autoergasien bei Roux. Doch als bloße Kennzeichen genommen, wie es der Biologie als empirischer Naturwissenschaft geboten zu sein scheint, bleiben sie mangelhaft, weil keines von ihnen den zureichenden Grund enthält, etwas als lebendig zu bestimmen.

6.3.3

Bei Aristoteles wurden die bestimmenden Kennzeichen des Lebendigen auf eine Formursache (Prinzip) zurückgeführt

Schon bei Aristoteles wurden bestimmte Kennzeichen wie Bewegung oder Wachstum zur Identifizierung des Lebendigen herangezogen. So heißt es etwa in seiner Schrift Über die Seele: »Da das Leben (eines Lebewesens) in mehrfacher Bedeutung verstanden wird, sagen wir, daß es lebe, wenn Leben auch nur in einer seiner Bedeutungen vorliegt: als Vernunft, Wahrnehmung, örtliche Bewegung und Stehen, ferner als Bewegung der Ernährung, dem Schwinden und dem Wachsen nach.«26 Das gemeinsame dieser Kennzeichen bei Aristoteles ist jedoch, dass sie alle Ausdruck derselben Formursache oder Seele sind, die das Belebte vom Unbelebten unterscheidet. Darum enthalten diese Kennzeichen von vornherein ein intelligibles Moment und es sind nicht bloß empirisch beobachtbare Eigenschaften, die selbst den hinreichenden Grund der Lebendigkeit in sich enthielten. Seine Bestimmung des Lebendigen ist damit keine Realdefinition. Die aufgezählten Kennzeichen sind nur darum spezifische 25 26

Immanuel Kant, Träume eines Geistersehers, Berlin ohne Jahr, S. 16, Anm. Aristoteles, Über die Seele, 413 a, S. 31.

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Dialektik des Lebendigen

Eigenschaften des Lebendigen, weil sie auf ein ihnen gemeinsam zugrunde liegendes teleologisches Prinzip verweisen: »Die Ortsbewegung ist nämlich immer um eines Zweckes willen und ist entweder mit Vorstellung oder Streben verbunden; denn nichts bewegt sich, ohne zu streben und zu meiden, außer durch Gewalt.«27 Der Stein, der den Berg hinunterrollt, wird durch Gewalt, also durch eine heteronome Ursache bewegt. Der Steinbock, der den Berg hinunterläuft, strebt nach einem Ziel im Tal. Das angestrebte Ziel – Gras, Wasser, Fortpflanzungspartner, Salzlecke oder was auch immer der Steinbock im Tal interessant finden mag – lässt sich als Intelligibles aus der unmittelbaren Abwärtsbewegung nicht ablesen, sondern kann allenfalls aus dem Kontext seines Verhaltens erschlossen werden.

6.4

Positive Bestimmungen über Prinzipien, statt über Kennzeichen

Die Kennzeichen des Lebendigen erscheinen als zufällig aufgesammelt und unvollständig. Je nachdem, ob Pflanzen, höhere Tiere oder Mikroorganismen untersucht werden, finden sich teilweise abweichende Kennzeichenkataloge oder Gewichtungen. Um diesen Mangel zu beheben, wurde versucht, das Lebendige über Prinzipien zu bestimmen. Der Begriff des Prinzips wurde und wird heterogen verwendet, als Grundlage, Erstes oder Ursprung in der Antike28 bis zu den formalen Prinzipien der Logik oder den Axiomen in der Mathematik. Prinzipien in der Erkenntnistheorie sind zugrundeliegende Begriffe, nach denen ein Besonderes bestimmt und unter ein Allgemeines subsumiert werden kann. Das Allgemeine wäre hier das Lebendige, unter das die einzelnen besonderen Organismen subsumiert werden. Als Prinzip in der Biologie soll dagegen zumeist ein empirisches Merkmal zugleich als zweckmäßig gerichteter Prozess gedacht werden, was ein Widerspruch ist. »Das Bemühen, die Organismen um jeden Preis mit den Mechanismen gleichzusetzen, zwang bereits seit einer Reihe von Jahren viele Naturforscher, ungeachtet des sich immer mehr anhäufenden Tatsachenmaterials, in den lebenden Körpern irgendwelche erstarrten, unveränderlichen, statischen Strukturen zu suchen, damit diese Strukturen auch als eigentliche Träger des Lebens anerkannt werden können.«29 Statische Merkmalskombinationen erweisen sich als untauglich zur Definition des Lebens, denn Leben ist dynamisch, prozessual. So werden empirische Prozesse unter abstrakte Begriffe gefasst, wie Stoffwechsel oder Evolution. Diese werden dann auch als 27

28

29

Aristoteles, Über die Seele, 432 b, S. 82. Der Ausdruck ›Gewalt‹ ist an dieser Stelle missverständlich; Aristoteles meint hier eine heteronome Ursache, die in keiner Verbindung zum Streben oder Meiden steht. Das gewaltsame Erzwingen eines Verhaltens oder sogar einer Handlung wäre dagegen das Erzeugen eines Meidens, also einer Selbstbewegung. Insbesondere bei den Vorsokratikern kam dem Prinzip als Urstoff oft die doppelte Funktion zu, Materiales wie auch das Material Bestimmendes zugleich zu sein; eine ähnliche Doppelung findet sich bei Wuketits. Oparin, Leben, S. 21 f.

6. Positive Definition des Lebens über empirische Kennzeichen?

Prinzipien bezeichnet, oder als kennzeichnende Prinzipien (womit das empirische Moment benannt ist). Merkmale und Prinzipien werden daher teilweise synonym oder für den gleichen Begriff, z.B. Stoffwechsel, verwendet.

6.4.1

Mohr: Empirisch vorfindliche Prinzipien

Der Begriff des Prinzips anstelle des Kennzeichens wird vor allem dort gewählt, wo ein empirisches Kennzeichen auf ein zugrunde liegendes Intelligibles verweist. »G. Schaefer entwickelt 1990 als einen Vorschlag für die Lehrpläne zum Biologieunterricht eine Liste von zwölf ›universellen Lebensprinzipien‹. Diese sollen nicht nur die materielle Seite des organischen Lebens abdecken, sondern auch seelische und soziale Aspekte berücksichtigen und außerdem ›die fundamentale Polarität (innere Widersprüchlichkeit), die allem Leben innewohnt‹ zum Ausdruck bringen.«30 Diese Prinzipien bestehen so aus kontradiktorischen Paaren wie ›Ordnung/Unordnung‹, ›Grenzöffnung/Grenzschließung‹, ›Bedeutungsbildung/Bedeutungsabbau‹ usf., was im ersten genannten Prinzip allgemein als ›Polarität‹ gefasst wird. Dass hier nicht von Kennzeichen oder einem Komplex empirischer Funktionen geredet wird, sondern von Prinzipien, ist vermutlich eher ein Hinweis auf den Mangel der exakten Anwendbarkeit zur Identifizierung belebter Strukturen geschuldet und wird dem klassischen Begriff des Prinzips sicherlich nicht gerecht. Diese Prinzipien sind offenkundig weder systematisch entwickelt noch treffen sie ausschließlich auf Belebtes zu, sondern öffnen eher einen assoziativen Raum, in dem die Schwierigkeiten einer Definition des Lebendigen betrachtet werden können sollen. Ein weiterer wichtiger Autor, der Prinzipien des Lebendigen formulierte, die sich heute noch in Lehrbüchern wiederfinden, ist Hans Mohr. In seinem Aufsatz Das Gesetz der Biologie stellt er sechs Prinzipien des Lebendigen als Gesetze der Biologie vor. Diese Verbindung von Gesetz und Prinzip verweist einerseits auf eine Allgemeingültigkeit, die andererseits jedoch keine zwingende Notwendigkeit einschließt: »Als ›Gesetze‹ bezeichnet man besonders wichtige31 und mehr oder minder allgemein verbindliche Eigenschaften der theoretischen Systeme. Die allgemeinsten Gesetze kann man ›Prinzipien‹ nennen.«32 Aufgrund der Komplexität lebendiger Systeme müsse die Biologie nach Mohr Gesetze formulieren, »die in der Physik nicht benötigt werden.«33 Dieser Komplexität sei 30

31 32

33

Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie, Artikel: Leben, S. 445. Vgl. Gerhard Schaefer, »Die Entwicklung von Lehrplänen für den Biologieunterricht auf der Grundlage universeller Lebensprinzipien«, in: Der mathematische und naturwissenschaftliche Unterricht, Bd. 43, Köln 1990, S. 471-480, S. 472. Einen Maßstab dafür, wodurch eine Eigenschaft sich als ›besonders wichtig‹ auszeichnet, liefert Mohr hierbei allerdings nicht. Hans Mohr, »Das Gesetz in der Biologie«, in: Robert Heiß (Hg.), Das Gesetz in den Wissenschaften, Freiburg i.Br. 1965, S. 23-49, S. 29. (Künftig zitiert: Mohr, Gesetz). Zu Gesetzen in der Biologie vgl. Kapitel 10. Mohr, Gesetz, S. 32.

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Dialektik des Lebendigen

es ebenfalls geschuldet, dass die genannten Prinzipien nur ›mehr oder minder allgemein verbindlich‹ seien. Entsprechend könne auch keine Vollständigkeit der Prinzipien angegeben werden. So nennt er bewusst nur einige dieser allgemeinsten Gesetze des Lebendigen: »1. Das Prinzip der Entwicklung […] 2. Das Prinzip: {Delta G ungleich 0}. Ich möchte damit sagen, daß lebendige Systeme sich grundsätzlich nicht im thermodynamischen Gleichgewicht befinden […]. Die Ausschaltung des Prinzips {Delta G ungleich 0} führt zum ›Tod‹. […] 3. Das Prinzip der Struktur: Lebendige Systeme […] müssen […] als hochgradig strukturierte und kompartimentierte Systeme angesehen werden. […] 4. Das Prinzip der Regulation: Lebendige Systeme zeigen die Erscheinung der Zweckmäßigkeit. […] 5. Das Prinzip der Vererbung […]. 6. Das Prinzip der enzymatischen Katalyse: Die biochemischen Vorgänge in den lebendigen Zellen werden generell durch Biokatalysatoren, die man Enzyme nennt, reguliert. […] Damit hätten wir einige Prinzipien der Biologie kennengelernt.«34 Die von Mohr gefundenen Prinzipien sind offenbar keine, denn das Leben kann nach ihnen nicht zu einem geordneten Ganzen der Erkenntnis bestimmt werden, es hat in ihnen nicht seinen zureichenden Grund. Seine ›Prinzipien‹ erweisen sich ihrerseits als bloße Kennzeichen, hinter denen sich ein zugrundeliegendes Prinzip nur vermuten lässt, wobei empirische Merkmale und intelligible Voraussetzungen – wie die teleologische Zweckmäßigkeit – hier bunt gemischt sind. Mit deutlichem Bezug auf Mohr nennt Franz Wuketits »die wichtigsten Eigenschaften (Merkmale) lebendiger Systeme […]: a) Hierarchische Organisation […]. b) Stoff- und Energieaustausch […]. c) Thermodynamisches Ungleichgewicht […]. d) Ordnungsaufbau […]. e) Selbstregulation […]. f) Selbstreplikation […]. g) Zweckmäßigkeit«35 . Diese Eigenschaften oder Merkmale seien allen Lebewesen gemeinsam und dadurch ›biologische Allsätze‹ oder eben Prinzipien des Lebendigen. Als empirisch nachweisbare Eigenschaften, die zugleich Zugrundeliegendes eben dieser Eigenschaften sein sollen, kommt den Prinzipien des Lebendigen die doppelte Funktion zu, empirisches Material und intelligible Ursache dieses Materials zugleich sein zu müssen, was zu einem in sich widersprüchlichen Begriff führt. Und dennoch sind die abstrakt gefassten reflexiven Prozesse, die hier als kennzeichnende Prinzipien des Lebens benannt werden, im Gegensatz zu anderen Realdefinitionen mehr als eine zufällige Zusammenstellung aufsummierter Merkmale. Thermodynamisches Ungleichgewicht und Regulationsfähigkeit, Biokatalysierung und Entwicklung hängen offenbar zusammen; hochgradige Strukturiertheit, Fortpflanzung und Vererbung sind notwendig aufeinander verwiesen. Damit sind sie keine eigenständigen Bestimmungen, aus denen sich ein Begriff des Lebendigen folgern ließe, sondern verweisen vielmehr auf das Leben als das ihnen gemeinsam zugrunde liegende Prinzip. Christiane NüssleinVolhard formulierte in einem Statement: »Leben erzeugt komplexe geordnete Strukturen entgegen der Entropie, nach der alle Systeme ›von selbst‹ dem Zustand größtmög34 35

Mohr, Gesetz, S. 34 ff. Franz M. Wuketits, Biologische Erkenntnis: Grundlagen und Probleme, Stuttgart 1983, S. 177 f. Vgl. auch ebd. S 118. (Künftig zitiert: Wuketits, Biologische Erkenntnis).

6. Positive Definition des Lebens über empirische Kennzeichen?

licher Unordnung entgegenstreben.«36 In dieser Formulierung ist das Leben selbst das Prinzip, aus dem die Kennzeichen des Lebendigen folgen, es wird als Grund und nicht als Folge seiner Kennzeichen bestimmt. Das Leben erzeuge so Kennzeichen, nach denen wir es dann erkennen können. Doch auch in dieser Formulierung bleiben streng genommen die identifizierten Kennzeichen des Lebendigen, wie etwa eine geordnete Struktur entgegen der Entropie zu bilden, zufällig, solange sie nicht aus dem Begriff des Lebens selbst deduziert werden können.

6.4.2

Die DNA als materiell-ideelles Prinzip

»Ohne DNA gäbe es kein Leben«37 lernen schon Kinder im Was ist Was?. Die Entstehung der DNA ist eine der Hauptfragen der chemischen Evolution.38 Als Informationsträger organisierter lebendiger Strukturen hat die DNA, seit Oswald Avery ihr 1943 die Übermittlung von Erbinformationen zuschreiben konnte,39 vom Schulbuch bis zur Fachpublikation eine zentrale Stellung in der Beschreibung des Lebendigen, da sie sich tatsächlich in allen Organismen findet. So lag es nahe, die DNA als zentrales oder wesentliches Merkmal des Lebendigen anzunehmen. Begründungen, welche die DNA als wesentliches qualitatives Merkmal des Lebendigen benennen, haben zunächst wieder den bekannten Mangel, dass sie ein zufälliges empirisches Merkmal, welches am Lebendigen gewonnen wurde, rückwirkend zum ausschließenden Prinzip erklären.40 Der Schluss: ›Lebendiges hat, wie wir feststellen konnten, eine DNA, also ist alles, was keine DNA hat, nicht lebendig.‹ setzt das zu Bestimmende voraus und ist somit zirkulär. Wie Crusius das Merkmal der Eigenbewegung vom Lebendigen abzog, es als wesentlich bestimmte und hierüber die Pflanzen aus dem Reich des Lebendigen ausschloss, so werden über die DNA als wesentliches Kennzeichen RNA-Viren als unbelebt definiert – oder über die Hilfsannahme, die RNA sei als Informationsträger ein zureichendes DNA-Äquivalent doch wieder dem Bereich des Belebten zugerechnet.41 Hier deutet sich ein tiefgreifenderes Problem an: Es bleibt unklar, ob das Material oder die ihm zugeschriebene Funktion der DNA, Informationsträger der organischen Organisation zu sein, als wesentliches Merkmal des Lebendigen angenommen wird. In der Regel wird zwischen beidem nicht getrennt. Die DNA eigne sich darum als bestimmendes Kennzeichen des Lebendigen, weil sie als materieller Informationsspeicher das Prinzip darstelle, nach dem der Organismus seine Lebensfunktionen ausübe. Als Bauplan für den funktionierenden Organismus vorgestellt ist die DNA so nicht nur Material, sondern zugleich bestimmendes Prinzip. Das intelligible Prinzip des Lebens als Bestimmendes des Prozesses seines Wachstums, Stoffwechsels, Verhaltens etc. wird als 36 37 38 39 40 41

Christiane Nüsslein-Volhard in einem Interview mit Andreas Sentker: »Evolution findet statt«, in: DIE ZEIT, 27.03.2008, S. 43. https://www.wasistwas.de/archiv-wissenschaft-details/d-n-a.html (Zugriff 20.2.2022). Vgl. Kapitel 5.1.4.1. Zunächst wurde durch Avery nur nachgewiesen, dass die Transformation von Bakterien auf der DNA beruht und nicht, wie damals angenommen, auf Proteinen. Vgl. auch Esfeld/Sachse, Kausale Strukturen, S. 143. Vgl. Kapitel 5.1.4.2. und Kapitel 9.2.1.

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Dialektik des Lebendigen

im Material der DNA materiell fixiert vorgestellt.42 Da die DNA physikalisch betrachtet bloßer Stoff ist, dessen formgebende Funktion des organisierten Lebensprozesses ihm nicht als materielle Eigenschaft anhängt, kann beispielsweise die empirische Unterscheidung zwischen tot und lebendig oder zwischen Organismus und seinen Stoffwechselprodukten nicht über dieses Merkmal geleistet werden. Als Stoff ist die DNA kein Prinzip des Lebendigen, sondern eine Doppelhelix aus Basenpaaren. Als solche ist sie keine hinreichende, vielleicht nicht einmal notwendige Bedingung des Lebens. Die DNA soll jedoch das Prinzip des Lebendigen sein, indem in ihr die intelligible teleologische Funktion liege, Bauplan des Organismus zu sein. Doch diese Funktion ist nicht mit dem Material identisch. Man kann die DNA ›entschlüsseln‹, also die Reihenfolge der Basenpaare in jedem Gen angeben, aber man findet hier nur Basenpaare und weder einen Bauplan, noch ein Projekt oder ein Programm.43 »Der Bauplan ist nicht ein materielles Ding, sondern die Einheit der immateriellen Beziehungen zwischen den Teilen eines Tierkörpers. Wie die Planimetrie nicht die Lehre eines materiellen, mit Kreide an die Tafel geschriebenen Dreiecks ist, sondern die Lehre der immateriellen Beziehungen zwischen drei Winkeln und drei Seiten einer geschlossenen Figur […], [g]enau so behandelt die Biologie die im Bauplan vereinigten immateriellen Beziehungen der materiell gegebenen Teile eines Körpers, um ihn in der Vorstellung zu rekonstruieren.«44 Diese Rekonstruktion in der Vorstellung, zu der ein für uns lesbarer Bauplan die Anleitung gibt, ist genau dasjenige, was eine vernunftlose Struktur nicht leisten kann. Mit der DNA wird also der Sache nach kein empirisches Merkmal zum Kennzeichen, sondern ein immaterielles Vermögen zum Prinzip des Lebendigen erklärt. Der Schein einer Grenze der Bestimmung des Lebendigen über die DNA zu einer metaphysischen Bestimmung des Lebens besteht lediglich darin, die Differenz zwischen dem Material eines Speichermediums und dem Gehalt der gespeicherten Information zu leugnen.

6.4.3

Toepfer: Kombinierte Prinzipien

Aus der historischen Tatsache, dass sich kein Prinzip des Lebens zur Bestimmung und Begrenzung des Gegenstandsbereiches der Biologie durchsetzen konnte, schloss man, dass ein solches wohl nicht zu finden sei. Nicht aus der Entwicklung des Begriffs, sondern aus der Entwicklung der Biologie lasse sich folgern, dass es kein Prinzip des Lebens gebe. So heißt es in Toepfers Aufsatz Der Begriff des Lebens von 2005: »Die Entwicklung im 20. Jahrhundert zeigte, dass nicht ein einziges abstraktes Prinzip angegeben werden konnte, das allein Lebewesen charakterisiert.«45 42

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In den gängigen Phantasien der alienbewohnten Science-Fiction-Literatur wie auch in den hiervon nur graduell zu unterscheidenden Forschungen zu künstlichem Leben ist das wesentliche Merkmal der Lebendigkeit ein die Selbstreplikationsfunktion regelndes DNA-Äquivalent. Vgl. Kapitel 9.3. Jakob von Uexküll, Die Lebenslehre, Potsdam/Zürich 1930, S. 9 f. Georg Toepfer, »Der Begriff des Lebens«, in: Ulrich Krohs/Georg Toepfer (Hg.), Philosophie der Biologie, Frankfurt a.M. 2005, S. 157-174, S. 163. (Künftig zitiert: Toepfer, Begriff des Lebens).

6. Positive Definition des Lebens über empirische Kennzeichen?

Toepfers eigener Definitionsvorschlag möchte zur hinreichenden und ausschließlichen Bestimmung des Lebendigen drei Prinzipien miteinander kombinieren in einer Weise, die diese Prinzipien nicht nebeneinander stellt, sondern ihren wechselseitigen, hierarchischen Bezug und ihr Ineinandergreifen deutlich macht (und sie so in gewisser Weise zwar nicht zu einem Prinzip, aber zu einer Funktionseinheit verbindet). Das Lebendige sei ihm zufolge derart organisierte Materie, dass sie sich erhalte und verändere. Die Organisation sei hierbei der grundlegende Begriff, der durch die Prinzipien der Regulation und der Evolution näher bestimmt werde. Hierin seien Selbstorganisation, Selbsterhaltung und Erhaltung der Art durch Fortpflanzung – also des Lebens selbst über die Dauer des einzelnen Organismus hinaus – sowie die Entwicklungsmöglichkeiten neuer Lebensformen enthalten. Toepfers Definitionsvorschlag lautet darum: »Leben ist eine Seinsweise von (Natur-)Gegenständen, die sich durch Organisation, Regulation und Evolution auszeichnet.«46 Dieser Definition geht eine Kritik anderer Bestimmungen des Lebendigen vorher, denen Toepfer nachweisen kann, dass sie nicht hinreichend sind, weil die einzelnen Merkmale sich auch in der unbelebten Natur finden lassen. Nun stellt sich die Frage, ob sein Vorschlag zur Bestimmung des Lebendigen denselben Mangel aufweist, wie die oben vorgestellten Theoreme. Nicht nur Organisation und Regulation findet sich ihm zufolge in der unbelebten Natur; unter Berufung auf Cairns-Smith47 und Dawkins48 weist er auch auf mineralische Vorgänge hin, die sich als evolutionär interpretieren ließen: »Eine lebewesenähnliche Fortpflanzung und selbst Vererbung und Mutationsfähigkeit zeigen unter bestimmten Umständen Kristalle.«49 Zugleich sei der Prozess der Evolution auch darum kein hinreichendes Merkmal des Lebendigen, weil sich zwar die Wahrscheinlichkeit, nicht aber die Notwendigkeit evolutionärer Veränderung beweisen lasse. Das grundlegende Prinzip der Organisation ist nach Toepfer als notwendige Bedingung der Regulation und Evolution vorausgesetzt – ohne Organisiertheit wären sie bloße Veränderungen. Indem die Organisation so reguliert sei, dass sie sich erhalte und also nicht willkürlich, sondern evolutionär verändere, wird erst mit der Evolution die hinreichende Bedingung gegeben. Doch gerade weil auch Evolution hier nicht als Prinzip im strengen Sinne, sondern als ein empirisches Phänomen, nämlich als eine Kombination sich zeitlich verändernder Merkmale gleichartiger, im Entstehungsprozess ursächlich aufeinander bezogener Objekte begriffen wird, wird auch Toepfers Definition des Lebendigen nicht das halten können, was er sich von ihr für die Naturphilosophie und die Biologie verspricht. Die Evolution ist eben (wie Toepfer weiß) keine ›Tatsache‹ (wie Kutschera behauptet),50 also auch kein ›Merkmal‹ des Lebendigen. Und dies erweist sich nicht nur in der Reflexion, sondern zeigt sich auch im Material. Das Phänomen der Formveränderung im Laufe seiner Existenz, das die Evolution erklärt und beschreibt, betrifft nicht alle Lebensformen – bestimmte Bakterien haben sich seit

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Toepfer, Begriff des Lebens, S. 169. Vgl. Cairns-Smith, Alexander Graham, »The origin of life and the nature of the primitive gene«, in: Journal of Theoretical Biology 10 (1965), S. 53-88. Vgl. Richard Dawkins, The Blind Watchmaker, Harlow 1986. Toepfer, Begriff des Lebens, S. 162 f. Vgl. Ulrich Kutschera, Tatsache Evolution. Was Darwin nicht wissen konnte, München 2009.

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Dialektik des Lebendigen

der Entstehung des Lebens im Archaikum vor ca. 3,5-4 Milliarden Jahren nicht wesentlich (d.h. nicht zu neuen Arten) verändert.51 ›Lebende Fossilien‹52 wie der Quastenflosser haben ihre evolutionäre Entwicklung (zumindest bislang) eingestellt; und doch ergibt sich hieraus kein Problem, sie als Lebewesen zu identifizieren. Denn Evolution lässt sich begrifflich zwar als für das Belebte möglich und empirisch in fast allen Fällen als wirklich, aber nicht als notwendig bestimmen. Wenn durch Zufall oder technischen Eingriff alle Arten in den kommenden Jahrmillionen ihre jetzige Form beibehielten (was sich erst ex post überhaupt feststellen ließe), würden wir die einzelnen Exemplare dennoch zweifellos lebendig nennen.

6.5

Warum die Realdefinition scheitert: Die Dialektik von Akzidenz und Wesen

In der Definition des Lebens soll das ihm Wesentliche begrifflich gefasst werden. Das Wesen ist ein Transzendentales, ein als ihre ermöglichende Bedingung von der Empirie Losgelöstes, doch kein Transzendentes, da es nicht ohne Bezug auf die Empirie sein kann. Als diese transzendentalphilosophische Bestimmung der reinen spekulativen Vernunft ist das Wesen keine empirische Eigenschaft, mithin keine Akzidenz; darum kann aus der bloßen Erscheinung nicht auf das Wesen geschlossen werden. Zugleich wird z.B. ein Hase als Erscheinung in der Sinnenwelt als Hase erkannt, indem er über ein Schema aufgrund bestimmter Akzidenzien und Propria als Hase identifiziert wird. Ein Hase zu sein ist das Wesen des Hasen, und darum bleibt er ein Hase, auch wenn ihm kennzeichnende Akzidenzien fehlen oder abhandenkommen. Was erscheint, kann kein Intelligibles sein, sondern nur ein Materielles, der Hasenkörper, über den wir neben allen Akzidenzien das Wesentliche erkennen. Nur so ist es überhaupt möglich, Gegenstände mit teilweise verschiedenen Akzidenzien doch als wesentlich gleich unter einen empirischen Begriff zu subsumieren. Dies zeigt den Widerspruch des Wesensbegriffes: Das Wesen erscheint nicht in den Akzidenzien und kann doch nur aufgrund von Akzidenzien und Propria einem Ding zugeordnet werden. »Etwas als Wesen eines Dinges bezeichnen heißt aussagen, daß es sein eigentümliches Sein in nichts Anderem habe.«53 Analog zum Substanzbegriff ist das Wesen das Beharrliche an einem Ding, das seine Bestimmtheit durch alle Veränderungen der Ak-

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53

Vreeland entdeckte sogar ein immer noch lebendiges bzw. reanimiertes 250 Millionen Jahre altes Bakterium, das sein Forscherteam bacillus permians nannte. Vgl. R. H. Vreeland/W. D. Rosenzweig/ D. W. Powers: »Isolation of a 250 million-year-old bacterium from a primary salt crystal«, in: Nature, 407, 2000, S. 897-900. Als ›lebende Fossilien‹ werden eine ganze Reihe von Arten bezeichnet, die sich über einen evolutionshistorisch längeren Zeitraum hinweg nicht verändert haben (z.B. Lungenfische, Brückenechsen oder Pfeilschwanzkrebse). Aristoteles, Metaphysik, Buch IV, Kapitel 4, 1007 a, in: Aristoteles, Philosophische Schriften, Band 5, Hamburg 1995, S. 72.

6. Positive Definition des Lebens über empirische Kennzeichen?

zidenzien in der Zeit hindurch ausmacht.54 Organismen verändern sich i.d.R. permanent, sowohl individuell als auch in der Naturgeschichte der Arten. Eine Veränderung kann es nur geben, wenn ein Beharrliches gedacht wird, an dem die Veränderung statthat. Die Evolution zum wesentlichen Prinzip des Lebens zu erklären, kehrt dieses Bedingungsverhältnis unzulässig um, indem die Veränderlichkeit selbst hier ein Beharrliches stiften soll. Doch wenn die Veränderung selbst zum Wesen erhoben wird, dann gibt es kein Zugrundeliegendes mehr, das sich verändert. Das Prinzip des Lebens ist seinen Kennzeichen logisch vorausgesetzt, also nicht mit ihnen identisch, und kann doch nur in ihnen erscheinen, da Leben kein Begriff a priori der reinen Vernunft ist und Lebewesen uns nur als Erscheinungen gegeben sind. Kant behandelt diese Schwierigkeit implizit, indem er zwischen logischem Wesen und Realwesen unterscheidet.55 Das logische Wesen wird dieser Unterscheidung zufolge über die Akzidenzien bestimmt und über die spezifische Differenz. Das Realwesen sei dagegen der innere Grund alles dessen, was einem gegebenen Ding notwendig zukomme und unerkennbar. Dieses Realwesen als unbekannte Ursache lässt sich nur negativ bestimmen. Es muss angenommen werden, aber es kann, da es nicht in den Akzidenzien erscheint und auch nicht Summe der Akzidenzien ist, sondern als Grund der Akzidenzien hinter ihnen stehen muss, nicht positiv gefasst werden. So setzt das logische Wesen das Realwesen voraus, aber das Realwesen kann nur negativ über den Mangel des logischen Wesens bestimmt werden. Als Bestimmungen des bloß logischen Wesens des Lebens bleiben alle Definitionen so notwendig mangelhaft. Problematisch bleibt, wie aus einem negativen Wesensbegriff positive Bestimmungen entspringen können. In der Unterscheidung zwischen logischem Wesen und Realwesen stellt sich so bei Kant die Antinomie des Wesensbegriffs dar. Zwar fasst Kant selbst den Wesensbegriff nicht dialektisch, wie er sich bei Hegel findet, doch zeigt sich bei ihm schon dessen Widerspruch, indem es ihm nicht gelingt, das logische Wesen in das Realwesen aufzulösen oder umgekehrt. Das Wesen ist auch nach Hegel als philosophische Kategorie nur negativ bestimmbar, denn Kategorien lassen sich nicht wie empirische Begriffe durch Realdefinitionen erfassen, sondern nur durch Reflexion.56 Da das Wesen als reflexives unabhängig von den empirischen Akzidenzien ist, stellt sich die Frage, wie überhaupt eine Wesensdefinition von irreflexiven Naturgegenständen57 geleistet werden können soll. Dies erforderte einen reflexiven Ausdruck für Irreflexives,58 was auf den Widerspruch von gleichzeitiger Bestimmtheit und Bestimmbarkeit der empirischen Naturgegenstände 54

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Vgl. hierzu Kant, KrV, B 183. Dort heißt es: »Das Schema der Substanz ist die Beharrlichkeit des Realen in der Zeit, d.i. die Vorstellung desselben, als eines Substratum der empirischen Zeitbestimmung überhaupt, welches also bleibt, indem alles andere wechselt.« Vgl. Immanuel Kant, Logik, Kants Werke Bd. IX, Berlin 1968, S. 61. Hegel schreibt in diesem Zusammenhang von der Substanz als Negativität, welche die Akzidentalität in sich begreife (vgl. Hegel, Logik II, S. 220 f). Da das sachliche Verhältnis für den hier zur Frage stehenden Kontext analog ist, wird an dieser Stelle nicht die begriffliche Unterscheidung von Wesen und Substanz bei Kant und Hegel erörtert. Ausnahme ist der Mensch, der als vernunftbegabtes Sinnenwesen ein reflexiver Naturgegenstand ist. Vgl. Christine Zunke, Subjekt der Würde, Köln 2004, S. 125. Vgl. Hegel, Logik II, Lehre vom Wesen, dort u.a. Die äußere Reflexion, S. 28 f.

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Dialektik des Lebendigen

führt und seine dialektische Vermittlung erfordert.59 Der sinnlich erscheinende Naturgegenstand muss als der Reflexivität des Denkens gemäß gedacht werden. So ergibt sich ein An-sich-Sein dieses Gegenstandes, aufgrund dessen sich ›wesentliche Akzidenzien‹ von bloß ›akzidentellen Akzidenzien‹ unterscheiden lassen müssen, da sie als unterschieden gesetzt sind. Die ›wesentlichen Akzidenzien‹ werden als reflexives Ansich-Sein gefasst, das unabhängig vom Wechsel der ›akzidentiellen Akzidenzien‹ besteht. Die ›wesentlichen Akzidenzien‹ entsprechen in der Taxonomie der spezifischen Differenz, z.B. die einziehbaren Krallen der Felidae. Eine bloß ›akzidentelle Akzidenz‹ wäre hier z.B. die Fellfarbe. Aus dieser Bestimmung des Wesens als unabhängig von äußerer Bestimmtheit folgt, dass es als unabhängig von der Bestimmung durch das Denken gedacht werden muss. Die Naturgegenstände müssen selbständig gegen das sie erkennende Subjekt sein, sonst wäre kein Material gegeben, das sich spezifisch erkennen ließe. Wären die Gegenstände nur das, als das sie bestimmt würden, ohne unabhängige Bestimmtheit, wären sie bloß ausgedachte. Hier liegt der Grund der Antinomie: Indem die Gegenstände als irreflexive Eigenständige angenommen werden, werden sie so notwendig zugleich als An-sich-Seiende, d.i. als reflexive gedacht. Die spezifische Materie äußert ihr Wesen in ihren spezifischen Akzidenzien, ohne jedoch in ihrer Summe aufzugehen. Darum kann die Biologie, wenn sie versucht, das Lebendige über Kennzeichen oder Merkmalskombinationen zu definieren, sich hierüber keinen Begriff des Lebendigen bilden, sondern muss ihn voraussetzen, weil sein Prinzip als transzendentales nicht selbst Erscheinung ist. Der Begriff des Lebendigen, unter den diverse Merkmale und Prozesse sich fassen lassen – von Eigenbewegung über Stoffwechsel bis Evolution –, lässt sich nicht aus diesen wiederum deduzieren. Die Folgen einer solchen Realdefinition sind darum nicht ein klarer Begriff des Lebendigen und eine deutliche Bestimmung des Gegenstandes der Biologie, sondern im Gegenteil der Verlust des Begriffs der Lebendigkeit und damit die Verwischung der Grenze der Biologie. »Die Eintheilung einer Wissenschaft muss erschöpfend sein, d.h. es muss keinen zu ihrem Gebiet gehörigen Gegenstand geben, der nicht principiell durch sie bestimmt würde. Wie sie selber, im Verhältnis zu den übrigen Wissenschaften, eine feste Grenze haben muss, so auch müssen die Unterschiede innerhalb ihrer selbst feste, klare Unterschiede sein. Dies können sie aber nur sein, wenn sie nothwendige sind. Nothwendige aber sind sie sie nur, wenn sie sich als ein Schluss aus dem Begriff der Idee ergeben.«60 Die Gegenstandsbestimmung der Naturwissenschaft und damit auch der Biologie erweist sich darum als Aufgabe der Naturphilosophie.

59

60

Vgl. Christine Zunke, »Die Objektivität der Natur«, in: Alia Mensching-Estakhr/Michael Städtler (Hg.), Wahrheit und Geschichte. Die gebrochene Tradition metaphysischen Denkens. Festschrift zum 70. Geburtstag von Günther Mensching, Würzburg 2012, S. 275-290. Karl Rosenkranz, Hegels Naturphilosophie, Hildesheim/New York 1979, S. 132 f.

6. Positive Definition des Lebens über empirische Kennzeichen?

6.6

Das implizite Wissen darum, was Leben sei, ist jeder Kritik seiner Definitionen vorauszusetzen und lässt auf ein transzendentales Prinzip schließen

Das Bewusstsein des Mangels einer hinreichenden Definition von Lebewesen zieht sich durch alle Versuche der Biologie, eine solche Definition zu liefern. Die Hinweise darauf, dass Selbstbewegung, Selbsterhaltung, Selbstorganisation etc. keine exklusiven Merkmale der Lebewesen sind, sondern auch in nicht-belebten Strukturen vorkommen, setzt implizit das Wissen darum voraus, was ein Lebewesen ist und was nicht. Allein die Möglichkeit, eine gegebene Definition des Lebendigen auf einen möglichen Mangel hin untersuchen zu können, weist darauf hin, dass das Vorwissen um das, was Leben ist, als unhinterfragter Maßstab gilt. Dies lässt auf ein erkenntnistheoretisches Prinzip schließen, nach dem unsere Urteilskraft in Belebtes und Nichtbelebtes zu unterscheiden weiß. Wir wissen also offenbar, was wir mit ›belebt‹ meinen, und können darum an diesem Vorwissen prüfen, ob die gegebenen Definitionen des Lebens auch hinreichend und ausschließlich dasjenige treffen, was wir als ›belebt‹ bezeichnen. Alle üblichen Kataloge von Kennzeichen des Lebendigen sind mehrfach als unzureichend kritisiert worden – zumeist, weil auch Unbelebtes (Kristalle, Wasserkreislauf, Artefakte etc.) zumindest einige dieser Kennzeichen aufweist und es andersherum Belebtes gibt, das nicht alle genannten Merkmale in sich vereint. Damit geht die Gefahr einher, das Lebendige nicht als einheitlichen Gegenstand bestimmen zu können: »Eine Liste heterogener Eigenschaften, die in unterschiedlichen Kombinationen vorkommen, wirft die Frage auf, warum gerade diese Eigenschaften zusammengefasst werden sollen, um über sie eine Gegenstandklasse zu definieren. Das Lebendige erschiene so als ein willkürlich abgegrenztes Phänomen, dem kein scharf umrissener Gegenstandsbereich in der Natur entsprechen muss.«61 Hier stößt man auf ein grundsätzliches Problem der Definition des Lebendigen: Das implizite Prinzip der Erkenntnis, das schon vor den Erkenntnissen der modernen Biologie eine weitgehend sichere Unterscheidung zwischen belebten und unbelebten Gegenständen erlaubte, enthält die Evolution so wenig wie andere äußere Merkmale konkreter lebendiger Wesen. Denn dieses Prinzip, als Bedingung der Möglichkeit dafür, Lebewesen zu erkennen, stellt diese so vor, als ob sie eine innere Zweckmäßigkeit als Grund ihrer Organisation in sich gesetzt hätten; wovon dann die Evolutionstheorie bloß den Mechanismus vorstellt, nach welchem die konkreten Formen dieser Organisation sich naturgeschichtlich wandeln.

6.7

Wie seine innere Zweckmäßigkeit, so muss auch die Einheit des Organismus denkend vorausgesetzt werden

Eine weitere Schwierigkeit für die Biologie, das Leben nach seinem eigenen Prinzip zu fassen, liegt darin, dass die Einheit des Organismus weder empirisch vorliegt, noch 61

Toepfer, Begriff des Lebens, S. 163.

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Dialektik des Lebendigen

sich aus einer Kausalfolge ergibt, sondern denkend vorausgesetzt werden muss, um erkannt werden zu können. Daher »sind die Versuche der praktischen Biologie, kennzeichnende Kriterien des Lebens definitorisch einzuholen, Rückzugsgefechte von der eigentlichen Problematik, die außerhalb des naturwissenschaftlichen Kerngeschäftes in der theoretischen Biologie verhandelt werden.«62 Die Differenz zwischen belebter und nicht belebter Natur erscheint nämlich gerade nicht als ein Bruch in der physikalischen Gesetzmäßigkeit. Wenn die Biologie also an der Kausalität des nexus effectivus als einzigem naturwissenschaftlichem Erklärungsprinzip festhält, dann entgeht ihr das Spezifische des Lebendigen. »Wenn der Betrachter von den physikalisch orientierten Wissenschaften aus auf das Leben zugeht, kann er dessen Besonderheit nur als Scheitern seiner Erklärungsweise erfahren; ein Scheitern, das aber als bestimmte Negation aufgefaßt werden muß, also den Beginn einer neuen Sphäre der Betrachtung verspricht. Er scheitert aber nicht in dem Sinne, daß die Kausalprozesse, wenn sie von der anorganischen Natur aus in den Organismus hinein verfolgt werden, plötzlich aufhören, abbrechen oder dergleichen. Vielmehr gehen die Kausalprozesse ohne grundsätzliche Behinderung durch den Organismus hindurch und wieder hinaus in die anorganische Natur, ohne daß das Leben bei dieser Verfolgung überhaupt in Erscheinung tritt. Wer nach einer äußeren Ursache fragt, wird immer eine finden. Denn was in der Zeit ist, dem ging auch eine Zeit voraus, und in ihr läßt sich etwas als Ursache ansehen. Und wenn er keine findet, so wird er auf den noch nicht weit genug fortgeschrittenen Stand der Forschung verweisen. Die Theorie der physikalischen Erklärbarkeit des Lebens ist unwiderlegbar. In diesem Sinne ist das Leben nicht Grenze für eine ›streng naturgesetzliche Rekonstruktion‹ des Lebens. Es ist Grenze in dem Sinne, daß es sich vor bestimmten Fragen zurückzieht und so gar nicht erscheint.«63 Dass alle Naturforschung sich auf die Erklärung nach dem Kausalprinzip, dem allgemeinsten Naturgesetz a priori beschränkt oder auch beschränken muss, hat sowohl wissenschaftshistorische wie epistemologische Gründe.64 Nun scheint es, dass durch die explizite Annahme eines weiteren, nämlich teleologischen Prinzips nicht nur dieses neue Prinzip begründet, sondern zugleich auch das Kausalprinzip in Frage gestellt werden müsste.65 Die Angst der Naturwissenschaften vor der Teleologie hat hierin ihren Kern. Zugleich scheint es, dass die ermöglichende Bedingung, einen Organismus zu erkennen und ihm in Folge bestimmte empirische Kennzeichen zuzuordnen, durch alle Versuche einer Realdefinition hindurch offenbar darin besteht, ihn als teleologisch auf sich bezogene Einheit seiner spezifischen Organisation zu begreifen. Es muss also 62

63 64 65

Matthias Herrgen, »›Leben‹ bei Darwin und im Darwinismus«, in: Petra Bahr/Stephan Schaede (Hg.), Das Leben. Historisch-systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs, Bd. 1, Tübingen 2009, S. 45-60, S. 48. Thomas Kalenberg, Die Befreiung der Natur, Hamburg 1997, S. 311. Vgl. Kapitel 1. Zugleich wird im Setzen eines anderen Prinzips neben der Kausalität von Ursache und Wirkung offenkundig, dass auch Letzteres begründet werden muss, was die epistemologische Unsicherheit und in Folge die Ablehnung des teleologischen Prinzips verstärkt. Vgl. Thomas Kalenberg, Die Befreiung der Natur, Hamburg 1997, S. 292.

6. Positive Definition des Lebens über empirische Kennzeichen?

auch 150 Jahre nach Darwin noch nach der teleologischen Form als Naturprinzip und damit nach einem Sprung im Erklärungsprinzip gefragt werden. »Im Setzen der Einheit oder in der Anerkennung eines Gegenstandes als diese Einheit, d.h. als lebendiges Wesen, liegt allerdings ein Wechsel in der die Objektivität konstituierenden Kategorie vor. Solch ein Wechsel wird heute als Sprung im Erklärungsprinzip angesehen«66 . Diesen Sprung im Erklärungsprinzip vom nexus effectivus zum nexus finalis möchte die moderne Biologie seit jeher gern vermeiden und hat hierfür verschiedene Strategien und Begrifflichkeiten entwickelt. Eine der erfolgreichsten ist das Reden von teleonomischen statt von teleologischen Strukturen.

66

Thomas Kalenberg, Die Befreiung der Natur, Hamburg 1997, S. 292.

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7. Von der Teleologie zur Teleonomie. Die Integration des nexus finalis in die Biologie »Teleonomie ist ein Wort, das manche Biologen aus Schamhaftigkeit anstelle des Begriffs Teleologie benutzen, um dessen metaphysische Nebenbedeutungen zu umgehen.«1

Für die lineare Kausalität von Ursache und Wirkung (nexus effectivus) fragt der Verstand nach den realen Bedingungen und Folgen eines empirischen Phänomens. Dies ist die Verknüpfung nach realen Ursachen. Für die Einheit unter einem Zweck (nexus finalis) stellt die Vernunft die Verknüpfung von Phänomenen hinsichtlich eines vorgestellten Zieles an, auf das gerichtet sie als ein zusammenhängendes, zweckmäßiges Ganzes beurteilt werden. Dies ist die Verknüpfung nach intelligiblen Ursachen.2 Hierbei wird das Resultat eines realen Prozesses als Grund seiner Realisierung gedacht; der Beginn des zielgerichteten Ablaufs fällt so ideell mit seinem Ende zusammen. Da eine Verkehrung der Zeitverhältnisse von Wirkung und Ursache zwar in der Vorstellung, nicht aber in der Natur möglich ist, hält schon Spinoza die Teleologie für eine menschliche Einbildung und ihre Abbildung auf Naturdinge für anthropomorphistisch und unzulässig.3 Doch wie die zur Erklärung der Organismen unvermeidlich erscheinende Analogisierung mit Artefakten im zweiten Kapitel zeigte, lässt sich dieser Anthropomorphismus nicht ohne weiteres aufgeben. Dass die Verknüpfung der Teile zu einem Ganzen nach dem nexus finalis zur Biologie gehört, als eine besondere Form der Teleologie (in Form der inneren Zweckmäßigkeit), ist wohl ebenso unbestreitbar wie die Schwierigkeiten, die hieraus folgen. Im Fahrwasser der theoretischen Probleme, die aus dem unklaren Verhältnis von Naturkausalität und Zweckbegriff resultieren, sind diverse Begrifflichkeiten entstanden – Zielstrebigkeit, Zielgerichtetheit, Teleonomie etc. –, die

1 2 3

Jaques Nino, »Betrachtungen eines Biologen«, in: Manfred Buhr (Hg.), Kritische Betrachtungen zu Jaques Monods ›Zufall und Notwendigkeit‹, Frankfurt a.M. 1973, S. 72-95, S. 72 f. Vgl. Kapitel 1.3.1. Vgl. Baruch Spinoza, Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt, Otto Baensch (Hg.), Hamburg 1994, S. 42 f., Original: Ethica, ordine demonstrata, Amsterdam 1677.

214

Dialektik des Lebendigen

darauf zielen, den nexus finalis in das durch den nexus effectivus bestimmte System der Naturwissenschaft zu integrieren. Im Folgenden wird gezeigt, wie und warum diese Integrationsversuche scheitern.

7.1

Aristoteles: Die Formursache von Lebewesen ist die Zweckmäßigkeit oder Teleologie4

Aristoteles diskutiert in der Physik ausführlich die bereits in der Antike umstrittene Frage, ob es in der Natur eine Ursache ›Wegen-etwas‹, also eine Zweckmäßigkeit geben könne. Er zeigt auf, dass eine anthropomorphe Sicht auf Prozesse, die sich aus kausaler Naturnotwendigkeit ergeben, irrtümlich den Anschein von Zweckmäßigkeit oder Absicht erwecken können und fragt dann, ob dieser Fehler nicht auch für die übliche Betrachtung der Organe angenommen werden könne. »Es steckt eine Schwierigkeit in der Frage, was denn die Annahme hindern soll, die Natur gehe nicht wegen etwas zu Werke und nicht, weil es besser (so ist), sondern so, wie ›Zeus regnet‹, nicht auf daß er das Getreide wachsen lasse, sondern aus Notwendigkeit: der aufgestiegene Dunst müsse sich ja abkühlen, und abgekühlt werde er zu Wasser und regne so ab; daß das Getreide infolge dieses Ereignisses wachse, sei nur beiläufige Folge; und entsprechend: Wenn jemandem das Getreide auf der Tenne verdirbt, dann regnet es doch nicht deswegen, damit es verdirbt, sondern auch das hat sich als beiläufige Folge ergeben. Was hindert also die Annahme, daß es sich auch mit den (organischen) Teilen der Natur so verhalte, z.B. die Zähne wüchsen mit Notwendigkeit (aus dem Kiefer) heraus, und zwar die vorderen scharf, geeignet zum Abbeißen, die Backenzähne aber breit und (daher) brauchbar zum Zerkleinern der Nahrung, wohingegen dies doch nicht um dessentwillen eintrete, sondern es falle nur so zusammen. Und ähnlich sei es auch mit den übrigen Teilen, in welchen ein ›wegen etwas‹ vorzuliegen scheint. Überall, wo sich nun alles so ergab, als ob es wegen etwas geschehen wäre, da erhielten sich diese (Gebilde), die eben rein zufällig in geeigneter Weise zusammengetreten seien. Wo es sich nicht so ergab, da gingen sie unter und tun es noch«5 . Zunächst fragt Aristoteles mit Bezug auf die Darstellung des Empedokles, ob man auf den Begriff der Zweckmäßigkeit zur Erklärung der organischen Natur nicht verzichten könne und aus bloßer Naturnotwendigkeit diese Gegenstände erklären könnte, so, ›wie Zeus regnet‹ – also ohne Absicht hinsichtlich auf die Folgen für den Menschen, sondern aus bloßer Notwendigkeit heraus, die in der Stoffbeschaffenheit und den Grundkräften der Natur lägen. Die Zweckmäßigkeit wäre so ein bloßer Schein – analog zu

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5

Dieser Abschnitt wurde in leicht geänderter Form bereits veröffentlicht in: Christine Zunke, »Künstliches Leben und ratio perversa. Craig Venter als Newton des Grashalms?«, in: Myriam Gerhard/Christine Zunke (Hg.), Die Natur des Menschen. Aspekte und Perspektiven der Naturphilosophie, Würzburg 2012, S. 73-104. Aristoteles, Physik. Vorlesung über die Natur, in: Aristoteles, Philosophische Schriften, Band 6, Hamburg 1995, Buch II, Kapitel 8, 198b, S. 43 f. (Künftig zitiert: Aristoteles, Physik).

7. Von der Teleologie zur Teleonomie. Die Integration des nexus finalis in die Biologie

dem Schein, der Regen sei eine beabsichtigte Wohltat oder Strafe, wobei sein Nutzen oder Schaden tatsächlich bloß beiläufige Folge sei, da er sich nach seinen eigenen Entstehungsgesetzen richte und Dinge wie Getreideanbau diesen Gesetzen äußerlich und darum ohne Einfluss auf ihn seien. Nun ist aber dem Regen nur bezogen auf etwas ihm Äußeres – Nutzen oder Schaden für die Getreideernte – eine Absicht zu unterstellen, wogegen die Organe ›in geeigneter Weise zusammentreten‹, um einen lebensfähigen Organismus zu bilden. Gäbe es keine Zweckmäßigkeit in der Natur und also auch nicht in den Organismen, dann hätte sich das, was hier als ›Wegen-etwas‹ erscheint, zufällig so in der Natur ergeben. Entsprechend würden sich bloß die zufällig zweckmäßig aufgebauten Organismen erhalten, die zufällig unzweckmäßigen würden untergehen. Was uns heute für eine Analyse, die 350 Jahre vor unserer Zeitrechnung gemacht wurde, erstaunlich hellsichtig erscheint und an Darwins Deszendenztheorie erinnert, wird von Aristoteles nur aufgestellt, um als Unsinn verworfen zu werden: »Es ist jedoch unmöglich, daß es sich auf solche Weise verhalten kann.«6 Sein erster Grund hierfür ist, dass alle Organismen immer zweckmäßig erscheinen, was einen Zufall oder eine Fügung ausschließe. Nach der heutigen Evolutionstheorie hätte sich dieser unwahrscheinliche Zufall nur einmal auf der Erde ereignen müssen,7 da alle Organismen von einer Grundform abstammend erklärt werden können. Für Aristoteles, der von konstanten Arten ausgeht, hätte sich dies jedoch für jede Art zufällig so fügen müssen, was die Unwahrscheinlichkeit potenziert. Er führt weiter an, dass nicht allein die Materialanordnung im Körper ein ›Wegenetwas‹ vermuten lässt, sondern dass auch die Verhaltensweisen von Tieren zweckmäßig seien; er erklärt dies in enger Analogie zur Kunstfertigkeit des Handwerks nach dem nexus finalis.8 Das Frühere hat erst bezogen auf das Spätere, um dessentwillen es getan wird, einen Sinn: »Besonders deutlich wird das bei den übrigen Lebewesen [die nicht vernunftbegabte, also nicht Menschen sind], die weder aus bewußter Kunstfertigkeit noch indem sie vorher untersucht haben oder zu Rate gegangen sind, an ihr Werk gehen. Daher wissen einige die schwierige Frage nicht zu entscheiden, ob mit Verstand oder irgend einer anderen (Fähigkeit) die Spinnen, Ameisen und dergleichen Tiere ihre Arbeit verrichten. Wenn man ein wenig so weitergeht, wird auch bei Pflanzen offenkundig, daß die im Hinblick auf das Ziel nützlichen Vorgänge stattfinden, z.B. (dienen) die Blätter zum Zwecke des Obdachs der Frucht.9 Wenn also auf Grund von Naturanlage 6 7 8

9

Ebd. Vgl. Kapitel 5. Diese enge Analogie als Erläuterung biologischer ›Basiskonzepte‹ durch den Verweis auf Artefakte findet sich aktuell vor allem in Lehrbüchern der Biologie. Vgl. z.B. Roman Remé et al. (Hg.), Natura 11/12 ‒ Biologie für Gymnasien, Niedersachsen G8, Stuttgart 2010, insbes. S. 374 ff. Zu Aristoteles und der ideengeschichtlichen Entwicklung der Organismus-Artefakt-Analogie vgl. Kapitel 2. Dass Aristoteles noch nichts von Photosynthese und anderen heute bekannten Stoffwechselfunktionen wusste, ist hier nicht von Belang. Entscheidend ist, dass er jedes Teil eines Organismus auf seine Funktion hin betrachtet hat, also das Lebewesen im Hinblick auf seine innere Zweckmäßigkeit beschreibt, wie es sich in der Biologie bis heute findet. Ob die konkret von ihm beschriebenen Funktionen dem aktuellen Forschungsstand entsprechen, ist für diese grundlegende Beurteilungsart nach dem Prinzip der Zweckmäßigkeit unerheblich.

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Dialektik des Lebendigen

und wegen etwas die Schwalbe ihr Nest und die Spinne ihr Gespinst baut und die Pflanzen ihre Blätter wegen der Früchte (hervorbringen) und die Wurzeln nicht in die Luft, sondern in den Boden (treiben) der Nahrung wegen, dann ist offenkundig, daß es diese so beschriebene Ursache im Bereich des natürlichen Werdens und Seins wirklich10 gibt.«11 So verweist Aristoteles auf die Notwendigkeit einer Formursache in der organischen Natur, die ein Ziel enthält, aufgrund dessen der Stoff in bestimmter Weise organisiert ist. In den Schriften von Aristoteles finden wir so erstmals den – heute in der Biologie weitgehend durchgesetzten – Gedanken, dass das Lebendige sich durch die organisierte Form vom Unbelebten unterscheide; die Form seiner Organisation und nicht die Besonderheit des Materials, aus dem es besteht, sei dasjenige, was den Organismus wesentlich bestimme. Der Grund der Differenz zum Unbelebten ist mit Aristoteles das ›Wegen-etwas‹, die teleologische Form, ein Intelligibles: »In dem Stoff liegt nämlich das Notwendige, das ›weswegen‹ hingegen im Begriff.«12 Das Notwendige, das im Stoff liegt, findet sich als kausale Bestimmtheit in jeder Zelle jedes Organismus – Stoffwechselprozesse lassen sich physikalisch und chemisch kausal und ohne Zweckbegriff erklären. Nur das, was einen Organismus ausmacht, dass nicht bloß Gasaustausch zwischen Blut und Atemluft stattfindet, was sich naturkausal erklären lässt, sondern dass dieser Gasaustausch wegen etwas stattfindet, dass diese Formursache das Leben seinem Prinzip nach ist, das ist mit Aristoteles zur Erkenntnis des Organismus als lebende Einheit zwingend notwendig. Der Stoff und die ›Grundkräfte‹ (Naturgesetze) sind die notwendige Bedingung jedes Lebewesens wie auch jedes Artefaktes; doch ihre hinreichende Bedingung findet sich hier nicht. Also fügt sich der Stoff zu Häusern und Katzen entweder aus Zufall/Fügung, oder zweckmäßig. Zufall lässt sich für Artefakte ausschließen, weil denkende Subjekte einen Zweck in ihnen realisiert haben und er lasse sich nach Aristoteles für Lebewesen auch ausschließen, weil sie ihrem Begriff nach nur über eine Formursache erkannt werden können. Darum müsse man die Wirklichkeit der zwecksetzenden Formursache (das ›Wegen-etwas‹), die im Begriff des Lebewesens liegt – und darum auch im Stoff nicht aufgefunden werden kann – für die organische Natur notwendig annehmen.13 Organismen sind folglich nach Aristoteles notwendig in sich teleologisch. Sie werden nicht bloß so gedacht, als ob sie es seien, ihre teleologische Form ist kein bloß heuristisches Prinzip unserer Erkenntnis, sondern in ihnen selbst wirklich. Einige Autoren wie John Cooper14 oder Wolfgang Kullmann15 sehen in der aristotelischen Darstellung einen bewusstseinsfreien Zweckbegriff, wie er schon bei Darwin

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11 12 13 14 15

Die Wirklichkeit der Formursache ist bei Aristoteles eine intelligible, über die allein das Lebendige erkannt werden kann; sie ist nicht mit einer empirisch zu messenden physikalischen Eigenschaft zu verwechseln. Aristoteles, Physik, 199a, S. 45. Aristoteles, Physik, 200a, S. 47. Vgl. Kapitel 12. Vgl. John M. Cooper, »Aristotle on natural teleology«, in: Malcolm Schofield/Martha C. Nussbaum (Hg.), Language and Logos, Cambridge 1982, S. 197-222, S. 221. Vgl. Wolfgang Kullmann, Aristoteles und die moderne Wissenschaft, Stuttgart 1998, S. 288.

7. Von der Teleologie zur Teleonomie. Die Integration des nexus finalis in die Biologie

angelegt ist16 und von vielen Biologen heute angenommen wird, um das Problem des intelligiblen Moments der dem Gegenstand inhärenten Teleologie zu vermeiden. Jedoch ist diese Annahme eine zutiefst unhistorische. Wenn Aristoteles’ Formursache ›Wegenetwas‹ in der Natur heute retrospektiv als ohne Bezug auf ein zwecksetzendes Subjekt gewonnen zu sein scheint, dann nur darum, weil verkannt wird, dass Logik und Ontologie und hiermit Natur und Geist bei Aristoteles nicht in der Weise getrennt sind, wie es heute als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Wenn die begrifflich in den Lebewesen liegende Zweckmäßigkeit ihrer Form ihnen wesentlich zukommt, so ist das bei Aristoteles ein Intelligibles; und nach seinem Naturverständnis wirft dies nicht die heute in der Biologie virulenten Probleme auf, denn die Natur ist ihm nicht grundsätzlich vom Geist (nous) verschieden.17 Erst mit der Formulierung eines Gegensatzes von Natur und Vernunft entsteht jener Dualismus, der der Philosophie die Frage nach der Vermittlung von beiden aufgibt. Die erste Antwort darauf, wodurch diese Vermittlung geleistet werde, lautete: Gott. Diese Antwort setzt schon den Begriff einer notwendig durchgehend kausal bestimmten Natur voraus.

7.2

Physikotheologie als mechanistischer Nachweis organischer Funktionalität

Die Teleologie ist in der Philosophia rationalis (1728) von Christian Wolff die Lehre von den Zwecken in der Natur,18 wobei diese im Sinne einer äußeren Zwecksetzung gedacht wurde, die von Gott gestiftet und auf ihn als Endzweck bezogen war. Im Rahmen seiner Physikotheologie, die als Vorläufer des heutigen Intelligent Design19 gelten kann, entwickelte er für die junge Naturwissenschaft vom Belebten wertvolle theoretische Zugänge zu ihrem Gegenstand. So trennte er äußere Bezüge in der Zweckmäßigkeit zwischen verschiedenen Organismen, die Ökologen heute als Ökosystem20 bezeichnen würden, von internen zweckmäßigen Bezügen zwischen den Organen.21 In diesen beiden Ansätzen, funktionale Abhängigkeiten zwischen verschiedenen Arten im selben Lebensraum darzustellen und die Organismen als funktionelle Einheiten durch die Gliederung ihrer aufeinander bezogenen Teile zu begreifen, war die Physikotheologie einer der naturphilosophi16 17

18 19 20

21

Vgl. Kapitel 3.7. Dies zieht sich durch die ganze Physik des Aristoteles. Nur so ist zu begreifen, dass die Form in höherem Maße Naturbeschaffenheit ist, als der Stoff (vgl. Physik II, 1, 193b), dass die Existenz eines bestimmten ersten Bewegenden (logisch wie ontologisch) notwendig ist (vgl. Physik VII, 1, 242a) oder dass der Geist (nous), wie Anaxagoras richtig sagte, sich als Ursprung der Weltbewegung nicht mit dem Gang der Naturdinge vermischen bzw. in ihn einmischen könne (vgl. Physik VII, 5, 256b). Vgl. Christian Wolff, Philosophia rationalis sive logica, 1728, § 85, nach: Christian Wolff, Gesammelte Werke Bd. II, Hildesheim 1983. Vgl. Kapitel 4.7. Das Reden von Ökosystemen unterstellt einen deutlich weiteren Begriff vom Naturzweck, der verschiedene belebte Objekte sowie Unbelebtes unter eine systemische/organische Einheit zu fassen sucht. Vgl. Kapitel 10.2.8.1. Vgl. Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von den Absichten der natürlichen Dinge, den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet, ohne Ort 1724 und: Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von dem Gebrauche der Theile in Menschen, Thieren und Pflantzen, ohne Ort 1725.

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Dialektik des Lebendigen

schen Pioniere der Biologie. Im Bemühen um den exakten naturkausalen Nachweis der mechanistischen Funktionalität einzelner Zusammenhänge erwiesen sich die Physikotheologen nicht nur als an den Mechanismus anschlussfähig, sondern sogar als dessen Wegbereiter.

7.3

Monod: Organismen zwingen uns in einen epistemologischen Widerspruch

Auch die mechanistisch ausgerichtete moderne Biologie kommt nicht umhin, nach der Funktionalität von Organismen zu fragen, nicht allein nach dem ›Wie?‹, sondern auch nach dem ›Wozu?‹, nach der Ursache ›Wegen-etwas‹. Jaques Monod spricht davon, dass belebte Objekte und ihre funktionalen Teile – analog zu Artefakten – so erscheinen, als seien sie »das Endergebnis eines Projekts«22 , also eines intelligibel gesetzten Zwecks. Die Bestimmung der Organismen als »[m]it einem Projekt ausgestattete Objekte«23 führt jedoch zu einem epistemologischen Problem: »Es gibt einen krassen erkenntnistheoretischen Widerspruch. Grundpfeiler der wissenschaftlichen Methode ist das Postulat der Objektivität der Natur. Das bedeutet die systematische Absage an jede Erwägung, es könne zu einer ›wahren‹ Erkenntnis führen, wenn man die Erscheinungen durch eine Endursache, d.h. durch ein ›Projekt‹, deutet. […] Die Objektivität selbst zwingt uns aber, den teleonomischen Charakter der Lebewesen anzuerkennen und zuzugeben, daß sie in ihren Strukturen und Leistungen ein Projekt verwirklichen und verfolgen.«24 Monods Objektivitätspostulat geht auf Francis Bacon zurück, demzufolge Wissenschaft die Natur ausschließlich nach dem nexus effectivus erklären kann und soll. Die Annahme von Zweckursachen sei dem menschlichen Handeln vorbehalten und der Erklärung von Naturzusammenhängen schädlich.25 Die ›Objektivität selbst‹ zwinge uns jedoch, so Monod, bei der Beschreibung von Organismen gegen das ›Postulat der Objektivität‹ zu verstoßen. Der erkenntnistheoretische Widerspruch entstehe also dadurch, dass die Wirklichkeit eine Form enthalte, die der naturwissenschaftlichen Vorstellung von ihr widerspricht. Bacons Prämisse wird hier angezweifelt – und zwar nicht aufgrund einer erkenntnistheoretischen Reflexion, sondern in Monods Darstellung von der Natur selbst, die sich in Gestalt des Lebendigen dieser Prämisse verweigert. Organismen wollen sich nicht rein naturkausal begreifen lassen. Sie fordern, mit einem Prinzip der inneren Zweckmäßigkeit begriffen zu werden: Nicht naturkausal, sondern teleologisch, also zweckmäßig. Die eigentümlich aktive, sogar renitente Haltung der Organismen gegen das Objektivitätspostulat der Naturwissenschaft, die Monod ihnen zuschreibt, hat ihre Berechtigung, denn sie verweist selbst auf eine Bedingung der Möglichkeit von Naturerkennt-

22 23 24 25

Monod, Zufall und Notwendigkeit, S. 17. Monod, Zufall und Notwendigkeit, S. 16. Monod, Zufall und Notwendigkeit, S. 29 f. Vgl. Francis Bacon, Novum organum (1620), Darmstadt 1990, S. 281.

7. Von der Teleologie zur Teleonomie. Die Integration des nexus finalis in die Biologie

nis. Nur wenn Gegenstände von uns fordern können, auf bestimmte Weise gedacht zu werden, gibt es eine zu erkennende Objektivität, nicht bloß subjektive Projektionen.26 Offenbar ist es nur möglich, diese ›seltsamen Objekte‹, denen Monod sein erstes Kapitel von Zufall und Notwendigkeit widmet, als lebendige zu erkennen, wenn sie über den Begriff einer inneren Zweckmäßigkeit gedacht werden. Da dies tatsächlich im Widerspruch zur Einheit der Natur als ein System unter kausalen Gesetzen steht, zwingen uns diese besonderen Objekte zu einer eigenen Dialektik.27 Was sich bei Monod an dieser Stelle zeigt, ist nichts anderes, als dass die empirische Erkenntnis dieser Objekte als Organismen den intelligiblen Begriff der Zweckmäßigkeit voraussetzt. Den belebten Objekten diese teleologische Seltsamkeit zu nehmen, um den hierdurch entstehenden erkenntnistheoretischen Widerspruch zu vermeiden, würde bedeuten, sie gegen ihre objektive Erscheinung denken zu wollen. Dies ist offenbar eine Hauptaufgabe der theoretischen Biologie geworden,28 resultierend aus dem Bemühen, jeden Widerspruch und damit auch jede Dialektik zu vermeiden. Doch der Widerspruch kann, wenn er nach Monod im Objekt selbst liegt und uns durch dieses aufgenötigt wird, nicht einfach gelöst werden – er verändert nur seine Erscheinungsform.

7.4

Mayr: Zielgerichtetheit ist ein Merkmal bestimmter natürlicher Objekte, die von einem Programm gesteuert werden

An Stelle des Projektes, das auf ein Subjekt verweist, welches es intentional verfolgt, steht bei Ernst Mayr das Programm. Dieses verfolge keinen Zweck, sondern sei bewusstlos auf ein vorgegebenes Ziel hin ausgerichtet. Diese Verschiebung von der Zweckmäßigkeit auf die Zielgerichtetheit geht auf Karl Ernst von Baer zurück. Baer bezieht sich auf die seit Paley bekannte Uhr-Analogie, »um zu zeigen, daß Vorgänge bestehen können, welche Zwecken dienen, deren sie sich nicht bewußt sind.«29 Er zeigt, dass der Organismus selbst nicht Grund seiner Organisation und Funktionalität sein kann (was übrigens auch für vernünftige Sinnenwesen gilt) und ihm daher kein Bewusstsein unterstellt werden müsse, nur weil er nach einer intelligiblen Form organisiert sei.30 Daher definiert er: »Zweck ist eine gewollte Aufgabe, 26

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29 30

Vgl. Christine Zunke, »Die Objektivität der Natur«, in: Wahrheit und Geschichte. Die gebrochene Tradition metaphysischen Denkens. Festschrift zum 70. Geburtstag von Günther Mensching, Alia MenschingEstakhr/Michael Städtler (Hg.), Würzburg 2012, S. 275-290. Vgl. Kapitel 13. Vgl. z.B. Roman Remé et al. (Hg.), Natura 11/12 ‒ Biologie für Gymnasien. Niedersachsen G8, Stuttgart 2010, S. 250 f. Dort wird explizit intentionales und finales Denken in der Biologie als unwissenschaftlich kritisiert, womit jede Teleologie aus ihr ausgeschlossen werden soll. Zugleich werden dort – im Widerspruch hierzu – Lebensfunktionen über die Analogie mit – immer teleologischen – Artefakten erklärt. Baer, Zielstrebigkeit, S. 154. Wo Baer die Zielstrebigkeit an Stelle der Zweckmäßigkeit setzte, verwendet Uexküll den Begriff der Planmäßigkeit mit gleicher Intention: »Da wir Menschen es gewohnt sind, unser Dasein mühselig von Ziel zu Ziel weiterzuführen, sind wir davon überzeugt, daß die Tiere in gleicher Weise leben. Das ist ein Grundirrtum, der die bisherige Forschung immer wieder auf falsche Bahnen lenkt. Zwar wird niemand einem Seeigel oder einem Regenwurm Ziele unterschieben. Aber bereits bei

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Ziel eine gegebene Richtung des Wirkens; […] Wenn wir dieselben Betrachtungen auf die Natur anwenden, so können wir ihr freilich keine Zwecke zuschreiben; allein Ziele sind doch offenbar nicht zu leugnen. Jeder werdende Organismus hat ein Ziel«31 . Und zwar kein individuelles, intendiertes Ziel als Subjekt, sondern eine durch die Evolution allgemein bestimmte Richtung: »Das Ziel ist das eigene Selbst und die Nachkommenschaft«32 . Der Organismus muss sich selbst keine Zwecke setzen können (muss keine Vernunft, keine Freiheit, keinen Willen haben), um Zielstrebigkeit in seinen Funktionen zu haben, ebenso wie die Federuhr. Doch auf der darüber liegenden Ebene muss Baer eine zwecksetzende Entität annehmen, die das Ziel bestimmt:33 »Die Gabe, Ziele oder Zwecke zu verfolgen und die Mittel dazu auszuwählen, nennen wir Vernunft […]. Ist diese Anwendung des Wortes Vernunft richtig, so müssen wir zum Schlusse behaupten: die ganze Natur wirkt vernünftig, oder sie ist der Ausfluß einer Vernunft, oder, wenn wir den Urgrund aller Wirksamkeit mit der Natur uns vereint denken: die ganze Natur ist vernünftig.« 34 Spätere Biologen wie Mayr möchten es vermeiden, die Natur wegen der Existenz von Lebewesen zu einer vernünftigen Entität zu hypostasieren. Darum führt Mayr den Begriff der Zielstrebigkeit auf das Wirken eines Programms zurück, das er anders als Baer von jeder Ursache in einer Vernunft bzw. von jeglichem intelligiblen Gehalt frei definiert. In Eine neue Philosophie der Biologie heißt es: »Zielgerichtetes ›Verhalten‹ (im weitesten Sinne des Wortes) ist in der organischen Welt außerordentlich verbreitet. Beispielsweise sind die meisten Handlungen im Zusammenhang mit Wanderung, Nahrungsbeschaffung, Balz, Ontogenese sowie alle Phasen der Fortpflanzung durch ein solches Ausgerichtet-Sein auf ein Ziel gekennzeichnet. Das Auftreten zielgerichteter Abläufe ist vielleicht das charakteristischste Merkmal in der Welt der lebenden Organismen.«35 Die Teleologie oder innere Zweckmäßigkeit bzw. hier Zielgerichtetheit der Organismen wird nicht als ein Intelligibles begriffen, auf das die sinnliche Erscheinung bezogen gedacht wird,36 sondern als empirisches Merkmal behandelt. Sie ist wirklich nicht als Formursache, sondern ein zielgerichtetes Verhalten wird von Mayr ebenso als empirisch

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der Beschreibung des Lebens der Zecke haben wir davon gesprochen, daß sie ihrer Beute auflauert. Durch diesen Ausdruck haben wir bereits, wenn auch unwillkürlich, die kleinen menschlichen Alltagssorgen in das von einem reinen Naturplan beherrschte Zeckenleben hineingeschmuggelt. Es muß daher unsere erste Sorge sein, das Irrlicht des Zieles bei der Betrachtung der Umwelten auszulöschen. Das kann nur dadurch geschehen, daß wir die Lebensäußerungen der Tiere unter dem Gesichtspunkte des Planes ordnen.« Jakob von Üexküll/Georg Kriszat, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, Hamburg 1956, S. 60. Baer, Zielstrebigkeit, S. 154 f. Baer, Zielstrebigkeit, S. 163. Gleiches gilt für die Üexküllsche Annahme eines Plans. Baer, Zielstrebigkeit, S. 200. Ernst Mayr, Eine neue Philosophie der Biologie, München 1991, S. 60. (Künftig zitiert: Mayr, Philosophie der Biologie). Vgl. Kapitel 2.4.1.

7. Von der Teleologie zur Teleonomie. Die Integration des nexus finalis in die Biologie

überprüfbare reale Eigenschaft behandelt, wie die Beschaffenheit der Organe. Die Besonderheit dieses Merkmals liege nicht in seinem intelligiblen Charakter, sondern nur darin, dass es dem Belebten zukommt, am Unbelebten hingegen nicht zu finden ist. Ein Ziel zu verfolgen setze nach Mayr, anders als die Verfolgung eines Zwecks, kein Bewusstsein voraus, da das Ziel durch naturkausale Mittel erreicht würde und selbst – anders als der Zweck – ein physikalischer Zustand sei. Diese Ansicht beruht auf einer sophistischen Verwirrung zwischen physikalischer Ebene und intelligibler Voraussetzung. Das erreichte Ziel – das fertige Haus, der Pfeil im Auge etc. – ist als realisierte Absicht ein physikalischer Zustand, wie jedes Artefakt. Zu seiner Erreichung können nur und sind nur naturkausale Vorgänge als Mittel gebraucht worden – wie bei jeder Arbeit, die auf Naturbeherrschung beruht. Doch das Ziel selbst als gesetztes bleibt hierbei ein Intelligibles. Baer hat dies gesehen und darum auf eine Vernunft in der Natur geschlossen. Die Differenz zwischen Erreichen oder Scheitern des Zieles ist ein Urteil des Subjekts, das das Ziel ideell gesetzt hat. So folgt z.B. die Differenz zwischen gesundem und krankem Körper genau diesem Urteil darüber, wie gut oder schlecht das intelligibel unterstellte Ziel der Selbstorganisation und -erhaltung in diesem Organismus erreicht wird und ist nur aufgrund dieser Voraussetzung dem physikalischen/chemischen Zustand abzulesen. Da ein Ziel, auch ein programmiertes, ein Intelligibles bleibt, das gedanklich vorausgesetzt werden muss, um seine Realisierung im empirischen Material finden zu können, kann Mayr den erkenntnistheoretischen Widerspruch, den Monod aufzeigte, nur mithilfe eines widersprüchlichen Begriffs auflösen: dem Begriff des nichtintelligiblen Ziels. Er gibt damit eine Richtung an, die heute in der Biologie als weitgehend durchgesetzt gelten kann. Mit dieser wohl verbreitetsten Variante wird in diversen Variationen postuliert, es gäbe offenkundig selbstbezogene Zweckformen in der Natur, die Lebewesen, deren Zweckmäßigkeit und Funktionalität eine naturkausal erfassbare empirische Tatsache sei. Dieses Postulat unterstellt fälschlich, dass die Annahme eines naturkausalen Zweckbegriffs, der nicht gedanklich vorausgesetzt werden müsse, sondern als spezifische Materialeigenschaft am Objekt erkennbar sei, keinen Widerspruch enthalte.

7.4.1

Zielgerichtete Vorgänge in der Natur sind nicht teleologisch, sondern teleonomisch

Die besondere Teleologie der Organismen, die im Gegensatz zu Artefakten nicht zu einem zuvor intelligibel gesetzten Zweck geschaffen wurden, sondern als Naturgegenstände entstanden sind, treibt die Biologie in den Widerspruch, teleologische Begriffe zu verwenden, die zugleich ohne intelligibel gesetzten Zweck als ihre Ursache gedacht werden müssen. Im Versuch, diese Widersprüchlichkeit zu vermeiden, wird der Widerspruch gleich im Begriff gebannt und eine nicht-teleologische Teleologie unter dem Namen Teleonomie konstatiert. Als Teleonomie bezeichnet Colin S. Pittendrigh 1958 die im Organismus empirisch aufzufindende, nicht als teleologisch zu bezeichnende Zweckmäßigkeit als zielgerichtetes System ohne intelligiblen Zweck:

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Dialektik des Lebendigen

»Today the concept of adaption is beginning to enjoy an improved respectability for several reasons: it is seen as less than perfect; natural selection is better understood; and the engineering physicist in building end-seeking automata has sanctified the use of the teleological jargon. It seems unfortunate that the term ›teleology‹ should be resurrected and, as I think, abused in this way. The biologist’s longstanding confusion would be more fully removed if all end-directed systems were described by some other term, like ›teleonomic‹, in order to emphasize that the recognition and description of end-directedness does not carry a commitment to Aristotelian teleology as an efficent causal principle.«37 Um zum einen den Begriff der Teleologie nicht zu missbrauchen und zum anderen der Biologie einen Weg aufzuzeigen, zielgerichtete Systeme ohne Bindung an den aristotelischen Teleologie-Begriff zu beschreiben, soll der Terminus der Teleonomie eine Zielgerichtetheit ohne antizipiertes Ziel benennen. »Wie diese neue Zweckmäßigkeit ohne Zweck genau bestimmt ist, bleibt bei Pittendrigh im Unklaren.«38 Mit dem Begriff der Teleonomie distanziert Pittendrigh sich von metaphysischen Vorstellungen unter Beibehaltung des ›heuristischen‹ beziehungsweise ›methodischen‹ Werts teleologischer Beurteilung – d.i. unter Beibehaltung des metaphysischen Gehalts bei gleichzeitiger Verleugnung desselben. N. S. Thompson definiert Teleonomie treffend darüber, dass der Organisationsprozess durch seine Eigenschaften beschrieben, aber nicht auf ein die Organisation erklärendes Begründungssystem zurückgeführt werden soll: »Teleonomy is the descriptive study of organizational properties of processes and structures without reference to any particular explanatory system«39 . Der bei Baer als logisch zwingend dargestellte Bezug auf eine zugrundeliegende Vernunftursache wird explizit unterlassen; die selbstbezügliche Form des nexus finalis soll nicht reflexiv erschlossen, sondern deskriptiv beschrieben werden. Ernst Mayr nimmt diese Terminologie auf und rückt die Teleonomie noch näher an das Kausalprinzip der unbelebten Natur heran, indem er auch deren Prozesse als teleomatisch bezeichnet. Ihm zufolge laufen naturgesetzliche Vorgänge ›automatisch‹ ab. Auch sie hätten einen festlegbaren Endpunkt – beispielsweise endet das automatische, also naturgesetzlich verlaufende Fallen eines Steines, wenn er nach dem Aufprall still liegen bleibt. Solche Prozesse der unbelebten Natur seien daher teleomatisch zu nennen. Diese für die Physik epistemologisch völlig fruchtlose und unnötige Betrachtung mechanischer Abläufe im Unbelebten als teleomatische Prozesse steht bei Mayr ganz im Dienste der Verschleierung der mit dem Selbstverständnis der heutigen Naturwissenschaft unvereinbaren aber zugleich notwendigen teleologischen Betrachtungsweise des Lebendigen. Prozesse, die nicht allein teleomatisch, also durch Naturgesetze zu ihrem Endpunkt geführt würden, sondern aufgrund eines Programms zur Erreichung ihres Zielzustandes gesteuert würden, seien teleonomisch. Sie verliefen zielgerichtet aufgrund 37 38 39

Colin S. Pittendrigh, »Adaptation, natural selection and behavior«, in: A. Roe/G. G. Simpson (Hg.), Behavior and Evolution, New Haven 1958, S. 390-416, S. 393 f. Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie, Artikel: Zweckmäßigkeit, S. 823. N. S. Thompson, »The misappropriation of teleonomy«, in: P. P. G. Bateson/P. H. Klopfer (Hg.), Perspectives in Ethology 7, 1987, S. 259-274, S. 273, zitiert nach Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie, Artikel: Zweckmäßigkeit, S. 825.

7. Von der Teleologie zur Teleonomie. Die Integration des nexus finalis in die Biologie

eines Programms – ein Programm sei folglich dasjenige, was einen zielgerichteten Prozess steuere. Im Unterschied zu teleomatischen Vorgängen seien die teleonomischen nicht allein durch kausale Wirkung der Naturgesetze, sondern aufgrund der codiert in ihrem Programm enthaltenen Informationen zu erklären.40 Aufgrund des sie steuernden Programms gehören Organismen bei Mayr zu den teleonomischen Objekten. »Ein teleonomischer Vorgang oder ein teleonomisches Verhalten ist ein Vorgang oder Verhalten, das sein Zielgerichtetsein dem Wirken eines Programms verdankt. Der Ausdruck teleonomisch impliziert Zielgerichtetsein.«41 Hierbei gebe es kein Subjekt, keinen Programmierer. Während der Begriff des Projekts bei Monod implizit auf ein Subjekt verweise, laufe ein Programm streng kausal deterministisch ab.42 Nach Mayr sei jedes einzelne Programm belebter Wesen Resultat der natürlichen Auslese und besteht in der genetischen Information. Er definiert Programm »als codierte oder im Voraus angeordnete Information, die einen Vorgang (oder ein Verhalten) so steuert, daß er zu einem vorgegebenen Ende führt.«43 Dabei sei dieses Programm nichts Metaphysisches und darum auch nicht teleologisch, sondern teleonomisch zu nennen, weil es »(1) etwas Materielles ist und (2) bereits vor dem Beginn des teleonomischen Vorgangs besteht. Es ist daher mit einer kausalen Erklärung vereinbar.«44 Hieran ist richtig, dass die DNA etwas Materielles ist und dass sie zeitlich vor dem zu beobachtenden teleonomischen Vorgang oder Verhalten des einzelnen Organismus existiert und darum als dessen Ursache angenommen werden kann. Nicht richtig ist jedoch, dass dies auf den Begriff des Programms zutrifft, das »einen Vorgang (oder ein Verhalten) so steuert, daß er zu einem vorgegebenen Ende führt.« Denn das vorgegebene Ziel ist als ein zu erreichendes noch nicht real, sondern bloß ideell; indem es den Organismus auf dieses Ziel hin steuert, ist die steuernde Ursache eine ideelle, erst in der Zukunft wirklich zu machende. Diese Umkehr der Zeitverhältnisse widerspricht allerdings der naturkausalen Erklärung. Ein Indiz dafür, dass es sich bei dem Programm DNA um einen spekulativ erschlossenen Reflexionsbegriff und nicht um einen empirischen Begriff handelt, findet sich bei Mayr etwas später im selben Text: »Der moderne Naturwissenschaftler kann das genetische Programm der DNA ebenso wenig wirklich ›sehen‹; es ist für ihn daher für alle praktischen Zwecke ebenso unsichtbar, wie die Seele dies für Aristoteles war.

40

41 42

43 44

Vgl. Ernst Mayr, »Teleologic and teleonomic: a new analysis«, in: Boston Stud. Philos. Sci. 14, 1974, S. 91-117. Vgl. auch Ernst Mayr, »The multiple meanings of teleological«, in: History and Philosophy of the Life Sciences, 20 (1998), S. 35-40. Zum Informationsbegriff in der Biologie siehe auch Kapitel 9.3. Mayr, Philosophie der Biologie, S. 61. Hiermit ist die Teleonomie dem Anspruch nach schon nicht mehr eine besondere Form der Teleologie, als welche Mayr sie in Konzepte der Biologie, (Ernst Mayr, Konzepte der Biologie, Leipzig/ Stuttgart 1999, vgl. dort S. 59 ff) ausweist, sondern bloße Naturkausalität. Damit kann dann die Teleonomie auch kein eigenständiges Erkenntnisprinzip der Biologie sein, das einen besonderen heuristischen Wert habe. Mayr, Philosophie der Biologie, S. 66. Mayr, Philosophie der Biologie, S. 65 f.

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Dialektik des Lebendigen

Seine Existenz ist hergeleitet wie die Existenz der Seele bei Aristoteles.«45 Der Vergleich des Programms der DNA mit dem aristotelischen Begriff der Seele ist in der Tat gut gewählt. Die Seele ist nach Aristoteles »Prinzip der Lebewesen«46 und damit nicht eine Eigenschaft von Materie, sondern die sie spezifisch bestimmende Form47 (und als solche »immer mit einem Körper verbunden« und »nicht abtrennbar«48 , im Gegensatz zu der späteren christlichen Konzeption von Seele). Im selben Sinne ist das Programm der DNA seiner epistemologischen Funktion nach als Prinzip des Organismus gefasst. Über den Begriff der Teleonomie versuchen Biologen wie Mayr die innere Zweckmäßigkeit der Organismen in ein kausales naturwissenschaftliches Prinzip zu überführen. Gerne in ein Material, das per definitionem kein Intelligibles sein kann, so hier die DNA. Die DNA lässt sich ›entschlüsseln‹, aber es finden sich hier nur Basenpaare und weder ein Projekt noch ein Programm. Man kann herausfinden, welche Basenpaargruppen welche Proteine codieren, aber die Zweckmäßigkeit des Ganzen folgt hieraus nicht, sondern ist bereits vorausgesetzt. Darum ist die DNA nicht das gesuchte Prinzip des Lebens, weil sie stofflich kein Telos ist, sondern immer schon als sein Ausdruck interpretiert wird – indem sie als Programm gedeutet wird. Das gesuchte Prinzip ist das Projekt, oder Programm, das die innere Zweckmäßigkeit spekulativ setzt und ohne das die Biologie nicht beanspruchen könnte, eine eigenständige Wissenschaft ‒ die Wissenschaft vom Lebendigen ‒ zu sein. Mayr geht davon aus, dass es kein metaphysisches teleologisches Prinzip gäbe, weil die Mechanismen, die die Entwicklung ›steuern‹, auf dem Prinzip der Anpassung basierten und darum ohne Annahme eines intelligibel vorausgesetzten Zieles erkannt werden könnten. Auch wenn er die spezifische Ausbildung der Erbinformationen über Selektion und Anpassung evolutionär erklären kann, so kann er doch die Möglichkeit der Existenz eines solchen Programms nicht naturkausal herleiten, sondern muss es spekulativ setzen. Anders als Monod, reflektiert er dabei nicht auf den hierin enthaltenen Widerspruch, sondern konstatiert das Programm in Organismen als existent. Es sei »vollkommen ausreichend zu wissen, daß ein ›Programm‹ existiert«49 , denn »[d]ie bloße Existenz eines Programmes – welches auch immer sein Ursprung sei – ist genug, um einen Prozess als ›teleonomisch‹ zu klassifizieren.«50 Das Programm, das die Organismen zielgerichtet steuert, existiere. Gleichzeitig ist die Zielgerichtetheit der Organismen bei Mayr oft nur eine »scheinbare«51 : die Organismen hätten nicht wirklich ein Ziel, das sie als Organismen verfolgen; sie seien lediglich »quasi-mechanisch« programmiert. So fällt auch das teleonomische Programm, das so mechanisch-kausal wie teleomatische Mechanik sein soll, vorsichtshalber noch in den Modus des ›Als-ob‹, wie die kantische Teleologie der existierenden Naturzwecke.

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Mayr, Philosophie der Biologie, S. 77. Aristoteles, Über die Seele, S. 1. Vgl. Aristoteles, Über die Seele, S. 28. Aristoteles, Über die Seele, S. 4. Mayr, Philosophie der Biologie, S. 61. Mayr, Philosophie der Biologie, S. 62. Mayr, Philosophie der Biologie, S. 60.

7. Von der Teleologie zur Teleonomie. Die Integration des nexus finalis in die Biologie

Den Begriff des Programms gewinnt Mayr aus dem Bereich technischer Artefakte (aus dem auch alle seine Beispiele hierzu stammen). Nachdem er ihn auf die DNA angewandt hat, definiert er Programm für seine Zwecke abstrakt als dasjenige, was in codierter Form die Information enthält, teleonomische Prozesse zu lenken und trennt den Begriff so über eine Realdefinition von seiner Genese. »Der Ursprung eines Programms ist für die Definition recht irrelevant.«52 Anschließend stellt er fest, dass dieser Begriff auch auf bestimmte Artefakte passe, etwa den Steuerungsprozess eines Thermostaten, der, wenngleich in viel schlichterer Weise, hierin ebenso teleonomisch sei, wie etwa der Blutkreislauf. So trennt er den Begriff des Programms vom programmierenden Subjekt, das jedem ›teleonomischen‹ Artefakt sein Programm eingeschrieben hat. Abgetrennt von ihrem Ursprung wird so die Existenz von Programmen als eine Naturtatsache behandelt.

7.4.1.1

Teleonomie ist ein widersprüchlicher Begriff

Die Versuche, eine innere Zweckmäßigkeit der Organismen als nicht-intelligibel darzustellen, indem an Stelle von Teleologie oder Zweckmäßigkeit andere Worte generiert werden, sind zahlreich. Mayr benutzt hierfür die Begriffe des Programms, der Teleonomie und der Zielstrebigkeit. Wieder einmal zeigt sich: Lebewesen lassen sich darum durch teleonomische Formulierungen besser begreifen, weil sie nur als in sich zweckmäßig aufgebaut und sich zweckmäßig verhaltend erkannt werden können. Den Grund dieser inneren Zweckmäßigkeit sieht Mayr in der evolutionär entstandenen Angepasstheit der Organismen an ihren Lebensraum. Dieser kann bestenfalls den jeweiligen Inhalt des ›Programms‹ erklären, nicht jedoch, dass überhaupt ein solches Programm ist; er kann die bestimmten zu realisierenden Zwecke anhand der durch die Umwelt gesetzten Anforderungen an den Organismus plausibel machen, aber nicht, wie eine solche Zwecksetzung durch bloße Natur ‒ also ohne zwecksetzendes Subjekt ‒ möglich sei. Aufgrund der impliziten Prämisse, dass Lebewesen Naturgegenstände sind und Naturgegenstände ausschließlich nach kausalen Naturgesetzen hinreichend erklärbar sein müssen, kann Mayr die Teleonomie nicht als vorausgesetztes Prinzip begreifen, sondern muss sie zu einem im Lebewesen vorgefundenen Phänomen erklären; sie sei darum nichts Metaphysisches, keine nur ideell zu begreifende Ausrichtung des Organismus auf den Zweck seiner Selbsterhaltung, sondern ein empirisches Material, das einen Steuerungsmechanismus realisiere: die DNA. Das Problem ist die wissenschaftliche Bestimmung einer objektiven Zweckmäßigkeit der Natur, die nur begrifflich und nicht empirisch zu leisten ist, weil teleologische Strukturen mit empirischen Methoden nicht fassbar sind. Der Begriff der Teleonomie wurde in der Biologie eingeführt, um sich vom metaphysischen Begriff der Teleologie trennen zu können, ohne den Nutzen dieses Begriffes aufgeben zu müssen. Teleologie als Lehre von der Zweckmäßigkeit bestimmt einen zielgerichteten Prozess über seinen Endzweck, im Gegensatz zu einem Prozess, dessen Wirkung naturkausal durch die

52

Mayr, Philosophie der Biologie, S. 67.

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Dialektik des Lebendigen

vorhergehende Ursache bestimmt ist.53 Mit dem Ausdruck Teleonomie sollen zweckhafte Phänomene beschrieben werden, ohne zugleich eine zweckhafte Ursache zu implizieren. Dieser Begriff reagiert also auf ein Problem, ohne jedoch seine epistemische Grundlage zu reflektieren und erweist sich so als bloße Augenwischerei. Anstatt den Widerspruch zu lösen, wird er terminologisch zusammengezogen in Begriffen wie teleonomisch oder zielstrebig, um ihn fälschlich als gelöst zu suggerieren. Andere schöne Beispiele hierfür sind der nicht-physikalistische Reduktionismus54 oder der Teleo-Materialismus. Als Teleo-Materialismus bezeichnete Lenoir55 den theoretischen Zusammenschluss von teleologischer Finalität und bloßem Mechanismus. Lebewesen werden als organisierte Formen gedacht, wobei das Ziel der Organisation mit ihnen selbst, ihrer Reproduktion und Fortpflanzung, identisch gesetzt wird. Die organisierte Struktur müsse auf der einen Seite als teleologisch gedacht werden, um die Gerichtetheit auf sich selbst und damit überhaupt erst ihre Organisiertheit zu begreifen, auf der anderen Seite sei dies ein Telos ohne Telos,56 nach bloß mechanistischen Gesetzen der Natur hervorgebracht und realisiert.

7.4.1.2

Die unreflektierte Verwendung selbstwidersprüchlicher Begriffe wie Teleonomie führt zurück in die vorkritische Metaphysik

Der Unterschied zwischen Teleologie und Teleonomie zeigt sich in der naturwissenschaftlichen Reflexion tatsächlich als das genaue Gegenteil dessen, was mit dieser Unterscheidung intendiert wurde: Der metaphysische Gehalt der Teleologie sollte dadurch vermieden werden, dass der als zweckgerichtet zu beschreibende Vorgang als automatisch/mechanisch/physikalisch gefasst wurde. Entlarvender Weise sind alle Beispiele für solche Prozesse beim Unbelebten aus dem Reich der Artefakte gewählt (wo ein Subjekt seinen Zweck im Naturstoff realisiert hat). Die naive Kritik an der Teleologie geht davon aus, dass diese ein tatsächliches, reales Subjekt zur Erklärung des Lebendigen annehmen muss und setzt dieser Vorstellung diejenige eines bewusstlosen zweckgerichteten Vorgangs entgegen. Dies führt jedoch in einen Widerspruch im Zweckbegriff, der dann nicht in der Reflexion aufgelöst wird, sondern dessen Lösung von der Natur selbst geleistet werden soll. Im Resultat ergibt sich so aus der Teleonomie eine schlechte Metaphysik, die Reflexionsbegriffe wie den Zweck als Eigenschaft in die Natur selbst legt und diese damit zu einem nicht (bloß) physikalischen/materiellen, sondern darüber hinaus zu einem ideellen, einem metaphysischen Gegenstand hypostasiert. Ein aktuelles Beispiel hierfür findet sich in der Kantinterpretation von Hannah Ginsborg:

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55 56

Und im Gegensatz zu Mayrs Behauptung, mechanische Physik sei teleomatisch, weil der Prozess zu einem Ende komme, wenn z.B. der Stein auf den Boden trifft, ist dieses ›Ende‹ des Prozesses willkürlich gesetzt und nicht durch die innere Erfüllung eines ›Zwecks‹ zu begründen. Vgl. z.B. Gerhard Roth/Helmut Schwegler, »Repräsentation und Bedeutung in der Sicht eines nichtreduktionistischen Physikalismus«, in: Axel Ziemke/Olaf Breidbach (Hg.), Repräsentationismus – Was sonst?, Wiesbaden 1996, S. 169-176. Timothy Lenoir, The Strategy of Life, Dordrecht 1982. Zur Zweckmäßigkeit ohne Zweck vgl. Kapitel 12.2.

7. Von der Teleologie zur Teleonomie. Die Integration des nexus finalis in die Biologie

»Very roughly, I want to say that the function of a trait or entity is not what it was in fact designed to do, or what it contributes to what the organism was designed to do, but simply what it should, or ought to do. To say that the function of the heart is to circulate the blood, as opposed to making a thumping noise, is to say that, in so far as a heart circulates the blood, it is doing what it should or ought to do, or as we might also put it, doing what it is appropriate to it.«57 Nicht, wofür es gemacht ist, sondern wozu es bestimmt ist, soll hier die Differenz zwischen einer Teleologie mit Subjekt und einer Zweckform ohne Subjekt – die jedoch Bestimmungen in den Naturstoff legt! ‒ ausmachen. Hier scheint sich die ursprüngliche Bedeutung der Begriffe nomos und logos wieder durchzusetzen. Während das griechische logos auf die Vernunft/das Wort verweist, bedeutet nomos als Geist auch das göttliche Gesetz.

7.4.2

Die teleologische Sprache hat einen heuristischen Wert

Wo Baer und Andere sich genötigt bzw. berechtigt sehen, von der Zielstrebigkeit in Organismen auf eine in der Natur wirkende Vernunft zu schließen, dort finden andere Biologen lediglich einen Mangel ihrer Ausdrucksfähigkeit. Schon Darwin wurde vorgeworfen, er würde die Natur zu einem Subjekt personifizieren, wenn er von natürlicher Zuchtwahl spreche; denn jede Wahl sei ein intelligibler Akt der Spontaneität und somit auf ein vernünftiges Subjekt verwiesen. Er machte gegen diesen Einwurf deutlich, dass der Terminus ›Wahl‹ im Begriff der ›natürlichen Zuchtwahl‹ lediglich die Wirkung einer natürlichen Gesetzmäßigkeit bezeichne und keinen intelligiblen Bewusstseinsakt des Auswählens. Wo der Züchter eine Wahl träfe, die durch das gedachte Zuchtziel begründet ist, bewirkten in der natürlichen Zuchtwahl blinde Mechanismen die Selektion. Was sprachlich wie eine Personifizierung der Natur klingen möge, sei lediglich dem Versuch geschuldet, diese Gesetzmäßigkeit leicht verständlich auszudrücken: »[W]er verdenkt es aber einem Schriftsteller, wenn er von der Anziehung redet, welche die Bewegung der Planeten regelt? […] So ist es auch schwer, eine Personifizierung des Wortes Natur zu vermeiden; aber ich verstehe unter Natur bloß das Zusammenwirken und Gesamtergebnis zahlreicher Naturgesetze und unter Gesetzen die von uns erkannte, geordnete Aufeinanderfolge der Geschehnisse.«58 Eine Gleichsetzung von physikalischen Naturgesetzen mit den Mechanismen der Evolution unterschlägt jedoch den Unterschied, dass eine natürliche Zuchtwahl (Mutation und Selektion), anders als die Gravitation, die innere Zweckmäßigkeit der Organismen und damit ihre teleologische Struktur voraussetzt. Mit der Gleichsetzung von Gesetzen der Gravitation und der Evolution wird intendiert, dass beide nach demselben Kausalprinzip des nexus effectivus zu denken seien. Die Teleologie in der Form der Organisation, welche uns Organismen analog zu Artefakten nach dem nexus finalis beurteilen 57 58

Hannah Ginsborg, »Oughts without Intentions: A Kantian Approach to Biological Functions«, in: Ina Goy/Eric Watkins (Hg.), Kant’s Theory of Biology, Berlin/Boston 2014, S. 259-274, S. 263. Charles Darwin, Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, Leipzig 1909, S. 48.

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Dialektik des Lebendigen

lässt, wird dann von dem belebten Objekt getrennt und soll rein im sprachlichen Ausdruck, in der wissenschaftlichen Beschreibung des Objekts, ihren Ort haben. An der Vorstellung, dass die teleologische Struktur nur die Sprache, nicht aber den Gegenstand der Biologie beträfe, halten die Biologen seit Darwin überwiegend fest. Zugleich kann die Biologie auf eine teleologische Sprache offenkundig nicht verzichten. Es sei der besondere ›heuristische Wert‹ dieser Formulierungen, die sie für die Wissenschaft des Lebendigen unentbehrlich machten. Sowohl teleologische Beschreibungen als auch teleologische Fragestellungen sind für den biologischen Erkenntnisfortschritt zentral. Da die Organismen zielgerichtet programmiert seien, betont Mayr »den enormen heuristischen Wert der teleonomischen Fragestellung. Es ist keine Übertreibung, wenn wir behaupten, weitaus die meisten großen Fortschritte in der Biologie seien dadurch möglich geworden, daß die Frage nach dem ›Warum‹ gestellt wurde.«59 Darum führten auch Formulierungen, die eine Zweckmäßigkeit in einer organischen Struktur oder in Verhaltensweisen von Lebewesen implizieren, deutlich erfolgreicher zum Verständnis von Lebewesen als Formulierungen, die nur beschreibend ohne Angabe eines Sinns oder Zieles arbeiten. Auch mit der Auswahl des Frageworts, dem die Biologie ihre entscheidenden Fortschritte verdanke, hat Mayr sich auf den schmalen Grat begeben, einerseits eine Abgrenzung gegenüber der Chemie und Physik zu markieren, andererseits nicht unter Teleologieverdacht zu geraten. »Der Evolutionsbiologe wendet nicht nur andere Methoden an [als der Physiker oder Chemiker], er interessiert sich auch für andere Probleme. Seine Hauptfrage lautet: ›Warum?‹ [orig. engl. ›why?‹] Wenn wir ›warum‹ fragen, müssen wir uns stets der Zweideutigkeit dieses Wortes bewußt sein. Es kann bedeuten ›wieso, wie kam es dazu?‹ [orig. engl. ›How come?‹], aber es kann auch für das finale ›wofür, wozu?‹ [orig. engl. ›What for?‹] stehen. Es liegt auf der Hand, daß der Evolutionsbiologe das historische ›wie kam es dazu‹ im Sinn hat, wenn er warum fragt. Jeder Organismus, ob ein einzelnes Lebewesen oder eine Art, ist das Produkt einer langen Geschichte, die mehr als drei Milliarden Jahre zurückreicht.«60 Diese Differenzierung scheint nicht ganz korrekt zu sein. Wie es dazu kam, dass bestimmte Sedimentschichten aufeinander folgen, dass der Mond seine Krater bekam oder dass das Römische Reich unterging, ist immer eine ›historische‹ Frage, ungeachtet des spezifischen Gegenstandes und ungeachtet dessen, ob nach (kausalen) Ursachen oder (intelligiblen) Gründen gefragt wird. Nur Disziplinen, deren Gegenstände als logisch abstrakte ahistorisch sind oder erscheinen, brauchen diese Frage nicht zu stellen. Der Evolutionsbiologe fragt allerdings seinem spezifischen Gegenstand gemäß zugleich nach der Funktionalität, dem ›Wozu?‹. Wenn der Evolutionsbiologe mit Mayr fragt: ›Wie kam es dazu, dass die Art xy ein dickeres Fell entwickelte?‹ und als Antwort das kälter werdende Klima angibt, so ist hierbei das ›Wozu?‹ schon unterstellt – denn physiologisch kommt es durch Veränderungen in den Hautzellen zur vermehrten Behaarung, nicht ursächlich durch die sinkende Durchschnittstemperatur. Nur wenn ich 59 60

Mayr, Philosophie der Biologie, S. 74. Mayr, Philosophie der Biologie, S. 38.

7. Von der Teleologie zur Teleonomie. Die Integration des nexus finalis in die Biologie

frage: ›Wozu brauchen die Tiere ihr Fell?‹ und die Antwort lautet: ›Um sich warm zu halten.‹, nur dann macht dieses spezielle ›Wie kam es dazu?‹ einen biologischen Sinn. Die Hauptfrage der Biologie lautet also tatsächlich ›Wozu?‹. Diese Frage unterscheidet sie – ganz mit Mayr – grundsätzlich von der Physik und Chemie. Sie gründet auf dem teleologischen Begriff der inneren Zweckmäßigkeit. ›Wozu haben Säugetiere eine Lunge?‹ ist eine andere Frage als ›Wie funktioniert der Gasaustausch in der Lunge?‹ Sie impliziert ein ›Wegen-etwas‹ der Formursache. Im Gegensatz zu der Frage ›Wozu besitzt Kohlenstoff sechs Elektronen?‹ kann die Frage, wozu Säugetiere eine Lunge haben, naturwissenschaftlich beantwortet werden. Das heißt, sie trifft etwas Spezifisches an dem Gegenstand. Die Lunge hat objektiv eine Funktion für das Tier. Wie Spaemann und Löw in ihrem gemeinsamen Werk Die Frage Wozu? herausgestellt haben, ist die Frage nach dem funktionellen Sinn von Naturgegenständen der Biologie vorbehalten.61 Die Frage der Biologie ›Wozu?‹, die es in der Physik und Chemie nicht gibt,62 gründet auf dem Begriff der inneren Zweckmäßigkeit. Wozu graben Schildkröten sich ein, wozu ist die Lunge in feine Bronchien verästelt, wozu dient die Schwimmblase des Fisches? Dies ist dem zugrundeliegenden Prinzip nach etwas anderes als die Frage, warum Metall beim Verbrennen an Gewicht zunimmt oder warum die Korona deutlich heißer ist als die Oberfläche der Sonne. Der ›heuristische Wert‹ des Prinzips der Zweckmäßigkeit liegt darin, dass die Erkenntnis des biologischen Gegenstandsbereichs ein teleologisches Prinzip zu seiner Erklärung einfordert, weil Organismen in sich zweckmäßig verfasst sind. Die teleologische Sprache der Biologie ist also – wenn wir Mayrs Ausführungen zum heuristischen Wert dieser Formulierungen ernst nehmen – nicht bloß semantische Spielerei oder Not, sondern ihrem Inhalt angemessen.63 Lebewesen lassen sich darum durch teleonomische Formulierungen besser begreifen, weil sie nur als in sich zweckmäßig aufgebaut und sich zweckmäßig verhaltend erkannt werden können. Den Grund dieser inneren Zweckmäßigkeit erklärt die Evolutionstheorie als im Prinzip von Mutation und Selektion entstandene Angepasstheit der Organismen an ihren Lebensraum. Wenn jedoch ein bestimmter Sprachgebrauch einen ›heuristischen Wert‹ hat, dann nur deshalb, weil er etwas am zu beschreibenden Objekt trifft. Doch die Sache, die getroffen wird – der in sich zweckmäßige Organismus und sein Verhalten – soll, darauf zielt die Betonung des bloß heuristischen Sprachgebrauchs, zugleich selbst nicht teleologisch verfasst sein, sondern teleonomisch, d.i. in sich widersprüchlich als teleologisch und doch rein kausal durch ein Programm zu seinem Ziel hin gesteuert.

61 62 63

Vgl. Robert Spaemann/Reinhard Löw, Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens, München/Zürich 1981. Außer in Bezug auf die technische Anwendbarkeit, d.i. äußere Zweckmäßigkeit nach dem nexus finalis. Vgl. Max Horkheimer, Über Kants Kritik der Urteilskraft als Bindeglied zwischen theoretischer und praktischer Philosophie (Habilitationsschrift), Frankfurt a.M. 1925.

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Dialektik des Lebendigen

7.4.2.1

Die Beurteilung von Organismen als teleologisch hat einen methodischen Wert

Der Begriff der Teleonomie fasst eine widersprüchliche Bedeutung in sich: Es gibt eine Zweckmäßigkeit, aber diese ist durch kein Intelligibles gesetzt/gedacht, sondern findet sich bloß zufällig als zweckförmige Struktur in der materiellen Wirklichkeit. Der Unterschied zwischen antizipierter und zufälliger Zweckmäßigkeit soll die Differenz zwischen teleologischen und teleonomischen Erklärungen setzen, wobei die Zweckmäßigkeit selbst, wenn sie auch zufällig entstehen kann und nicht intelligibel gesetzt sein muss, als eine empirische Eigenschaft angenommen wird. Eine Folge hiervon ist die theoretische Unterscheidung zwischen ontologischem und methodologischem Reduktionismus, um zwar einen »zweckmäßig steuernden Eingriff von Entelechien und anderen immateriellen Lebensprinzipien« auszuschließen, jedoch ohne »Verzicht auf kybernetische Kategorien wie Information, Programm, Redundanz usw.«64 . Als bloße Methode zur Gegenstandserschließung sei die Annahme einer Zweckform Engels zufolge unverdächtig, in eine Metaphysik zu fallen, solange sie von ontologischen Aussagen über den Gegenstand absehe. Außerdem sei diese bloß methodische Anwendung des Zweckbegriffs notwendig, weil bestimmte Gegenstände sich ohne ihn nicht erschießen ließen. Und genau hiermit ist die Trennung von Ontologie und Methode – zu Recht! – hinfällig geworden. Denn es zeigt sich, dass ein Gegenstand und die Methode seiner Erkenntnis zusammengehören, wenn die Methode zu Resultaten führen soll, die den Gegenstand hinreichend treffen, also zu seiner Erkenntnis geeignet sind. So erweist sich die vorgenommene Trennung von Methode und Gegenstand als Fehler. Viele ähnliche Versuche der Trennung von biologischem Gegenstand und seiner teleologischen Betrachtung sind gemacht worden, in denen Sach- und Sprachspiele versuchen, den Gehalt der teleologischen Grundannahme zugleich zu leugnen und erfolgreich mit ihm zu arbeiten. Da die Form des hieraus resultierenden Widerspruchs dieselbe bleibt, wurden an dieser Stelle nur die bekanntesten Theoreme des heuristischen Werts teleologischer Sprache für die Biologie und des methodischen Werts der teleologischen Beurteilung von Organismen skizziert.

7.4.3

Widerspruch integriert: Die ›vollständige Kausalanalyse‹ fragt nach der teleologischen Form

Der Widerspruch zwischen Naturkausalität und nexus finalis mündet bei Mayr in einer Erweiterung des Begriffes der Kausalität. Ihm zufolge sei es »für eine vollständige Kausalanalyse notwendig, bei jeder Eigenschaft zu fragen, warum sie existiert, das heißt, welches ihre Funktion und ihre Rolle im Leben dieses speziellen Organismus ist.«65 Was so viel bedeutet, wie die teleologische Frage nach dem Wozu zu stellen. Mayrs Begriff des Programms beinhaltet, ebenso wie die Frage nach dem Wozu, ein Telos. Dies ist im Rahmen der Naturkausalität von Ursache und Wirkung nicht zu erfassen. Es soll aber rein naturkausal begriffen werden können, da die Biologie sich in der positivistischen Tradition von Comte über Bacon als eine empirische Naturwissenschaft 64 65

Eve-Marie Engels, Die Teleologie des Lebendigen, Berlin 1982, S. 35. Vgl. auch Kapitel 8.3. und 9.1. Mayr, Philosophie der Biologie, S. 74.

7. Von der Teleologie zur Teleonomie. Die Integration des nexus finalis in die Biologie

entwickelt hat, die auf transzendentalphilosophische (und metaphysische) Begriffe verzichten will. Dieser Versuch, am naturwissenschaftlichen Vorbild der Physik orientiert Biologie zu betreiben, führte oft in einen Reduktionismus, der das Spezifische des Lebendigen gegenüber dem Unbelebten nicht bezeichnen kann. Mayr geht einen anderen Weg. Anstatt die Biologie auf die Chemie und Physik zu reduzieren,66 erweitert er den Begriff der Kausalität. Was Mayr als ›vollständige Kausalanalyse‹ beschreibt, ist eine Kausalanalyse, die die Kausalität nach Zwecken, den nexus finalis, mit unter sich begreift. Ebenso, wie eine Uhr nicht darum bloß mechanistisch ohne Telos gedacht werden könne, weil sie nach einem ›Programm‹ automatisch die Zeiger bewegt, könne es der Organismus. Schon Baer führte diesen Gedanken aus: »Notwendigkeiten sind es, welche die Zeiger treiben; denn das Sinken des Gewichtes, gemaßregelt und gleichmäßig gemacht durch die Bewegung des Pendels, wird durch ein Räderwerk auf die Bewegung der Zeiger übertragen. Alles geschieht mit Notwendigkeiten; und zwar sind diese Notwendigkeiten genau abgemessen, denn nur mit einer sehr bestimmten Anzahl und Form von Zähnen können die Räder der Uhr die Bewegung regeln. Hat man nun deshalb nicht das Recht zu sagen, die Uhr diene Notwendigkeiten und habe also keinen Zweck? Die verwendeten Notwendigkeiten sind ja eben nur Mittel um den Zweck zu erreichen, und sie mußten genau nach diesem abgemessen werden, um die Erreichung des Zweckes möglich zu machen. Durch die in dem Mechanismus in das Uhrwerk gelegten Notwendigkeiten wird die Erreichung des Zweckes viel mehr gesichert, als durch fortgesetzte unmittelbare und in jedem Augenblicke mit Absicht ausgeführte Leitung der Zeiger. Den Mann, der den Mechanismus unserer Uhr ausgearbeitet hat, – sehen wir in der Regel nicht«67 . Auch Mayrs Programm bezeichnet nichts anderes als auf ein Ziel hin in das Material gelegte ›Notwendigkeiten‹, die sich nur durch das hierbei verwirklichte Telos, also nur in einem intelligiblen Moment, von den ›Notwendigkeiten‹ der unbelebten Natur unterscheiden, die darum kein ›Programm‹ besitzen, nach welchem die ›Notwendigkeiten‹ als Mittel zu einem Zweck ineinander greifen. Auch Mayr sieht hinter dem Programm und der hierin begründeten Zielstrebigkeit der Organismen kein intelligibles Vermögen, sondern er setzt voraus, dass hier allein Naturmechanismen wirken. Die Kausalanalyse sei darum erst dann in Bezug auf einen Organismus vollständig, wenn sie das reflexive teleologische Moment enthalte und somit auch die vollständige Erklärung der belebten Naturgegenstände umfasse – was allerdings dem Begriff der Kausalität des nexus effectivus mit seiner zwingend linearen Zeitform diametral widerspricht. Was Mayr hiermit für die Biologie gewonnen hat – nämlich sie zu einer empiristischen Naturwissenschaft zu machen, die es lediglich mit der Aufdeckung von Kausalbezügen zu tun hat –, ist den Preis, den die gesamte Naturwissenschaft dafür zahlen müsste – die Aufgabe eines konsistenten Kausalitätsbegriffes –, vermutlich nicht wert. All diese Versuche dienen der scheinbaren Rettung der Biologie vor dem Widerspruch, Naturgegenstände gemäß dem allgemeinen Begriff von Natur und gemäß dem durchgesetzten empiristisch-positivistischen Verständnis von Naturwissenschaft rein 66 67

Mayr ist ein deutlicher Kritiker des reduktionistischen Mechanismus. Baer, Zielstrebigkeit, S. 153.

231

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Dialektik des Lebendigen

kausal zu begreifen, und sie zugleich durch die Annahme eines teleologischen Prinzips erklären zu müssen. Das Argument für die Verwendung des teleologischen Prinzips wird hierbei nicht über die Reflexion auf den Begriff des Lebendigen gefunden, sondern rein pragmatisch geführt: Das teleologische Prinzip funktioniert, es bewährt sich in der biologischen Praxis; ohne dieses Prinzip verliert die Biologie hingegen ihren Gegenstand mit seinen Besonderheiten. Also braucht man es ‒ eine tiefere wissenschaftstheoretische Reflexion muss ein Biologe für seine Arbeit offenbar nicht anstellen. Aber weil die Biologie als Naturwissenschaft mit diesem Prinzip arbeiten muss, droht der von Monod aufgezeigte epistemologische Widerspruch immer neu aufzubrechen. Wenn jedoch behauptet wird, zu einer vollständig begriffenen Kausalität gehöre die Zweckform mit dazu – mit dem Argument, dass nach dem Objektivitätspostulat alle Naturphänomene vollständig kausal erklärbar seien und wir auch Artefakte rein mechanistisch als Naturdinge betrachten könnten, wenn wir von ihren Erfindern absehen –, dann erscheint dieser Widerspruch nicht in der Biologie. Er wird stattdessen in den Begriff der Kausalität selbst verlagert, wie vorher in das heuristische Potential teleologischer Sprache oder den methodischen Wert der teleologischen Beurteilung. Wo mit dem Vitalismus die Vorstellung einer ›belebenden Kraft‹ in den Organismen von der Biologie überwunden wurde, finden sich heute Bestimmungen wie die des Programms, das materiell sein soll, aber nur ideell zu fassen ist, das aus empirischen Methoden gewonnen sein will, aber zugleich der empirischen Erforschung in sich zweckmäßiger Objekte zu ihrer Erkenntnis vorausgesetzt werden muss. Ein Rekurs auf die – mit Recht heute verworfenen – vitalistischen und mechanistischen Vorstellungen des vorletzten und letzten Jahrhunderts kann aufzeigen, warum die Vorstellung einer belebenden Kraft als Ursache der Lebendigkeit und Organisiertheit der Organismen so attraktiv wie unannehmbar erscheint – und dass in beidem nach wie vor eine ungebrochene Aktualität steckt.

8. Mechanismus und Vitalismus »Die Widerlegung des Vitalismus ist die Geschichte der Biologie«1

Die Erforschung der Organismen treibt die Biologie immer wieder zu teleologischen Erklärungen. Die Antwort auf die Frage, was Leben ist, scheint ohne den zumindest impliziten Bezug auf ein teleologisches Prinzip unmöglich. Auch die Evolutionstheorie kann lediglich erklären, wie bestehendes Leben sich verändert und umformt. Die Frage, was das Leben vom Unbelebten unterscheidet, soll in der Nachfolge von Darwin zunehmend ohne Bezug auf teleologische Konzepte ›rein naturwissenschaftlich‹, also kausal, beantwortet werden. Dies leistet der Physikalismus oder Mechanismus, der einzelne Prozesse im Organismus als vollständig durch Gesetze der Physik und Chemie erklärbar aufweisen kann. Darum forderte Wilhelm Roux in seinem Werk Die Entwicklungsmechanik, dass die Biologie schließlich ganz in der Chemie und Physik aufzulösen sei, da alle Hypothesen, die eine solche Reduktion nicht zuließen, per definitionem unwissenschaftlich seien. Insbesondere die von ihm beschriebene ›Entwicklungsmechanik‹ sollte zeigen, dass die Biologie sich vollständig in Physik überführen lasse.2 Weil die Form der inneren Zweckmäßigkeit offenbar unverzichtbar für das Denken des Lebendigen ist, führt ihre Ablehnung in der Biologie zum Reduktionismus – also dazu, dass die Biologie ihren spezifischen Gegenstand verliert und sich auf Chemie und Physik ›reduziert‹. Das heißt: ohne teleologische Beurteilung bestimmter Naturgegenstände gibt es keine Biologie, weil es kein Leben gibt. Ein konsequenter Mechanist und Kritiker teleologischer Begrifflichkeiten kann nur mit Gustav Ricker zu dem Schluss kommen, dass es das Leben gar nicht gibt, weil eben diese teleologische Beurteilungsart sich immer wieder als konstitutiv für den Begriff des Lebendigen erweist.3 Wenn einzig das intelligible Prinzip der inneren Zweckmäßigkeit die Differenz zwischen belebt und unbelebt stiften kann, muss mit diesem Prinzip zugleich der Begriff des Lebens als ein

1 2 3

Ludwig von Bertalanffy, Das biologische Weltbild, Wien 1990, S. 21. Vgl. Wilhelm Roux, Die Entwicklungsmechanik. Ein neuer Zweig der biologischen Wissenschaft, Leipzig 1905. Vgl. Gustav Ricker, Pathologie als Naturwissenschaft – Relationspathologie, Berlin 1924, S. 302-367, Verweis nach Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie, Artikel: Zweckmäßigkeit.

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Dialektik des Lebendigen

metaphysischer und damit der Naturwissenschaft unangemessener Begriff verworfen werden. Alles, was durch Begriffe beschrieben werde, die nicht auf physikalische/mechanische oder chemische Ursachen gehen und sich nicht im Experiment nachweisen ließen, sei Roux zufolge eine »philosophische Verlegenheitsannahme«4 und ohne wissenschaftlichen Wert. Der Mechanismus würde also in seiner konsequenten Form dazu führen, die Biologie aufzulösen, weil es keinen spezifischen, eigenständigen Gegenstandsbereich für diese Wissenschaft gäbe. Das heißt, der Begriff des Lebens selbst steht hier zur Disposition und eine erfolgreiche mechanistische Erklärung aller Lebensvorgänge würde diese eben nicht als ›Lebens-‹, sondern als physikalisch-chemische Vorgänge begreifen müssen. Da also ein spezifisch Lebendiges den mechanistischen Prämissen folgend explizit nicht mechanistisch erklärt werden kann, sahen viele Biologen in dieser theoretischen Richtung ein grundsätzliches Scheitern an der Frage danach, was das Leben sei. Dies führte die Theoriebildung unmittelbar in die konträre Richtung, zu vorkritischen metaphysischen Konzepten. Der Vitalismus und später Neovitalismus nahm eine spezifische Lebenskraft an, die das Lebendige lebendig mache. Diese Lebenskraft sei physikalisch oder rein chemisch prinzipiell unerklärlich, weil sie im Unbelebten nicht wirke, sondern grade die wesentliche Differenz des Belebten vom Unbelebten begründe. Dabei wurde jedoch zumeist nicht grundsätzlich mit der linearen Kausalstruktur des Mechanismus gebrochen. Der Vitalismus sieht die Besonderheit(en) des Lebendigen als Wirkungen und schließt auf deren kausale aber unbekannte Ursache. So wie Newton mit der Annahme einer Gravitationskraft physikalische Phänomene erklärt habe, so könne die Annahme einer Lebenskraft/Entelechie etc. biologische Phänomene erklären.5 Hierin erweisen vitalistische Annahmen sich als Theorien, die dem neuzeitlichen naturwissenschaftlichen Anspruch verbunden bleiben. Der Gegensatz zwischen mechanistischen und vitalistischen Theorien wird heute gerne historisch bis in die Antike zurückprojiziert, etwa indem Aristoteles als Vitalist und Theophrast als Mechanist dargestellt wird;6 dabei folgt dieser harte Gegensatz erst aus einer moderneren Vorstellung von Natur und Naturwissenschaft. Naturphilosophische Vorstellungen von Lebensgeistern, spiritus animales, finden sich in verschiedener Form seit der Antike.7 Ihre (onto-)logische Funktion ist die Vermittlung zwischen Körper und Seele. Die Belebung des Körpers durch die Seele muss aktiv im Material durch besondere Naturkräfte geleistet werden; die spiritus animales gehören darum auf die 4 5

6

7

Roux, Wesen des Lebens, S. 183. Der Bezug auf Newton und sein Postulat einer Gravitation findet sich bei diversen Vitalisten. Hiergegen richtet sich Kants Aussage, ein ›Newton des Grashalms‹ werde nicht kommen. Vgl. Peter McLaughlin,»Cartesische und newtonianische Biologie«, in: Petra Bahr/Stephan Schaede (Hg.), Das Leben. Historisch-systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs, Bd. 1, Tübingen 2009, S. 305-322. Vgl. z.B. Franz M. Wuketits, »Die Überwindung von Mechanismus und Vitalismus – auf dem Weg zu einer neuen Biophilosophie«, in: Philosophia Naturalis, (1982), S. 371-391, S. 373 f. (Künftig zitiert: Wuketits, Überwindung von Mechanismus und Vitalismus). Bspw. im 1. Jh. v.u.Z. bei Vitruv, De architectura (lib 8, cap. 6); oder später bei Albertus Magnus, De animalibus, I, 381 (lib. 1 tr. 2, cap. 20) (1265). Diese und weitere Verweise finden sich bei Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie, Artikel: Vitalismus.

8. Mechanismus und Vitalismus

Seite des physischen Körpers. Bei Thomas von Aquin sind sie die (physische) Bedingung der Möglichkeit seiner Beseelung.8 Noch die von René Descartes postulierten Animalgeister in der Zirbeldrüse haben diese Vermittlungsfunktion zwischen Materiellem und Intelligiblem auf der Seite des Physischen.9 Da die Lebensgeister in ihrer Vermittlungsfunktion selbst auf der Seite des materiellen, physischen Körpers angesiedelt sind, ist dieses Konzept einer spezifisch belebenden Naturkraft zunächst für vitalistische und mechanistische Theoreme gleichermaßen offen. Die Zuordnung einer Theorie zu einer der beiden widerstreitenden Seiten – etwa dass Descartes heute oft zu den Mechanisten und Aristoteles zu den Vitalisten gezählt wird – ist daher nicht eindeutig in ihrer Theorie begründet und nur aus der Rezeptionsgeschichte heraus zu erklären. So wird Descartes trotz der Postulierung von Animalgeistern heute zu den Vertretern des Mechanismus gezählt, da seine Analogisierung von Körpervorgängen mit mechanischen Apparaten im 17. Jahrhundert die biologische (insbesondere die anatomische) Forschung in mechanistischer Richtung beflügelte.

8.1

Vitalismus: Eine besondere Naturkraft begründet die spezifische Differenz des Lebendigen zum Unbelebten

Der Vitalismus beurteilt ›mechanische‹ Vorgänge im Organismus als nicht hinreichend zur Erklärung ihrer Lebendigkeit. Er geht davon aus, dass zu den Kräften, die in der Physik und Chemie wirksam sind, eine ›Lebenskraft‹ (oder mehrere ›Lebenskräfte‹) hinzutritt, die allein im Organischen wirksam ist und die die qualitative Differenz zum Unbelebten ausmacht. Damit grenzt er die Biologie explizit von der Physik und Chemie ab und begründet sie nach McLaughlin so erstmals als eigenständige Wissenschaft: »Die Biologie tritt erstmals als eigenständige Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der Form des Vitalismus auf.«10 Einige Vitalisten postulieren statt einer Lebenskraft einen besonderen ›Lebensstoff‹, ein Material mit der bestimmten Eigenschaft, den Körper zu organisieren und seine Teile funktional zu verbinden und aufeinander zu beziehen; die Grenze zwischen vis vitalis und materia vitalis ist fließend. »Zu einem einheitlichen Konzept bildet sich der Begriff der Lebenskraft im 17. und 18. Jahrhundert allerdings nicht. Die Bestimmungen oszillieren zwischen einem an Stahls Vorgaben orientierten immateriellen Prinzip und einem durch physikalische Größen spezifizierbaren Faktor.«11 Der Status dieser Lebenskraft wird oft genug nicht als metaphysisches Prinzip – wie die den Vitalismus kritisierenden Mechanisten behaupten –, sondern als eine den Geset8 9 10

11

Thomas von Aquin, Summa Theologica, I, q. 76, a. 7, arg. 2, Verweis ebd. Vgl. René Descartes, »Discours de la methode«, in: René Descartes, Oeuvres, Bd. VI, Paris 1982, S. 178, S. 54 f. Peter McLaughlin, »Cartesische und newtonianische Biologie«, in: Petra Bahr/Stephan Schaede (Hg.), Das Leben. Historisch-systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs, Bd. 1, Tübingen 2009, S. 305-322, S. 306. Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie, Artikel: Vitalismus, S. 700.

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Dialektik des Lebendigen

zen der Kausalität unterliegende Naturkraft definiert. So unterscheidet bspw. Barthez dieses principe vital sowohl von den Kräften, die im Anorganischen wirken, als auch von dem Prinzip der (denkenden) Seele. Er bestimmt das principe vital explizit als eine kausale Naturursache, deren Wirkung sich in den spezifischen Phänomenen des lebendigen Körpers zeige.12 Die vitalistische Annahme von Lebenskräften wurde durch den Fortschritt der Biologie zunächst nicht widerlegt, sondern im Gegenteil gefordert. Die zunehmende Eigenständigkeit der Biologie gegen die Chemie und Physik im späten 18. Jahrhundert forderte ein eigenständiges Prinzip der Gegenstandsbestimmung. Vitalistische Theorien hatten darum in dieser Zeit ihren Höhepunkt. So erwartete man sich von der Mikroskopie ursprünglich einen Nachweis der Homunculus-Theorie. Die kleinen, eingeschachtelten Individuen13 der ursprünglichen Schöpfung, die sich zu erwachsenen Exemplaren ent-wickeln oder aus-wickeln, sollten durch starke Vergrößerung endlich sichtbar werden. Doch der Nachweis misslang. Insbesondere die Arbeiten von Caspar Friedrich Wolf und John T. Needham in der Mitte des 18. Jahrhunderts machten das Fehlen der Homunculi in den Keim- und Samenzellen offenkundig. Hierdurch wurde der Wechsel hin zu einer Theorie der tatsächlichen Neubildung von komplexen Organismen durch den Zeugungsakt notwendig. Der ganze Bereich der Fortpflanzung bekam ein neues Gewicht, da sie nicht länger nur den Anlass für das Wachstum (die Ent-wickelung der Homunculi) gab, sondern selbst an die Stelle der Schöpfung treten musste. Die tatsächliche Entstehung, die Neubildung und Organisation von Organismen musste neu erklärt werden. Eine diesen Prozess zielgerichtet organisierende, lenkende Kraft anzunehmen, wie sie sich auch später noch in der Vorstellung eines ›Projekts‹ oder eines genetischen ›Programms‹ findet, erschien als unumgängliche Notwendigkeit. Im Fortschritt der Biologie formierte sich jedoch auf der anderen Seite unmittelbar die Kritik an vitalistischen Vorstellungen, da organische Prozesse sich in wachsendem Umfang als rein chemisch bzw. physikalisch und ohne zusätzliche Annahme von Lebenskräften erklärbar erwiesen. So gelang es Friedrich Wöhler bereits 1828, Harnstoff aus anorganischen Stoffen zu synthetisieren. Dieses und ähnliche Forschungsergebnisse in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnten beweisen, dass das Belebte mit dem Unbelebten stofflich vollständig identisch ist und dass auch die Mechanismen, nach denen chemische Reaktionen beispielsweise im Stoffwechsel ablaufen, dieselben sind wie in der unbelebten Natur. Folglich gibt es keinen besonderen ›Lebensstoff‹. Julius Robert von Mayer sowie James P. Joule konnten 1842/43 nachweisen, dass auch der Energieumsatz in den Organismen denselben Gesetzen unterliegt wie im Nichtbelebten.14 Damit

12 13

14

Vgl. Paul-Joseph Barthez, Nouveaux éléments de la science de l’homme, Bd. 1, Paris 1775, S. 1. Verweis ebd. Die Homunculi wurden selbst schon als belebt vorgestellt, ihre Lebenskraft müsse sich jedoch auswickeln. Dies ähnelt dem späteren Konzept von Whiteheads actual entities (vgl. Kapitel 10.2.10.) oder proto-pan-psychistischen Theoremen. Auf Grundlage dieser Forschungsarbeiten konnte Hermann von Helmholtz wenig später (1847) den Energieerhaltungssatz formulieren.

8. Mechanismus und Vitalismus

wurde auch die Annahme einer besonderen ›Kraft‹ des Lebendigen unnötig. An ihre Stelle traten mechanistische Modelle wie bspw. der Galvanismus.

8.2

Der Mechanismus steht für gelingende Naturbeherrschung

Der Mechanismus machte in weiten Gebieten die Analogisierung des Organismus mit Maschinen zu seiner Grundlage.15 »Ein mechanistischer Grundtenor in der Betrachtung des Lebendigen wurde insbesondere im 17. Jahrhundert deutlich, als man sich anschickte, die vor allem von Galilei initiierte Mechanik auf die Biowissenschaften zu übertragen und dem cartesianischen Modell zufolge die Organismen mit Maschinen zu vergleichen.«16 Von Descartes’ These vom Automatismus der Tiere über Loebs Tropismentheorie, die die technische Erzeugung des Lebens aus unbelebter Materie als möglich postulierte, bis zu Craig Venters Nachbau einer Bakterien-DNA und ihrer erfolgreichen Verpflanzung in eine lebende Zelle stellt der Mechanismus die These der vollständigen Beherrschbarkeit von organischen Naturprozessen auf. 1906 schrieb Jaques Loeb: »[E]s ist nur eine Frage des Fortschritts unserer Experimentaltechnik, wann wir dazu gelangen werden, das Leben in der Retorte zu erzeugen. Denn die Chemie des lebendigen Organismus ist im Prinzip identisch mit der Chemie des Laboratoriums und der Fabriken.«17 2010 ging die Meldung durch die Presse, Craig Venter habe künstliches Leben im Labor erschaffen. Es stellte sich die Frage, ob der Mechanismus damit bewiesen sei, die jedoch negativ beschieden werden muss, da in Venters Experiment die DNA nicht begriffen, sondern lediglich in einer mikrobiologischen technischen Meisterleitung nachgebaut (›abgeschrieben‹) und in eine lebendige Zelle eingepflanzt wurde, da es nicht möglich war, hierfür eine abgestorbene Zelle wiederzubeleben oder eine lebendige Zelle aus unbelebtem Material herzustellen.18 Die Analogisierung zwischen Maschinen und Organismen als Ausgangspunkt des Mechanismus ist weit rezipiert.19 Hierbei wird jedoch in der Regel übersehen, dass diese Maschinenanalogie immer schon das ideelle Moment in sich trägt, welches der mechanistischen Grundprämisse widerspricht. Denn jedes Artefakt muss geistig konstruiert und geplant werden, bevor es nach mechanischen/physikalischen Gesetzen ge15 16 17 18

19

Vgl. Kapitel 2 und 10.1.1. Wuketits, Überwindung von Mechanismus und Vitalismus, S. 374. Jacques Loeb, Vorlesungen über die Dynamik der Lebenserscheinungen, Leipzig 1906, S. 11. Zu dem prinzipiellen Problem der Möglichkeit künstlichen Lebens vgl. Christine Zunke, »Künstliches Leben und ratio perversa. Craig Venter als Newton des Grashalms?«, in: Myriam Gerhard/Christine Zunke (Hg.), Die Natur des Menschen. Aspekte und Perspektiven der Naturphilosophie, Würzburg 2012, S. 73-104. Vgl. z.B. M. Gremk, »A Survey of the Mechanical Interpretations of Life from Greek Atomists to the Followers of Descartes«, in: A. D. Breck/W. Yourgrau (Hg.), Biology, History and Natural Philosophy, New York 1972, S. 181-195.

237

238

Dialektik des Lebendigen

baut werden kann. Maschinen sind daher immer teleologisch, in sich zweckmäßig auf eine Funktion hin gerichtet und nur nach dem nexus finalis zu erkennen.

8.3

Die Dialektik von Vitalismus und Mechanismus

Das Grundproblem des Mechanismus besteht darin, dass er zwar die Lebensvorgänge bis ins Kleinste physikalisch/chemisch erklären kann, dass all diese Erklärungen jedoch kein spezifisch Lebendiges ausweisen können. Das Grundproblem des Vitalismus liegt umgekehrt darin, dass er das Spezifische des Lebendigen benennen, aber nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden beweisen kann. Ein Vitalist kann kein Naturwissenschaftler, ein Mechanist kein Biologe sein. Denn der erstere bezieht sich auf Wirkungen, die jenseits der empirischen naturwissenschaftlichen Betrachtung liegen, und der letztere kann das Lebendige nicht nach einem prinzipiellen Merkmal vom Unbelebten trennen.20 Dabei stehen beide Theorien nicht nur zueinander im Widerspruch, sondern sind auch jeweils in sich widersprüchlich: Vitalisten argumentieren dem Prinzip nach mechanistisch, wenn sie die Lebenskraft als eine kausal wirkende Ursache der Lebendigkeit postulieren und Mechanisten beziehen sich der Sache nach implizit auf ein vitalistisches Prinzip, wenn sie zugleich die Biologie als eigenständige Wissenschaft erhalten wollen und das Lebendige nicht vollständig auf das Unbelebte reduzieren. Dies führt dazu, dass man unter den Vertretern dieser widerstreitenden Positionen kaum einen ›reinen‹ Mechanisten oder ›reinen‹ Vitalisten findet. Der vitalistische Idealismus schlägt in seiner Konsequenz in einen Materialismus um et vice versa: Der Vitalismus sucht nach einer Lebenskraft, die als wirkende Kraft physikalisch, d.i. mechanistisch gedacht werden muss; der Mechanismus dagegen postuliert rein physikalische Kräfte, die im Organismus wirksam seien und seine selbstgerichtete teleologische Funktionalität hinreichend erklärten, ohne diese Erklärung tatsächlich leisten zu können – im Rückzug auf die hohe Komplexität der Wechselwirkungen etc. versteigt er sich gern in spekulative, zunehmend metaphysische Konzepte. So verweisen beide Richtungen auf das naturphilosophische Prinzip der notwendigen teleologischen Struktur des Lebendigen und auf den zugleich hierin liegenden Widerspruch. Dieser dialektische Umschlag vitalistischer Theorie in den Mechanismus und mechanistischer Theorie in den Idealismus soll im Folgenden exemplarisch an zwei Theoretikern aufgezeigt werden, die beide nicht bei der Postulierung vitalistischer Kräfte oder mechanistischer Vollständigkeit stehen bleiben, sondern den Gegensatz von vitalistischen und mechanistischen Ansätzen kritisieren und ihn überwinden wollen.

8.3.1

Bergson: materielle Idealität des Lebens

Henri Bergsons Lebensphilosophie der schöpferischen Entwicklung ist eine erkenntnistheoretische Reflexion über das Lebendige, die sowohl den Materialismus wie auch den

20

Schon der Begriff des prinzipiellen Merkmals weist auf das Problem hin; ein empirisches Merkmal wäre z.B. die DNA, die als solches aber erst nachträglich als allem Lebendigen gemeinsam identifiziert werden kann. Vgl. Kapitel 6.4.2.

8. Mechanismus und Vitalismus

alten Vitalismus kritisiert. Er wird darum teilweise nicht dem Vitalismus zugerechnet, obgleich seine Theorie des élan vital starke vitalistische Ausprägungen hat.

8.3.1.1

Mechanismus wie Finalismus folgen Denkformen, die aus der Notwendigkeit des Handelns stammen; sie können das Leben nicht erfassen

Bergson führt den erkenntnistheoretischen Widerspruch, der in der Debatte der damaligen Biologie in die beiden Seiten des Mechanismus und Vitalismus oder Finalismus zerfällt, auf die an der lebensnotwendigen Auseinandersetzung mit der Materie angepassten Formen unseres Erkenntnisvermögens zurück. Der menschliche Intellekt habe sich in seiner Entwicklung an das Begreifen von der uns umgebenden toten Materie angepasst, weil genau dies die höchste Anpassung unseres Handelns an die materielle Welt gewährleiste.21 »Der Irrtum des entschiedenen Finalismus, wie übrigens auch des entschiedenen Mechanismus, besteht in einer zu weit getriebenen Anwendung gewisser, unserem Intellekt natürlicher Begriffe. Ursprünglich denken wir nur, um zu handeln. In der Gußform der Tat ist unser Intellekt gemodelt worden. Spekulation ist Luxus, Handeln Notwendigkeit. Um zu Handeln aber beginnen wir damit, uns einen Zweck zu setzen; wir machen einen Plan und gehen dann zu den Einzelheiten des Mechanismus über, der ihn verwirklichen soll.«22 Diese beiden Arten der Kausalität, die auf ein Ziel hin gerichtete Zwecksetzung wie auch das zum technisch-praktischen, zielgerichteten Handeln notwendige mechanistischkausale Verständnis der Gliederung der Materie, seien gleichermaßen die ›Rahmen‹, in denen unser Intellekt sich am Handeln ausgerichtet gebildet habe, und in welche das Leben nicht passe; weder in den einen, noch in den anderen. Denn es sei weder bloß kausal, noch zielstrebig. »Ob man die Natur als eine ungeheure Maschine denkt, die von mathematischen Gesetzen beherrscht wird, oder ob man in ihr die Verwirklichung eines Planes sieht – in beiden Fällen folgt man nur zwei Tendenzen des Geistes bis ans Ende, die einander ergänzen, und ihren Ursprung in denselben Notwendigkeiten des Lebens haben.«23 Doch gerade über diese ›Notwendigkeiten des Lebens‹, das ist die Lebenserhaltung, lasse sich das Leben selbst nicht greifen, weil die Notwendigkeiten zu seiner Erhaltung in der Materie lägen, und nicht in jenem ›schöpferischen Impuls‹ selbst, welcher Materie belebe.

21 22 23

Hiermit teilt er einen Ansatz mit der späteren evolutionären Erkenntnistheorie, auch wenn er zu gänzlich anderen Schlüssen gelangt. Henri Bergson, Schöpferische Entwicklung, Jena 1921, S. 50. (Künftig zitiert: Bergson, Schöpferische Entwicklung). Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 51.

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Dialektik des Lebendigen

»Über beide Standpunkte also muß man hinausgehen, über den Mechanismus wie über den Finalismus, die beide im Grunde nur Gesichtspunkte des menschlichen Geistes sind, auf die das Schauspiel der menschlichen Arbeit ihn geführt hat.«24 Beiden klassischen Gegenspielern in der Debatte um das Lebendige, den Mechanisten und den Finalisten oder Vitalisten, wirft Bergson gleichermaßen den anthropomorphen Charakter ihrer Theorien vor. Sie unterschieden sich lediglich darin, dass sie verschiedene Aspekte des technisch-praktischen Handelns als Erklärungsform auf das Leben projizierten: Die Mechanisten die Art und Weise, wie die unbelebte Materie gedacht werde, um sie nutzen zu können – die Finalisten die Form, in der wir Materie technisch-praktisch zu unseren Zwecken planvoll gestalten. Dabei sei in der mechanistischen, d.h. handwerklichen Vorstellung des Organischen der Finalismus stets implizit enthalten und umgekehrt. Das Leben sei im Gegenteil jedoch nur negativ zu fassen – wenngleich bei Bergson noch nicht wirklich begrifflich bestimmt, sondern gleichsam bildhaft als Negativ, als zurückbleibender Abdruck der Lebensschwungkraft in der Materie, das einzige des Lebens, das unserem Intellekt zugänglich sei. »Das handwerklich hergestellte Werk spiegelt den Arbeitsweg seiner Herstellung; womit ich meine, daß der handwerklich Herstellende in seinem Erzeugnis genau das wiederfindet, was er hineingelegt hat. […] Daß nun die positive Wissenschaft so vorgehen darf und muß, als ob Leben-Bilden ein Werk dieser Art wäre, das leugne ich nicht. Nur unter dieser Bedingung [also durch teleologische Erklärungen] allein gewinnt sie Zugang zu den organischen Körpern. Ihre Aufgabe in der Tat ist nicht, uns den Grund der Dinge zu offenbaren, sondern das beste Mittel zur Einwirkung auf sie zu liefern. Und nun sind Physik und Chemie schon vorgeschrittene Wissenschaften, und die lebende Materie leiht sich unserer Wirkung nur in so weit, als wir sie unseren physikalischen und chemischen Verfahren zu unterwerfen vermögen. Wissenschaftlich erforschbar also ist das Organische nur, wenn der Organismus zuvor einer Maschine angeähnelt worden ist. […] Denn mag auch das Ganze einer organischen Maschine zur Not noch das Ganze der organischen Arbeit darstellen (wiewohl auch dies nur annäherungsweise zutrifft), die Teile der Maschine können Teilen der Arbeit nicht entsprechen, d a d i e S t o f f l i c h k e i t d i e s e r M a s c h i ne nicht mehr einen Zusammenhang verwendeter Mittel darstellt, sondern einen Zusammenhang beseitigt e r H i n d e r n i s s e; sie ist eher Negation als positive Wirklichkeit.«25 Die gelungene Maschine, mit der das Leben so oft analogisiert wurde, stellt als Ganzheit, also als Organismus betrachtet, einen technischen Erfolg über die Materie dar: die gelungene Beseitigung von Hindernissen, durch welche die Materie sich gegen unsere in sie gesetzten Zwecke wehrte. Sie ist also unmittelbare oder positiv zu bestimmende Negation. Das Leben hingegen ringt seine Formen der Materie nicht erst mühsam ab – es ist nur und immer schon als gelungene Vermittlung, ohne dass sich die Aufgabe der Vermittlung ihm je gestellt hätte. Es ist nach Bergson also etwas durch und durch

24 25

Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 95. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 98 f.

8. Mechanismus und Vitalismus

Positives, Unmittelbares, das unser Intellekt jedoch allenfalls in der Negation zu fassen vermag. Unser Intellekt könne das Lebendige nicht begreifen, doch im Bewusstsein selbst liege eine ›dämmernde Totalversion‹ seines Begriffs. »Die Entwicklungsgeschichte des Lebens […] zeigt uns in der Fähigkeit des Verstehens einen Ausläufer der Fähigkeit des Handelns, eine immer schärfere, immer mehrgliedrigere, immer geschmeidigere Anpassung des Lebewesens an die gegebenen Existenzbedingungen. Woraus zu folgern wäre, daß unser Intellekt […] dazu bestimmt sei, […] die Materie zu denken.«26 Aus dieser evolutionären Genese des menschlichen Denkens folgt bei Bergson auch die Bestimmung der sicheren Gegenstände der Erkenntnis im Abstrakten, im reinen Raum des Denkens, jenseits der Erfahrung. »Wir werden sehen, daß der menschliche Intellekt sich zuhause fühlt, solange man ihn unter den leblosen Gegenständen beläßt, wo unsere Tat ihren Stützpunkt und unsere Arbeit ihre Werkzeuge findet; daß also unsere Begriffe nach dem Bild fester Körper geformt sind, daß unsere Logik vorzüglich die Logik fester Körper ist, und daß eben deshalb unser Intellekt seine Triumphe in der Geometrie feiert, wo die Verwandtschaft von logischem Denken und lebloser Materie offenbar wird, und wo der Intellekt, nach geringstmöglicher Berührung mit der Erfahrung, einfach nur seiner natürlichen Bewegung zu folgen braucht, um von Entdeckung zu Entdeckung zu schreiten; immer gewiß, daß die Erfahrung hinter ihm her marschiert, um ihm unwandelbar recht zu geben.«27 Diese anfängliche Bestimmung des menschlichen Intellekts führt Bergson zu der Schlussfolgerung, dass unser Denken nicht dafür geschaffen sei, sich das Leben selbst zum Gegenstand zu machen. Die Objektivität, die Logik, die Wissenschaft läge ganz auf der Seite der unbelebten Materie, weil unser Denken sich als Anpassung an die Notwendigkeiten der technischen Naturbeherrschung entwickelt habe. Der Intellekt habe sich am überlebensnotwendigen Handeln ausgerichtet und sei daher nicht zum Begreifen des Lebendigen tauglich. »Unser Intellekt, wie er aus der Hand der Natur kommt, hat das anorganisch Starre zum entscheidenden Gegenstand.«28 Das heißt, der Intellekt ›arbeite‹ nach dem nexus effectivus. Aber zugleich sei er selbst nach dem nexus finalis geformt: »Der Intellekt in seinem Naturzustand zielt auf einen praktisch nützlichen Zweck.«29 Über die Arbeit bestimmt Bergson den nexus finalis als Teil des nexus effectivus. Ihr Gegensatz sei ein oberflächlicher. Auch der Finalismus, die Zwecksetzung, sei letztendlich mechanistisch zu nennen, denn wir erreichen das praktisch gesetzte Ziel unserer Handlung durch mechanistische Naturbeherrschung. Das Leben zu denken sei gegen beide Formen des Denkens und scheitere darum. »Alle Grundkräfte des Intellekts also drängen auf Umformung der Materie in ein Werkzeug des Handelns, d.h. – im etymologischen Sinn des Wortes – in ein O r 26 27 28 29

Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 1. Ebd. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 158. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 160.

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Dialektik des Lebendigen

g a n. […] Wie er es auch anfange, er löst das Organische in Anorganisches auf. Denn nicht ohne seine natürliche Richtung aufzugeben, nicht ohne sich selbst zu verkehren, kann er die wahre Kontinuität, die reale Bewegtheit, die wechselseitige Durchdringung, kann er, um es mit eins zu sagen, jene schöpferische Entwicklung denken, die das Leben ist.«30 Das Leben selbst weise dem Intellekt die Aufgabe zu, über die Vermittlung durch die zielgerichtete Tätigkeit, die Arbeit, sich die gesamte anorganische Materie potenziell anzueignen, zu eigen zu machen. Der Intellekt ist das Leben in der Form seiner Äußerlichkeit, seiner Nichtidentität. Diese Mimesis mit seinem Anderen mache nicht den Intellekt zu Materie, sondern die Materie beherrschbar durch den Intellekt. Ihr Ziel sei die lebensnotwendige Naturbeherrschung. Die Selbstreflexion stelle dagegen eine Verkehrung seiner natürlichen, ihm durch sein Leben gesetzten Aufgabe dar. Das Leben sei funktional auf sich selbst gerichtet, also reflexiv. Die Reflexion sei unserem Denken natürlicherweise keine ihm eigene Bewegung, da sie keine Bewegung der unbelebten Materie sei, an der – zum Behufe der technisch-praktischen Tätigkeit in unserem Handeln – sich unsere logischen Grundbegriffe genetisch gebildet hätten. Das Erkennen der toten Materie habe eine unverzichtbare Funktion für das Leben, das Erkennen des Lebens selbst sei hingegen nicht zweckrational, denn es stehe nicht im Dienste der Lebenserhaltung. Die Reflexion sei somit außerhalb der ›Rahmen‹, in denen unsere Erkenntnisse sich bewegen.

8.3.1.2

Die Lebenstheorie erfordert eine neue Bewusstseinsform

Bleibt unser Denken darum notwendig bei der mechanistischen oder finalistischen Darstellung, die das Leben bloß symbolhaft abbildet, als Analogon zur bearbeitbaren toten Materie stecken? Das müsste es, wenn menschliche Intelligenz die einzige Form von Bewusstsein wäre, so Bergsons Schluss. Doch unser Denken sei im Gegenteil nicht die einzige Form des Bewusstseins; es gäbe zum einen andere evolutionäre Bewusstseinsformen, zum anderen auch im Menschen ein nicht-intellektuelles Bewusstsein. Durch Teilhabe an dieser Totalität erlangten wir eine »dämmernde […] Totalversion«31 des Lebens. Der Beweis für die Existenz anderer als intellektueller Bewusstseinsformen setzt die obige Prämisse einer evolutionären Erkenntnistheorie voraus: Da wir einen Begriff des Lebens offenbar haben, da wir die rückbezügliche Form der Reflexion offenbar nach Bergson zumindest ahnen (wenngleich nicht logisch linear intellektuell erfassen) können und da dieser Begriff des Lebens, den wir in der Vorstellung besitzen, offenbar nicht stringent mit den Formen unseres Intellekts zu fassen sei, muss es andere Formen des Bewusstseins geben, durch welche wir diesen Begriff erhalten.32

30 31 32

Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 166. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 4. In modifizierter Weise findet sich diese anthropologisch-psychologische Erklärung auch bei späteren Autoren. So heißt es beispielsweise bei Sachsse in Bezug auf den Streit zwischen Vitalisten und Mechanisten: »Die beiden Zugänge zum Verständnis des lebendigen, die Spannung zwischen der äußeren und inneren Erfahrung, haben ihre anthropologischen Wurzeln in der bipolaren Struktur des Menschen.« Hans Sachsse, »Über den zwiefachen Zugang zum Verständnis des Lebendigen«, in: Michael Lohmann (Hg.), Wohin führt die Biologie? München 1970, S. 213-240, S 238.

8. Mechanismus und Vitalismus

Da der Intellekt nicht von sich aus über sich hinaus könne und damit in der mechanistischen Kausalform verharre, brauche es zum Erkennen des Lebens andere Formen von Bewusstsein – auch im Menschen –, die sich gleichsam in der Entwicklung des Lebens gebildet hätten und daher »etwas der Entwicklungsbewegung immanentes und wesentliches verkörpern.«33 Auch diese Bewusstseinsformen erblickten wir mit dem Intellekt – aber neben diesem sei uns auch das andere Bewusstsein zu eigen, welches sich in der Entwicklung der Natur bei deren Betrachtung mit ihr identisch finde. Dieses Vermögen reiche über die mechanistisch-symbolische Darstellung des Lebens durch den Intellekt hinaus zu einer »unmittelbaren Anschauung ihres Gegenstandes«34 . Erkenntnistheorie und Lebenstheorie sind für Bergson darum untrennbar. Dass sie bislang getrennt entwickelt wurden, führte zum ›falschen Evolutionismus Spencers‹, der einseitig mechanistisch sei, da er das Leben mit dem Intellekt allein zu fassen suchte. Diesen möchte Bergson »ersetzen durch einen wahren Evolutionismus, der dem Wirklichen in seinem Entstehen und seinem Wachstum nachginge.«35 »Denn gelänge ihr gemeinsames Unternehmen, [der Verbindung von Erkenntnis- und Lebenstheorie] so würden sie uns der Bildung des Intellekts und damit der Entstehung jener Materie selbst beiwohnen lassen, deren allgemeine Form unser Intellekt nachzeichnet. Sie würden hinabgraben bis an die Wurzeln selbst von Natur und Geist.«36 Diese Verbindung von Erkenntnis- und Lebenstheorie ist das Ziel von Bergsons Philosophie. In seiner Arbeit möchte er die Methode aufzeigen, wie wir zu diesem Ziel gelangen können.

8.3.1.3

Die mechanistische Rückverfolgung des Lebens zu den kleinsten Teilchen der Materie mündet im ideellen Prinzip der Ganzheit

Diese Methode, die ›hinabgräbt an die Wurzeln von Natur und Geist‹, versteht sich als zutiefst mechanistisch – Bergson will die Materie bis in ihre kleinsten Teilchen, bis in die Elementar- und Quantenphysik (die es noch nicht gab) zurückverfolgen, bis dahin, wo die Grenze der linearen Kausalität von Ursache und Wirkung in ihr selbst liegt. Dies ist zunächst ein radikal mechanistischer Ansatz: »Und die Kenntnis der Elemente und elementaren Ursachen würde gestatten, die lebende Form, die ihre Summe und ihr Resultat ist, im Voraus zu umschreiben. Wir werden also, nach Auflösung des biologischen Aspektes der Phänomene in physikalisch-chemische Faktoren, nach Bedürfen auch noch Physik und Chemie überspringen, werden von den Körpern zu den Molekülen, von den Molekülen zu den Atomen, von den Atomen zu den Korpuskeln weitergehen, um schließlich mit Notwendigkeit auf etwas zu stoßen, was sich wie eine Art Sonnensystem astronomisch behandeln läßt. Leugnet ihr dies, so greift ihr das Prinzip des wissenschaftlichen Mechanismus selber an und erklärtet freiwillig, daß die lebende Materie nicht aus denselben Elementen

33 34 35 36

Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 4 Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 5. Ebd. Ebd.

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Dialektik des Lebendigen

wie die übrige Materie bestehe.37 […] Daß das Leben eine Art Mechanismus ist, leugnen wir nicht. Aber ist es der Mechanismus jener im Ganzen des Universums künstlich abschnürbaren Teile, oder der Mechanismus dieses realen Ganzen selbst? […] Ein sehr kleiner Teil einer Kurve ist beinahe eine gerade Linie, und ist einer Geraden umso ähnlicher, je kleiner er angenommen wird. Im Grenzfall kann man ihn nach Belieben Teil einer Kurve oder einer Geraden nennen. In jedem ihrer Punkte verschmilzt die Kurve tatsächlich mit ihrer Tangente. So auch ist das ›Leben‹ an jedem nur denkbaren Punkte Tangente der physikalisch-chemischen Kräfte; nur daß im Grund diese Punkte bloße Ansichten eines Geistes sind, der sich vorstellt, die Entstehungsursache der Kurve halte in gewissen Momenten inne.«38 Die gedankliche mechanistische Rückverfolgung der Materie ins Kleinste mündet also im Begriff des Größten, dem Prinzip der Ganzheit. Nicht einzelne Mechanismen, sondern der Mechanismus der Ganzheit bestimmten das Leben. Hier sieht Bergson die übergreifende Einheit von Materialismus und Finalismus, die sich in ihren entwickelten, gegensätzlichen Formen in einer Gemeinsamkeit zeigten. In der finalistischen wie auch in der mechanistischen Hypothese werde die Gegebenheit des Ganzen gleichermaßen vorausgesetzt; insofern sei »der Finalismus nur ein umgekehrter Mechanismus.«39 Beide seien einseitig; einem alle Faktoren oder aber auch das Ziel kennenden Intellekt läge die Zukunft der Entwicklung offen. Das heißt sowohl die in der Konsequenz deterministische Weltsicht des Mechanismus als auch die alle Entwicklung auf ein Ziel hin ausgerichtet lesende Teleologie haben gemeinsam, dass sie – der Möglichkeit nach als vollständig entwickelte Theorie – die Richtung, die das Leben nehmen wird, voraussagen und damit einen wichtigen Anspruch der modernen Naturwissenschaft erfüllen könnten.40

8.3.1.4

Zwei Ordnungen in der Natur – die geometrische und die lebendige Ordnung – überlassen nichts dem Zufall

Das von Bergson diagnostizierte Erstarken der positiven Wissenschaft und ein Zurückdrängen der Metaphysik in der Naturphilosophie ist in seiner Theorie als natürliche Folge unserer Denkweisen bestimmt, d.h. die Ursachen hierfür sind für ihn keinesfalls gesellschaftlicher oder auch nur historisch bestimmter Art, sondern entspringen dem Wesen des Intellekts selbst: »In Form einer natürlichen Logik trägt der Intellekt ein latentes Mathematikertum in sich, das nach und nach und je im Maß tieferen Eindringens ins Innere der leblosen Materie, frei wird. Auf diese Materie ist er abgestimmt; und das ist der Grund, warum die Physik und die Metaphysik der toten Materie sich so nahe berühren. Tritt nun

37

38 39 40

Bergson teilt die wichtigsten Ansprüche der Naturwissenschaft: Voraussagbarkeit durch Kenntnis des Prinzips/Mechanismus, der ›elementaren Ursachen‹. Gemeinsam mit dem Reduktionismus ist ihm die Setzung einer einheitlichen Erklärung. Doch zugleich habe das Leben ein anderes Prinzip, sei lediglich Schnittpunkt mit dem Unbelebten. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 36 f, vgl. auch ebd. S. 95. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 45. Vgl. Kapitel 11.7.

8. Mechanismus und Vitalismus

der Intellekt an die Erforschung des Lebens heran, so behandelt er das Lebendige mit Notwendigkeit genau wie das Leblose; dieselben Formen auf diesen neuen Gegenstand anwendend, dieselben Gewöhnungen auf dies neue Gebiet übertragend, die sich im alten so wohl bewährt haben. Und sein gutes Recht ist es, so zu verfahren. Denn einzig unter dieser Bedingung bietet das Leben unserem Handeln die gleichen Handhaben wie die leblose Materie.«41 Diesen Zugang der positiven Wissenschaft zum Lebendigen, es so zu behandeln, als ob es nichtlebendige Materie wäre, stellt sich Bergson hier als die notwendige Bedingung vor, technisch-praktisch mit ihm umzugehen und es uns so für unser Leben nützlich zu machen. Das Leben werde so vom Intellekt, wie alle Materie, als etwas Äußeres betrachtet, um seine zielgerichtete Bearbeitung durch uns zu ermöglichen. »Ihre [der Philosophie] Stellung zum Lebendigen kann nicht jene der Wissenschaft sein; der Wissenschaft, die nur auf Wirkung zielt, und die, weil sie nur mithilfe der leblosen Materie zu wirken vermag, auch alle übrige Wirklichkeit unter diesem einzigen Aspekt betrachtet. Denn was in der Tat würde eintreten, wenn die Philosophie die biologischen und psychologischen Tatsachen ebenso ausschließlich der positiven Wissenschaft überließe, wie sie ihr mit gutem Recht die physikalischen Tatsachen überlassen hat? A priori würde sie eine mechanistische reflexionslose, ja unbewußte, eine dem materiellen Bedürfnis entsprungene Anschauung des Naturganzen – a priori auch die Lehre von der einreihigen Einheit der Erkenntnis und der abstrakten Einheit der Natur übernehmen.«42 Eine Einheit der Natur wäre die mechanistische Einheit der unbelebten Materie. Doch im Leben zeigten sich zwei Wesen: Das Bewusstsein und die Materie, in der dieses Bewusstsein einen unbewussten Ausdruck finde. Diese Beiden bildeten nur insofern eine Einheit, als sie sich äußerlich in einem Organismus zeigten; wesentlich blieben sie dabei jedoch verschieden. Es gebe also zwei Ordnungen in der Natur, die geometrische und die lebendige Ordnung. Die Annahme, die aus dem technisch-praktischen Intellekt folgt, die Natur sei eine Einheit und unterstehe somit einer einheitlichen Ordnung, führe zwangsweise zu der Annahme, dass dort, wo sich Phänomene dieser Ordnung nicht greifen ließen, Unordnung – Abwesenheit von Ordnung – herrsche. Hierüber lasse das Leben sich nicht als eigene Ordnung begreifen, sondern nur als entweder überkomplexe oder mangelhafte Ordnung, wenn dasselbe Ordnungsschema wie im Anorganischen angenommen wird.43 »Merke ich aber, daß der zur Zufälligkeit einer bestimmten Ordnung gehörige Zustand der Dinge einfach nur die Abwesenheit der entgegengesetzten Ordnung bedeutet, und setze daraufhin zwei einander umkehrende Ordnungen, dann sehe ich,

41 42 43

Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 200 f. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 201. Vgl. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 240.

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246

Dialektik des Lebendigen

daß sich zwischen diesen beiden Ordnungen keine Zwischengrade ausdenken lassen«44 . Indem Bergson zwei Ordnungen setzt, entgeht er der Frage danach, was denn den Zufall bestimme.

8.3.1.5

Die Materie selbst ist mit Bewusstsein vermischt, das sich im Lebendigen herausarbeite bis zum Bewusstsein im Menschen

Indem das Prinzip der Ganzheit sich bei Bergson als Voraussetzung einzelner Mechanismen auch im Kleinsten findet, schließt die lückenlose Geltung physikalischer und chemischer Gesetze der Materie das Ziel bzw. den Sinn der Ganzheit nicht aus, sondern ein. Dies verdanke sich eines spezifischen schöpferischen Impulses und das Leben sei die Fortsetzung, die Dauer eines einzigen und darum in allen Lebewesen identischen schöpferischen Impulses. Die materielle Formveränderung des Lebendigen sei nicht äquivalent zu setzen mit dem, was sich im Leben, in seiner als Reflexionsform gedachten Selbstbezüglichkeit seiner Funktionen, als Sinn entwickele. »Alles geht vor sich, als wäre ein breiter Strom von Bewußtsein in die Materie eingedrungen, beladen – wie alles Bewußtsein – mit einer unendlichen Vielheit von Möglichkeiten, die sich in eins durchdrangen. Dieser Strom zwingt die Materie ins Organische hinein; nicht aber, ohne daß seine Bewegung durch sie unendlich verlangsamt, unendlich zerteilt worden wäre.«45 Das Organische zeige sich, als wäre es ein unbewusst gewordener, veräußerlichter Ausdruck von Bewusstsein in der Materie. Diese Vorstellung enthält ein in Materie gebundenes Intelligibles, das darum ganz unterschieden von der bewusst gedachten Zweckform des nexus finalis ist.46 »Das Leben, so sagten wir, geht hinaus über die Zweckmäßigkeit, wie über alle anderen Kategorien. Dem Wesen nach ist es ein durch die Materie geschleuderter Strom, der aus ihr zieht, was er eben kann. Im eigentlichen Sinn also hat es hier weder Plan noch Absicht gegeben.«47 Es realisiere in der Materie eine Zweckmäßigkeit jenseits aller bewusst gesetzten Zwecke. Das Bewusstsein habe sich ›einschläfern‹ müssen und dasjenige, was in ihm liege, »auf divergierende Organismenreiche verteilen müssen«48 und ihm so einen äußerlichen Ausdruck (als Bewegung) in der Materie geben müssen. Leben ist bei Bergson so

44 45

46

47 48

Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 240 f. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 186. Wenn man dieses Bild von Bergson wörtlich nähme, so taugte es einer positiven Wissenschaft höchstens dazu, aus der Geschwindigkeit der Evolution die Viskosität des Bewusstseins zu berechnen. Doch die hinter der Metapher stehende erkenntnistheoretische Reflexion lohnt eine genauere Betrachtung. Dies kann im Resultat an Momente des Hegelschen Naturbegriffs erinnern: Natur als Geist in zerstreuter, entäußerter Form. Jedoch ist die Entwicklung dieser Vorstellung bei Bergson gänzlich von der Hegelschen unterschieden, da er Geist und Materie als Entitäten vorstellt, so dass die geordnete und auch die belebte Natur begrifflich tatsächlich wenig mit der Hegelschen gemein hat. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 269. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 186.

8. Mechanismus und Vitalismus

definiert als »das durch die Materie geschleuderte Bewußtsein«49 . Im Laufe der Entwicklung des Lebens fände nun ein Wachwerden des Bewusstseins in der Materie auf verschiedene Weise statt, je nachdem, ob das Bewusstsein sich selbst oder aber die Materie, mit welcher es sich verbunden habe, zum Gegenstand mache. Ersteres sei Intuition, Letzteres der Intellekt. In der Intuition bleibe das Bewusstsein sich als Leben immanent. Im Intellekt liege dagegen die Freiheit des Lebens, über die eigene Schranke hinauszugehen und dann zu sich zurückzukehren und die gleichsam in ihm schlummernde Intuition zu wecken. Hierüber erst erweitere das Produkt Bewusstsein sein Reich um die Materie und letztlich auch sich selbst ins Unendliche. »Von diesem Gesichtspunkt aus erscheint nicht nur das Bewußtsein als bewegendes Prinzip der Entwicklung, sondern überdies gewinnt auch der Mensch innerhalb der bewußten Geschöpfe eine bevorzugte Stellung. Zwischen ihm und dem Tier herrscht nicht mehr ein Unterschied des Grades, sondern des Wesens.«50 Hieraus ergibt sich für Bergson eine neue Bedeutung des Intellekts. Er geht zwar für sich genommen nur auf das technisch-praktische, auf das Handwerk oder die Arbeit, aber »unfreiwillig, ja unbewußt«51 verfolge er an sich ein ganz anderes Ziel: »Alles geht vor sich, als hätte die Beschlagnahme der Materie durch den Intellekt den einzigen Hauptzweck, e t w a s f r e i w a l t e n z u l a s s e n, was durch die Materie gehemmt war.«52 Durch die Überwindung des Automatismus, mit welcher die Intuition beim Tier sich in Handlungen zeige, setze das Bewusstsein sich im Intellekt in Freiheit. Die teleologische Gerichtetheit in der belebten Natur wird von ihm also auf Freiheit als Ursache zurückgeführt, ganz analog zu zielgerichteten menschlichen Handlungen, die in zweckmäßigen Artefakten resultiert. Erst im Anderen – der Materie – werde das Bewusstsein in Freiheit gesetzt, komme zu sich in Abgrenzung zur Materie, in Überwindung des Automatismus, welcher als Kausalität vollständig zur Materie gehört; in der Intuition des Tieres übernimmt das eingeschläferte, verlangsamte Bewusstsein in den Instinktbewegungen diese Kausalität der Materie als Automatismus des Verhaltens. Im Tier sei das Bewusstsein ganz vom Mechanismus der Materie absorbiert – weil das Tier weniger weit entwickelt ist, werde das Bewusstsein in ihm vom Akt der Handlung in Form eines Verhaltens zur Selbsterhaltung ›mitgerissen‹, ohne sich von ihm freimachen zu können. Da das Bewusstsein jedoch danach strebe, wieder zu sich selbst zu kommen, wird »der Mensch zum Seinsgrund des gesamten organischen Lebens auf unserem Planeten«53 . Das in der Materie gefangene und durch sie gehemmte Bewusstsein entwickele sich zu Menschen, denkenden Wesen, und damit zu sich selber fort; es hatte sich in der Materie verloren und findet sich nicht im, aber über den Intellekt des Menschen wieder. Hierin sei der Intellekt wesentlich von der Intuition verschieden; die Bewegung des in Materie gefangenen Bewusstseins nicht zu sich selbst hin wie in der Intuition, sondern von sich

49 50 51 52 53

Ebd. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 187. Ebd. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 188. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 189.

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Dialektik des Lebendigen

weg zur Materie sei die notwendige Bewegung des Bewusstseins, wenn es zu Selbstbewusstsein werden will.54 Die Aufgabe der Philosophie sei es, sich mit der Ganzheit des Bewusstseins in der Materie durch eine Verbindung von Intellekt und Intuition »neu zu verschmelzen.«55

8.3.1.6

Der élan vital – ein im Material gefangenes Ideelles

Die Lebensschwungkraft (élan vital) denkt Bergson nicht als eine physikalische Kraft; sie ist vielmehr Prinzip der Bewegung zur Bildung von Lebewesen, ›Aufschwung‹ zu komplexen Organismen und zugleich deren innerer Antrieb. »Die L e b e n s s c h w u n g k r a f t, von der wir sprechen, ist im Grunde ein Verlangen nach Schöpfung. Sie kann nicht absolut schöpferisch sein, weil sie die Materie, d.h. die Umkehrung ihrer eigenen Bewegung vorfindet. Wohl aber bemächtigt sie sich dieser Materie, die ihr die reine Notwendigkeit ist, und trachtet danach, eine größtmögliche Summe von Indeterminiertheit und Freiheit in sie hineinzutragen.«56 Als Prinzip des Prozesses wird sie Entität und ist logisch wie sprachlich eindeutig aktiv tätig, hat sogar Bedürfnisse wie das Verlangen nach Schöpfung. Sie scheint in diesen Formulierungen selbst ein Organisches, wenngleich ein Immaterielles zu sein. Nachdem Bergson also dem Mechanismus bescheinigt hat, die dem menschlichen Intellekt angemessene Form zu sein, das Leben zu denken, und er dann zeigte, warum diese Form jedoch notwendig an ihrer Unangemessenheit bezogen auf den Gegenstand scheitern müsse, schlägt er sich der Sache nach mit der Postulierung einer Lebensschwungkraft auf die Seite der Vitalisten, denen er unter dem Titel Finalisten vorwarf, nur ›umgekehrte Mechanisten‹ zu sein. Sein élan vital ist eine geistige Kraft, die Ursache für das Lebendige ist und nicht zu den physikalischen Kräften gehört. Sie soll jedoch im Gegensatz etwa zu Drieschs Entelechie nicht anthropomorph dem Lebendigen aufprojiziert sein, sondern in die Materie selbst eingemischt und damit selbst materiell bestimmt sein. So überwindet er den Gegensatz von Vitalismus und Mechanismus in der in sich widersprüchlichen Vorstellung eines materiellen Idealismus.

8.3.2

Oparin: ideelle Materialität des Lebens

Über seine Theorie zur Entstehung des Lebens hat Oparin sich auch kritisch mit den Positionen im Vitalismusstreit auseinandergesetzt, ohne einer davon zu folgen. Während Bergsons Theorie eine metaphysische Abgrenzung gegen Mechanismus und Finalismus darstellt, ist Oparins Theorie eine materialistische Abgrenzung gegen reduktionistischen Mechanismus und Vitalismus.

54

55 56

Eine sukzessive Entwicklung vom Instinkt zum Intellekt, die eine bloß graduelle Verschiedenheit der geistigen Vermögen von Mensch und Tier unterstellt, wie man sie in der evolutionären Erkenntnistheorie findet, lehnt Bergson daher kategorisch ab. Vgl. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 192. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 196. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 255.

8. Mechanismus und Vitalismus

Diese Abgrenzung verfolgte bei Bergson den Anspruch aufzuweisen, dass sein Vitalismus nicht finalistisch, also nicht anthropomorph zielgerichtet sei, während Oparin zu zeigen versucht, dass sein materialistischer Ansatz im Gegensatz zu anderen nicht im reduktionistischen Mechanismus mündet. Wie Bergson für die Abgrenzung seines Vitalismus vom Finalismus sich auf mechanistische Ansätze stützt, so führt umgekehrt Oparins Materialismus in eine Metaphysik der Materie.

8.3.2.1

Oparins Kritik an Vitalismus und reduktionistischem Mechanismus

Der materialistischen Theorie des Lebens von Oparin zufolge ist »das Leben, wie auch die gesamte übrige Welt, seiner Natur nach materiell«57 und explizit nicht durch ein metaphysisches Prinzip bestimmt, wie Idealisten und Vitalisten es darstellen. Weil das Leben auf naturwissenschaftlichen, empirischen Fakten basiere, könnten wir sicher zwischen Lebendigem und Unbelebtem unterscheiden, auch dann, wenn diese Unterscheidung ohne ausgeführte wissenschaftliche Begründung geschehe. Doch zugleich sei das Wesen des Lebens nicht zu begreifen, wenn man die Prozesse des Lebendigen vollständig auf physikalische und chemische Prozesse zurückzuführen versucht. Wie vom Vitalismus, so grenzt Oparin sich auch vom reduktionistischen Mechanismus deutlich ab, der keinen qualitativen Unterschied zwischen Belebtem und Unbelebtem anzugeben vermöge. »Nach der in der Naturkunde im vorigen Jahrhundert vorherrschenden und zum Teil auch noch bis heute erhaltenen mechanistischen Lehre besteht die Erkenntnis des Lebens in der möglichst vollständigen Rückführung aller Lebenserscheinungen auf physikalische und chemische Prozesse. Von diesem Standpunkt aus betrachtet gibt es keine spezifisch biologischen Gesetzmäßigkeiten. Es gelten lediglich die in der anorganischen Natur herrschenden Gesetze, die auch alle in den lebenden Organismen ablaufenden Erscheinungen steuern. Dadurch wird praktisch irgendein qualitativer Unterschied zwischen den Organismen und den Körpern der anorganischen Natur negiert.«58 Obwohl er die Auffassung teilt, dass alle innerhalb des Organismus ablaufenden physikalischen und chemischen Prozesse ausschließlich und vollständig durch die Gesetze beschrieben werden können, die auch für die unbelebte Natur gelten, könne der Organismus laut Oparin durch sie nicht hinreichend beschrieben werden. Diese These stärkt er zunächst mit dem Aufzeigen der Konsequenz, die aus einer solchen Reduktion folgen würde: Es gäbe keinen materiell bestimmten wesentlichen Unterschied zwischen belebt und unbelebt. Die Biologie hätte keinen spezifischen Gegenstandsbereich, wenn sich das Spezifische des Lebendigen mit naturwissenschaftlichen Methoden greifen ließe. Bislang wurde diese Differenz über ein Ideelles Lebensprinzip zu begründen versucht, das Oparin als materialistischer Naturforscher ablehnt. Dem stand die mechanistische Lehre gegenüber, die das Leben als rein materielle Erscheinung verstand und hierüber die Differenz zum Unbelebten nicht mehr begründen konnte.

57 58

Oparin, Leben, S. 4. Oparin, Leben, S. 5.

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Dialektik des Lebendigen

Oparin versucht nun, die Besonderheit des Belebten im Gegensatz zum Unbelebten hochzuhalten, aber dies auf rein materialistischer Grundlage ohne metaphysischen Zusatz. Er will die Differenz über Besonderheiten im Material und spezifische Naturgesetze des Lebendigen erklären. Er geht davon aus, »daß die Annahme einer materiellen Natur des Lebens überhaupt nicht an die Notwendigkeit gebunden ist, die spezifischen Besonderheiten und qualitativen Unterschiede gegenüber den Objekten der anorganischen Welt zu verneinen.«59 Denn letzteres, der Reduktionismus, hieße, in einer »durch nichts gerechtfertigten Vereinfachung«60 zu leugnen, dass das Leben auf der Erde im Laufe eines Entwicklungsprozesses der Materie als eine neue materielle Qualität entstanden sei.61 Und das wäre ihm zufolge eine Verengung der Bewegungsformen der Materie dahingehend, dass zugleich mit den Gesetzen der Physik und Chemie keine weiteren »komplizierteren biologischen Gesetzmäßigkeiten«62 existieren dürften.

8.3.2.2

Leben als eine ›besondere Bewegungsform der Materie‹

Doch solche komplizierteren biologischen Gesetzmäßigkeiten existieren nach Oparin sehr wohl; sie ließen sich naturwissenschaftlich als Fakten beschreiben und überlagerten die Gesetze der unbelebten Materie – was jedoch nicht heiße, dass sie sie außer Kraft setzen würden. Diese spezifisch biologischen Gesetze gälten jedoch nur für den spezifischen Teil der Materie, den sie hierdurch als Lebendigen bestimmen; sie seien keine Eigenschaft aller Materie,63 weil auch in diesem Falle keine Differenz zwischen belebt und unbelebt materialistisch zu begründen wäre. »Das Leben ist also seiner Natur nach materiell, andererseits jedoch keine integrierende Eigenschaft der gesamten Materie überhaupt. Mit ihm sind nur lebende Wesen ausgestattet. Es ist eine besondere, qualitativ von der anorganischen Welt unterschiedene Bewegungsform der Materie, und den Organismen sind besondere, spezifisch biologische Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten eigentümlich, die sich nicht nur mit den in der anorganischen Natur herrschenden Gesetzen erklären lassen.«64 Nicht die Materie in dieser materiellen Abstraktheit unterscheidet sich selbst in sich, sondern sie ist unterschieden durch ihre verschiedenen Bewegungsformen, unterschieden in höhere Formen, die sich durch die Geltung neuer Gesetze zusätzlich zu denen, die auch in niederen Bewegungsformen gelten, materiell bestimmen lassen.65

59 60 61 62 63 64 65

Ebd. Ebd. Zu Oparins wegweisender Theorie zur Entstehung des Lebens vgl. Kapitel 5.3. Oparin, Leben, S. 6. Vgl. als Gegensatz Whitehead, der das Lebendige als Eigenschaft von Materie überhaupt annimmt, Kapitel 10.2.10. Oparin, Leben, S. 6. Die Vorstellung, dass die Wissenschaften sich nach den verschiedenen Bewegungsformen der Materie einteilen, die also die qualitativ verschiedenen Gegenstandsbereiche bestimmt, geht auf die Theorie der Dialektik der Natur von Friedrich Engels zurück. Materie und ihre inhärenten Bewegungen seien hiernach explizit keine begrifflichen Abstraktionen, werden jedoch schon bei Engels der logischen Funktion nach als Prinzipien gedacht. Vgl. Friedrich Engels, »Dialektik der Natur«, MEW, Bd. 20, Berlin 1990, S. 509 ff.

8. Mechanismus und Vitalismus

Deshalb bestehe die Aufgabe der Biologie nicht in der lückenlosen Rückführung, z.B. der Stoffwechselvorgänge/des Zellstoffwechsels auf und vollständigen Erklärung aller einzelnen Prozesse in belebten Organismen durch physikalische und chemische Prozesse – obwohl das für alle getrennten Einzelprozesse durchaus möglich sei –, sondern die wichtigste Aufgabe der Biologie beim Erkennen des Lebens sei im Gegenteil »die Bestimmung der qualitativen Unterschiede gegenüber den anderen Formen der Materie, des Unterschiedes, der uns dazu zwingt, das Leben als eine besondere Bewegungsform zu betrachten.«66 Wie Monod sieht auch Oparin hier einen Zwang, der uns in den Organismen entgegentritt, sie als qualitativ vom Unbelebten unterschieden zu denken.67 Im Wechsel vom Plural der ›qualitativen Unterschiede‹ ins Singular ›des Unterschiedes‹ der besonderen Bewegungsform des Lebendigen klingt ein Wechsel von empirischen Bestimmungen belebter Materie zu einer Reflexionsbestimmung als Prinzip des Lebendigen an. Beide versucht Oparin zusammen zu denken.

8.3.2.3

Der Widerspruch: Das ideelle Prinzip der spezifisch lebendigen Bewegungsform der Materie liegt materiell im Stoffwechsel als empirische Tatsache vor

Ein allgemeines Spezifikum des Lebendigen sei beispielsweise die »Wechselwirkung zwischen Organismen und ihrer Umwelt«68 . Durch Assimilation – die Integration von Stoffen, die als organfremde Materie in den Organismus aufgenommen werden – und Dissimilation – die Ausscheidung der Abbauprodukte des eigenen Körpers, die unter Freisetzung von Energie beim Zerfallen körpereigener Stoffe entstehen – seien Organismen nach Oparin nicht als statische, sondern als »fließende Systeme«69 , als prozessual, bestimmt. Hierdurch soll der Stoffwechsel nicht bloß als empirisches Merkmal, das punktuell an Organismen zu finden sei, bestimmt sein, sondern selbst das Bestimmende der Differenz zwischen Belebtem und Unbelebtem ausmachen. Als statischer betrachtet, lässt jeder Organismus sich in seinen Merkmalen auf Unbelebtes reduzieren, deshalb müsse die qualitative Besonderheit der Bewegung der Materie im Organismus betrachtet werden, um es als lebendig zu erkennen. Doch dieses Spezifikum unterscheidet sich tatsächlich entgegen Oparins Intention nicht von den punktuellen Merkmalen, über die ihm zufolge bislang mangelhaft versucht wurde, das Leben zu definieren – es erklärt lediglich den (immer spezifischen) Stoffwechsel zum allgemeinen Merkmal für alle Punkte auf der Entwicklungslinie. »Rein chemisch betrachtet, handelt es sich bei dem Stoffwechsel lediglich um eine Anhäufung einer großen Zahl relativ einfacher Reaktionen der Oxydation, Reduktion, Aldolkondensation, Hydrolyse, Transaminierung, Phosphorylierung, Zyklisierung

66 67 68

69

Oparin, Leben, S. 6. Vgl. Kapitel 7.3. Oparin, Leben, S. 8. Streng genommen gilt dies für alle Materie/Natur, unter der Kategorie der Gemeinschaft/Wechselwirkung zu stehen. Gemeint ist hier wohl eher ein aktives Moment im Stoffwechsel – entgegen der Entropie. Oparin, Leben, S. 9.

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Dialektik des Lebendigen

u.a.m. Jede dieser Reaktionen kann auch außerhalb des Organismus wiederholt werden, weil in ihr nichts spezifisch Lebendes ist.«70 Darum braucht Oparin den Bezug des Materials auf eine (intelligible) Gesamtheit als Einheit des Organismus. »Die Besonderheit, durch die sich das Leben von allen anderen Bewegungsformen der Materie (insbesondere von anorganischen fließenden Systemen) qualitativ unterscheidet, besteht darin, daß in den lebenden Körpern viele Hunderttausende individueller chemischer Reaktionen, die in ihrer Gesamtheit den Stoffwechsel darstellen, nicht nur in Bezug auf Zeit und Raum streng aufeinander abgestimmt sind, nicht nur harmonisch in der einzigartigen Ordnung der unaufhörlichen Selbsterneuerung verknüpft sind, sondern daß auch diese ganze Ordnung gesetzmäßig auf die ständige Selbsterhaltung und Selbsterzeugung des gesamten lebenden Systems als Ganzes gerichtet und äußerst vollkommen darauf abgestimmt ist, die Aufgabe lösen zu können, die Existenz des Organismus unter den gegebenen Umweltbedingungen zu sichern.«71 ›Stoffwechsel‹ bezeichnet zunächst die tatsächlich ablaufenden chemisch-physikalisch nachvollziehbaren Prozesse im Organismus. Doch darüber hinaus wird ›Stoffwechsel‹ zu einem intelligiblen Begriff, der die Einheit des Organismus als Reflexionsbegriff erschließt, d.i. der nicht die bloße Analyse einfacher chemischer Prozesse als empirischer Begriff bezeichnet, sondern ihre (zweckmäßige) Gesamtheit umgreift und setzt. Die spezifische Differenz des Lebendigen zum Unbelebten liege im gesetzmäßig gelenkten Stoffwechsel als neue Bewegungsform der Materie, welche die besondere Qualität des Lebendigen ausmache. Hiermit ist Oparin der Sache nach über die materialistische Bestimmung hinaus zu einer idealistischen, teleologischen Bestimmung fortgeschritten. Die ›Gerichtetheit‹ der vielfältigen chemischen Prozesse auf die ›Lösung‹ der ›Aufgabe, die Existenz des Organismus zu sichern‹, wodurch sich diese Prozesse erst selbst als eine ›Gesamtheit‹, als ein ›Ganzes‹ organisieren, geht in einem Materialismus nicht mehr auf – auch nicht in einem dialektischen nach Engelsschem Vorbild. Oparin setzt Zweckmäßigkeit und Entelechie stets in Anführungszeichen, um sich von jeder ins Ideelle oder Metaphysische hinausragenden Bedeutung zu distanzieren. Gleichwohl (ge-)braucht er diese Begriffe für seine eigene Theorie. Die Zweckmäßigkeit sei in materialistischer Bedeutung nur eine – eventuell unglücklich formulierte – Kurzformel für den »gesetzmäßig gelenkten Stoffwechsel«72 , der »das qualitative Merkmal [ist], das die Organismen von den unbelebten Körpern unterscheidet.«73 Was als Zweckmäßigkeit beschrieben wurde, sei historisches Resultat, nämlich Ergebnis evolutionärer Anpassungsprozesse. Hierüber sei es dann auch nichts Metaphysisches, sondern eine Tatsache.74 »Damit ist also die allgemeine Anpassung, oder, sinnbildlich ausgedrückt, 70 71 72 73 74

Ebd. Oparin, Leben, S. 9 f. Oparin, Leben, S. 10. Ebd. Vgl. Mayrs Programm in der DNA (Kapitel 7.4.); dieses soll auch eine Tatsache sein, ohne metaphysische Beimengung.

8. Mechanismus und Vitalismus

die ›Zweckmäßigkeit‹ der Organisation der Lebewesen eine sich selbst offenbarende Tatsache, an der kein ernsthafter Naturforscher vorbeigehen kann.«75 Oparin geht damit auf die evolutionsgeschichtliche Erklärbarkeit spezifischer funktionaler Strukturen, verpasst jedoch eine Erklärung der auf sich selbst gerichteten Funktionalität überhaupt, obgleich er die auf ihr gründenden Gesetzmäßigkeiten als neue, emergente Qualität der Materie darstellt. Die innere Zweckmäßigkeit stellt so der Sache nach auch bei Oparin das wesentliche, bestimmende und spezifische Merkmal des Lebendigen dar – daran ändern die zur Distanzierung vom Idealismus gesetzten Anführungszeichen vor ›Zweckmäßigkeit‹ nichts und auch nicht der scheiternde Versuch, das Spezifische des Lebens als evolutionär im Leben entwickelt zu behaupten; denn Evolution des Lebens setzt Leben immer schon voraus.76 Darum bestimmt Oparin die Zweckmäßigkeit zugleich nicht nur als Resultat, sondern auch als Voraussetzung der Evolution: »Diese neue biologische Gesetzmäßigkeit konnte nur während des Prozesses des Werdens des Lebens entstehen, weil die leblosen anorganischen Körper diese ›Zweckmäßigkeit‹ nicht aufweisen.«77 Das Leben bestimmt sich also auch hier wieder teleologisch durch das Prinzip der Zweckmäßigkeit, die Gesetzmäßigkeit, als fließendes System auf die Erhaltung des Ganzen gerichtet zu sein. Zugleich soll diese Zweckmäßigkeit jedoch keine sein. »Die Materialisten […] benutzen dieses Wort [Zweckmäßigkeit] (aus Mangel an einem besseren) nur zur kürzeren Bezeichnung der Übereinstimmung der Organisation des gesamten lebenden Systems mit der Selbsterhaltung und Selbsterneuerung unter den gegebenen Umweltbedingungen, ferner auch zur Bezeichnung der Anpassung der Struktur einzelner Teile des lebenden Systems an die vollständige und koordinierte Verwirklichung derjenigen lebensnotwendigen Funktionen, die die erwähnten Teile im lebenden System wie im ganzen tragen.«78 Der Terminus Zweckmäßigkeit sei also nur eine mangelhafte sprachliche Abkürzung dafür, dass ein lebendes System sich durch die ›Übereinstimmung der Organisation des gesamten lebenden Systems mit der Selbsterhaltung und Selbsterneuerung‹ auszeichne, also dafür, dass es in seiner Organisation auf sich selbst und seine Erhaltung gerichtet sei, auf sich als Zweck ausgerichtet sei. D.h. Zweckmäßigkeit sei nur ein verkürztes sprachliches Surrogat, um die Zweckmäßigkeit des Organismus auszudrücken. Es ist deutliches Merkmal einer widersprüchlichen Theorie, den Terminus der Zweckmäßigkeit durch die Beschreibung zweckmäßiger Prozesse ersetzen und sich durch diese konkretere Bestimmung zweckmäßiger Prozesse vom Begriff der Zweckmäßigkeit befreien zu wollen, aber zugleich auf ihn zurückverwiesen zu sein, weil nur er das Spezifische der beschriebenen Prozesse in ihrem organisierten Zusammenspiel fasst. Dies teilt Oparin bis heute mit vielen Biologen.

75 76 77 78

Oparin, Leben, S. 11. Vgl. Kapitel 5. Oparin, Leben, S. 12. Oparin, Leben, S. 11 f.

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254

Dialektik des Lebendigen

8.3.2.4

Kein empirisches Material, sondern ein ideelles Prinzip bestimmt das Leben

Die Uneinheitlichkeit der historischen wie der aktuellen Definitionsversuche des Lebendigen über empirische Merkmale79 weist Oparin zufolge auf eine spezifische Schwierigkeit hin. Der Fehler sei, die Entwicklungslinie des Lebens an einem bestimmten Zeitpunkt definieren zu wollen. Jede Realdefinition des Lebens träfe nur auf diesen einen Punkt zu, nicht jedoch auf die ganze Linie des Prozesses, als der sich das Leben durch die Erdgeschichte ziehe. Einzelne empirische Merkmale höher entwickelter Organismen seien bei niederen Lebensformen oft nicht zu finden und umgekehrt wiesen auch niedere Formen Spezifika auf, die sich nicht bei allen späteren, komplexeren Formen wiederfänden. Dagegen sei ›das Leben‹ (s)ein naturhistorischer Prozess, der sich in einem bloßen Nebeneinander empirischer Merkmale nicht abbilden lasse. Das Leben ist nach Oparin der Prozess der reflexiv aufeinander in der Reproduktion verwiesenen Lebewesen; die Lebewesen sind als Teil dieses Prozesses lebendig, aber keines von ihnen noch ihre Summe ist das Leben selbst; das Leben selbst ist ihre sie übergreifende Totalität. Damit erweist sich (auch) diese besondere Bewegungsform der Materie als Reflexionsbegriff. Sie ist nur der gedanklichen Reflexion und nicht den Sinnen zugänglich, daher ist das Leben nicht über empirische Bestimmungen zu definieren, sondern nur über die Reflexion auf das vorauszusetzende intelligible Prinzip des Lebendigen. Oparin vermischt diese Ebenen, indem er zum einen empirische Materialeigenschaften als qualitative, materiell bestimmte Differenz zwischen belebter und unbelebter Materie annimmt, zugleich aber den Mangel einer Realdefinition des Lebens über bloße Kennzeichen sieht und ›die eine‹, nämlich prinzipielle, qualitative Differenz im ganzen naturhistorischen Prozess als ›Bewegungsform der Materie‹ und gerade nicht als empirische Materialeigenschaft eines Organismus bestimmt. Hierüber wird sein Materialismus ideell.

8.4

Der Begriff der Ganzheit des Organismus

Da Vitalismus und Mechanismus also konsequent ausgeführt ineinander umschlagen, sind die meisten Theorien, die einer dieser Strömungen zugeordnet werden, Mischformen. Ihre Position ist in der Regel durch die Kritik an den Fehlern der jeweiligen Gegenseite bestimmt. Bei diesem Streit kristallisierte sich mit der Zeit der Minimalkonsens heraus, dass insbesondere die Einheit oder Ganzheit des lebendigen Organismus auch von materialistischer Seite aus nicht aufgegeben werden dürfe. Diese Einsicht nahm ihren Anfang mit neuen Erkenntnissen, die dem alten Verständnis der Einheit des Organismus widersprachen.

8.4.1

Theodor Schwann: Auflösung des Organismus in die Vielheit der Zellen

Die naturphilosophische Idee von der Einheit des Organismus, seiner Ganzheit, wurde in Deutschland spätestens mit der Entdeckung und Beschreibung der Zellen durch 79

Vgl. Kapitel 6.

8. Mechanismus und Vitalismus

Theodor Schwann von einem empirischen, experimentell-analytischen Zugang der Biologie zum Organismus abgelöst. Die Einheit des Organismus wurde zur Vielheit der Zellen. Als wichtigste Neuerung werden nun die Elementarteile als aktiv, lebendig vorgestellt. Die Ganzheit des Organismus ist verloren. Der Organismus erscheint als eine Aggregation von Einzelwesen. Die Zergliederung des Organismus in der Zellbiologie führt zu seiner Reduktion auf chemische Prozesse80 , was auch der zunehmenden Durchsetzung der positivistischen Wissenschaft entspricht, wie Weingarten aufzeigt: »In zweifacher Weise, nämlich durch die Dominanz rein analytischer Methoden und durch die Reduktion von Prozeßabläufen im Organismus auf nur physikalische und chemische Vorgänge, entgleitet […] der herkömmlichen Biologie das, was sie eigentlich erklären will: Der Organismus und sein evolutionärer Wandel. Fragt man nach den historischen Hintergründen eines solchen Verständnisses von Biologie, dann ist festzuhalten, daß die Eliminierung organismischen Denkens in der Biologie einhergeht mit der Entdeckung der Zellen durch Th. Schwann und M. Schleiden sowie der damit verbundenen Auffassung, Organismen seien nichts anderes als Zellaggregate bzw. Zellen seien autonom lebensfähig; durch die Aneinanderreihung solch autonomer Zellen sei es möglich, auch komplexere Gebilde aufzubauen. Und schließlich beginnt sich ungefähr gleichzeitig mit dieser Entdeckung die ausschließlich empiristisch-analytische Wissenschaftstheorie durchzusetzen.«81 Wie im Kristall82 jeder Teil Eigenschaften und Form eines großen Kristalls zeigt, so wurden analog die Zellen als mit den Eigenschaften des Lebens begabt und damit selbst auch unabhängig vom Gesamtorganismus als lebendig gedacht. Der Organismus als Einheit wird nicht länger als Ursache seiner Einzelprozesse angenommen, sondern umgekehrt bestimmen nun die Einzelprozesse den Organismus. Dies ist auch Schwanns Argument gegen den Vitalismus. Er beschreibt in Mikroskopische Untersuchungen über die Uebereinstimmung in der Struktur und dem Wachsthum der Thiere und Pflanzen, dass die teleologische vitalistische Auffassung, die Ursache für das Wachsen der einzelnen Teile des Organismus läge in seiner Ganzheit, als Resultat seiner Forschungen einer neuen Erklärung weichen müsse. »Die andere Erklärungsweise ist die: Das Wachsthum geschieht nicht durch eine, im ganzen Organismus begründete Kraft, sondern jeder einzelne Elementartheil besitzt eine selbstständige Kraft, ein selbstständiges Leben, wenn man es so nennen will, d.h. in jedem einzelnen Elementartheile sind die Moleküle so zusammengefügt, daß dadurch eine Kraft frei wird, wodurch er im Stande ist neue Moleküle anzuziehn und so zu wachsen, und der ganze Organismus besteht nur durch die Wechselwirkung der einzelnen Elementartheile (das Wort Wechselwirkung im weitesten Sinne genommen, so daß auch das darunter begriffen wäre, wenn der eine Elementartheil den Stoff bereitet, den der andere zu seiner Ernährung braucht). Hier sind also nur die

80 81 82

Vgl. auch Schrödinger, Was ist Leben? Weingarten, Organismen, S. 140. Vgl. Kapitel 9.2.

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Dialektik des Lebendigen

einzelnen Elementartheile das Aktive bei der Ernährung, und die Totalität des Organismus kann zwar Bedingung sein, aber Ursache ist sie nach dieser Ansicht nicht«83 . Wir sehen auch hier, dass die teleologische Betrachtung durch die Ausweitung des physikalischen Begriffs der Wechselwirkung auf die funktionalen Beziehungen zwischen den Teilen implizit erhalten bleibt. Um das Leben, seine innere bewegende Kraft oder seine Grundkräfte verstehen zu können, gelte es nach Schwann, die innere bewegende Kraft der Zelle zu begreifen. Wer die einzelne Zelle und ihren Stoffwechsel versteht, dem erschließe sich von hier aus der ganze Organismus. Von diesem Standpunkt aus ließe sich rückwirkend behaupten, in den Mitochondrien (den so genannten ›Kraftwerken der Zelle‹) die innere bewegende Kraft des Lebens gefunden zu haben – und zwar dem Anspruch nach nicht vitalistisch, sondern rein chemisch. In dieser Fokussierung auf die Zelle und ihren Stoffwechsel wird die Biologie dann vollständig an die Physik und Chemie anschlussfähig, da die ›selbständige Kraft‹ der Zelle keine metaphysische Vitalkraft, sondern schlicht aus dem Zellstoffwechsel entstandene, berechenbare Energie sei, die keine teleologische Gerichtetheit begründen müsse (und es auch nicht kann). »Wir gehen also von der Voraussetzung aus: Einem Organismus liegt keine, nach einer bestimmten Idee wirkende Kraft zu Grunde, sondern er entsteht nach blinden Gesetzen der Nothwendigkeit durch Kräfte, die ebenso durch die Existenz der Materie gesetzt sind, wie die Kräfte der anorganischen Natur. Da die Elementarstoffe in der organischen Natur von denen der anorganischen nicht verschieden sind, so kann der Grund der organischen Erscheinungen nur in einer andern Kombination der Stoffe liegen«84 . Hiermit wurde Roux’s Anspruch, die Biologie auf die Physik und Chemie zu reduzieren, eingelöst: »Durch die analytische Reduktion der Komplexität eines Organismus auf eine Aggregation homogener Elemente gelingt Schwann der methodische Anschluss an die experimentellen Verfahrensweisen der Physik. Denn auf der Ebene der Elementarbausteine und der an ihnen ablaufenden Prozesse verschwindet der Unterschied von organischer und anorganischer Materie.«85 Dieser Reduktion der Biologie auf die Gesetze der Chemie und Physik steht immanent entgegen, dass auch der Begriff der lebendigen Zelle den Bezug auf eine funktionale, organisierte Einheit braucht, die wiederum auf den ganzen Organismus verweist. Doch spätere Forschungen, wie die Arbeiten von Driesch, konnten zudem experimentell aufzeigen, dass die Zellen, insbesondere die Keimzellen, keine autonomen Einheiten sind,

83 84 85

Theodor Schwann, Mikroskopische Untersuchungen über die Uebereinstimmung in der Struktur und dem Wachsthum der Thiere und Pflanzen, Berlin 1839, S. 227. Theodor Schwann, Mikroskopische Untersuchungen über die Uebereinstimmung in der Struktur und dem Wachsthum der Thiere und Pflanzen, Berlin 1839, S. 226. Weingarten, Organismen, S. 32.

8. Mechanismus und Vitalismus

die sich zu Organismen zusammenschließen, sondern dass sie offenbar die teleologische Ausrichtung auf den ganzen Organismus in sich tragen (wie es der erweiterte Begriff der Wechselwirkung bei Schwann schon andeutet).

8.4.2

Hans Driesch: ein neuer Vitalismus der Ganzheit

Aus der Besonderheit in der Form der Organisation des Organischen folgt nach Driesch – in Opposition zu Schwanns Reduktionismus – die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Biologie gegenüber den anderen Naturwissenschaften: »Das Leben, die Formbildung wenigstens, ist nicht eine besondere Anordnung anorganischer Ereignisse; die Biologie ist daher nicht angewandte Physik und Chemie; das Leben ist eine Sache für sich, und die Biologie ist eine unabhängige Grundwissenschaft«86 . Nicht im Stoff des Lebewesens, sondern in seiner Form liege es, dass der chemische Stoff, aus dem der Organismus besteht, eine lebendige Einheit darstellt. Als einer der avanciertesten Vertreter des neuen (und Kritiker des alten) Vitalismus, bestimmte Driesch darum die organische Zweckmäßigkeit darüber, dass die Einzelteile des Organismus nicht eine Summe ergeben, sondern ein Ganzes bilden. Die Frage nach der Ursache für die Selbstorganisation87 des organischen Materials wurde in der Biologie vor allem im Bereich der Embryo- und Ontogenese akut. Die Forschungen von Hans Driesch an Seeigelembryonen ergaben, dass ein im frühen Stadium seiner Entwicklung künstlich zweigeteilter Embryo sich zu zwei organisch komplett ausgestatteten, lebensfähigen Seeigeln weiterentwickeln kann. Auch wenn ein Seeigelkeim zwischen zwei Glasplatten gequetscht wurde und die einzelnen Zellen aus ihrem Ordnungsgefüge gerissen wurden, entstand durch diese Verschiebung der Zellen nicht zwangsläufig ein anormaler Seeigel – die künstlich erzeugte Halbierung oder Unordnung im System konnte offenbar behoben werden durch eine Kraft, die selbst nicht von den angerichteten Schäden betroffen wurde, folglich nicht räumlich und materiell sein konnte und die die Ordnung der Zellen und Ganzheit des Organismus wieder herzustellen bestrebt war. Driesch nannte sie zunächst eine formbildende Kraft, dann Seele und später auch Entelechie. Diese Kraft mache nach Driesch die wesentliche Differenz zwischen Organismen und Unbelebtem aus; sie begründe auch den wesentlichen Unterschied zwischen Lebewesen und Artefakten, da eine Maschine den Verlust von Teilen oder die Vertauschung ihrer Positionen in keiner Weise eigenständig so zu kompensieren vermag, dass die Funktionsfähigkeit des Ganzen wieder hergestellt würde. Hierin zeige sich, dass die einzelnen, funktional aufeinander ausgerichteten Teile in Maschinen bloß physikalisch aufeinander wirkten, wogegen in Organismen eine weitere, aktiv Form und Ordnung stiftende Kraft tätig sei. Die Experimente von Driesch brachten neue Erkenntnisse über die ›Macht der Selbstregulationsfähigkeit‹, die den Biologen schon vor Driesch Rätsel aufgegeben

86 87

Hans Driesch, Philosophie des Organischen, Leipzig 1928, S. 125. Zur Theorie der Selbstorganisation vgl. Kapitel 10.

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Dialektik des Lebendigen

hatte.88 An der Erklärung dieser Selbstregulationsfähigkeit entflammte der Streit zwischen Mechanisten und Vitalisten im 20. Jahrhundert neu, da Driesch u.a. hier eine eindeutige Nicht-Reduzierbarkeit der Biologie auf die Physik sahen. Nach Driesch können sich die einzelnen Teile des Organismus nicht selbst zu einem ganzheitlichen Organismus organisieren, sondern bedürfen einer organisierenden und ordnenden Instanz, die ihnen vorausgesetzt werden muss, denn die Idee des Ganzen geht der Organisation der Teile zum Ganzen logisch vorher. Die Regulationsfähigkeit des Organismus bestehe also darin, dass seine Teile sich zu einem Ganzen regulieren lassen; sie tun es jedoch nicht von sich heraus, die Teile sind nicht Subjekte, die das Ganze konstituieren, sondern es braucht nach Driesch ein ihnen vorgeordnetes Subjekt, welches sie zu ihrer Organisation bestimmt:89 »Der Vitalismus, d.h. die Lehre von der Autonomie, der Eigengesetzlichkeit des Organischen, ist zunächst eine negative Aussage: er stellt fest, und zwar durch Ausschluß aller mechanischen Möglichkeiten, logisch gesprochen durch einen Beweis per exclusionem, daß Lebensvorgänge nicht mechanistisch aus dem von uns […] definierten Sinne, verständlich sind […]. Nun ist aber der Sache nach das Nicht-Mechanische hier etwas Positives, etwas in das Kausalgetriebe der Natur Eingreifendes. Wir dürfen ihm daher einen Namen geben, und zwar wählen wir das aristotelische Wort ›Entelechie‹,

88 89

Vgl. z.B. Wilhelm Roux, Die Entwicklungsmechanik der Organismen. Eine anatomische Wissenschaft der Zukunft, Wien 1890. Wie bei Darwin die Ökonomie und Sozialtheorie seiner Zeit in die Evolutionstheorie einflossen, so lässt sich auch an dem Streit zwischen Vitalisten und Materialisten eine politische Dimension bestimmen. Weingarten zeigt sie anhand einer Gegenüberstellung von Roux und Driesch auf: »Mit diesem Verhältnis von Selbstorganisation (Aufbau von unten nach oben) und der Notwendigkeit der Beschränkung selbstorganisatorischer Vorgänge durch eine ordnende Instanz (Steuerung und Regulierung von oben nach unten) greift Roux, auch wenn er es nirgends explizit ausspricht, auf das politische Modell des klassischen Liberalismus zurück, aber auch auf einen diesem Modell eigentümlichen Widerspruch. Am Beispiel Virchows, führendem Mediziner und liberalem Politiker, erläutert Göckenjan: ;Es gelingt ihm [Virchow, M.W.], mit der Zellularpathologie die verschiedenen Sichtweisen der Reformer in ein einheitliches Prinzip zu fassen, das auf erstaunliche Weise gesellschaftliche und physiologische Theorien identisch erscheinen läßt. Der Körper ist ein Zellenstaat […]. Es ist ein Verbund von Individuen, der zwar als Organismus zu bezeichnen ist, aber keine der alten organisierenden Gliederungskriterien aufweist […] Das ist der ideale Staat des Liberalismus (Göckenjan 1985, S. 261).« Weingarten, Organismen, S. 85. Anders dagegen bei Driesch: »[D]er Staat ist nicht mehr getrennt zu sehen von der bürgerlichen Gesellschaft, sondern er ist vielmehr deren Grundlage, ohne die sie überhaupt nicht möglich wäre. Driesch verläßt so den Boden des klassischen Liberalismus und bewegt sich hin zu einer autoritären Gesellschafts- bzw. Staatsvorstellung. Im Endeffekt, nämlich in der autoritären Gesellschaftsvorstellung, trifft sich hier die vitalistische Ganzheitsbiologie mit dem Sozialdarwinismus, wenn auch die zugrundeliegenden biologischen Theorien völlig verschieden sind. Es kann daher nicht überraschen, daß diese beiden Strömungen einer ›autoritären Biologie‹ (Plessner) im Nationalsozialismus um die Vormachtstellung rangen, bis zur Niederlage der Ganzheitsbiologie Ende der dreißiger Jahre (vgl. Weingarten 1988, Regelmann 1986).« (Weingarten, Organismen, Darmstadt 1993, S. 86). Zur Verbindung von biologischen Ganzheitsvorstellungen mit gesellschaftlichen und psychologischen Bestrebungen politischer und subjekttheoretischer Ganzheit vgl. auch Anne Harrington, Die Suche nach Ganzheit. Die Geschichte biologisch-psychologischer Ganzheitslehren: Vom Kaiserreich bis zur New-Age-Bewegung, Hamburg 2002.

8. Mechanismus und Vitalismus

wohl wissend, daß es uns eben nur ein Wort ist […]. Was wir von der Aktion der Entelechie immerhin positiv doch wohl wissen, ist dieses: sie bewegt sich stets im Rahmen von Ganzheit«90 . Dies bezeichnet einen wesentlichen wissenschaftstheoretischen Unterschied zwischen Vitalisten und Mechanisten: Driesch macht deutlich, dass der Vitalismus sich nicht empirisch durch geeignete Experimente positiv beweisen lässt – und trifft sich hier mit seinen Kritikern, die den Vitalismus aufgrund seiner Nichtbeweisbarkeit durch empirisch ausgerichtete naturwissenschaftliche Methoden ablehnen. Andersherum lässt sich die von den Mechanisten als empirisches Faktum angegebene Selbstregulation der Organismen jedoch gleichfalls nicht ohne die implizite Voraussetzung des spekulativen ›Selbst‹ begreifen,91 so dass unter diesem Aspekt die vitalistische und bewusst naturphilosophisch ausgerichtete Theorie als die avanciertere bewertet werden muss. Doch bei Driesch folgt aus dieser Reflexion auf das intelligible Moment unmittelbar eine positive Bestimmung: Eine empirisch-materiell wirkende Kraft, genannt Entelechie, die sogar in das ›Kausalgetriebe der Natur‹ eingreifen kann – und damit widersprüchlich verfasst ist, da sie einerseits selbst ein kausaler Faktor sein muss, andererseits zugleich der Kausalität als etwas von ihr Verschiedenes entgegentritt. Im Weiteren heißt es bei Driesch, dass die ›Entelechie nicht der einzige Kausalfaktor‹ sei, sondern durch die ›Kräfte der Materie‹, den anderen Kausalfaktor, beschränkt würde. In dieser positiven Wendung ist der Vitalismus dann tatsächlich im vorkritischen Sinne metaphysisch und verwickelt sich unrettbar in den Widerspruch, eine in die Naturkausalität hineinwirkende Kraft zu denken, die einerseits selbst physikalische Wirkungen habe, andererseits jedoch keine physikalische Größe sein kann und sich deshalb dem experimentellen Nachweis entziehe.

8.4.3

Die mechanistische Übertragung der Ganzheit auf das Unbelebte

Die vitalistische Bestimmung des Lebens als Ganzheit wurde von mechanistischen Lebenstheorien aufgenommen in Form der physikalischen Ganzheit, die die Einheit eines Systems ausmache. In dieser Variante ist die Ganzheit dann jedoch nicht mehr spezifisch für das Lebendige. Sie gelte Wolfgang Köhler92 zufolge nicht nur für Organismen, sondern auch für Mineralien, Kristalle, bestimmte chemische Verbindungen etc., die ›physische Gestalten‹ bildeten; falle ein Teil weg, so zerfalle das Ganze, weil es seine eigentümliche Struktur und Eigenschaften verliere (oder es regeneriert sich, was bei Lebewesen wie bei Kristallen zu beobachten sei). Die Differenz zwischen Lebewesen und ›physischen Gestalten‹ bestehe darum nach Max Hartmann93 nicht darin, dass letztere ohne das Prinzip der Zweckmäßigkeit erkennbar wären, sondern lediglich darin, dass

90 91 92

93

Hans Driesch, »Das Wesen des Organismus«, in: Hans Driesch/Heinz Woltereck (Hg.), Das Lebensproblem, Leipzig 1931, S. 385-450, S. 415 f. Vgl. Kapitel 10.2.4. Vgl. Wolfgang Köhler, Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand. Eine naturphilosophische Untersuchung, Erlangen 1924. Als ›Gestalten‹ bezeichnet Köhler anorganische, in sich zweckmäßige Systeme. Vgl. Max Hartmann, Philosophie der Naturwissenschaften, Berlin/Heidelberg 1937.

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Dialektik des Lebendigen

die einzelnen Kausalreihen, welche das Ganze des Systems durch ihre Wechselwirkung stifteten, beim Unorganischen leichter zu durchschauen seien als beim Organischen.94 Deshalb hätten die Naturwissenschaften, die es mit dem Unbelebten zu tun haben, sich historisch früher von den Stützrädern des heuristischen Prinzips der Zweckmäßigkeit frei machen können, als die Biologie. Das (empirisch) besondere am Lebendigen sei, dass das System sich erhalte, dass Leben nur aus Leben entstehe, dass es im Prozess des Lebendigen also keine Lücken gäbe. Dies sei eine ›tiefere Zweckmäßigkeit‹, als man sie im Unbelebten finde. Doch sogar das zweckmäßig erscheinende Verhalten der Tiere sei tatsächlich auf mechanistisch zu erklärende Instinkte zurückzuführen. Auch hier taucht das für mechanistische Lebensdefinitionen unvermeidbare Problem auf, dass der spezifische Gegenstand, das Lebendige, verloren zu gehen droht, wenn man es in Prozesse der unbelebten Materie auflöst und bloß quantitativ, als ›tiefere‹ Zweckmäßigkeit, vom Unbelebten differenziert. Das Reden von der tieferen Zweckmäßigkeit fungiert darum als Rettungsanker, um an der Differenz zwischen Leben und Nichtleben festzuhalten, indem dieser Terminus zwar ein komparativer ist, aber zugleich so gebraucht wird, als bezeichne er eine qualitative Differenz. In dieser Bedeutung, die ›tiefere Zweckmäßigkeit‹ sei wesentlich von einer flacheren Zweckmäßigkeit im Unbelebten zu unterscheiden, widerspricht sie dann ihrer Annahme, Leben ließe sich mechanistisch fassen.

8.4.4

Bernhard Dürken: Ganzheit ist nicht Form, sondern Aktivität (Prinzip)

Gegen die mechanistischen Versuche, die Ganzheit des Organismus zu begreifen, brachte Bernhard Dürken die Ganzheit des Organismus nicht lediglich mit seiner in sich funktionalen Form zusammen, die auch eine leblose Maschine aufweise, sondern bestimmte sie wesentlich über die Aktivität als und zur Ganzheit, was als zugrundeliegendes Prinzip über bloße Form und Kennzeichen hinausgehe. So seien zwar Stoff- und Energiewechsel dem Lebendigen als Kennzeichen ›wesentlicher‹ eigen als Bewegung oder Reizbarkeit und unterschieden es vom Unbelebten,95 aber dennoch seien sie zugleich rein mechanistisch erklärbar und könnten daher die Frage danach, was das Leben sei, nicht beantworten. »Die einzelnen Stoff- und Energieumsätze freilich sind keineswegs spezifisch vitale Prozesse, sondern tragen durchaus physikalisch-chemischen Charakter […]. Die Zergliederung verwickelter Tätigkeiten des Organismus führt oft zu einfacheren Grundvorgängen, denen dann nichts Lebensmäßiges mehr anhaftet. Man erkennt dann, daß durch Zergliederung oder Analyse allein das Leben selbst überhaupt nicht zu fassen ist. Gewisse Tätigkeiten kennzeichnen zwar den lebenden Organismus gegenüber anderen Naturkörpern, aber sie machen das Leben nicht aus.«96 94

95 96

Ähnlich wie bei Monod, der die Kristalle rein quantitativ über die Menge der für die Organisation aufgewandten Information aus dem Bereich des Lebendigen ausschließt. Vgl. Monod, Zufall und Notwendigkeit, S. 21. Vgl. Kapitel 6. Bernhard Dürken, Die Hauptprobleme der Biologie, München 1949, S. 261 ff. (Künftig zitiert: Dürken, Hauptprobleme).

8. Mechanismus und Vitalismus

Dürken bezieht sich affirmativ auf Driesch,97 dessen Forschungsarbeiten und theoretische Schlüsse ihm unverkennbar als Vorlage dienten, doch den Vitalismus einer Entelechie lehnt er ab. Geeigneter für eine Annäherung an das Wesen des Lebens sei der Begriff der Entwicklung. Die Entwicklung des Lebewesens »befähigt uns zu einer grundsätzlichen Grenzziehung gegenüber den unlebendigen Naturdingen. Denn diese können wohl verändert und umgestaltet werden, sie können wohl eine andere als die ursprüngliche Beschaffenheit annehmen, aber sie zeigen eben nur ein Gestaltetwerden, nicht aber aktive Entwicklung«98 . Diese Aktivität zur Ganzheit, die sich in der Entwicklung zeige – insbesondere auch dort, wo diese durch äußere Einflüsse oder Missbildungen gehemmt werde und sie dennoch ihre Zielstrebigkeit durch Kompensation und Umbildungen weiterverfolge – sei dasjenige, was dem Lebendigen wesentlich eigen sei und was durch den mechanistischen Ansatz nicht erfasst werden könne. Dieses Leben als Ganzheit sei nicht mit der gebildeten ganzheitlichen Gestalt des Lebewesens identisch, sondern ihr ideell vorausgesetzt. »Gewebe und Organe werden ja überhaupt erst im Laufe der Embryonalentwicklung gebildet; der Keim hat aber bereits wirkliches Leben. Freilich ist der Fall häufig, daß, wenn erst einmal bestimmte Organe vorhanden und in Tätigkeit sind, die Erhaltung des Lebensbetriebes von ihnen abhängt, wie es bei Herz und Lunge sehr einfach zu erkennen ist, aber der Organismus wird durch das Vorhandensein und die Tätigkeit dieser Organe nicht erst lebendig. Anders gebauten Organismen können derartige Organe überhaupt fehlen, wie sie ja auch dem Embryo zunächst immer abgehen.«99 Die Gliederung der Gestalt und die Organe seien daher nicht ›das Leben‹, sondern setzen dieses immer schon voraus. Sie seien bloß zweckmäßig (›Werkzeuge‹) für das Leben. Lebendiges gibt es in mannigfaltigsten, historisch und individuell sich permanent entwickelnden Gestalten, so dass sich das Leben in keiner spezifischen Form greifen lasse. Nicht einmal die Zellstruktur sei als Grundform des Lebens zu fixieren: »[D]er zellige Aufbau kann auch vorübergehend aufgehoben werden, ohne daß das Leben selbst erlischt. Ein kernloses Stück Plasma einer Eizelle z.B. ist durchaus nicht tot, wie aus den früher besprochenen Versuchen über künstliche Parthenogenese unzweideutig hervorgeht. Man kann den Zellkern entfernen oder ein kernloses Stück Zellplasma abteilen, es behält alle seine Fähigkeiten, die es zur Geltung bringt, wenn man nachträglich wieder einen Kern hinzufügt. Das beweist, daß die Zellstruktur als solche nicht Grundbedingung des Lebens an sich ist, sondern daß die Gliederung in Zellkern und Zellplasma, wenn sie vorhanden ist – und das ist sie ja meistens – eine Einrichtung für den Betrieb und die Aufrechterhaltung der Lebensbetätigungen darstellt. Es handelt sich also um eine organartige Differenzierung, die regelmäßig

97 98 99

Vgl. Dürken, Hauptprobleme, S. 274. Dürken, Hauptprobleme, S. 261 Dürken, Hauptprobleme, S. 263.

261

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Dialektik des Lebendigen

vorhanden zu sein pflegt; sie bedingt aber nicht das Leben überhaupt, sondern steht nur im Dienst bestimmter Funktionen.«100 Alles spezifisch Geformte der organischen Gestalt erscheine so »im Dienste des Ganzen«, ein »Wirkgefüge«, welches entwickelt sei »im Hinblick auf das Ganze und für das Ganze«101 . Nicht die Summe der Teile oder der hochkomplexen Wechselwirkungen machten das Leben aus, sondern seine immer vorausgesetzte und realisierte Ganzheit. Dies sei der grundsätzliche Fehler des Mechanismus, den Organismus als bloße Summe von Teilfunktionen begreifen zu wollen.102 Es sei dies der an der unbelebten Natur geschulte Blick, der in gleicher Weise sich auf das Belebte richte und dem der Organismus lediglich als raffinierter Apparat erscheine. »[B]ei völliger Analyse [der Teilfunktionen des Organismus] verschwindet sozusagen der Organismus selber, so daß nur ein Trümmerhaufen übrigbleibt. Das, was das Lebewesen zu einem einheitlichen Ganzen macht, als das es tatsächlich lebt, tritt nicht in Erscheinung.«103 Dagegen bestimme seine aktive Ganzheit, die sich in der zielstrebigen Entwicklung allen Lebens und seines Verhaltens zeige, das Lebewesen als autonomes Subjekt.104 Diese immanente Beschaffenheit als Ganzheit ist bei Dürken »kein stoffliches Ding«105 , sondern eher eine psychische Qualität. Er trennt deutlich zwischen dem Psychischen und dem Geistigen; das untrennbar mit dem Leben verbundene psychische Moment behauptet daher kein Bewusstsein in Tieren, Pflanzen oder Zellplasma. Eine Pflanzenpsyche sei einfach dasjenige, was die Wirkungen hervorrufe, die »der ganzen Eigenart der Pflanze und des Pflanzenlebens«106 eigentümlich sind. Insofern ist auch dies eine vitalistische Theorie, die als Erklärung eine neue Problemstellung aufmacht: Was ist dieses Psychische, das (analog zu dem aristotelischen Begriff der Seele) die ideelle Formursache der Lebewesen enthält? Zunächst ist es eine weitere Variante, das Rätsel des Lebens zu postulieren.

8.5

Der Vitalismus arbeitet nicht naturwissenschaftlich, der Mechanismus ist zur Erklärung des Lebendigen nicht hinreichend

Im Vitalismus hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts wie oben gezeigt die Entwicklungsphysiologie eine große Bedeutung. Denn mit ihr wurde die spezifische Gestalt der 100 Dürken, Hauptprobleme, S. 264. Das logische Problem der Trennung von Akzidenz und Wesen müsste bei Dürken in der Konsequenz dazu führen, dass jede Lebensform, also alles empirisch wirkliche Leben, lediglich Werkzeug für das Leben sei, das als transzendentes zugrunde gelegt werden muss. Reflexionsbegriff und Entität werden hier, wie so oft, nicht voneinander unterschieden. 101 Dürken, Hauptprobleme, S. 265. 102 Vgl. Dürken, Hauptprobleme, S. 267. 103 Dürken, Hauptprobleme, S. 268. 104 Vgl. auch Kapitel 11.8.1. 105 Dürken, Hauptprobleme, S. 277. 106 Vgl. Dürken, Hauptprobleme, S. 279.

8. Mechanismus und Vitalismus

Organismen nicht bloß beschrieben und nach bestimmten Merkmalen in die Systematik der Taxonomie aufgenommen, sondern die Prozesse und wirkenden Kräfte in der Formbildung wurden insbesondere in Experimenten zur Regulation und Missbildung in der Embryonalentwicklung wissenschaftlich untersucht.107 »So ist die tierische Gestalt heute nicht mehr nur ein Mittel, praktische Anhaltspunkte zu einer Katalogisierung ihres Trägers zu erhalten, sondern der Ausdruck einer Vielfalt von Funktionen, von innerhalb und außerhalb des Organismus liegenden Bedingungen, die alle zu einer harmonischen Ganzheit zusammenwirken.«108 Diese Ganzheit sei Francesco Nardi zufolge zwar naturwissenschaftlich nur mit der ›kausal-analytischen Methode‹ des Mechanismus zu untersuchen, doch ob eine hinreichende Erklärung des Lebendigen auf diesem Wege möglich sei, sei mindestens ungewiss. Zugleich seien Hinweise auf wirkende Faktoren jenseits der physikalischen Zugänglichkeit, wie sie etwa im Begriff der Entelechie gefasst oder als psychische Eigenschaften behauptet wurden, als unwissenschaftlich abzulehnen. Ihr Verdienst liege lediglich darin, auf Probleme der biologischen Gegenstandsbestimmung hinzuweisen: »Vitalistische Begriffe, wie Ganzheit, Entelechie, sind keine Erklärungen, sondern Problemstellungen.«109

8.5.1

Brandstetter: Vitalismus und Mechanismus als gleichberechtigte Denkstrategien

Mechanismus und Vitalismus mit ihren unterschiedlichen Problemstellungen bestimmt Brandstetter als zwei verschiedene Strategien, das Leben zu erklären. Die Strategie des Mechanismus bestehe darin, mithilfe von einer Mehrannahme an Hypothesen das Lebendige nicht als ein ›autonomes Gebiet‹ zu betrachten, sondern es auf andere naturwissenschaftliche Gebiete mithilfe von Hypothesen zurückführen zu können, während die Strategie des Vitalismus darin bestehe, eigene Konstanten für das Leben anzunehmen, was den Vorteil habe, dass man weniger Hypothesen brauche, jedoch den Nachteil, dass man hiermit ein autonomes Gebiet bestimmt habe, welches nicht in die anderen Gebiete der Naturwissenschaft überführt werden könne. Durch die Annahme eigener Konstanten des Lebendigen verbaue der Vitalismus der Biologie also die Chance der Vermittlung mit den anderen Naturwissenschaften, so dass das Lebendige nicht in das System der Natur einzugliedern sei. Wegen dieses Aspekts bezog sich auch Georges Canguilhem positiv auf den Vitalismus110 ; nicht, weil er die vitalistischen Theorien in Konsequenz ihrer Annahme einer Lebenskraft und dergleichen teilte, sondern weil die rhetorisch vermittelten Vorstellungen von Lebenskraft, Entelechie und Ähnlichem deutlich machten, dass das Leben als 107 Wie bei Hans Driesch. 108 Francesco Nardi, Organismus und Gestalt. Von den formenden Kräften des Lebendigen, München/Berlin 1942, S. 19. 109 Francesco Nardi, Organismus und Gestalt. Von den formenden Kräften des Lebendigen, München/Berlin 1942, S. 241. 110 Vgl. Georges Canguilhem, La Connaissance de la vie, Paris 1952, dt. Die Erkenntnis des Lebens, Berlin 2009.

263

264

Dialektik des Lebendigen

Emergentes von der menschlichen Vernunft uneinholbar sei. Brandstetter greift diesen Gedanken auf: »Der Vitalismus ist hier sowohl Symptom wie Bezeichnung der Unmöglichkeit, das Phänomen des Lebens in seiner Totalität zu erfassen«111 . D.h. die Begriffe und Erklärungen, die der Vitalismus tatsächlich anbietet, seien zwar irrelevant und »eher ein Etikett für unsere Unwissenheit«112 , aber der Vitalismus sei als rhetorische Erklärungsart der Biologie dennoch genau deshalb relevant, weil er die im Leben enthaltene oder dargestellte Grenze dessen, was durch unsere Vernunft fassbar sei, aufzeige. Die beiden verschiedenen Strategien der Naturerklärung begreift Brandstetter mit Canguilhem als epistemologisch gleichwertige. Entweder, man vermehre die Hypothesen, oder die Konstanten. Diese Strategien seien zwar logische Gegensätze und deshalb unvereinbar, doch beide prinzipiell legitim und gleichwertig. Man müsse im Einzelfall schauen, für welche der beiden Strategien man sich aus pragmatischen Gründen entscheide. Ein grundlegendes naturphilosophisches Problem wie dasjenige, dass der Begriff der Einheit der Natur notwendig zerfällt, wenn man einen solchen logischen Gegensatz annimmt, sieht er nicht. Bei der Entscheidung zwischen epistemologischen Strategien entscheide letztendlich, was sich denkökonomisch mehr rentiere. Doch eine solche von Brandstetter geforderte ›denkökonomische Entscheidung‹ will offenbar den Gegenstand jeweils theoretisch so bestimmen, wie es einfacher vorzustellen ist und legt das Primat darauf, die jeweilige Theorie plausibel zu halten und nicht darauf, den zu erkennenden Gegenstand zu begreifen. Die Frage bleibt also, ob in der belebten Natur der Mechanismus zur Bestimmung des Gegenstandes hinreichend ist beziehungsweise ob der Vitalismus sich in metaphysische Hilfskonstruktionen versteigt.

8.5.2

Die Lebenskraft bleibt ein bloßes Wort

Schelling bestimmte den Mechanismus als nicht hinreichend zur Erklärung des Lebendigen: »Nun ist aber Mechanismus allein bei weitem nicht das, was die Natur ausmacht. Denn sobald wir ins Gebiet der organischen Natur übertreten, hört für uns alle mechanische Verknüpfung von Ursache und Wirkung auf.«113 Heuser fasst die Begründung von Schellings Kritik am Materialismus pointiert zusammen: »Was die biologische Natur also aus dem linearen Mechanismus heraushebt, ist die zyklische Kausalform ihrer Selbstreproduktion.«114 Sie zeigt weiter auf, dass mit Schelling der Organismus zwar nach den in ihm ablaufenden chemischen Prozessen in seinen Funktionen erklärt werden kann, alle diese Prozesse jedoch nur im Organismus ablaufen und ihn schon voraussetzen. Mit der Kenntnis über alle Wirkungsmechanismen im Organismus wäre 111

112 113 114

Thomas Brandstetter, »Leben im Modus des Als Ob. Spielräume eines alternativen Mechanismus um 1900«, in: Armen Avanessian/Winfried Menninghaus/Jan Völker (Hg.), Vita Aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit, Berlin 2009, S. 237-249, S. 237. Ebd. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph Schellings sämmtliche Werke, K. F. A. Schelling (Hg.), Stuttgart 1856-1861, Band II, S. 40. Marie-Luise Heuser, »Schellings Organismusbegriff und seine Kritik des Mechanismus und Vitalismus«, in: Josef Simon (Hg.), Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 14/2 1989, S. 17-36, S. 20. (Künftig zitiert: Heuser, Schellings Organismusbegriff ).

8. Mechanismus und Vitalismus

darum dieser selbst nicht begriffen, da das Leben den für es spezifischen chemischen Prozessen immer schon vorausgesetzt werden müsse.115 Das Leben sei kein Produkt der organischen Materie, sondern umgekehrt die organische Materie ein Produkt des Lebens.116 Schellings Kritik am Vitalismus ist jedoch ebenso deutlich: »Wenn ein Theil derselben [der Biologen] eine besondere Lebenskraft annimmt, die als eine magische Gewalt alle Wirkungen der Naturgesetze im belebten Wesen aufhebt, so heben sie eben damit alle Möglichkeit die Organisation physikalisch zu erklären auf.«117 Das heißt, sie geben der Sache nach jeden Anspruch auf, das Lebendige zum Gegenstand der Naturforschung zu machen, denn die Wirkung der Naturgesetze würde durch die im Organismus wirkende Lebenskraft als außer Kraft gesetzt vorgestellt.118 Dies machte nicht nur die Biologie unmöglich, sondern würde das Prinzip der Einheit der Natur119 verletzen und so alle Naturwissenschaft aufheben. Seine Kritik am Vitalismus weist Schelling nicht als Mechanisten aus. Doch »Schelling gibt zu verstehen, daß die Mechanik, auf die sich die Vertreter der Lebenskraft indirekt durch die Postulierung einer Kraft berufen, wenigstens den Vorzug habe, daß sie wirklich etwas – in dem Gültigkeitsbereich, in dem sie zur Anwendung kommt (z.B. den Planetenbewegungen) – deduzieren kann, während die Lebenskraft ein ›bloßes Wort‹ bleibt.«120

8.5.3

Die Fehler von Vitalismus und Mechanismus zeigen sich in ihrem Bezug auf Kant121

Die Lebenskraft bleibt im Vitalismus ein bloßes Wort und kann keine tatsächlich wirkende physikalische Kraft sein, weil hier ein Erkenntnisprinzip fälschlich zu einer wirkenden (Natur-)Kraft hypostasiert wurde. Dies zeigt sich deutlich im positiven Bezug vieler Vitalisten auf die Kritik der Urteilskraft von Kant. Auf die gleiche Schrift und sogar fast auf die gleiche Textstelle bezogen sich auch die Mechanisten, mit dem Fehler, die teleologische Form der Beurteilung des Lebendigen als bloß heuristisches Prinzip und damit dem Organismus selbst äußerlich122 zu begreifen.

Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph Schellings sämmtliche Werke, K. F. A. Schelling (Hg.), Stuttgart 1856-1861, Band II, S. 499. 116 Vgl. Heuser, Schellings Organismusbegriff, S. 23. 117 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph Schellings sämmtliche Werke, K. F. A. Schelling (Hg.), Stuttgart 1856-1861, Band II, S. 526. 118 Nach Heuser bezieht Schellings Kritik sich hier auf Theoreme wie das von Georg Ernst Stahl; dieser ging davon aus, dass ohne wirkende Lebenskraft der Organismus chemisch zersetzen (also unter Bedingungen der normalen Wirkungen der Naturgesetze sterben) würde. Vgl. Heuser, Schellings Organismusbegriff, S. 29. 119 Vgl. Kapitel 1. 120 Heuser, Schellings Organismusbegriff, S. 30. 121 Teile hiervon veröffentlicht in: Christine Zunke, »Künstliches Leben und ratio perversa. Craig Venter als Newton des Grashalms?«, in: Myriam Gerhard/Christine Zunke (Hg.), Die Natur des Menschen. Aspekte und Perspektiven der Naturphilosophie, Würzburg 2012, S. 73-104. 122 Vgl. Kapitel 7.4.2. 115

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266

Dialektik des Lebendigen

Die Vitalisten (z.B. Driesch, Ungerer) lasen aus Kants Werk die Notwendigkeit eines eigenen Kausalprinzips zur Erklärung des Lebens heraus, das nicht in der Kausalität von Ursache und Wirkung aufgeht.123 Sie deuteten es als Lebenskraft, ohne die nichts Lebendiges sich erklären lasse. Die berühmte und oft zitierte Kantstelle, die den Vitalismus zu stützen scheint, lautet: »Es ist nämlich ganz gewiss, daß wir die organisierten Wesen und deren innere Möglichkeit nach bloß mechanistischen Prinzipien der Natur nicht einmal zureichend kennen lernen, viel weniger uns erklären können;«124 Der Satz, der direkt im Anschluss an diesen steht, scheint dagegen die mechanistische Position (z.B. Stadler, Bauch, Hartmann) zu unterstützen: »Daß dann aber auch in der Natur, wenn wir bis zum Prinzip derselben in der Spezifikation ihrer allgemeinen uns bekannten Gesetze durchdringen könnten, ein hinreichender Grund der Möglichkeit organisierter Wesen, ohne ihrer Erzeugung eine Absicht unterzulegen (also im bloßen Mechanism derselben), gar nicht verborgen liegen könne, das wäre wiederum von uns zu vermessen geurteilt;«125 Für die mechanistische Position war es zentral, dass die innere Zweckmäßigkeit der Organismen von Kant als ein regulatives Prinzip der Urteilskraft bestimmt wurde. Sie verstanden dies so, dass die Annahme der Zweckmäßigkeit bloß von – je nach Lesart unverzichtbarem oder im Fortschreiten der Biologie durch kausale Erklärungen zu ersetzendem – heuristischem Wert für die Biologie sei, was jedoch nicht bedeute, dass die Zweckmäßigkeit tatsächlich den Organismen als Eigenschaft zugesprochen werden könne. Die Annahme der Zweckmäßigkeit helfe vielmehr dem Verstand, die richtigen Fragen zu stellen, um dann nach und nach die tatsächlichen, kausalen Zusammenhänge des Organismus begreifen zu können. Insbesondere Max Hartmann vertrat die Position, dass gerade über die Hilfsannahme einer Zweckmäßigkeit des Organismus seine tatsächliche, durchgehend kausale Struktur erkannt werden könne: »Hat sie [die biologische Forschung] aber eine solche Zweckbeziehung erkannt, dann hat sie zugleich die betreffende Organfunktion als kausales Moment zur Erreichung dieses Zweckes nachgewiesen. Hier zeigt sich mit aller Deutlichkeit, wie die Frage nach der ›relativen Zweckmäßigkeit‹ den Zweckbegriff auflöst, ihn durch kausale Momente ersetzt.«126 Hierbei ist, wie schon weiter oben gezeigt wurde,127 der heuristische Wert der Annahme der Zweckmäßigkeit jedoch nicht ohne dieses angenommene teleologische Prinzip zu haben, denn die mit seiner Hilfe entdeckten Kausalbeziehungen sind technisch-praktisch auf das über den Zweck erklärte Ziel ausgerichtet. Wie die Lunge Gasaustausch verrichtet, das geht in Kausalverbindungen auf; aber wozu dieser Gasaustausch dient,

123 124 125 126 127

Zum Problem der ›eigenen Kausalität‹ des Lebendigen bei Kant vgl. Kapitel 12.7. Kant, KdU, S. 265 [337]. Kant, KdU, S. 265 [338]. Max Hartmann, Biologie und Philosophie, Berlin 1925, S. 25. Vgl. Kapitel 7.4.2.

8. Mechanismus und Vitalismus

das ist ohne den Zweckbegriff nicht zu denken und darum auch nicht durch kausale Momente zu ersetzen. In Bezug auf Langes 1872 erschienenes Werk Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, der in seinem Kapitel über Darwinismus und Teleologie in dieser Weise das regulative Prinzip der Urteilskraft als Grund einer bloß subjektiven Beurteilung der Organismen als in sich zweckmäßig verfasst darstellt, schreibt Michelini: »Indem er [Lange] nur den heuristischen Charakter dieser Teleologie betont und deren Unbeweisbarkeit im Rahmen der Naturwissenschaften, weist er die entscheidende Idee Kants zurück, daß nämlich die teleologische Beurteilung der Organismen eine notwendige Folge der Einrichtung der Vernunft sei.«128 Die mechanistische Kantinterpretation enthält den Fehler, zu glauben, das Erkenntnisobjekt bliebe von der Erkenntnisart unberührt. Sie nimmt das regulative Prinzip der inneren Zweckmäßigkeit zur Erkenntnis der Lebewesen als ›keine objektive Eigenschaft‹ der zu erkennenden Gegenstände an – d.i. keine notwendige Folge der Vernunft – und denkt es damit als im Fortgang der Wissenschaft ersetzbar, wie Max Hartmann es explizit postuliert: »Unsere bisherigen Erörterungen haben uns gezeigt, daß die Zweckmäßigkeit kein konstitutives Prinzip für die biologischen Wissenschaften darstellt. Sie ist nur ein regulatives oder heuristisches Prinzip, welches im weiteren Fortschritt zur Erkenntnis von Kausalzusammenhängen führt. Kausalität ist mithin auch im Organischen ebenso wie in der Physik und Chemie die einzige Erkenntnis bedingende Kategorie.«129 Erkenntnis ist hier auf Erkenntnis von Kausalzusammenhängen beschränkt. Auf dem Weg dorthin soll die Annahme einer Zweckmäßigkeit einen Nutzen haben, der letztendlich darin besteht, sie zu widerlegen. Das ›heuristische Prinzip‹, eine innere Zweckmäßigkeit der Organismen anzunehmen, führe auf dem Weg zur Erkenntnis des Gegenstandes also zunächst in die Irre. Dieser Irrweg werde dann überwunden, indem das, was sich zunächst nur unter der Annahme der Zweckmäßigkeit erkennen ließ, in die Erklärung von Kausalreihen aufgelöst werde. Der heuristische Wert erscheint hierbei zweifelhaft – warum sollte die Biologie sich im Erkenntnisvorgang erst durch falsche Annahmen verwirren lassen müssen, um dann die richtige Kausalerklärung zu finden? Wenn von der Zweckmäßigkeit im Ende nichts bleibt als der Anachronismus, dass sie einst als Katalysator der Erkenntnis gedient habe, sie aber im Resultat verzichtbar sein soll, dann geht ihr heuristischer Wert im Fortschritt der Biologie verloren.

128

129

Francesca Michelini, »Darwin und das Problem der Zweckmäßigkeit in der Natur«, in: Kurt Bayertz/ Myriam Gerhard/Walter Jaeschke (Hg.) Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert, Band 2: Der Darwinismus-Streit, Hamburg 2007, S. 222-244, S. 236. Max Hartmann, Biologie und Philosophie, Berlin 1925, S. 27 f.

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Dialektik des Lebendigen

8.6

Hartmann: nexus organicus als ergänzende Kausalform zwischen nexus finalis und nexus effectivus

Nicolai Hartmann kritisiert vor allem falsche Kritik(en) an Teleologievorstellungen und führt den Streit zwischen Vitalisten und Mechanisten auf falsche Vorstellungen bezüglich des nexus finalis zurück. Der »Finalnexus«, auf welchen sich der Vitalismus bezieht, und der »reine Kausalismus«130 , nach dem die Mechanisten das Lebendige untersuchen, bilden nach Hartmann in der Biologie eine seit der Antike »verewigte Streitlage«131 , in der sie wechselseitig auf ihre jeweiligen Erklärungsmängel hinweisen. Sie hätten ihren Ursprung in den zwei Gegebenheitsweisen des Organischen: der unmittelbare Innenaspekt des erlebten Lebens, in dem wir handeln, sei grundlegend teleologisch konzipiert; die äußere Anschauung zeige uns dagegen die Lebewesen als kausale Gegenstände. »Es sind übertragene Prinzipien, sie können schwerlich genau auf den Eigencharakter des Organischen zupassen. Und dann kann auch die Alternative nicht stimmen. Es könnte ja sein, daß die organische Welt noch ihre eigene, nicht vom Seelischen und nicht vom Physischen her entlehnte Determinationsform hat.«132 Psychischer Innenaspekt des Am-Leben-Seins und physischer Außenaspekt belebter Gegenstände sind uns gegeben. Was uns weder in der inneren noch in der äußeren Anschauung gegeben werden kann, sei »die Lebendigkeit«133 selbst. Darum begingen Vitalisten wie Mechanisten den Fehler, die »Möglichkeit anderer Determinationsformen«134 auszuschließen. »Das hat zunächst einen apriorischen Grund. Man hat beiderseits den Finalnexus einfach für die Umkehrung des Kausalnexus gehalten; ist er aber wirklich nur die Umkehrung, so kann es natürlich nur ›eine‹ solche geben und nicht ihrer mehrere.«135 Und genau hier setzt Hartmann an, indem er durch eine analytische Unterteilung des Finalnexus die Möglichkeit einer anderen Finalform als der durch intelligible Zwecke durch uns gesetzten aufzeigt. Der teleologische nexus finalis transzendiert die Zeitreihe logisch, auf der intelligiblen Ebene – nicht aber empirisch. Wenn diese Ebenen nicht auseinandergehalten werden, entstehe aufgrund des Missverständnisses, eine Annahme teleologischer Strukturen würde von einer physikalischen Zeitumkehr ausgehen, eine naive, immanent richtige, aber der Sache nach am Gegenstand vorbeigehende und daher falsche Kritik metaphysischer Teleologievorstellungen als prinzipiell unwissenschaftlich. So schreibt Nicolai Hartmann in der Einleitung seiner Schrift Teleologisches Denken, »daß Finalität in erster Näherung sich als Umkehrung der Kausalität darstellt, nämlich als die zeitliche Umkehr

130 131 132 133 134 135

Nicolai Hartmann, Teleologisches Denken, Berlin 1966, S. 89. (Künftig zitiert: Hartmann, Teleologisches Denken). Ebd. Hartmann, Teleologisches Denken, S. 91 f. Hartmann, Teleologisches Denken, S. 92. Hartmann, Teleologisches Denken, S. 89. Hartmann, Teleologisches Denken, S. 90.

8. Mechanismus und Vitalismus

der Dependenzrichtung im Prozeß: Abhängigkeit des Früheren vom Späteren. Das bedeutet nicht nur die Umkehrung des Kausalnexus, sondern auch der Zeitfolge. Und da die Zeitfolge in Wirklichkeit durch keine Macht der Welt umgekehrt werden kann, so muß man vielmehr sagen: der Finalnexus ist eine Determination, welche der Richtung des Zeitflusses und der Prozeßabläufe entgegen läuft«136 . Hartmann löst das Problem, dass keine Macht der Welt den Zeitfluss in der Wirklichkeit umkehren kann, aber jeder Organismus teleologisch, also in impliziter Umkehr der Zeitreihe vom funktionalen Resultat her begriffen137 werden muss, indem er den Finalnexus in drei verschiedene Akte unterteilt, von denen nur der letzte unter die zeitlichen Bedingungen der Realität fällt. Seine ›Kategorienanalyse des Finalnexus‹ trennt dabei die intelligible Zwecksetzung, die technisch-praktische Wahl der Mittel zur Realisierung des gesetzten Zweckes und die tatsächliche Umsetzung im Material: »1. Akt: Setzung des Zweckes im Bewußtsein mit Überspringung des Zeitflusses, als Antizipation des Künftigen; 2. Akt: Selektion der Mittel vom gesetzten Zweck aus im Bewußtsein (rückläufige Determination); 3. Akt: Realisation durch die Reihe der selektierten Mittel; rechtläufiger Prozess außerhalb des Bewußstseins.«138 Hiermit will er zeigen, dass der Finalnexus nicht die Umkehrung des Kausalnexus ist. »Dieser Irrtum [dass es nur einen Finalnexus geben könne] ist durch die Kategorieanalyse des Finalnexus behoben: nur der zweite Akt des Finalgefüges kann bestenfalls als Umkehrung gelten, nur er läuft rückwärts in der Zeit, aber er ist kein Realprozess. Der dritte Akt aber, der wirklich ein solcher ist, schreitet rechtläufig in der Zeit vorwärts, nicht anders als andere Realprozesse auch. Ein apriorischer Grund für die Richtigkeit der Alternative liegt also hier in Wahrheit nicht vor.«139 Wenn der Finalnexus nicht die Umkehrung, also das kontradiktorische Gegenteil des Kausalnexus ist, dann fällt nach Hartmann damit der logische Grund weg, dass es nur einen geben könne. Wenn also der Finalnexus sich insbesondere im Akt der Realisierung als der Kausalform gemäß erweist und damit keine ausschließende Alternative vorliege, sondern lediglich verschiedene Formen kausalen Geschehens, dann sind auch noch andere, ergänzende Formen möglich. Anstelle eines bloß kausal-linear in der Zeit fortlaufenden Nexus müsse zur Erklärung der Organform darum gemäß der Kategorie der Wechselwirkung nach einem »nicht linear fortlaufenden und nicht zeitlich-sukzessiven Abhängigkeitstypus«140 gesucht werden. Dieser dritte Typus sei der nexus organicus – eine weitere (empirisch wirkliche) Determinationsform, die spezifisch für das Organische sei. Am deutlichsten zeige sie sich in der Embryogenese. »Zum mindesten wird man ›eine‹ spezifisch organische Determinationsform anerkennen müssen: diejenige, welche vom Anlagesystem der Keimzelle aus den Entwick136 137 138 139 140

Hartmann, Teleologisches Denken, S. 3. Vgl. auch Weingarten, Organismen, S. 151. Ähnlich arumentiert Toepfer, siehe Kapitel 12.5. Hartmann, Teleologisches Denken, S. 69. Hartmann, Teleologisches Denken, S. 90. Ebd.

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270

Dialektik des Lebendigen

lungsgang des Individuums bestimmt. Da wir diese Determinationsform nicht kennen, sie vielmehr nur aus der Regelmäßigkeit der einschlägigen Vorgänge erschließen können, so kann man sie als den gesuchten nexus organicus bezeichnen. […] Hat der Organismus seine eigene Form der Determination, so sind die extremen Theorien, die ihn nach Art des personalen Wesens finalisieren wollen, erledigt.«141 Der Hinweis auf die Intelligibilität der Zweckform sei dadurch erledigt, dass letztere als eine ›eigene Form der Determination‹ des Organismus, als nexus organicus begriffen werde, der selbst als empirisch und nicht als intelligibel gefasst werde. Der grundlegende Unterschied zu Kant liegt nicht darin, dass Hartmann drei Prinzipien des wechselseitigen Bezugs von Materie aufeinander annimmt, wogegen Kant ausschließt, dass es mehr als zwei gäbe. Sondern er liegt bereits in dem unterschiedlichen Verständnis davon, was ein solcher nexus, der die Form der Verbindung, das Gefüge der Materie bestimmt, überhaupt sei. Die Teleologie begreift Hartmann als ein empirisches Ereignis, ebenso wie Ursache und Wirkung. Schon seine anfangs dargestellte Differenzierung, dass im Finalnexus nicht nur der Kausalnexus, sondern zudem auch die Zeitfolge umgekehrt werde, ist insofern überflüssig, als die Kausalität über die Zeitfolge bestimmt und beides somit nicht zu trennen ist. Da die Zeit nach Kant eine notwendige sinnliche Form der Erscheinungen a priori ist und keine physikalische Kraft, die selbst die Zeiger der Uhr vorantreibt, ist es notwendig richtig, dass ›keine Macht der Welt‹, also keine physikalische Kraft, sie ›umkehren‹ könne – denn dieses Umkehren müsste logisch selbst wiederum in der Zeit und damit notwendig in einem kausalen Prozess des Nacheinanders erfolgen und wäre also vom Resultat aus keine Umkehrung der Zeitfolge. Da sich jedoch Ursache und Wirkung nur denkend aufeinander beziehen und so als Ursache und Wirkung begreifen lassen, ist hier eine Umkehrung immer schon vollzogen, wenn man von einer Wirkung in der Zeit zurück auf ihre Ursache (›in der Wirklichkeit‹) schließt. Die Ursache selbst ist also schon ein Reflexionsbegriff, kein wirklicher Gegenstand oder Ereignis in der Welt, an dem sich empirisch die physikalische Eigenschaft ›Ursache‹ messen ließe. Das Ursache-Sein muss wie das Wirkung-Sein denkend auf empirische Gegenstände bezogen werden; es ist eine intelligible Eigenschaft. Kausalität ist die gedachte Verknüpfung von Ursache und Wirkung und damit nicht ein aus der Erfahrung von Kausalereignissen gewonnenes Resultat, sondern vorausgesetzte Bedingung dieser Erfahrung. Sie ist so das Prinzip der Natur als allgemeinstes Naturgesetz. Hartmann begreift nun die Teleologie des Finalnexus als ebensolches wirkliches empirisches Ereignis, wie er auch fälschlich Ursachen und Wirkungen als solche begreift – und kommt dennoch in Bezug auf den lebendigen Organismus nicht um den von ihm angeprangerten Widerspruch zwischen Vitalisten und Mechanisten herum, wenn er den nexus organicus definiert: »Das, was nur in Gedanken vorweggenommen werden kann, wird ohne ein Denken als vorweg bestehend vorausgesetzt«142 . Weil er von der Prämisse eines epistemologisch naiven Wirklichkeitsbegriffes ausgeht und keine transzendentale Reflexion über die ermöglichenden Bedingungen der

141 142

Hartmann, Teleologisches Denken, S. 93 f. Hartmann, Teleologisches Denken, S. 4.

8. Mechanismus und Vitalismus

Erkenntnis anstellt, kommt er konsequent zu folgendem Ergebnis: Organismen können keine teleologische Struktur haben, wie Vitalisten es behaupten, weil dies eine unsinnige und unmögliche wirkliche Umkehrung der Zeitfolge bedeutete. Sie sind als Organismen faktisch zwar zweckmäßig aufgebaut, als festzustellende empirische Wirklichkeit, aber sie sind nicht innerlich teleologisch verfasst. »[D]ie tiefe Zweckmäßigkeit, die den Organismus ebensowohl in seinen inneren Funktionen und Formen als auch in seinem Verhältnis zur umgebenden Welt auszeichnet, ist nicht etwas Umstrittenes oder auch nur Umstreitbares; sie ist vielmehr schlechterdings gegeben, ist ein durchaus greifbares Erfahrungsphänomen, und zwar ein als große Hauptlinie durch das ganze Reich des Organischen durchgehendes […]. [E]s handelt sich hier nirgends um die äußerliche oder ›zufällige‹ Zweckmäßigkeit – wie der Mensch sie an Dingen vorfindet, die keineswegs für seine Zwecke geschaffen sind, die er aber für diese verwenden kann –, sondern um wesentliche, dem Organismus als solchem eigentümliche Zweckmäßigkeit, ohne welche er nicht bestehen kann«143 . In dieser Weise soll das Problem gelöst sein: kein metaphysisches Prinzip, sondern ein greifbares Erfahrungsphänomen bestimmt den Gegenstand der Biologie. Es bleibt noch die Frage, wie ›tiefe innere Zweckmäßigkeit‹ als kausale Wirkung in der Welt ent- und bestehen könne. Zwar bestimmt Hartmann den nexus organicus als Grund für eben diese ›eigentümliche Zweckmäßigkeit, ohne welche der Organismus nicht bestehen kann‹, doch gleichzeitig entzieht dieses ›durchaus greifbare Erfahrungsphänomen‹ sich der positiven Bestimmung. Darum bleibt ihm am Ende nur eine Anmerkung, die wiederum auf eine Grenze der Erkenntnis verweist: »[H]ier stößt die Forschung auf Einschläge des Unerkennbaren (gnoseologisch Irrationalen), die sie mit ihren Mitteln nicht bewältigen kann«144 .

8.7

Holismus und Organizismus – die Lösung des Widerspruchs zwischen Vitalismus und Mechanismus? »Man muß sich grundsätzlich vor Augen halten, daß der Streit zwischen Mechanisten und Vitalisten empirisch nicht zu entscheiden ist. Vielmehr geht es um Modelle, die jeweils herangezogen werden, um den gleichen empirischen Sachverhalt interpretieren zu können.«145

Über den Streit zwischen Vitalisten und Mechanisten setzte sich mit der Zeit die Ansicht durch, dass beiden nicht vollständig zu folgen sei. Zwar sei der Vitalismus als unwissenschaftlich abzulehnen, doch der Bezug auf die spezifische Form, die mit der

143 144 145

Hartmann, Teleologisches Denken, S. 23. Hartmann, Teleologisches Denken, S. 93. Weingarten, Organismen, S. 84.

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Dialektik des Lebendigen

gerichteten Funktionalität des Organismus zusammengehe, sei nicht durch bloß kausale Erklärungen im mechanistischen Sinne zu ersetzen. »Daß die ›Formbegriffe‹ der Biologie eine spezifische Struktur besitzen und daß sie sie ungeachtet aller Fortschritte der kausalen Erklärung immer behalten müssen, hat sich immer deutlicher gezeigt.«146 Der Widerspruch zwischen Vitalismus und Mechanismus sollte im Holismus und Organizismus gelöst werden, wurde jedoch tatsächlich nur in eine in sich widersprüchliche Theorie zusammengefasst. Dies soll im Folgenden an den Konzepten der mechanistischen oder empirischen Ganzheit aufgezeigt werden.

8.7.1

Holismus

Der Holismus geht davon aus, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile und folglich diese Ganzheit nicht (ausschließlich) über die Erklärung der Teile begriffen werden kann. Der biologische Holismus begreift das lebendige System als funktionelle Einheit, das eine Ganzheit bildet, die nicht auf das Zusammenwirken der einzelnen Teile/Zellen/Organe reduziert oder hieraus hinreichend erklärt werden kann.147 So ging beispielsweise Smuts148 davon aus, dass die Variationen in der Evolution nicht als punktuelle Veränderungen eines Teils des Organismus begriffen werden können, sondern als Variation der funktionellen Ganzheit des Gesamtorganismus gedacht werden müssen, da nur ein Zusammenspiel von Variationen oder die durch eine Mutation notwendig gemachte Veränderung der Gesamtbezüge des Organismus die Variation des Lebewesens ausmachen. Holistische Anmerkungen und Bezüge zur Deutung des Lebendigen sind insgesamt weit verbreitet – auch ein Autor wie Locke, der in seiner politischen Philosophie den Individualismus gegen den Holismus stark macht, sieht die Einheit des Organismus in der Vereinigung von Teilen zu einem einheitlichen Lebewesen und nicht in der materiellen Einheit einer bestimmen Stoffmenge: »[O]ne Plant, which has such an Organization of Parts in one coherent Body, partaking of one Common Life, it continues to be the same Plant, as long as it partakes of the same Life, though that Life be communicated to new Particles of Matter vitally united to the living Plant, in a like continued Organization conformable to that sort of Plants«149 . Keine zur Materie hinzutretende Lebenskraft, sondern die spezifische Formung der Materie konstruiert nach holistischer Vorstellung die Ganzheit des Gesamtorganismus.

146 147

Cassirer, Erkenntnisproblem, S. 244. Vgl. z.B. John Burdon Sanderson Haldane, What is Life?, London 1949; oder William Emmerson Ritter, The Unity of the Organism. Or, the Organismal Conception of Life, Boston 1919. 148 Vgl. Jan Chistiaan Smuts, Holism and Evolution, London 1926. 149 John Locke, An Essay Concerning Human Understanding, Oxford 1979, S. 331.

8. Mechanismus und Vitalismus

8.7.1.1

Ganzheit – nicht Prinzip der Einheit, sondern empirisches Merkmal

Es war zunächst Driesch, der die Ganzheit des Organismus im naturwissenschaftlich experimentellen Sinne als grundlegende Differenz zum Unbelebten ausmachte; sie begründe auch die besonderen Gesetze des Organischen und damit die eigenständige Methodik der Biologie gegenüber den anderen Naturwissenschaften. Was bei ihm ein vitalistisches Konzept war, wird im Holismus zu einem vermittelnden Weg zwischen Vitalismus und Mechanismus, indem diese spezifische Ganzheit des Organismus und die aus ihr folgende Eigengesetzlichkeit des Lebendigen als eine kausale Vernetzung der einzelnen Teile zu einem integrierten System mit funktionaler Geschlossenheit beschrieben wird. Insbesondere Bertalanffys Arbeiten zur Entwicklungsbiologie enthalten die These, dass organische Prozesse der Gestaltbildung weder akausal metaphysisch noch durch bloße lineare Kausalität hinreichend zu erklären seien, sondern allein durch die durchgängige Wechselwirkung aller Teile – in einer Systemtheorie – zu begreifen wären, also nur über die Ganzheit des sich in seiner Entwicklung hervorbringenden Organismus.150 Diese Auffassung hat sich – durch allen Fortschritt der Entwicklungsbiologie hindurch bis hin zur Genetik – als Kerngedanke einer holistischen Biologie erhalten. So gehen auch Gould und Mayr davon aus, dass eine atomisierende oder rein biochemische Beschreibung von Entwicklungsprozessen im Organischen den eigentlichen Gegenstand verfehlen würde, der sich erst über den Bezug der Einzelprozesse auf die funktionale Einheit des Organismus herstellen ließe.151 Hierüber gelang es Mayr, Evolutionstheorie und moderne Erkenntnisse aus der Genetik zusammen zu denken. In seinem Hauptwerk zur synthetischen Biologie Systematics and the Origin of Species152 ist der Gedanke der Ganzheit an vielen Stellen zentral.

8.7.1.2

Die Ganzheit als empirisches Merkmal löst den Begriff der Zweckmäßigkeit ab

Driesch verstand die Ganzheit des Organismus als ein notwendig metaphysisches Prinzip, weil die gerichtete Ordnung zum Ganzen sowohl logisch vorausgesetzt werden müsse als auch physische Störungen dieser Ordnung im Experiment offenbar durch eine Kraft kompensiert wurden, die bestrebt war, die Ganzheit wieder herzustellen und die folglich durch den physischen Eingriff ins Material unberührt blieb. Auch seine schärfsten Kritiker gingen davon aus, dass ein Begriff der Ganzheit prinzipiell kein physikalischer Begriff sein könne, da er eine ideelle Einheit umfasse. Darum lehnte u.a. Spann die Ganzheit als Erklärungsprinzip einer Naturwissenschaft grundsätzlich ab: »Das Ganze als solches hat kein Dasein«153 . Im biologischen Holismus wird die Ganzheit jedoch nicht als Begriff der Einheit, sondern als ein Kennzeichen, eine empirische Eigenschaft des Organischen behandelt. Dass 150

151

152 153

Auch bei Uexküll macht die Form(-ung) und nicht eine besondere Kraft das spezifisch Lebendige aus. Da seine Überlegungen jedoch anders die von bspw. Bertalanffy nicht in biologische Systemtheorien führen, werden sie an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt. Vgl. z.B. S. J. Gould/R. C. Lewontin, »The spandrels of San Marco and the Panglossian paradigm: a critique of the adaptationist programme«, in: Proc. Royal Society London B 205, London 1979, S. 581598. Ernst Mayr, Systematics and the Origin of Species, New York 1942. Othmar Spann, Kategorienlehre, Graz 1969, S. 62.

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Dialektik des Lebendigen

ein Organismus danach strebe, die eigene Ganzheit durch das Zusammenspiel seiner Funktionen zu erhalten oder sie, z.B. nach Verletzungen, wiederzuerlangen, sei eine zu beobachtende Tatsache. So löst im Holismus der ›empirische‹ Begriff der Ganzheit den ›metaphysischen‹ Begriff der Zweckmäßigkeit ab, der zuvor als Bestimmung des Organismus als unabkömmlich galt. Insbesondere Emil Ungerer und Ludwig von Bertalanffy verbreiteten die These, die alte – problematisch metaphysische – Betrachtung der Organismen nach Zwecken sei durch die Betrachtung ihrer Ganzheit – die ein empirisch nachweisbares Phänomen darstelle – zu ersetzen.154 Bertalanffy sah die Hauptschwierigkeit der Biologie in der Widersprüchlichkeit bzw. Unbestimmtheit des mit teleologischen Zweckbeschreibungen verwobenen Organismusbegriffs und versuchte, ihn mithilfe der Konzeption der Ganzheit von der Zweckmäßigkeit zu lösen. Wenn die Biologie eine Wissenschaft mit eigenständigem Gegenstandsbereich sein soll, so kommt sie nicht um die Notwendigkeit herum, den Begriff des Organismus zu bestimmen. »[D]er Begriff des Organismus nimmt in der Biologie eine ähnlich zentrale Stellung ein, wie der Energiebegriff in der Physik. […] Wir wagen den Ausspruch: sollte ein hypothetisch-deduktives System in der Biologie möglich sein, so wird der Begriff des Organismus dessen oberster Begriff sein müssen, weil eben das eigentliche Wesen des Lebens in der Organisation der Stoffe und Vorgänge liegt«155 . Die ganzheitliche Ordnung des Organismus sei ein empirisches Phänomen, das entsprechend mit empirischen Mitteln aufzuweisen sei.156 Ihre Erkenntnis sei nicht durch die Feststellung und Erforschung von kausalen Zusammenhängen zu ersetzen: »Gewiß können wir die im Organismus ablaufenden Einzelvorgänge physikochemisch beschreiben – aber als Lebensvorgang sind sie damit in keiner Weise gekennzeichnet. Wenn nicht alle, so doch die überwiegend meisten Lebensvorgänge […] zeigen sich dahin geordnet, daß sie auf die Erhaltung, Herstellung oder Wiederherstellung der Ganzheit des Organismus gerichtet sind. […] Schon der Begriff des ›Organs‹, des Seh-, Hör-, Geschlechtsorgans involviert, daß dieses ›Werkzeug‹ zu etwas ist. […] Tatsächlich erzählt uns ja jedes biologische Buch fortwährend, wozu Herz, Lunge, Chlorophyll, Teilungsspindeln, Reflexe, Sekretionen u.s.f. ›dienen‹.«157 Diese Gerichtetheit der Organe auf die Ganzheit des Organismus sei also unbezweifelbar, zu kritisieren sei die Interpretation dieses Phänomens durch insbesondere jene (vitalistische) Biologen, die diese Form der Organisiertheit mit dem Zweckbegriff zu erklären suchen. Dies führe zu falschen, anthropomorphen Vorstellungen.

154 155 156 157

Vgl. Emil Ungerer, Die Regulationen der Pflanzen. Ein System der ganzheitsbezogenen Vorgänge bei den Pflanzen, Berlin 1919 und Ludwig von Bertalanffy, Theoretische Biologie, Berlin 1932. Ludwig von Bertalanffy, Theoretische Biologie, Bd. I, Berlin 1932, S. 86, zitiert nach: Weingarten, Organismen, S. 100. Vgl. auch Cassirer, Erkenntnisproblem, S. 249. Ludwig von Bertalanffy, Theoretische Biologie, Bd. I, S. 11 f, zitiert nach Cassirer, Erkenntnisproblem, S. 249.

8. Mechanismus und Vitalismus

»Nun nannte man aber, alten Denkgewohnheiten folgend, diese Geordnetheit der Lebenserscheinungen ›Zweckmäßigkeit‹, und fragte, welchen ›Zweck‹ ein Organ oder eine Funktion habe. Im Begriff ›Zweck‹ schien aber ein Wollen und Voraussehen des Zieles involviert zu sein – eine Vorstellungsweise, die dem Naturforscher mit Recht unsympathisch ist, und so machte man den Versuch, die ›Zweckmäßigkeit‹ als eine bloß subjektive und unwissenschaftliche Betrachtungsweise hinzustellen.«158 Um hierbei nicht wie der Mechanismus das Kind mit dem Bade auszuschütten und das spezifisch Lebendige zusammen mit dem Zweckbegriff aus der Naturwissenschaft zu verbannen, müsse die organische Ganzheit vom Begriff des Zwecks getrennt werden. Der Sache nach führt das Auf-eine-Ganzheit-hin-geordnet-Sein und ihr zu ›dienen‹ logisch auf dieselben Probleme der unterstellten intelligiblen Intention, wie sie im Zweckbegriff diagnostiziert werden. Der entscheidende Fortschritt der Ganzheitstheorie gegenüber dem Vitalismus besteht darin, dass er die Einheit oder Ganzheit des Organismus nicht durch eine geistige oder psychische bzw. psychisch-analoge Kraft hervorgebracht erklärt, sondern sie über eine Systemtheorie erklärt, in der die gerichteten Vorgänge nicht als intendiert, sondern als bloße Systemeigenschaften erscheinen.159 Diese organismische Biologie »setzte an die Stelle des Zweckbegriffs den Ordnungsund Systembegriff, und sie charakterisiert das Leben dadurch, daß sie ihm die Eigenschaften des Systems zuschreibt. Was wir ›Leben‹ nennen, ist ein in hierarchischer Ordnung gegliedertes System. Diese Ordnung der Prozesse ist das klarste, ja das einzige Unterscheidende der Lebensvorgänge von den gewöhnlichen physiko-chemischen Prozessen.«160 Die Kritik, die Bertalanffy am Vitalismus übt, geht dahin, dass der Vitalismus Drieschs die organische Ganzheit durch eine hinzutretende Entelechie zu bestimmen sucht, anstatt sie »im lebendigen System selber«161 zu verorten. Er kommt dahin zu zeigen, dass das Leben an das Material und die gerichteten Prozesse seiner Struktur gebunden sei und es hierbei keiner zusätzlichen lebenden Substanz bedürfe. In einer an diesem Grundgedanken ausgerichteten »organismischen oder Systemtheorie des Lebens« soll der Mechanismus-Vitalismus-Streit aufgehoben werden in einer Theorie, »die einerseits, gegenüber dem Mechanismus, das Wesen des Lebens gerade in der Harmonie und Koordination der Prozesse untereinander erblickt, andererseits aber gegenüber dem Vitalismus diese Koordination nicht durch eine mystische Entelechie, sondern durch die dem lebendigen System immanenten Kräfte erklärt«162 . Dieser Gegensatz zwischen ›mystischer Entelechie‹ und ›immanenten Kräften‹ ist jedoch nicht annähernd so deutlich, wie es Bertalanffy erscheint. Denn die Ganzheit des Organismus findet sich auch in dessen lebendigem System nicht als empirisches Faktum, sondern sie muss im Gegenteil, wie u.a. Driesch und Spann es darlegten, dem Organismus vorausgesetzt werden. Seine Ganzheit konstituiert erst das System 158 159 160 161 162

Ebd. Vgl. Ludwig von Bertalanffy, General System Theory, Harmondsworth 1973. Vgl. auch Kapitel 10. Cassirer, Erkenntnisproblem, S. 250. Ludwig von Bertalanffy, Theoretische Biologie, Bd. I, Berlin 1932, S. 80, zitiert nach: Weingarten, Organismen, S. 100. Ebd.

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Dialektik des Lebendigen

Organismus und dessen immanente Kräfte können daher nicht als seine Ursache angenommen werden. Die naturphilosophische Bedeutung dieser Betrachtung der Ganzheit als empirisches Phänomen wird in einer Kontrastierung mit Hegel deutlich: Nach Hegel habe die organische Individualität Subjektivität, indem ihre äußere »Gestalt zu Gliedern idealisiert«163 ist, die sich wechselseitig Mittel und Zwecke sind. Die Glieder seien bloß unselbständige Momente der Form des Tieres, nur ihre Einheit ist die Realität des Begriffs. Das Tier ist damit nicht bloßes Auseinander der Natur, sondern existierende Idee. Die Körperlichkeit ist hier der Prozess des Idealisierens. In ihr wird eine ideelle Einheit als Existenz hervorgebracht. Der Begriff, der sich in dieser Einheit findet, ist das Prinzip des lebendigen Organismus.164 Während also bei Hegel die Einheit als Prinzip des lebendigen Organismus über den Begriff (und nicht über die empirische Forschung) als dessen Realisierung erkannt werden konnte, erscheint es im biologischen Holismus umgekehrt: Der Begriff der Ganzheit werde durch Beobachtung als empirischer Begriff gewonnen, ein Prinzip der Einheit wird (vorgeblich) aufgegeben. Hieraus folgt dann die holistische Auflösung der einen Lebenskraft in viele wechselwirkende Kräfte oder Faktoren. So mündet sie in einen Organizismus.165

8.7.2

Organizismus

Der Organizismus im 20. Jahrhundert folgt weder dem dogmatischen Mechanismus noch dem dogmatischen Vitalismus; er bezieht sich auf die teilweise noch esoterisch besetzte Aussage des Holismus, das Ganze sei mehr als die Summe seiner Teile, nur als empirisch oder mathematisch nachweisbare Tatsache. Aus der Kritik an Mechanismus und Vitalismus ergebe sich nach Meyer-Abich auch der richtige Weg zu ihrer Synthese: »Der Vitalismus negiert das moderne Galilei-Newton-Kantische Erkenntnisideal der mathematischen Naturwissenschaft und beraubt die Biologie dadurch zweifellos fruchtbarer Erkenntnismöglichkeiten, und der Mechanismus degradirt [sic] die Biologie zu einem eigentheoretisch bedeutungslosen Anhängsel der theoretischen Physik.«166 Um beiden Fehlern zu entkommen, sei eine Synthese nötig, die der Organizismus leiste. Er sei angetreten, »um mit dem Vitalismus die Eigengesetzlichkeit des Organischen gegenüber dem Unorganischen und mit dem Mechanismus den zwischen beiden Wirklichkeitsbereichen bestehenden Ableitungszusammenhang zu vertreten«167 . Dies zieht ein neues Selbstverständnis der Biologie nach sich, die – wie August Comte es syste-

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften, Bd. II, Frankfurt a.M. 1986, § 350, S. 430. (Künftig zitiert: Hegel, Enzyklopädie II). 164 Vgl. Hegel, Enzyklopädie II, §§ 350 ff. 165 Die Grenze zwischen Holismus und Organizismus ist in der Literatur nicht einheitlich bestimmt. Die Bezeichnungen tauchen gerade in der Literatur des 20. Jahrhunderts oft als Synonyme auf. 166 Adolf Meyer-Abich, Ideen und Ideale der biologischen Erkenntnis. Beiträge zur Theorie und Geschichte der biologischen Ideologien, Leipzig 1934, S. 89. 167 Cassirer, Erkenntnisproblem, S. 246. 163

8. Mechanismus und Vitalismus

matisch in seiner positiven Philosophie darstellte168 – nicht länger hinter der exakten Mathematisierbarkeit der Physik zurücksteht, sondern als Wissenschaft der komplexeren Gegenstände über sie hinausgeht. So erklärt Meyer Abich,169 die Physik sei aus der Biologie ableitbar und nicht umgekehrt, denn das Einfache sei im Komplexeren enthalten und darum aus ihm ableitbar, weshalb die Gesetze der Physik und Chemie sich auch in der Biologie fänden, aber die Biologie habe darüber hinaus noch eigene Gesetze der Ganzheit des Gegenstandes, die in den anderen Naturwissenschaften keine Bedeutung hätten. Neben solchen abstrakten Höhenflügen zur Stellung der Biologie in den Naturwissenschaften fand sich in der konkret biologischen Theoriebildung jedoch ein eher bescheidener Pragmatismus. Mit dem Abebben des Streits zwischen Vitalismus und Mechanismus kehrt eine neue theoretische Bescheidenheit in die Biologie ein: Die Frage nach der geordneten Ganzheit und den Formen ihrer Realisierung im Organismus sei notwendig für die Erkenntnisse und damit auch die Eigenständigkeit der Biologie – aber sie sei auch zureichend; eine weiterführende Frage nach dem Grund der Ganzheit führe, wie der Streit um den Vitalismus zuletzt gezeigt habe, nirgendwo hin als zu unwissenschaftlichen metaphysischen Spekulationen und Widersprüchen.170 Die grundlegende Frage danach, was das Leben sei, wird zur Marginalie. Die mit der Abgrenzung Darwins von Lamarck begonnene Trennung der Biologie von der Naturphilosophie171 scheint hiermit abgeschlossen zu sein. Heute werden Vitalismus und Mechanismus gemeinhin als historische Extrempositionen verstanden, die beide eine gewisse heuristische Funktion für die Entwicklung der Biologie hatten und zu fruchtbaren Forschungen geführt haben. Analyse der Teile und Synthese zur organischen Ganzheit sollen in der Kybernetik und Theorien der selbstorganisierten Systeme zusammengeführt werden.172 Wuketits nennt die neue Form, in der die Biologie den Streit zwischen Mechanismus und Vitalismus überwunden hat, mit Bezug auf Norbert Wiener173 das »Denken in Regelkreisen«174 . Das Hauptmerkmal dieses Fortschritts bestehe darin, dass causa finalis und causa efficiens einander nicht mehr ausschlössen: »Beide sind zugleich Elemente eines Denksystems. Kein Zweifel – die Endursache ist ihrer ursprünglichen Gestalt beraubt, weil wir längst nicht mehr an Finalkräfte glauben können und auch nicht daran glauben müssen. Aber integriert in das Netzwerk von Beziehungen innerhalb jedes lebenden Systems kommt ihr in anderer Gestalt Vgl. Auguste Comte, Positive Philosophie, Zweiter Band, Heidelberg 1884, S. 366 ff. Vgl. Adolf Meyer-Abich, Ideen und Ideale der biologischen Erkenntnis, Leipzig 1934 und ders., »Hauptgedanken des Holismus«, in: Acta Biotheoretica, Vol V, Leiden 1939-1941, S. 85-116. 170 Vgl. z.B. Emil Ungerer, Die Regulationen der Pflanzen. Ein System der ganzheitsbezogenen Vorgänge bei den Pflanzen, Berlin 1919. 171 Vgl. Kapitel 3.3. 172 Vgl. Wuketits, Überwindung von Mechanismus und Vitalismus, S. 377 f. Vgl. auch Rupert Riedl, Die Ordnung des Lebendigen. Systembedingungen der Evolution, Hamburg/Berlin 1975. 173 Vgl. Norbert Wiener, Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine, Paris 1948 (deutsche Ausgabe: Norbert Wiener, Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine, Düsseldorf/Wien 1963). 174 Franz M. Wuketits, Biologie und Kausalität, Berlin/Hamburg 1981, S. 103. 168 169

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Dialektik des Lebendigen

noch Bedeutung zu: als Optimierung von Strukturen und Funktionen der Lebewesen in der Evolution. Die causa finalis ist nicht mehr die Ur-Ursache, sondern eine mit der causa efficiens verflochtene Kausalkomponente; die Ziele und Zwecke in der Evolution sind daher nicht vorgeordnet, das ›Omega‹ stand nicht schon zum Zeitpunkt des ›Alpha‹ fest, sondern die Evolution schafft sich – wir betonten es schon – ihre Zwecke selbst.«175 Wir haben hier also zum einen wieder einen Kausalitätsbegriff, der – wie schon bei Mayr im vorigen Kapitel176 – die Zweckmäßigkeit des nexus finalis mit umfasst, zum anderen ist damit der Übergang der Biologie zur Kybernetik und Theorie von selbstorganisierten Systemen markiert – der Übergang zu dem ›Denken in Regelkreisen‹, in dem Leben als durch Informationsübertragung gestiftete Ordnung gedacht wird.

175 176

Franz M. Wuketits, Biologie und Kausalität, Berlin/Hamburg 1981, S. 103. Vgl. Kapitel 7.4.3.

9. Ordnung und Information »[D]as feinste Meisterstück […] von Gottes Quantenmechanik«1

Lebewesen sind hochgradig geordnete Materie. Ihre Körper weisen auffallende Symmetrien auf und ihre Strukturen sind wechselseitig funktional auf die Aufrechterhaltung dieser Ordnung hin ausgerichtet. Um dieses hohe Maß an funktional geordneter Struktur zu realisieren, müssen Informationen gespeichert, weitergegeben und verarbeitet werden. Diese Rolle kommt der Erbsubstanz zu, über welche die Informationen über die zweckmäßige Struktur nicht nur innerhalb eines Organismus realisiert, sondern auch an die nächste Generation weitergegeben werden kann.

9.1

Erwin Schrödinger: Leben ist Ordnung aus Ordnung

Die Frage Was ist Leben? beantwortet Schrödinger in seinem gleichnamigen Werk, indem er die physikalische Beschaffenheit der Erbsubstanz ins Zentrum stellt. Denn in der Erbsubstanz müsse der Schlüssel zur geordneten Struktur des Lebendigen zu finden sein, da sie diese Struktur auf alle Nachkommen übertrage. Sie müsse also selbst eine hochgradig geordnete Form der Materie sein. Der Daseinskampf des Lebens erscheine im weitesten Sinne als ein Ringen um das Aufrechterhalten der Ordnung im Organismus entgegen der natürlichen Tendenz zur Unordnung, der Entropie. Doch schon seine Anfangsfrage »Wie lassen sich die Vorgänge in Raum und Zeit, welche innerhalb der räumlichen Begrenzung eines lebendigen Organismus vor sich gehen, durch die Physik und Chemie erklären?«2 fragt im eigentlichen Sinne nicht mehr danach, was das Leben sei, was die Einheit und Grenze des Organismus stifte, sondern setzt die Lebendigkeit bereits voraus, um innerhalb des Gesetzten dann physikalische und chemische Vorgänge eventuell als für das Lebendige spezifische fassen zu können. Dennoch kommt er auch hierüber zu der Frage nach der inneren Zweckmäßigkeit, der ›Ordnung aus Ordnung‹. Eine prinzipielle Schwierigkeit, diese als Naturprinzip anzunehmen, sieht er nicht. Schließlich habe doch die höhere Physik schon Wahrschein1 2

Schrödinger, Was ist Leben?, S. 147. Schrödinger, Was ist Leben?, S. 1.

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Dialektik des Lebendigen

lichkeitsmechanismen aufzeigen können, nach denen ›Ordnung aus Unordnung‹ im natürlichen, d.i. physikalischen Prozess sich bilde. Daher sei die biologische Frage danach, wie sich Ordnung aus Ordnung bilde, nicht wesentlich von physikalischen Fragen unterschieden. Die Beschreibung lebendiger Prozesse falle Schrödinger zufolge daher grundsätzlich mit in die Physik, wobei jedoch nicht die physikalischen Gesetze gelten würden, die der Physiker gewohnt sei: »[N]ach allem, was wir von der Struktur der lebenden Materie gehört haben, müssen wir darauf gefaßt sein, daß sie auf eine Weise wirkt, die sich nicht auf die gewöhnlichen physikalischen Gesetze zurückführen läßt, und zwar nicht deswegen, weil eine ›neue Kraft‹ oder etwas ähnliches das Verhalten der einzelnen Atome innerhalb eines lebenden Organismus leitete, sondern weil sich dessen Bau von allem unterscheidet, was wir je im physikalischen Laboratorium untersucht haben.«3 Keine besondere Kraft, sondern eine besondere Struktur und eventuell damit einhergehende bislang unbekannte physikalische Gesetze machten die Differenz zwischen Belebtem und Unbelebtem aus. In einer Analogie zu Artefakten weist Schrödinger darauf hin, dass das Spezifische der Konstruktion und Funktionsweise verloren geht, wenn nur auf die Materialgleichheit von Objekten geschaut werde, ohne die Konstruktionsunterschiede in den Fokus zu nehmen. Bezogen auf das Material erscheinen auch die unterschiedlichsten Maschinen als im Prinzip gleich, obwohl es wesentliche Differenzen in der Ordnung, also in der Konstruktion und entsprechend auch in der Funktionsweise gebe.4 Wegen der Funktionalität sei jedoch auch die Quelle der Ordnung des Lebendigen eine andere als jene, welche Ordnungsmuster ohne Funktion, d.i. ohne Zweckmäßigkeit, in der unbelebten und unbearbeiteten Materie schaffe. »Die Geordnetheit in der Entfaltung des Lebens entspringt einer anderen Quelle [als die in der Physik bislang bekannten ›Ordnungsquellen‹, die zu Symmetrien etc. führen]. Offenbar gibt es zwei verschiedene ›Mechanismen‹ zur Erzeugung geordneter Vorgänge, den ›statistischen Mechanismus‹, der Ordnung aus Unordnung erzeugt, und den neuen Mechanismus, der ›Ordnung aus Ordnung‹ schafft. […] Wir dürfen nicht erwarten, daß die daraus [dem Prinzip, Ordnung aus Unordnung zu bilden] abgeleiteten ›Gesetze der Physik‹ ohne weiteres das Verhalten der lebenden Substanz erklären, deren auffallendste Merkmale sichtlich weitgehend auf dem Prinzip der ›Ordnung aus Ordnung‹ beruhen.«5 Diese Ordnung aus Ordnung zu schaffen sei also ein Prinzip, das eine physikalische Wirkung entfalten und zugleich selbst in einer geordneten materiellen Struktur begründet liegen müsse. Das Prinzip der Organismen, ›Ordnung aus Ordnung‹ zu schaffen, sei zunächst grundlegend von den Gesetzen der Physik unterschieden, die ein Prinzip der ›Ordnung aus Unordnung‹ formulierten.6 Dies liegt daran, dass physikalische

3 4 5 6

Schrödinger, Was ist Leben?, S. 76. Vgl. Schrödinger, Was ist Leben?, S. 133 f. Schrödinger, Was ist Leben?, S. 80. Vgl. Schrödinger, Was ist Leben?, S. 139.

9. Ordnung und Information

Naturgesetze statistische Gesetze seien,7 so dass die geordnete Struktur nicht im Einzelfall, sondern erst in größeren Zusammenhängen entstehen könne. »Alle physikalischen und chemischen Gesetze, die im Leben der Organismen eine Rolle spielen, sind von dieser statistischen Art. Jede andere Art von Gesetzmäßigkeit und Ordnung, die man sich vorstellen könnte, wird durch die ununterbrochene Wärmebewegung der Atome dauernd gestört und unwirksam gemacht.«8 Darum müssten die Organismen im Vergleich zu Atomen immens groß sein. »Wir sind also zu dem Schluß gekommen, daß ein Organismus und alle biologischen Vorgänge, die ihn berühren, eine extrem ›vielatomige‹ Struktur besitzen und vor ›einzelatomigen‹ Zufälligkeiten, welche zu große Bedeutung erlangen könnten, geschützt sein müssen.«9 Die Ordnung müsse den Zufall ausschließen durch eine hohe, also statistisch relevante, Anzahl von Atomen, um den Einfluss einzelner Atombewegungen gegen Null zu halten. Sonst könnten die Organismen ihre Ordnung und damit ihre spezifische Funktion nicht aufrechterhalten. Eine Ausnahme bildeten allerdings die Gene – der Ausgangspunkt aller organischer Ordnung. Sie könnten nicht sehr groß sein und müssten in einer Zelle Platz haben. Die Gene müssten folglich aus relativ wenigen Atomen bestehen (im Vergleich zum Gesamtorganismus) und den Genen komme zugleich eine große, mehr als statistische, Bedeutung im Gesamtgeschehen des Organismus zu.10 Dies führt Schrödinger zu der Frage: »Wie können wir vom Gesichtspunkt der statistischen Physik aus die beiden Tatsachen in Einklang bringen, daß die Genstruktur aus einer verhältnismäßig kleinen Anzahl von Atomen zu bestehen scheint und trotzdem eine höchst regelmäßige und gesetzmäßige Wirksamkeit mit einer ans Wunderbare grenzenden Dauerhaftigkeit oder Beständigkeit entfaltet.«11 Als Lösung entwickelt er die These, dass die Gene aperiodische Kristalle sein müssen,12 denn der Kristall erhält seine molekulare Ordnung aufrecht und bildet sie in gleicher Form immer wieder nach. Schon die »periodischen Kristalle […] gehören zu den faszinierendsten und komplexesten stofflichen Strukturen der unbelebten Natur«13 . Periodische Kristalle weisen eine höchst geordnete Struktur auf. Doch es sind nach Schrödinger nicht die Strukturen der periodischen Kristalle, sondern die der als aperiodische Kristalle angenommenen Chromosomenmoleküle, »die zweifellos den höchsten uns bekannten Ordnungsgrad von Atomverbindungen zeigen. Die Geordnetheit ist hier be-

7 8 9 10 11 12 13

Zum statistischen Naturgesetz vgl. Kapitel 11.4. Schrödinger, Was ist Leben?, S. 41. Schrödinger, Was ist Leben?, S. 53. Vgl. Schrödinger, Was ist Leben?, S. 69 f. Schrödinger, Was ist Leben?, S. 91. Schrödinger entwickelte diese Theorie, bevor Crick und Watson das Modell der Doppelhelix der DNA aufstellten. Schrödinger, Was ist Leben?, S. 34.

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Dialektik des Lebendigen

deutend höher als bei den normalen periodischen Kristallen, da jedes Atom und jedes Radikal hier eine ganz individuelle Rolle spielt.«14 In den Genen liege eine hochgradige Ordnung, welche die qualitative Differenz des Organismus zum Unbelebten ausmache. Hieraus entspringe die Kraft, sich entgegen der Entropie als Ordnung zu erhalten. Das Prinzip des Lebens sei es darum, Ordnung aus Ordnung zu schaffen. Geleistet werde dies durch die aperiodischen Kristalle, die Schrödinger zufolge aus den angeführten Gründen die Gene bilden. Die hohe Ordnung zeigt sich für Schrödinger interessanterweise nicht bloß in der Molekularstruktur aperiodischer Kristalle, als die er Chromosomenmoleküle annimmt, sondern in ihrer hierin begründeten spezifischen Funktion, die Struktur eines Ganzen sich selbst erhaltenden und fortpflanzenden Organismus ordnen zu können. Dies müsse daran liegen, dass die hochgradige Ordnung des Organismus, die sich gegen die Entropie erhalte, schon in diesem besonderen Molekül der Gene liege. Die Zirkularität dieses Schlusses ist, wie Schrödinger selbst bemerkt, in Analogie zu den Handlungen bewusster, zwecksetzender und Materie nach diesen Zwecken organisierender Wesen gewonnen und weist daher eben die teleologische Struktur auf, die sich in der atomaren Ordnung auch von Kristallen (oder der DNA15 ) zwar prinzipiell nicht empirisch aufweisen lässt, die im Unbelebten aber den Kristallen historisch mehrfach als besondere Eigenschaft zugesprochen wurde.16 Über die an die vermutete kristalline Struktur der Gene gebundene Teleologie, die die Besonderheit des lebendigen Prinzips der Materie und damit die Differenz zur Physik vom Unbelebten ausmache, leitet Schrödinger auch das besondere aktive Moment des Lebendigen ab. Gene seien klein und beständig, sie erhielten ihre Ordnung und gäben Informationen über die Gesamtordnung des Organismus zuverlässig weiter. Damit seien sie nicht nur selbst hochgradig geordnet, sondern – wie alles Leben – auch aktiv. Das Leben irritiere grundsätzlich durch seine Aktivität die (physikalische) Erwartungshaltung, die auf Unbelebtes eingestellt sei.17 Im Vergleich zu unbelebter Materie ›tut‹ das Belebte, so Schrödinger, eindeutig mehr. »Was ist das Kennzeichen des Lebens? Wann sagt man von einem Stück Materie, es lebe? Wenn es fortwährend ›etwas tut‹, sich bewegt, mit der Umwelt stoffliches austauscht usw., und zwar während einer viel längeren Zeit, als wir unter gleichen Bedingungen von einem unbelebten Stück Materie erwarten, daß es ›in Bewegung bleibe‹.«18 Die längere Zeit der Bewegung ist zunächst eine bloß quantitative Bestimmung, die erst durch ein dahinterstehendes Prinzip zu einer qualitativen Differenz – also zu Selbstoder Eigenbewegung –, werden kann. Diese qualitative Differenz entsteht dort, wo Schrödinger die Stabilität der Ordnung des Lebens in der Analogie zum menschlichen

14 15 16 17 18

Schrödinger, Was ist Leben?, S. 135. Vgl. Kapitel 9.3. Vgl. Kapitel 9.2. Hier findet sich eine analoge Prämisse über menschliche Erkenntnis zu Bergson. Vgl. Kapitel 8.3.1. Schrödinger, Was ist Leben?, S. 123.

9. Ordnung und Information

Handeln erklärt. Im Gegensatz zu seiner Grundthese, dass keine besondere Kraft, sondern die besondere Struktur der Materie ihre Lebendigkeit ausmache, gerät er so über das aktive Moment im Lebendigen ungewollt in die Nähe vitalistischer Theorien. »Wir nehmen also wahr, daß eine waltende Ordnung die Kraft besitzt, sich selbst zu erhalten und geordnete Vorgänge hervorzurufen. Das erscheint einleuchtend, obgleich wir dabei zweifellos an Erfahrungen mit gesellschaftlichen Organismen und mit Vorgängen denken, die auf der Wirksamkeit von Organismen beruhen. Es sieht also fast so aus, als ob wir uns im Kreise bewegten.«19 Von der Zirkularität im Kreise geführt, gehen Schrödinger in seiner Bestimmung des Lebens schließlich ideelles Prinzip und beobachtbare, empirische Tatsache endgültig durcheinander: »[E]s ist ganz einfach eine Beobachtungstatsache, daß das leitende Prinzip in jeder Zelle in einer einzigartigen Atomverbindung verkörpert ist«20 . Die ideell vorausgesetzte Wirkung der Gene lässt sich in jedem einzelnen chemischen Ablauf nicht beobachten. Diese Abläufe lassen sich insgesamt nur bezogen auf den teleologischen Zweck des Gesamtorganismus als Ordnung beschreiben. So wird als ›leitendes Prinzip‹ ein Ideelles teleologischer Ordnung gedacht. Erst über dieses Prinzip wird die Funktion der Gene begriffen, als ›Bauplan des Lebens‹.

9.1.1

Mutationssprünge – Quanteneffekte der Biologie?

Der große Effekt der Ordnung der Gene auf die Struktur des Gesamtorganismus zeige sich laut Schrödinger an Mutationen besonders deutlich. »De Vries nannte diesen Vorgang [der sprungartigen Abweichung ohne vermittelnden Übergang] Mutation. Der wesentliche Punkt liegt in der Übergangslosigkeit. Sie erinnert den Physiker an die Quantentheorie – zwischen zwei benachbarten Energiestufen kommen ebenfalls keine Zwischenstufen vor. Ich wäre geneigt, De Vries’ Mutationstheorie bildlich die Quantentheorie der Biologie zu nennen.«21 Als Grund dieser Ähnlichkeit identifizierte Schrödinger die Gleichheit der Ursache: »Die Mutationen sind tatsächlich durch Quantensprünge in den Genmolekülen bedingt.«22 Dieses Prinzip der Organismen ist nach Schrödinger jedoch entgegen dem ersten Anschein auch ein echt physikalisches Prinzip, nämlich das Prinzip der Quantentheorie.23 De Vries Annahme von einem solchen sprunghaften Übergang widerspricht dem Linnéschen Axiom, dass die Natur keine Sprünge mache. In der Quantentheorie glaubte Schrödinger eine Erklärung dafür gefunden zu haben, wie solche Sprünge doch stattfinden könnten. Organismen befänden sich quasi – als analoge Vorstellung – auf dem absoluten Wärmenullpunkt, so dass der Zufall der Atombewegungen, welcher Gegenstand der Quantenphysik ist, ausgeschlossen werde.

19 20 21 22 23

Schrödinger, Was ist Leben?, S. 135. Schrödinger, Was ist Leben?, S. 138. Schrödinger, Was ist Leben?, S. 74. Ebd. Vgl. Schrödinger, Was ist Leben?, S. 140.

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Dialektik des Lebendigen

»Dem Physiker gegenüber möchte ich betonen, daß […] die Unbestimmtheit der Quanten bei diesen Vorgängen keine biologisch wesentliche Rolle spielt, ausgenommen vielleicht durch Steigerung des Zufallscharakters von Vorgängen wie der Reifeteilung, der natürlichen und der durch Röntgenstahlen hervorgerufenen Mutationen usw.«24 Über die Beziehung zwischen Quantensprüngen und Mutationssprüngen kann Schrödinger die von ihm vorher gemachte Differenz zwischen den bekannten Gesetzen der Physik und dem Prinzip des Lebens, Ordnung aus Ordnung zu schaffen, wieder aufheben. Der Quantensprung (ausgelöst z.B. durch Energiezufuhr) führe zu einem isomeren Molekül, also einem Molekül, das aus den gleichen Atomen besteht, wie das vorherige, aber andere Eigenschaften aufweist, weil die Atome in einer anderen Struktur angeordnet sind. Biologisch hieße das, der Quantensprung führte zu einem verschiedenen Allel im gleichen Gen; so entspreche der Quantensprung einer Mutation.25 Schrödinger hatte aus der spezifischen Funktion in der Vererbung und der ›nahezu absoluten Beständigkeit‹26 weitergegebener Eigenschaften geschlossen, dass die Erbinformation ein Molekül von besonderer Stabilität und Ordnung sein müsse: »Die erstaunliche Gabe eines Organismus, einen ›Strom von Ordnung‹ auf sich zu ziehen und damit dem Zerfall in atomares Chaos auszuweichen, aus einer geeigneten Umwelt ›Ordnung zu trinken‹, scheint mit der Anwesenheit der ›aperiodischen festen Körper‹, der Chromosommoleküle, zusammenzuhängen, die zweifellos den höchsten uns bekannten Ordnungsgrad von Atomverbindungen zeigen. Die Geordnetheit ist hier bedeutend höher als bei den normalen periodischen Kristallen, da jedes Atom und jedes Radikal hier eine ganz individuelle Rolle spielt.«27 Die Mutationen wiesen darauf hin, dass in diesem großen, stabilen ›Chromosommolekül‹ einzelne Teile auf ein anderes Energieniveau gehoben werden könnten – z.B. durch Strahlung –, so dass der von den so veränderten Genen organisierte Organismus Mutationen, d.i. sprunghafte Veränderungen, aufweise. Die Bewegungen einzelner Atome sind nur statistisch gesetzmäßig zu fassen, während Bewegungen größerer Körper exakt durch die klassische Mechanik berechnet werden können. Auch dies sei ›Ordnung aus Ordnung‹, etwa in den geregelten Bahnen der Planeten im Sonnensystem. Auch Maschinen wie die Uhr funktionierten im weitesten Sinne mechanisch, quantenphysikalische Atombewegungen können hier vernachlässigt werden. Die Differenz zwischen Uhr und Organismus liege vor allem darin, dass der Organismus »nicht ein plumpes Menschenwerk ist, sondern das feinste Meisterstück, das jemals nach den Leitprinzipien von Gottes Quantenmechanik vollendet wurde.«28 Organismen in ihrer Ordnung als Ganzes seien darum wie Quanten auf dem Wärmenullpunkt. Die Mutationen als nicht sukzessive fortschreitende Prozesse, sondern Sprünge der Entwicklung, entsprächen der sprunghaften Veränderung des Energieniveaus der 24 25 26 27 28

Schrödinger, Was ist Leben?, S. 148. Vgl. Schrödinger, Was ist Leben?, S. 99 und S. 104. Vgl. Schrödinger, Was ist Leben?, S. 70. Schrödinger, Was ist Leben?, S. 134 f. Schrödinger, Was ist Leben?, S. 147.

9. Ordnung und Information

Quanten; dies sei mehr als eine bildhafte Analogie, denn Schrödinger geht aufgrund der Ähnlichkeit der Phänomene davon aus, dass eine sprunghafte Veränderung des Energieniveaus der Quanten in der (im Vergleich zum Gesamtorganismus sehr kleinen, also aus relativ wenigen Atomen bestehenden) Genstruktur die Mutation verursacht. Das Rätsel des Lebens wird so in das Rätsel der Quantenmechanik überführt. Doch das Problem des teleologischen und selbsttätigen, aktiven Moments des Belebten hat er auch ›mit den Augen des Physikers betrachtet‹ nicht lösen können – er hat es nur vom lebendigen Organismus verlagert in die Vorstellung eines kristallinen aperiodischen festen Körpers, welcher unser Erbgut sei. Wie der periodische Kristall wachse durch Wiederholung seiner Struktur, so erweitere sich das Aggregat lebendiger Körper in Entwicklung und Wachstum »ohne den langweiligen Kunstgriff der Wiederholung. […] Wir könnten dies passenderweise einen aperiodischen Kristall […] nennen«29 . Da neben der Analogie zum Artefakt sich gerade in Bezug auf die geordnete Struktur die Analogie zum Kristall immer wieder findet, soll sie im nächsten Abschnitt näher betrachtet werden. Anschließend werden neuere Theorien zur Bedeutung der DNA als Informationsträger betrachtet, was einen Blick in die Informationstheorie und Kybernetik erforderlich macht.

9.2

Die Ordnung der Kristalle – Prüfstein des Lebensbegriffs »Es ist sicher ganz unzulässig, wenn man von einer Strukturlehre der Lebewesen spricht, die sich an die Strukturlehre der Stoffe anschließen soll. Aus diesem Zusammenwerfen ganz verschiedener Dinge ist es überhaupt erklärlich, daß immer wieder Bestrebungen sich ans Licht wagen, die das Leben als eine Fortführung der Kristallisation deuten wollen.«30

Die Hypothese Schrödingers, die geordnete Struktur des Lebendigen auf die Ordnung angenommener kristalliner Strukturen der Gene zurückzuführen, steht in einer langen Tradition. Im Abweis der Idee eines schöpfenden Gottes formulierten Philosophen der französischen Aufklärung den Gedanken, dass Pflanzen und Tiere sich aus der Erde herauskristallisieren könnten.31 Zwar erwiesen sich derlei Überlegungen als spekulative Überhebungen, die naturwissenschaftlich nicht zu halten waren, doch der Vergleich

29 30 31

Schrödinger, Was ist Leben?, S. 110. Jakob von Uexküll, Theoretische Biologie, Frankfurt a.M. 1973, S. 135. Vgl. Denis Diderot, Pensées philosophiques, La Haye (fiktiv) 1746 (dt.: »Philosophische Überlegungen«). Vgl. Pierre Louis Moreau de Maupertuis, »Système de la Nature«, in: Pierre Louis Moreau de Maupertuis, Œvres Bd. 2, Paris 1768. Vgl. auch Ursula Winter, »Naturphilosophie und Naturwissenschaften«, in: Horst Albert Glaser (Hg.), Die Wende von der Aufklärung zur Romantik 1760-1820: Epoche im Überblick, Amsterdam 2001, S. 173-208.

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Dialektik des Lebendigen

von Kristallen mit Organismen war am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts weit verbreitet.32 So wurde z.B. das Silberbäumchen, arbor philosophica, das entsteht, wenn aus einer Silbersalzlösung durch Reduktion Silber abgeschieden wird, wegen seiner Ähnlichkeit mit einer wachsenden Pflanze als Beleg für Leben oder eine Vorform des Lebens im Reich der Mineralien gedeutet.33 Über diesen Vergleich wurde die Morphologie zur Kristallographie lebender Körper: In der vergleichenden Anatomie sollte ein ideelles Schema, ein Bauplan, für jede Art und Gattung im Tierreich gefunden werden – ähnlich wie die morphologischen Eigenschaften von Kristallen durch Symmetrieebenen und gedachte Achsen beschrieben werden können. Die ›Archetype‹ von Owen – ein schematisches Säugetier –, Goethes ideale ›Urpflanze‹, nach deren Plan alle weiteren Pflanzen ableitbar sein sollten oder Cuviers Einteilung der Tierwelt in vier ›Grundpläne‹ gehen auf diese Vorstellung zurück. Die Popularität dieser Vergleichung endete erst mit der Entwicklungslehre individueller Organismen. Wenn ein Organismus entsteht, durchläuft er verschiedene Entwicklungsstadien, verändert sich, altert und stirbt; die Zeit spielt eine wesentliche Rolle in seiner Entwicklung. Ein Kristall hat immer ein und dieselbe geometrische Form, kann zwar wachsen und in der Größe variieren, aber seine Form bleibt immer gleich. Auch wenn er für das Wachstum Zeit braucht, so lässt sich doch aus seiner Größe nicht auf sein Alter schließen. Der Kristall ist homogen in allen seinen Teilen, der Organismus dagegen heterogen. Kristalle sind stabil in ihrer Organisation, aber statisch, nicht dynamisch; sie wachsen bloß homogen und sie entwickeln sich nicht (wie auch RNA-Viren34 ). Und doch taucht die durch die naturphilosophische Theorie der funktionellen Einheit des Organismus längst fallengelassene Parallele zum gleichfalls wachsenden und symmetrisch geordneten Kristall ab Mitte des 19. Jahrhunderts wieder auf. Anlass ist die fortschreitende Erforschung der Zellen und ihre Deutung als diejenigen Einheiten, aus denen der Organismus sich zusammensetze.35 So schreibt du Bois-Reymond: »Man weiß wie, nach den ernsten Arbeiten noch eines Jahrzehnts mit dem verbesserten Mikroskope, schließlich der Gedanke organischer Urteilchen durch Hrn. Schwanns

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33

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Vgl. bspw. Augustin-Pyrame de Candolle, Principes élémentaires de botanique, Paris 1804, oder Ludwig Rütimeyer, »Über Form und Geschichte des Wirbeltierskelettes (1856)«, in Ludwig Rütimeyer, Gesammelte kleinere Schriften allgemeinen Inhalts aus dem Gebiete der Naturwissenschaft, S. 41-S. 69, Basel 1898. Auch heute noch findet sich die Verbindung von der Ordnung der Kristallisation und der Ordnung des Belebten in einigen abseitigen Forschungsansätzen, bspw. der Kupferchloridkristallisation als einer bildschaffenden Methode der Anthroposophie. Vgl. z.B. J.-G. Barth/J. Roussaux/K. Suppan/S. Rosa dos Santos, »Crystallisation of a film of copper chloride in the presence of additives. Preliminary study on the experimental conditions and criteria of quality«, in: Elemente der Naturwissenschaft 94, 2011, S. 69-99. Unter anderen auch von Isaac Newton. Vgl. Jane Bosveld, Isaac Newton, der berühmteste Alchemist der Welt. Original: »Isaac Newton, World’s Most Famous Alchemist« in: Discover Magazine July/August 2010. Zur Bedeutung, die Viren insbesondere bei der Entstehung des Lebens zugesprochen wird, vgl. Kapitel 5.1.4.2. Vgl. Schwann, Kapitel 8.4.1.

9. Ordnung und Information

epochemachende ›Untersuchungen‹ verwirklicht ward. Jeder Organismus ist uns nun wirklich ein Aggregat mehr oder minder zahlreicher kleiner Einzelwesen, deren Eigenschaften die Eigenschaften des Gesamtorganismus fast so wiederholen, wie die Eigenschaften der Kristallmolekeln die Eigenschaften des Kristalls«36 . Umgekehrt hatte Köhler 1924 die Kristalle wie die Organismen unter Absehung des funktionellen Zusammenspiels der Organe zu den ›physischen Gestalten‹ gezählt, die aus sich heraus eine Ganzheit bilden.37 Ob nun das Aggregat als Ganzes oder seine die Ganzheit ermöglichenden Teile in den Fokus gesetzt werden – was am Kristall lebendig oder am Leben kristallin erscheint, ist offenbar die Fähigkeit, aus sich selbst heraus eine geordnete Struktur zu bilden, die sich auch reproduziert. Später findet sich dieser Gedanke beispielsweise in der Molekulargenetik, wo die Bildung morphologischer Strukturen mit Kristallisationsvorgängen analogisiert wird.38 Nach Monod unterscheiden sich Lebewesen über die Regelmäßigkeit und Symmetrie ihrer Form, die sich keiner äußeren Krafteinwirkung, sondern der inneren Organisation verdanke,39 von allen unbelebten Dingen – außer von den Kristallen. Um die Kristalle aus der Menge der belebten Objekte nach einem objektiven Kriterium ausschließen zu können, greift Monod auf die bei der Reproduktion übertragene Informationsmenge40 zurück, die bei Kristallen deutlich geringer ist, als bei der einfachsten Lebensform. Dies sei allerdings, wie er selbst einräumt, kein wesentliches, sondern ein »rein quantitatives Merkmal«41 der Unterscheidung.

9.2.1

Sind flüssige Kristalle wie Viren Grenzformen des Lebendigen?

Wenn eine wesentliche Bestimmung von Kristallen und Organismen mit der autonomen Organisation von Materie zu einer bestimmten Gestalt identisch ist, so dass Schrödinger sogar die Erbsubstanz als wesentliches formbildendes Element des Lebens darum als kristallin annimmt und nach Monod nur das Quantum der Informationsmenge den Stein vom komplexeren Organismus unterscheide, dann stellt sich die Frage, warum oder ob Kristalle nicht auch zum Lebendigen zu zählen seien. Dass Kristalle keine Lebewesen sind, ist heute unstrittig. Doch an der Antwort, warum sie nicht zum Gegenstandsbereich des Lebendigen gehören, lässt sich die Schärfe des zugrunde gelegten Lebensbegriffs prüfen. Denn um etwas sicher begrifflich als unbelebt bestimmen zu können, muss das Wissen darüber, was Leben ist, vorausgesetzt werden. Auch der historisch spätere Streit um den Status der Viren zeigt dieses Problem der Grenzziehung beispielhaft auf: Die Viren reproduzieren sich nicht selbst als Art, sondern sie werden von fremden lebendigen Zellen reproduziert. Dennoch lassen sie sich in dieser Funktion nur über ein teleologisches Prinzip begreifen, was sie von den Kristallen unterscheidet. Da sie dieserart zudem an Organismen gebunden sind 36 37 38 39 40 41

Emil du Bois-Reymond, Vorträge über Philosophie und Gesellschaft, Hamburg 1974, S. 37. Vgl. Kapitel 8.5.3. Vgl. z.B.: Bernd Olaf Küppers, Der Ursprung biologischer Information, München 1986. Vgl. Kapitel 2.3.1. Zum Informationsbegriff vgl. Kapitel 9.3. Monod, Zufall und Notwendigkeit, S. 21.

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Dialektik des Lebendigen

und über eine eigene RNA verfügen, werden sie – zunächst ganz pragmatisch – dem Gegenstandsbereich der Biologie zugeordnet, auch wenn ihnen wesentliche Kriterien des Lebendigen wie Stoffwechsel, Reizbarkeit oder eigenständige Fortpflanzung fehlen. Viele Biologen forderten darum angesichts der Viren eine Begründung der Grenze zwischen belebten und unbelebten Strukturen: »Es herrscht keine Einigkeit unter Fachleuten, ob sie die Vira zu den Lebewesen oder zu den leblosen Fermenten rechnen sollen. Angesichts solcher Grenzfälle ist es nötig, scharfe Kriterien aufzustellen, was wir als lebend bezeichnen wollen.«42 Die Frage scheint nicht nur die nach der Objektivität zu sein – zu bestimmen, was ist lebendig und was nicht –, sondern hier ist offenbar eine Entscheidung zu treffen, von der der Umfang des Begriffs des Lebendigen abhängt. Je nach getroffener Entscheidung wären dann Aliens auf Silikat- statt auf Kohlenstoffbasis oder auch Lebensformen ohne DNA (und stattdessen vielleicht mit einem Schrödingerschen Erbgut aperiodischer Kristalle) möglich oder unmöglich. Auch Oparin antwortete auf dieses Problem der Grenzziehung mit einer Setzung: »Das Leben ist jedem Organismus, vom höchsten bis zum niedrigsten, eigentümlich, fehlt aber den Objekten der anorganischen Natur, mögen sie auch noch so kompliziert aufgebaut sein. Es ist sehr wohl möglich, daß in den grenzenlosen Räumen des Universums eine Vielzahl sehr vollkommener und komplizierter Formen der Bewegung und Organisation der Materie existiert, von der wir bislang noch nicht einmal eine Ahnung haben. Vollkommen unbegründet wäre es jedoch, irgendeine dieser Formen als Leben zu bezeichnen, wenn sie sich im Wesen prinzipiell von dem Leben unterscheidet, das auf unserem Planeten durch die Gesamtheit der verschiedenartigsten Organismen dargestellt wird. Besser wäre es dann schon, falls erforderlich, für diese Form der Organisation einen eigenen neuen Begriff zu schaffen.«43 Während die Viren nach heutiger Lehrmeinung »eigentlich keine echten Lebewesen«44 sind, weil ihnen Grundmerkmale des Lebendigen45 fehlen (und Aliens bislang nicht entdeckt werden konnten), wird das theoretische Problem der Gegenstandsbegrenzung eher deutlich, wenn man sich anschaut, aus welchen Gründen die Kristalle aus dem Bereich des Lebendigen ausgeschlossen wurden, als dieses noch naturphilosophisch über ein teleologisches Prinzip bestimmt und nicht biologisch über empirische Merkmale definiert wurde. Hier soll also nicht die Unbelebtheit von Kristallen in Frage gestellt werden, sondern anhand der Frage und ihrer (Nicht-)Beantwortung das Problem der empirischen Bestimmung des Lebens erneut aufgezeigt werden.

42 43 44 45

Francesco Nardi, Organismus und Gestalt. Von den formenden Kräften des Lebendigen, München/Berlin 1942, S. 21. Oparin, Leben, S. 3. Duden Lernattack, https://www.lernhelfer.de/schuelerlexikon/biologie/artikel/viren (Zugriff 2.10.2021). Vgl. Kapitel 6.3.

9. Ordnung und Information

Interessant sind in diesem Zusammenhang die Arbeiten über flüssige Kristalle von Otto Lehmann, die Thomas Brandstetter sehr anschaulich zusammengefasst hat.46 Der Physiker Otto Lehmann ist der Entdecker der flüssigen Kristalle.47 Diese sind Flüssigkeiten, welche die Anisotropie, also die physikalische Eigenschaft der Richtungsabhängigkeit, von Kristallen im flüssigen Aggregatzustand aufweisen. Diese flüssigen Kristalle finden heute allenthalben in Uhrendisplays oder bei Flachbildschirmen eine technische Anwendung. Lehmann rückt die Kristalle vor allem über ihre Fähigkeit zur ›Nachahmung‹ von Strukturen und ihre ›Gestaltungskraft‹ in die unmittelbare Nähe des lebendigen Organismus. Er analogisiert diese flüssigen Kristalle mit einzelligen Lebewesen. In seinen Artikeln Flüssige Krystalle und die Theorien des Lebens, Scheinbar lebende fließende Krystalle oder Fließende Krystalle und Organismen stellt er die Analogie zwischen Organismen und lebenden Kristallen bzw. flüssigen Kristallen weiter dar. Hierbei legt Lehmann sehr großen Wert darauf, festzuhalten, dass es sich um eine bloße Analogie handele. Die flüssigen Kristalle seien ihm zufolge selbstverständlich nicht wirklich als Lebewesen aufzufassen. Aber er glaube daran, dass es eventuell möglich wäre, mithilfe dieser Flüssigkristalle künstliches Leben48 herzustellen – ein Modell des Lebendigen. Hier drängt sich die Frage danach auf, woran sich die Differenz zwischen einem Organismus und dem gelungenen Modell eines Organismus spezifisch festmachen ließe. Dem Modell müsste ein wesentliches Merkmal des Lebendigen mangeln, sonst wäre es kein Modell mehr, sondern man hätte mit dem künstlichen Leben selbst Leben erschaffen.49 Indem Lehmann den Terminus des Modells gebraucht, scheint er davon auszugehen, dass die Differenz zwischen einzelligen Organismen und spezifisch strukturierten flüssigen Kristallen nicht alleine in deren Genese – also der Künstlichkeit des Modells – zu finden ist, sondern sich am Material selbst als divergierende Eigenschaften feststellen lassen müsse. Tatsächlich schließt er die Kristalle aus der Menge des Lebendigen dadurch aus, dass er sich auf Roux’ Kennzeichen des Lebendigen50 beruft, in dem auch Eigenschaften verzeichnet sind, welche flüssigen Kristallen eindeutig nicht zukommen. Das Kennzeichen der Selbstregulation in der Ausübung aller Einzelleistungen weisen die flüssigen Kristalle zum Beispiel nicht auf, weshalb man mit Bestimmtheit sagen könne, dass es sich bei ihnen nicht um Lebewesen handele. Allerdings merkt er an, dass dieser Ausschluss der Kristalle aus der Menge des Lebendigen nur gelte, »sofern man eben die Definition der Letzteren nach Roux akzeptiert«51 .

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49 50 51

Vgl. Thomas Brandstetter, »Leben im Modus des Als Ob. Spielräume eines alternativen Mechanismus um 1900«, in: Armen Avanessian/Winfried Menninghaus/Jan Völker (Hg.), Vita Aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit, Berlin 2009, S. 237-249. Sein Hauptwerk hierzu: Otto Lehmann, Die scheinbar lebenden Krystalle, Eßlingen 1907. Zum Problem des künstlichen Lebens vgl. Christine Zunke, »Künstliches Leben und ratio perversa. Craig Venter als Newton des Grashalms?«, in: Myriam Gerhard/Christine Zunke (Hg.), Die Natur des Menschen. Aspekte und Perspektiven der Naturphilosophie, Würzburg 2012, S. 73-104. Vgl. Kapitel 2.4.4. und 3.4.1. Vgl. Kapitel 6.3.1. Thomas Brandstetter, »Leben im Modus des Als Ob. Spielräume eines alternativen Mechanismus um 1900«, in: Armen Avanessian/Winfried Menninghaus/Jan Völker (Hg.), Vita Aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit, Berlin 2009, S. 237-249. Vgl. Kapitel 6.3.1.

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Dialektik des Lebendigen

Also nur, wenn man die gegebenen Kennzeichen, die von den Biologen seiner Zeit genannt wurden, tatsächlich als die Kennzeichen des Lebendigen annimmt, welche nicht nur notwendig, sondern auch hinreichend sein müssen und alle gleichermaßen für jeden Organismus Geltung beanspruchen, nur dann wären hierdurch per definitionem die Kristalle aus der Menge des Lebendigen ausgeschlossen. Allerdings gibt es viele, teilweise voneinander abweichende Listen, welche Eigenschaften und Merkmale spezifisch für das Lebendige kennzeichnend sein sollen, und bei allen Aufzählungen dieser Art ist es so, dass sie nicht alle Eigenschaften oder Merkmale bei ausschließlich allen jenen Objekten enthalten, die gewöhnlich unter der Menge des Lebendigen gefasst werden.52 Man kann also die Kristalle so betrachten, als ob sie Lebewesen wären, sie als Modell der Lebendigkeit begreifen.53 Zwar wisse man laut Lehmann hierbei stets genau, dass es sich nicht tatsächlich um Organismen handele, doch nimmt diese Analogie zwischen Kristallen und einzelligen Organismen in seinem Werk eine zentrale Rolle ein. Lehmann geht davon aus, dass es uns in der Erkenntnis der Organismen weiterbringen würde, wenn wir spezifische Eigenschaften an einfacheren Modellen, beispielsweise den Kristallen, erforschen könnten. Dieser Ansatz findet sich schon früher, z.B. in Schwanns Zelltheorie: »Um nun scharf aufzufassen, worin die Eigenthümlichkeit des Zellenbildungsprozesses, also des Grundphänomens der Bildung der Organismen liegt, wollen wir diesen Prozess mit einem möglichst ähnlichen Phänomen der anorganischen Natur vergleichen. […] Unter diesen höhern Begriff fällt in der anorganischen Natur auch der Prozess der Krystallbildung, und dieser ist daher das nächste Analogon der Zellenbildung.«54 Doch in Lehmanns Forschungen wird diese Erwartung, über die Analogisierung mit Kristallen ein einfacheres Modell des Lebendigen zu finden, gerade wegen zentraler Gemeinsamkeiten von Organismen und Kristallen nicht erfüllt. Lehmanns Faszination gründet darin, dass die flüssigen Kristalle offenbar eine Fähigkeit zur Hervorbringung organisierter Strukturen besitzen. Dieses Hervorbringen organisierter Strukturen erscheint ihm als ein Rätsel, das die Kristalle mit den Organismen teilen. Der Grund der Analogie zwischen Kristallen und Organismen scheint also gerade nicht ein hierdurch gewonnener oder erwarteter Erkenntnisfortschritt zu sein, in dem wir vom Einfacheren auf das Komplexere schließen können, sondern im Gegenteil, dass beide uns vor dasselbe Rätsel stellen.

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Vgl. Kapitel 6. Aus diesem Grund gibt es auch immer wieder Theorien zur Entstehung des Lebens, bei denen Kristalle eine bedeutende Rolle als Übergang vom Unbelebten zum Belebten spielen. So beschreibt Cairns-Smith eine zu Lebewesen analoge Reproduktionsfähigkeit von Silikatkristallen, bei denen die Unterschiede in der Mikrostruktur durch den Austausch einzelner Ionen an die Tochterkristalle weitergegeben, also ›vererbt‹ werden. Vgl. A. G. Cairn-Smith, »The origin of life and the nature of the primitive gene«, in: Journal of Theoretical Biology, Vol. 10 (1), London 1966, S. 53-88. Theodor Schwann, Mikroskopische Untersuchungen über die Uebereinstimmung in der Struktur und dem Wachsthum der Thiere und Pflanzen, Berlin 1839, S. 239.

9. Ordnung und Information

Dies ist allerdings eine alte Gemeinsamkeit zwischen Organismen und Kristallen, die vor der Erkenntnis der Kristallgitter in der Molekularstruktur55 und vor der Entdeckung der flüssigen Kristalle und ihrer eigentümlichen Anisotropie bei amorpher und veränderlicher Form diskutiert wurde. Wachstum und Organisation im Wachstum, aus der sich eine spezifische Form des Objektes ergibt, war lange der Grund dafür, dass die Kristalle nicht selbstverständlich aus der Menge des Lebendigen ausgeschlossen werden konnten. Sowohl Wachstum als auch eine gewisse Regenerationsfähigkeit von beschädigten Kristallen sind bereits im Altertum mit den Körpern von Lebewesen analogisiert worden. Durch die Entdeckung der flüssigen Kristalle wurden diese alten Analogien lediglich erweitert und neu ins Bewusstsein der Forschung gehoben. Indem auch so komplexe Erscheinungen wie Kopulation, Kreuzung, oder Knospenbildung und auch eigenständige gerichtete Bewegung zwischen Lebewesen und flüssigen Kristallen analogisiert wurden, und die Analogie nicht länger bloß auf das längst durch chemische Gesetze erklärte Wachstum und die Regeneration beschränkt war, stellte sich die Frage danach, ob Kristalle tatsächlich lebendig oder zumindest Vorformen des Lebendigen seien, erneut.56 Aufgrund ihres gerichteten Verhaltens (Verhalten hier im weitesten Sinne) der selbsttätigen Wiederherstellung einer einheitlichen Struktur, zum Beispiel beim Zusammenwachsen bzw. Zusammenfließen zweier flüssiger Kristallstrukturen, spricht Lehmann ihnen eine spezifische »Gestaltungskraft«57 zu. Diese besondere Gestaltungskraft der Kristalle soll durchaus in einem physikalischen Rahmen hinreichend erklärbar sein, sie erinnert in ihrer Funktion, da sie auf einen Zweck hin gerichtet ist, jedoch sehr stark an das belebende Prinzip des Vitalismus. Von jenem will Lehmann sich allerdings explizit abgrenzen. Jedoch setzt er mit seiner Gestaltungskraft ein wirkendes Prinzip, ein organisierendes Prinzip in die flüssigen Kristalle, welches an metaphysischem Gehalt der Entelechie in nichts nachzustehen scheint. Da also Kristalle eine Gestaltungskraft hätten, könnte genau dieselbe Gestaltungskraft auch strukturierend in Organismen wirken. Da zugleich Kristalle nach Lehmann keine Lebewesen seien, sondern Unbelebtes, erhoffte er sich hierüber eine rein mechanistische Erklärung des Lebendigen. Wenn jenes in Kristallen, also im Unbelebten wirkende Gestaltungsprinzip, das ein rein physikalisches und rein mechanistisch zu erklärendes Prinzip sein müsse, und zwar deshalb, weil die Kristalle ja tatsächlich nicht lebendig seien, auch in Organismen selbst strukturierend tätig wäre, so hätte man hierüber Lehmann zufolge einen neuen Weg gefunden, eine gänzlich metaphysikfreie Erklärung des Lebendigen zu liefern und so dem Vitalismus ein für alle Mal einen Riegel vorzuschieben. Um die selbstorganisierte Struktur von Lebewesen erklären zu können,

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Nach der Erkenntnis der Kristallgitter in der Molekularstruktur als Grund ihrer Ordnung war die Analogie zum Organismus hinfällig, da deutlich wurde, dass hier grundlegend andere Ordnungsmechanismen angenommen werden müssen. Ernst Haeckel und andere führende Biologen jener Zeit waren der festen Überzeugung, dass es sich bei flüssigen Kristallen allerdings um Lebewesen handele. Thomas Brandstetter, »Leben im Modus des Als Ob. Spielräume eines alternativen Mechanismus um 1900«, in: Armen Avanessian/Winfried Menninghaus/Jan Völker (Hg.), Vita Aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit, Berlin 2009, S. 237-249, S. 245.

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Dialektik des Lebendigen

ohne »die Existenz besonderer Lebenskräfte«58 annehmen zu müssen, könne die weitere Erforschung der flüssigen Kristalle einen erkenntniserweiternden Weg bieten. Dass bei den Kristallen keine Zweckmäßigkeit, also kein übergeordnetes wirkendes Prinzip wirksam sei, sondern eine lediglich im Mikrobereich wirkende Kraft, die bloß eine lokale Interaktion von Atomen verursache und nicht zweckgerichtet auf ein Ganzes des Organismus gerichtet sei, aber dennoch dazu geeignet sei, eine geordnete Struktur hervorzubringen, erwies sich jedoch als bloßer Trugschluss. Denn genau jenes metaphysische Prinzip, welches aus dem Lebendigen verbannt werden sollte, wurde hier ins Unbelebte verlagert, um dann im Folgenden so tun zu können, als ob die Gerichtetheit keine Spezifität des Lebendigen sei.59 Indem man also am Anfang axiomatisch setzt, Kristalle seien nichts Lebendiges, kann man ihre selbstorganisierende Struktur und Gestaltungsfähigkeit als nicht-teleologisch, weil nicht lebendig, behaupten. Über diesen Weg der Argumentation erscheint es dann so, als ob eine ›Gestaltungskraft‹ ohne ein teleologisches Prinzip denkbar sei. Dieser Schein entsteht, indem vorher der Kristall als nicht-lebendiger Gegenstand dogmatisch gesetzt wurde, um dann als Analogon des Lebendigen seine teleologische Struktur zu erklären. Logisch argumentativ ist dies nicht haltbar. Aber es könnte erklären, warum Lehmann die seinerzeit gültigen Kennzeichen des Lebendigen so fraglos hingenommen hat. Das teleologische Prinzip wurde lediglich als Gestaltungskraft in die nicht-organischen Kristalle verlagert. Der Sache nach hat Lehmann hierüber das Problem des Vitalismus jedoch nicht gelöst, sondern dem Bereich der Objekte, die ein solches Problem aufwerfen, lediglich einen weiteren Gegenstand hinzugefügt, indem er allein die Gestalt schon als Telos begreift. Im Resultat seiner Überlegungen stellen uns dann auch die Kristalle – wie die Viren – vor die Frage nach dem Prinzip des Lebendigen und seinen Grenzen. Denn auch die Gestaltungskraft der Kristalle muss, so wie Lehmann sie beschreibt, als ein zweckgerichtetes Prinzip gedacht werden, weil es sonst nichts bestimmen könnte, zu dem hin es gestaltend wirken kann. D.h. sie muss das Telos, also die Gestalt des Kristalls als seine bloße Form, auf das sie hinwirkt, schon vorher als Zweck in sich enthalten. Über die Form, die Gestalt, wird jedoch die in jedem lebendigen Organismus wesentliche Funktion der Form von Lehmann gänzlich außer Acht gelassen. Kristalle haben in ihrer Form kein ›Wozu‹, sie bilden sich als geordnete Struktur ohne inneres Telos. Die Gerichtetheit ihres Gestaltungsprozesses bleibt daher auch bloß formal und ohne weiteren Inhalt ist der Kristall – im Gegensatz zum Organismus – nicht reflexiv und darum kein Selbstzweck.60 Die Kristallmorphologie kann die bestimmten Formen von Kristallen als geometrische Flächen, Kanten und Ecken beschreiben; diese Formen 58 59

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Ebd. Dieses widersprüchliche Ineinander-Umschlagen von vitalistischen und mechanistischen Momenten ergibt sich daraus, dass keines der beiden Theoreme in sich widerspruchsfrei ist. Vgl. Kapitel 8.3. Da die bisher dargestellten Definitionen des Lebendigen der modernen Biologie allerdings ohne Reflexion auf die Reflexivität organischen Selbstbezuges auszukommen versuchen, ist die Grenze zwischen Kristallen und Organismen nach der Realdefinition tatsächlich nicht immer eindeutig zu ziehen; das ist nur darum kein Problem, weil sie wie selbstverständlich vorausgesetzt wird.

9. Ordnung und Information

ergeben sich aus dem spezifischen Kristallgitter, aber sie geben keinen weiteren Sinn für den Kristall und sind darum tatsächlich nicht teleologisch. Anders als die Viren, deren Strukturen sich nur als funktional für ihre eigene Reproduktion beschreiben lassen. Auch wenn sie keinen eigenen Stoffwechsel haben und ihre Fortpflanzung von den befallenen Wirtszellen geleistet wird, sind Viren nur über ein teleologisches Prinzip als für ihre Existenz zweckmäßig organisiert zu begreifen und gehören – wenn man das Lebendige nicht über ein Sammelsurium von häufigen Kennzeichen, sondern über ein Prinzip bestimmt – hierüber in den Gegenstandsbereich des Lebendigen, aus dem wir die bloß hochgradig geordneten aber hierin nicht zugleich zweckmäßigen Kristalle ausschließen müssen. Lehmanns Ansatz stellt im Resultat eine bloße Verlagerung des eigentlichen Problems dar, ähnlich wie die Verlagerung der inneren Zweckmäßigkeit des Organismus in die spezifische Struktur der DNA, die seine Funktion als Information immer schon enthalten soll. Das Telos ist dabei dem in diesem Zusammenhang geläufigeren Begriff der Information immanent.

9.3

Informationsbegriff und DNA

Die grundlegende Differenz zwischen belebter und unbelebter Materie wird im Zusammenhang mit der kybernetischen61 Beschreibung selbstorganisierender Systeme oft daran festgemacht, dass belebte Materie Information enthalten, umsetzen und weitergeben kann. Nach Manfred Eigen sei Information darum der Schlüssel zum Leben: »Die Stufen zum Leben setzen in einer chemisch reichhaltigen Umwelt an, in der informationsbegabte molekulare Replikatoren auftauchen. Sie allein sind zu einer Optimierung und damit zur teleonomischen Annäherung an ein zweckbestimmtes Verhalten befähigt.«62 Die Informationsbegabung, die in der Fähigkeit zur Replikation liege – also der Weitergabe von Informationen –, soll den Schlüssel darstellen, zweckgerichtete Verhaltensweisen (als Realisierung des Zweckes des Organismus) zu ermöglichen. Speicherung, Umsetzung und Weitergabe von Informationen als Bedingung der Zweckbestimmung belebter Materie zu benennen, ist allerdings zirkulär, weil sie nicht nur Bedingung der Teleologie ist, sondern selbst schon teleologische Voraussetzungen hat. Molekulare Replikation als Informationsübertragung zu denken fasst diese schon als zielgerichteten Prozess, wobei die Information selbst als das Intelligible gedacht wird, das den Prozess leitet.

61 62

Vgl. Kapitel 10.1. Manfred Eigen, Stufen zum Leben, München 1987, S. 257.

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Dialektik des Lebendigen

9.3.1

Information – abstrakte Quantität oder semantischer Gehalt?

Unter der Prämisse, dass organische Strukturen sich durch Anpassung an ihre Umwelt in spezifischer Form herausbilden, lässt sich jeder Organismus so betrachten, als enthielte er genaueste Informationen über seine Umwelt, wie Konrad Lorenz es beschreibt: »Die An-Formung des Organismus an die wenig oder nicht durch ihn veränderlichen Gegebenheiten der Umwelt kommt einer Abbildung dieser Gegebenheiten so nahe, daß man berechtigterweise von Information über sie sprechen kann, die in irgendeiner Weise in das organische System hineingelangt sein muß.«63 In einer deutlichen Kritik an Lorenz plädiert Peter Janich dafür, den Informationsbegriff in den Naturwissenschaften zu vermeiden. Nach Janich hebt Lorenz den »Anspruch auf eine Erkenntnistheorie selbst auf, indem er jegliche Veränderung eines Organismus, ja jeden Lebensvorgang wie etwa Stoffwechselprozesse selbst schon als Informationsverarbeitung bezeichnet und damit eine Betrachtungsweise wählt, in der Objekt und objektive Beschreibung, Wissen und Wissensträger, Erkenntnisse und Erkenntniskriterien nicht unterschieden werden.«64 Das Subjekt, dem etwas intelligibler Gehalt und so Information sein kann, findet sich bei Lorenz auf beiden Seiten: Im erkannten Objekt, das Information enthält, ebenso wie im die Information bloß entschlüsselnden erkennenden Subjekt. Weil sich das Intelligible der Sache nach nicht vom Begriff der Information trennen lässt, gab es gegen die Verwendung des Informationsbegriffs in der Biologie ähnliche Vorbehalte, wie gegen den der vitalistischen Lebenskraft. Doch zugleich gibt es zahlreiche Ansätze, diesen für die Biologie sehr fruchtbaren Begriff von seinem intelligiblen Gehalt zu trennen und so als empirischen Begriff für die Naturwissenschaft tauglich zu machen. Der wichtigste Einwand gegen die Kritik an der Verwendung des Begriffes Information im naturwissenschaftlichen Kontext basiert auf der Differenzierung zwischen dem Informationsgehalt und der Informationsübermittlung. Da es in der klassischen Informationstheorie der Nachrichtentechnik Gang und Gäbe sei, vom Inhalt zu abstrahieren, könne dies doch mit Fug und Recht auch in der Biologie so gehalten werden. Die Kritiker des Informationsbegriffs in der Biologie würden lediglich fälschlich von einem Alltagsverständnis eines semantischen Informationsbegriffes ausgehen und seien nicht mit dem avancierten Stand der Forschung im Bereich der Informationstheorie vertraut, der einen rein formellen Begriff der Information biete. »Der semantische Gehalt, auf den es z.B. beim alltagssprachlichen Informationsbegriff ankommt, ist aber etwas anderes als der Informationsgehalt im Sinne von Informationsmenge, die bei der Übermittlung der Information eine Rolle spielt. Man könnte diesen Unterschied auch an den Begriffen Qualität und Quantität festmachen, weil es bei der alltagssprachlichen Bedeutung auf den semantischen, inhaltlichen oder

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Konrad Lorenz, Über tierisches und menschliches Verhalten, Bd. II, München 1965, S. 305. Peter Janich, »Evolution der Erkenntnis oder Erkenntnis der Evolution?«, in: Wilhelm Lütterfelds (Hg.), Transzendentale oder evolutionäre Erkenntnistheorie?, Darmstadt 1987, S. 210-228, S. 212.

9. Ordnung und Information

qualitativen Aspekt der Nachricht ankommt, bei der nachrichtentechnischen dagegen auf ihren quantitativen, meßbaren, abzählbaren Aspekt.«65 Eine Informationsmenge kann in bit (binary digit66 ) exakt gemessen werden, ohne dass das gemessene Ergebnis irgendwelche Rückschlüsse auf den hierbei übermittelten Gehalt zuließe. Insofern macht die Trennung von Informationsgehalt und -übermittlung durchaus Sinn. Doch ohne Intelligibles, das den Gehalt erfasst, ist eine Information keine Information, sondern bloß ein physikalischer Zustand. Den Unterschied zwischen einer zufälligen Kausalreihe und einer Informationsübermittlung setzt allein der intelligible Gehalt letzterer. Die Nachrichtentechnik kann und muss zudem zwischen dem Gehalt, der Nachricht, und dem Hintergrundrauschen oder Störeffekten unterscheiden. Ohne die Differenzierung zwischen Information und Nichtinformation bei den eingehenden Daten wäre eine Nachrichtenübermittlung nicht möglich.67 Ein Ast, der im Wind knarrt, morst kein SOS – auch dann nicht, wenn die erzeugte Geräuschabfolge in anderem Kontext diesen Sinn ergäbe, weil sie in der Absicht der Informationsübertragung erzeugt wäre, ist die einzige aus dem knarrenden Ast zu ziehende Information eine über den Zustand des Holzes und die Stärke des Windes. Beides wird erst dann Information, wenn ein denkendes Subjekt sie aktiv daraus zieht. Information liegt also nicht einfach so vor wie ein Naturgegenstand, sondern sie wird erst dadurch zur Information, dass sie als spezifische Bedeutung gelesen wird. Um dies zu verdeutlichen, wies Kamschilow darauf hin, dass die potentielle Informationsmenge eines beliebigen Gegenstandes immer unendlich groß ist und die spezifische Information sich somit (auch) einer Wahl des Informationsgehalts durch den ›Informationsempfänger‹ verdankt.68 Bereits Claude Elwood Shannon wusste, dass seine heute als Informationstheorie bezeichnete Theorie der Datenübertragung keinerlei Aussage über den Informationsgehalt ermöglicht. Dies wäre der Darstellungsform in einer einheitlichen Maßeinheit jeglicher Information in bit auch konträr, da diese grade durch die Abstraktion sowohl vom Inhalt als auch vom ursprünglichen Medium als Zeichen oder Ton ermöglicht wird.69 Da es sich bei der Informationstheorie um eine formale Theorie der Übertragung und Speicherung von Information handelt, ist es völlig legitim und unproblematisch, vom Inhalt der Information zu abstrahieren – es ist sogar notwendige Voraussetzung, um gänzlich verschiedene Inhalte als Daten oder Information überhaupt quantitativ fassen und vergleichbar machen zu können. Ein dadaistisches Gedicht könnte formal betrach-

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Eve-Marie Engels, Die Teleologie des Lebendigen, Berlin 1982, S. 40 f. Für Zeichen braucht man Differenz. Die einfachste mögliche Differenz besteht zwischen zwei Verschiedenen. Der binäre Code ist also der einfachste: Plus und Minus, Eins und Null, Strom an und Strom aus etc. Mit dieser Differenz zweier Verschiedener lässt sich dann eine Codierung für jedwede Bedeutung festlegen: Buchstaben, Zahlen, aber auch ganze Worte etc. lassen sich durch eine spezifische Abfolge Unterschiedener darstellen. Auch bei der DNA findet sich diese Vorstellung analog: sie enthält je nach Erkenntnisstand mehr oder weniger ›Datenmüll‹, also Abfolgen von Basenpaaren, die nicht in Aminosäuren umgesetzt werden. Vgl. Michail M. Kamschilow, Das Leben auf der Erde, Leipzig/Jena/Berlin 1977, S. 20. Vgl. Claude Elwood Shannon, »A Mathematical Theory of Communication«, in: The Bell System Technical Journal, July 1948, Nr. 27 (3), S. 379-423 und October 1948, Nr. 27 (4), S. 623-656.

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tet mehr bit, also mehr Information enthalten, als die Weltformel.70 Dass eine Information erst durch ihren Inhalt, ihre Bedeutung, überhaupt eine Information ist, kann in der mathematischen Betrachtung von Kommunikation oder in der Ingenieurstechnik insoweit unberücksichtigt bleiben, weil der Gehalt der Information ohnehin vorausgesetzt wird (und sich formal auch gar nicht darstellen lässt) und weil sich als dringlich nur die Frage nach der technischen Vermittlung erweist. Expeditionsleiter der NASA mögen sich streiten, ob der Marsrover nach links oder nach rechts fahren soll – also über den Inhalt –, aber die Ingenieure müssen einen Weg finden, der Steuerung des Fahrzeugs grundsätzlich sagen zu können, was sie tun soll, also die Information von der Erde zum Mars zu schicken. Dazu braucht es eine ›Sprache‹ und einen ›Code‹, den das Marsfahrzeug ›versteht‹, weil er entsprechend ausgedacht und einprogrammiert wurde. Die Abstraktion vom Inhalt der Information ist weiterhin auch nach der erfolgreichen Übermittlung richtig, da der Marsrover kein Bewusstsein, keine Interessen und keine Vorstellung von seiner Mission hat, sondern einem Programm gemäß funktioniert. D.h. durch den gesendeten Code wird eine bestimmte Abfolge von Prozessen ausgelöst und der Rover fährt z.B. nach links, ohne dem eine Bedeutung zumessen zu können. Die Bedeutung kommt aus der Einsatzleitung der Mission und liegt allein im Bewusstsein der Menschen, die sie setzen und verstehen. Da der intelligible Gehalt in der technischen Informationsübermittlung nicht erscheint, ergibt sich bei der analogen Übertragung des vom Gehalt befreiten Informationsbegriffs aus der Nachrichtentechnik auf die nicht-artifizielle Natur der falsche Anschein, als ob es sich bei der Informationsübertragung um eine bloße Kausalkette handele. So scheint es, als gäbe es keine Differenz zwischen kausalen Ereignissen und Informationsübertragungen. Nur unter dieser falschen Prämisse ist es möglich, die DNA zum einen als Bauplan mit der Information zu Bau und Erhaltung des Organismus zu sehen und zugleich jeden intelligiblen Gehalt hierbei abzustreiten, weil ja der Gesamtprozess des Organischen gemäß kausalen Gesetzen der Physik und Chemie abläuft. Wenn jedoch keine Differenz zwischen Informationsübertragung und Kausalreihe benannt werden kann, dann erhielte auch der Stein von der Gravitation die Information, dass und wie er zu fallen habe, Kausalität und Information würden Synonyme und das Universum bestünde in all seinen Zuständen und Prozessen aus nichts als Information. Jede Informationsübertragung muss natürlich die Form einer Kausalkette haben, aber nicht jede Kausalkette ist darum auch eine Informationsübertragung; dieser falsche Umkehrschluss vom kleineren auf den größeren Begriffsumfang führt dazu, dass zwischen beiden nicht mehr zu differenzieren ist und die Erkenntnis eines kausalen Zusammenhangs zugleich als deren intelligibler Gehalt im Material erscheint – etwa, wenn jemand behauptet, dass das Universum aus Information bestehe. Doch auch wenn sich das Universum in dieser Weise theoretisch darstellen ließe – und man die Menge der in ihm enthaltenen Information als bit berechnen könnte71 – so wäre auch dies nur mögliche Information für ein Subjekt, das den intelligiblen Gehalt begreifen

70 71

Die es nicht geben kann. Nach den Berechnungen von Seth Lloyd ist das Universum je nach Theorie zwischen 1090 und 10120 bit groß. Vgl. Seth Lloyd, »Computational Capacity of the Universe«, in: Physical Review Letters Nr. 88, (2002), https://doi.org/10.1103/PhysRevLett.88.237901 (Zugriff 08.10.2021).

9. Ordnung und Information

kann. Wenn ich einen Fahrstuhlknopf drücke und der Fahrstuhl mich daraufhin ins entsprechende Stockwerk fährt, dann tut er dies natürlich (wie der fallende Stein) als Folge einer entsprechenden kausalen Verursachung und nicht, weil er verstanden hat, wo ich hin will. Aber diese Kausalreihe ist mit Absicht so gestaltet worden, dass der Fahrstuhl das angegebene Ziel erreicht. Insofern ›versteht‹ er meinen Befehl ›bewusstseinsanalog‹ wie Helmar Frank sagt, weil hinter der kausalen Mechanik des Fahrstuhls tatsächlich ein Bewusstsein steckt – nicht das des Aufzugs, sondern das des Ingenieurs, der ihn konzipiert hat. Eine Informationsübertragung ist eine Kausalkette, die im Unterschied zu bloßen Kausalketten einen durch alle Ursachen und Wirkungen hindurch gleichbleibenden intelligiblen Gehalt weiterträgt. Dieser ist immer verwiesen auf ein Subjekt. Genau dieses intelligible Subjekt, das ein Ziel bestimmen kann, fehlt in Naturzusammenhängen, die keine Artefakte sind. Doch auch im Subjekt erscheint das Intelligible nicht. Ich sehe einem anderen Menschen nicht an, ob er z.B. eine Arbeitsanweisung verstanden hat; ich kann höchstens sehen, ob er sie entsprechend umsetzt. »Von außen kann natürlich nicht festgestellt werden, ob der Lotse die Signale als Zeichen von oder für etwas darin Ausgedrücktes oder sich Ausdrückendes nimmt und die so erhaltene Information verarbeitet, oder ob die Signale nur eine Kausalkette in Gang setzen, so wie der Druck auf den Knopf im Fahrstuhl.«72 Sprich, der intelligible Gehalt, die Bedeutung der Information, tritt im physikalischen Prozess seiner Übertragung selbstverständlich nicht in Erscheinung. »Deshalb kann man die Funktion kybernetischer Maschinen und biokybernetischer Systeme als ›bewußtseinsanalog‹ betrachten, d.h. man kann von ihnen sagen, sie funktionierten, ›als ob‹ sie Zeichen aufnehmen, logisch verarbeiten und andere Zeichen übermitteln. Da es praktisch nur auf die äußere Funktion ankommt, wird auch hier von Informationsaufnahme, -verarbeitung und -übertragung gesprochen. Es ist zur Vermeidung philosophischer Fehldeutungen der Kybernetik unerläßlich, sich darüber im Klaren zu sein, daß nur aus heuristischen Gründen diese Funktionen so betrachtet werden, ›als ob‹ sie bewußt erfolgten«73 . Hier wird die Informationsübermittlung nicht nur als kausaler Vorgang beschrieben, der nicht intelligibel sei, sondern zugleich der – offenbar doch notwendig zu denkende – intelligible Gehalt der Informationsübermittlung in den Modus des ›Als-ob‹, des bloßen Analogons gesetzt. Im zweiten Kapitel wurden die epistemologischen Probleme dargelegt, zu welchen es bei Ernst Mayr kommt, wenn er der teleologischen Beurteilung von Organismen – ›als ob‹ sie einen Zweck in sich enthielten – einen heuristischen Wert zuspricht. Im ersten Kapitel wurde gezeigt, dass auch die Kantische Beurteilung der belebten Natur, ›als ob‹ Zwecke in sie gesetzt wären, widersprüchlich bleibt. Auch beim Informationsbegriff (und damit in der Kybernetik) stellt sich nun das Problem, dass dasjenige, was nur eine Analogie oder sogar eine bloße Metapher sein soll, der qualitativen Differenz zu demjenigen, was es bloß veranschaulichen soll, entbehrt. 72 73

Helmar Frank (Hg.), Kybernetik – Brücke zwischen den Wissenschaften, Frankfurt a.M. 1966, S. 17. Helmar Frank (Hg.), Kybernetik – Brücke zwischen den Wissenschaften, Frankfurt a.M. 1966, S. 17 f.

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Diesen intelligiblen Gehalt ernst genommen und die Natur so begreifend, dass sie kein bewusstes Wesen ist, das Intelligibles setzen könnte, können nur technische Artefakte Informationen enthalten und einen Code entsprechend umsetzen. Die Information lässt sich von ihrem intelligiblen Gehalt nicht trennen, ohne aufzuhören eine Information zu sein. Wenn dem Fahrstuhl also das Kabel reißt und er wie der Stein der Schwerkraft folgt und fällt, dann hat er keine ›neuen‹ oder ›andere‹ Informationen erhalten, sondern folgt bar jeder Information und ohne Sinn und Ziel bloß kausalen Naturgesetzen. Der Boden des Fahrstuhlschachtes ist das Ende, aber nicht das Ziel des Fallens. Ein Subjekt kann hingegen auch Informationen aus bloßen Kausalreihen ziehen – so ›informiert‹ mich der fallende Fahrstuhl über seinen Kabelriss. Doch solcherlei Information ist erschlossen und wird somit erst im Denken des Subjekts zur Information und liegt nicht schon als Information – nämlich in codierter Form – vor. Information ist im Gegensatz zur unmittelbar vorhandenen Kausalkette immer ›verschlüsselt‹. Die Bedeutung liegt nicht unmittelbar vor, sondern ›gespeichert‹ in einer besonderen Form der Materie (z.B. Schrift) oder Energie (z.B. Sprache in Schallwellen) bzw. ihrer kausalen Prozesse, deren Code gelesen werden muss, um verstanden zu werden. Jeder physikalische Gegenstand oder Zustand kann als Informationsträger fungieren. In einem Lehrbuch zur Informationsverarbeitung findet sich die Abbildung einer Stele mit Maya-Schriftzeichen und der hübschen Bildunterschrift: »Informationsträger Stein«74 . Die Information selbst besteht allein in ihrem intelligiblen Inhalt, der – da das Intelligible nicht unmittelbar mitgeteilt werden kann – in der symbolischen Aufladung einer physikalischen Präsenz gespeichert und transportiert werden muss. Da diese nicht selbst intelligible Bedeutung sein kann, ist die symbolische Aufladung eine Verschlüsselung oder Codierung des zu übermittelnden Inhaltes. Eine ›unverschlüsselte‹ Weitergabe von Informationen ist also nicht möglich, da es einer Vermittlung bedarf und das vermittelnde Medium ein Nicht-Intelligibles, nämlich ein Physikalisches sein muss.75 Wenn, wie Lorenz annahm, die Information im Organismus stecken soll, bedeutet dies also etwas anderes, als dass etwas aus ihm geschlussfolgert werden kann. Wir können z.B. aus einem Organismus Informationen über seine Umwelt deduzieren: wenn er etwa Flossen und Kiemen hat, sagt uns das etwas über seine Fortbewegung und seine Atmung, was Aufschluss über den Lebensraum gibt – in diesem Sinne lassen sich aber auch Informationen aus unbelebten Objekten deduzieren und all diese Informationen sind nicht als solche, nicht intelligibel mit Bedeutung, schon in dem Objekt enthalten, 74 75

Wolfgang Miram/Dieter Krumwiede, Informationsverarbeitung, Materialien für den Sekundarbereich II Biologie, Hannover 1989, S. 103. Die Vorstellung rein intelligibler Informationsübermittlung findet sich z.B. in der religiösen Erleuchtung oder Offenbarung; doch wenn der Absender nicht gerade ein transzendentes göttliches Wesen ist, erweist sich das unmittelbare Teilen von Bewusstseinsinhalten als logisch unmöglich: Entweder es wäre keine Vermittlung zwischen den Bewusstseinen nötig, weil sie unmittelbar denselben Inhalt teilten, aber dann wäre es nur ein Bewusstsein und nicht zwei verschiedene. Oder die Vermittlung wird telepathisch, d.i. als quasi-physikalische Übertragung gedacht, ohne jedoch von der (heutigen) Physik erklärlich zu sein. Dann würde der übermittelnde Träger (beliebt sind ›Gedankenwellen‹) und sein Code entweder in Zukunft erkennbar sein, oder es ergibt sich der Widerspruch, ein unphysikalisches Physikalisches annehmen zu sollen.

9. Ordnung und Information

sondern es ist eine aktive Leistung des erkennenden Subjekts, diese Informationen zu erschließen. Dieses Erschließen ist vom Entschlüsseln eines Codes wesentlich verschieden, denn der Code schreibt selbst schon einem Zeichen eine Bedeutung zu. Darum kann allein aus dem bloßen Zeichen nicht erschlossen werden, dass ein Dreieck auf einer Tür Frauen den Zutritt untersagt76 und eine Flosse ›bedeutet‹ nicht ›Lebensraum Wasser‹ im Sinne eines semantischen Gehalts. Der innere Widerspruch der Biologie, Organismen nur über ein teleologisches Prinzip erfassen zu können und die Annahme eines solchen Prinzips gleichzeitig als dem Gegenstand unangemessen ablehnen zu müssen, zeigt sich auch in Bezug auf die Attraktivität des Informationsbegriffs: Offenbar sind Organismen nur mit Bezug auf den intelligiblen Gehalt der in ihnen verwirklichten Information zu erkennen. Ulrich Krohs zeigt auf, dass die Gesetze der Physik in biologischen Beschreibungen außer Kraft gesetzt seien, weil physikalisch verschiedene Zustände für den Biologen ein identisches Signal bedeuten können. Die Signal- respektive Informationsbedeutung sei ideell biologisch objektiv real, physikalisch materiell aber nicht real; dennoch ergäben bestimmte Abläufe im Organismus nur ›Sinn‹, wenn sie als materielle Übertragungsleistung einer Information auf verschiedenen Wegen (chemisch, elektrisch…) verstanden würden: »Informationsübertragende Prozesse sind unterschiedlich realisiert, es gibt kein ›Informationsstück‹ als physikalische Entität«77 . Darum gebe es »in einem physikalistischen Modell kein konstantes Korrelat für ein Zeichen oder Signal.«78 Nur im Kontext der Funktion im System (und der Betrachtung als Modell) könne Information als solche identifiziert werden. Krohs zeigt anhand biologischer Modelle auf, dass physikalisch Verschiedenes biologisch Gleiches sein kann, indem es denselben Sinn codiere.79 Dies markiere den Unterschied zwischen Physik und Biologie. ›Sinn‹ verwendet Krohs hier nach Fregescher Terminologie im Unterschied zu ›Bedeutung‹. Als analytischer Philosoph versucht Krohs durch diese Differenzierung – und durch den wichtigen Hinweis auf die naturwissenschaftlichen Fortschritte der Biologie, die ihre Validität nicht zuletzt in der medizinischen Anwendbarkeit ihrer Resultate erweise – den teleologischen Aspekt aus biologischen Funktionsaussagen herauszuhalten. Nach Frege ist der Bezugsgegenstand von der Art seines Gegebenseins zu unterscheiden, Bezeichnetes trennt sich so vom ›Sinn‹ des Zeichens und wird im Unterschied hierzu ›Bedeutung‹ genannt.80 Darum ergebe sich »keine ontologische Verpflichtung hinsichtlich semiotischer Entitäten«81 , da die Information nicht ein physikalischer Referenzgegenstand sei (Bedeutung), sondern lediglich Sinn im funktionalen Kontext. Auch wenn dieses nach Krohs kein ›letztgültiges Argument‹ sein könne, werde die Fruchtbarkeit semiotischer Modelle hiermit doch hinreichend plausibel, ohne in den metaphysischen 76 77 78 79 80 81

In Polen werden öffentliche Toiletten durch die Symbole Dreieck und Kreis zur geschlechtsspezifischen Nutzung markiert. Ulrich Krohs, Eine Theorie biologischer Theorien. Status und Gehalt von Funktionsaussagen und informationstheoretischen Modellen, Berlin/Heidelberg 2004, S. 227. (Künftig zitiert: Krohs, Eine Theorie). Krohs, Eine Theorie, S. 233. Vgl. Krohs, Eine Theorie, S. 244. Vgl. Gottlob Frege, »Über Sinn und Bedeutung« in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, NF 100, 1892, S. 25-50, S. 26. Krohs, Eine Theorie, S. 233.

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Idealismus zu verfallen, die Information als tatsächlich physikalisch existierendes, als onta, annehmen zu müssen. Da eine Information, die einen physikalischen Gegenstand oder Zustand erst zum Zeichen macht, jedoch immer ein Intelligibles und kein Physikalisches ist – und dies durchaus die Auffassung idealistischer Theorien ist –, erweist sich diese Abgrenzung lediglich als eine gegen den materialistischen oder physikalistischen Versuch, die Information im Gegenständlichen der Natur greifen zu wollen. Denn nur der Physikalismus kann überhaupt ein Problem damit haben, dass die Information sich nicht als Bedeutung im Fregeschen Sinne fassen lässt. Die Information steckt also offenbar im Organismus, da dieser teleologisch organisiert ist; dies unterscheidet ihn wesentlich vom Unbelebten und weist ihm einen intelligiblen Gehalt zu, dem die Biologie in ihren Methoden und Begriffen Rechnung tragen muss. Dies zeigt sich auch in den Theoremen zur Funktion der DNA, die als ›Programm‹, ›Code‹ oder ›Bauplan‹ über Metaphern von Informationsträgern beschrieben wird, dabei jedoch als Naturstoff zugleich von jedem intelligiblen Gehalt frei sein soll.

9.3.2

Informationsträger DNA: eine Schrift ohne intelligiblen Gehalt

Die Natur arbeitet im Gegensatz zum Informatiker nicht mit einem binären Code; das Alphabet der Gene, so lernen wir in der Schule, habe vier Buchstaben. Diese Buchstaben sind vier verschiedene Basen, die sich je zwei und zwei verbinden; je drei dieser Paare bildeten ein Wort, d.i. eine Sinneinheit, aus der die Information zur Bildung einer bestimmten Aminosäure gelesen wird, alle zusammen bildeten sie größere Sinnabschnitte – Gene, die ›Sätze‹ – und alles gemeinsam sei als Nucleinsäure der DNA der Code eines Organismus. Diese ›Worte‹ und ›Sätze‹ – als Produktion bestimmter organischer Stoffe und Teile an bestimmten Stellen, so dass sich im Resultat ein ganzer Organismus bildet und erhält – seien der ›Sinn‹ der DNA, die in ihr enthaltene Information. Die DNA sei nicht selbst Information, sondern in ihr sei Information als ›Code‹ verschlüsselt gespeichert. »Von dem DNA-Molekül würde demnach [nach Watson und Crick] ausgesagt, Information zu speichern. Information zu sein könnte allenfalls der Struktur des Moleküls zugesprochen werden.«82 Nicht als solche, also nicht als physikalische oder chemische Eigenschaft, sondern nur im Kontext der Funktionalität könne die Struktur der DNA als Information bezeichnet werden. Denn jeder Code muss decodiert werden; ohne entsprechendes ›Lesegerät‹, das im biologischen Prozess Proteine in bestimmter Weise und Reihenfolge synthetisiere, hätte die gespeicherte Information in der Struktur der DNA keine Funktionalität – und wäre eben darum auch keine Information. Diese Information der DNA werde zum einen repliziert und weitergegeben, zum anderen aber in diversen organischen Prozessen umgesetzt – etwa, wenn ein neuer Organismus gebildet wird. Jede Zelle enthält eine ›Kopie‹ des Bauplans. Die Technik des Klonens zeigt, obgleich sie immer noch in der Grundlagenforschung steckt, dass auch diese Metapher wörtlich zu nehmen ist. Die Beschreibungen als Transkription

82

Krohs, Eine Theorie, S. 228.

9. Ordnung und Information

oder Translation sind keine physikalischen oder chemischen, sondern funktionale Beschreibungen des Prozesses. In seinem Aufsatz Der biologische Code in der Desoxyribonucleinsäure beschreibt so auch Schramm das Programm der DNA als eine schriftliche Anleitung zum Bau von Organismen: »In den Nucleinsäureketten kommen nur vier verschiedene Arten von Gliedern vor, die als Nucleotide bezeichnet werden und den Buchstaben unseres Alphabets entsprechen. Das Alphabet der Gene besteht demnach aus nur vier Buchstaben.«83 Dass der semantische Gehalt hierbei ein Intelligibles ist, setzt er dabei wie selbstverständlich voraus: »Die molekulare Biologie […] zeigte auch, wie diese Schrift von anderen Molekülen ›gelesen‹ werden kann und wie ihr geistiger Inhalt in die praktische Wirklichkeit umgesetzt wird.«84 Während das Lesen noch in distanzierende Anführungszeichen gesetzt ist – wobei unklar bleibt, worin diese Distanzierung begründet ist –, kommt der geistige Inhalt der Information dieser Schrift sogar ohne diesen Versuch der Distanzierung aus. Die Gene bezeichnet er weiter als »das Archiv für die Bauanweisungen«85 . Das Problem, welches er hierbei sieht, ist einzig das der Genese dieses Archivs sinnvoller Informationen, also das der Entstehung des Lebens: »Das große Problem besteht darin, wie auf diesen Nucleinsäuren sich biologisch sinnvolle Informationen ansammeln konnten. Wenn wir diese Frage beantworten könnten, wären wir einen großen Schritt weitergekommen, denn ich vermute, daß die Entstehung des Lebens etwas zu tun hat mit der Entstehung und Ansammlung von Informationen. Wie bei jeder schöpferischen Leistung ist wahrscheinlich auch in der Natur das Auftauchen und das Festhalten eines Planes das Entscheidende.«86 Nicht, dass ein intelligibler Gehalt, bzw. ein ›geistiger Inhalt‹ aus und in der Natur angenommen werden muss, erscheint hier als problematisch, sondern allein das ursprüngliche Auftauchen dieser Form der Informationsansammlung und -umsetzung. Damit wird der intelligible Gehalt der genetischen Struktur wie ein empirisch bewiesenes naturwissenschaftliches Faktum behandelt. Den Mangel an erkenntnistheoretischer Reflexion, der sich hier in der Interpretation und Erforschung der DNA-Struktur zeigt, kritisiert Hans Blumenberg im letzten Kapitel seines Buchs Die Lesbarkeit der Welt: Der genetische Code und seine Leser: »Es scheint im Nachhinein als höchst zweifelhaftes Verfahren, eine Nukleinsäurekette abgelesen, kopiert oder übersetzt werden zu lassen: Sind dies nicht alles Ausdrücke, die, wenn wir sie zu Ende zu denken versuchen, das erkenntnistheoretische Zwielicht unserer Naturwissenschaften nur noch fahler erscheinen lassen? Wir postulieren Intelligenz, wo wir

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84 85 86

Gerhard Schramm, »Der biologische Code in der Desoxyribonucleinsäure«, in: Helmar Frank (Hg.), Kybernetik – Brücke zwischen den Wissenschaften, Frankfurt a.M. 1966, S. 115-118, S. 115. (Künftig zitiert: Schramm, Der biologische Code). Ebd. Schramm, Der biologische Code, S. 116. Schramm, Der biologische Code, S. 118. Zum naturphilosophischen Problem der Entstehung des Lebens vgl. Kapitel 5.

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sie gleichzeitig verneinen. Wir haben die Dinge vermenschlicht, aber den Menschen verdinglicht.«87 Lily E. Kay zeigt in ihrer ausführlichen historischen Untersuchung Das Buch des Lebens – wer schrieb den genetischen Code? 88 , dass die linguistischen Bilder der Gentechnik wie die Metapher der Schrift gerade keine Metaphern, sondern wörtlich zu nehmen sind. Denn nur auf der Basis dieses Bildes könne das Genom von den Wissenschaftlern gelesen, verstanden und sogar editiert werden, wodurch sie mit der Erklärung auch die (potentielle und in der Gentechnik sogar wirkliche) Kontrolle über das Leben erlangen. Die Frage nach dem Ursprung dieser Schrift beantwortet sie in der kritischen Reflexion über den Forschungsprozess jedoch anders, als etwa Schramm sich das für die Naturwissenschaften erhoffte. Kay zufolge ist der genetische Code nämlich von Wissenschaftlern nicht entdeckt, sondern geschrieben worden. Das intelligible Moment entstammt somit der Pseudometapher selbst und ist in der (kulturell und sozial eingebetteten) Dynamik der Produktion dieses Wissens um das Genom entsprungen. Somit ist sein Subjekt nicht die (auch von der materialistischen Naturwissenschaft als subjektlos vorausgesetzte) Natur, sondern der Mensch. Wie jedes Artefakt, so würde dieser These folgend auch die Theorie über die Funktion der DNA ihr intelligibles und teleologisches Moment von seinem Schöpfer, dem es produzierenden Menschen, erhalten. Doch hiermit wären die Metaphern von Schrift, Code, Bauplan etc. bloße theoretische Konstruktionen und dies kann nicht erklären, warum die hieraus gezogenen Erkenntnisse sich tatsächlich auch technisch auf den Gegenstand anwenden lassen und ihm also zumindest in Analogie entsprechen. Die Funktion der DNA im Organismus scheint diese Art der Metaphern zu erzwingen. Bei der Übertragung der Informationstheorie auf die DNA zeigt sich nun zum einen, dass dies einen enormen Erkenntnisfortschritt bedeutet und zum anderen, dass das Intelligible, das dem Begriff der Information inhärent ist, nicht in gleicher Weise behandelt werden kann, wie in den Ingenieurswissenschaften. Denn wo dort von aller Bedeutung abstrahiert werden konnte, weil sie als gesetztes Ziel der technischen Umsetzung ohnehin vorausgesetzt wurde, so fehlt hier das Subjekt, in dessen Bewusstsein der Inhalt der Information fällt. Und ohne Inhalt ist eine Information keine Information mehr, weil sie nichts, nicht einmal ›nichts‹, bedeutet. Dass die Biologie dennoch in der Regel so tut, als könne sie diese Setzung der Informationstheorie, vom Inhalt gänzlich zu abstrahieren und sich nur auf die Übertragungsarten und Datenmengen zu beschränken, übernehmen, hat seinen Grund in der Scheu vor der Auseinandersetzung mit den erkenntnistheoretischen Problemen, die dadurch entstehen würden und die so verdeckt werden. »Wenn davon die Rede ist, daß im genetischen Code die Gestalt des zukünftigen Organismus verschlüsselt liegt, daß die DNA die ›Matrize‹, das ›Rezept‹, oder den ›Bauplan‹ darstellt, so steht hier nicht der mathematische Zusammenhang zwischen der

87 88

Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M. 1986, S. 384. (Kursivierung im Original.) Lily E. Kay, Das Buch des Lebens. Wer schrieb den genetischen Code? Hamburg 2005. Vgl. hierzu auch Claudia Hoppe, Wissenschaftstheorie und Informationsbegriff in der molekularen Genetik, München/ Ravensburg 2008, oder André Wunder, Die Semantik der genetischen Information, Düsseldorf 2012.

9. Ordnung und Information

Anzahl der Basen und der der Aminosäuren zur Debatte, also nicht die Frage nach der Informationsmenge eines Nucleotids, ausgedrückt in bit. Information bezeichnet hier vielmehr eine Form oder Gestalt, die in der strukturellen Konfiguration der Moleküle angelegt ist, gleichzeitig aber auch die Bestimmung der Art und Weise, wie diese Gestalt zu realisieren ist. Genetische Information bedeutet also Gestalt in einem zweifachen Sinn: nicht nur die Form des Organismus wird durch die Struktur der DNA repräsentiert, sondern auch die Gestalt des Prozesses der Realisation dieser Form.«89 Dass die DNA Information enthält, sieht man dem Stoff nicht an, denn es ist keine physikalische Eigenschaft. Dies wird erst aus ihrer Rolle bei der Reproduktion von Organismen erschlossen. Wenn also die DNA ein genetischer Code sein soll, muss dieser geschrieben und gelesen werden können. Wenn dies eine verzichtbare sprachliche Metapher ist, dann kann und soll auf sie verzichtet werden und an ihre Stelle der naturgesetzliche, kausale und lineare Ablauf der Produktion bestimmter Nukleinsäuren und Proteine in der Zelle treten. Wenn der Verzicht auf diese Metapher nicht gelingt, ohne eine Erklärungslücke aufzureißen, dann hat die Biologie als Naturwissenschaft ein ernstes Problem. Der Verzicht auf die Metapher, so zeigt alle Literatur hierzu deutlich, gelingt nicht. Das Wachstum eines Gesamtorganismus in seine artspezifische Form lässt sich nicht hinreichend aus der Reihung der Basenpaare in der DNA erklären – anders, als die spezifische Form des (idiomorphen) Kristalls sich aus seinen molekularen Eigenschaften ableiten lässt. Die DNA ist tatsächlich nur informationstheoretisch zu begreifen, nicht bloß auch mit Begriffen aus der Informationstheorie zu beschreiben. Dass drei Basenpaare für eine Aminosäure codieren, ergibt sich daraus, dass für insgesamt etwa zwanzig Aminosäuren codiert werden muss90 – und ergibt sich nicht aus den jeweiligen drei Basenpaaren oder ihrem chemischen Bezug aufeinander. Es ist der intelligible Gehalt, auf den es hier ankommt. Darum lässt sich aus dem jeweiligen Basentriplett auch nicht ableiten und vorhersagen, welche Aminosäure beim ›Auslesen‹ der Information produziert wird, da diese Information ›codiert‹ vorliegt und wir erst vom Resultat der produzierten Aminosäure aus ihm diesen bestimmten Informationsgehalt zuordnen können – anders als bei einer chemischen Reaktion. Insofern, also als Code, wirkt das Material in physikalischer Hinsicht zufällig: es könnten auch andere Basenpaarkombinationen für dieselbe Aminosäure codieren (und tun es auch) bzw. ein Triplett könnte im Grunde auch

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Eve-Marie Engels, Die Teleologie des Lebendigen, Berlin 1982, S. 44 f. Bei vier zur Verfügung stehenden verschiedenen Basenpaaren ergeben sich, wenn jedes einzelne für eine Aminosäure codiert, vier, wenn je zwei für eine Aminosäure codieren (4²), sechzehn und wenn Dreierkombinationen für eine Aminosäure codieren (4³), vierundsechzig mögliche verschiedene Aminosäuren. Aber mehrere dieser Dreierpaare, auch Tripletts oder Codons genannt, codieren jeweils für ein und dieselbe Aminosäure. So gibt es beispielsweise je sechs verschiedene Codons für die Aminosäuren Leucin und Arginin. Andere wie Lysin werden durch nur zwei Codons codiert. Es gibt keine Aminosäure, die nur durch ein einziges Codon codiert wird. Dazu gibt es einige Codons, die für keine Aminosäure codieren. Sie wurden ursprünglich Nonsens-Codons genannt, da ihnen keine Funktion zugeordnet werden konnte. Mittlerweile nennt man sie Stopp-Codons, denn sie führen zu einem Translations-Stopp, welcher die Proteinsynthese beendet.

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für eine andere als die tatsächlich produzierte Aminosäure die Produktionsinformation enthalten. Das Reden vom Programm ist also keine bloße Metapher, auch wenn es so verstanden werden will. Denn eine Metapher steht metaphorisch für etwas anderes – aber für was soll das Programm stehen, außer für ein Programm? Für ein ›als ob‹ Programm, also ein Programm, das keines ist, sondern etwas anderes, das sich aber nur so denken und begreifen und ausdrücken lässt, als wäre es ein Programm, weil es genau so funktioniert, wie ein Programm?91 Wenn sich nicht positiv bestimmen lässt, wofür die Metapher stehen soll, dann hört sie auf, eine bloße Metapher zu sein. (Dasselbe Problem gab es auch bei der Analogie.) Der implizierte teleologische Zusammenhang wird hier nur unzureichend verschleiert. »Die Begriffe ›System‹, ›Information‹, ›Programm‹ und im Übrigen auch ›Struktur‹ leisten daher nicht eine ›metaphysikfreie‹ Erklärung des Lebendigen, sondern verweisen selbst auf einen umgreifenden teleologischen Zusammenhang, vor dessen Hintergrund sie erst überhaupt zu ihrer Bedeutung gelangen können.«92 Das Programm geht auf etwas, das programmiert wird, das Ganze, die Einheit des Systems des lebendigen Organismus. Die Information ist ein Funktionsbegriff; sie dient der Regulation des organischen Systems. Diese beschreibt die kybernetische Biologie. Hier verbindet sich für die Biologie der Informationsbegriff mit der Kybernetik.

91 92

Vgl. Kapitel 7.4. Robert Spaemann/Reinhard Löw, Natürliche Ziele: Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens, Stuttgart 2005, S. 209.

10. Kybernetik und Selbstorganisationstheorien in der Biologie »Der Kybernetik (und der Systemtheorie) gelang eine Rehabilitierung der Aspekte der Ganzheit und Spontaneität.«1

In der theoretischen Physik und Mathematik sind schon lange Modelle bekannt, welche heute die Kybernetik kennzeichnen. Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung ebenso wie Informations- und Regelungstheorie sind älter als der Begriff der Kybernetik. Das Besondere der Kybernetik ist die technische Anwendung dieser Theoreme seit den 1940er Jahren in Steuerungsvorgängen sowie ihre Übertragung auf Gegenstandsbereiche, die traditionell als nicht mathematisierbar galten wie die Biologie, Soziologie, Politik- und Geschichtswissenschaft oder Psychologie. Daher gilt die Kybernetik auch als »Brücke zwischen den Wissenschaften«2 .

10.1

Biologische Kybernetik

Norbert Wiener führte 1948 den Begriff der Kybernetik in die Naturwissenschaft ein. Er leitet sich vom altgriechischen kybernetes, ›Steuermann‹ ab, der auch im übertragenen Sinne für den Lenker eines Staates stehen kann, und beschreibt selbsttätige Regelungs- und Steuerungsmechanismen in Systemen. Mit Begriffen wie Regelkreis, Soll- und Istwert, Information, und Code wird die Regelung von Systemzuständen und -prozessen untersucht. In kybernetischen Systemen werden Informationen über den Istwert weitergegeben und bei Abweichungen vom Sollwert in einer Weise reguliert, dass eine Angleichung der Werte stattfindet. Das anschauliche Modell arbeitet oft mit dem Bild eines Kapitäns, der den Sollwert an den Lotsen durchgibt, woraufhin dieser den Soll- mit dem Istwert vergleicht und eine entsprechende Korrekturanweisung an einen Steuermann weitergibt, der dann die Anweisung mit Hilfe der von den Ruderern aufgebrachten Kraft umsetzt.

1 2

Wuketits, Überwindung von Mechanismus und Vitalismus, S. 381. Hilmar Frank (Hg.), Kybernetik – Brücke zwischen den Wissenschaften, Frankfurt a.M. 1966.

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Dialektik des Lebendigen

Zuvor wurde der Begriff der Kybernetik zwar schon im Kontext der politischen Steuerung gebraucht,3 doch auch hier bekommt er seit der Verwendung durch Wiener für die technische Steuerung und Regelung von Maschinen, die auch auf Organismen oder soziale Systeme übertragbar sei, eine neue Bedeutung. In seinem Werk Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine4 nimmt Wiener verschiedene Gedanken zur Übertragung von Mechanismen aus der Regelungstechnik auf die Wirtschaftsund Gesellschaftswissenschaften auf5 und verbindet sie mit Theorien der Informationsübermittlung, um sie auch auf die Biologie anzuwenden. Dies kann als Beginn der Kybernetik gelten. Anfang der 1960er Jahre definierte Helmar Frank Kybernetik wie folgt: »Kybernetik ist die Theorie der Funktionsmöglichkeiten informationeller Systeme unter Abstraktion von deren physikalischen, physiologischen oder psychologischen Besonderheiten, ferner die Konkretisierung dieser abstrakten Theorie auf vorgegebene, physikalisch, physiologisch oder psychologisch zu kennzeichnende Systeme und schließlich die planmäßige Verwirklichung solcher Systeme zur Erfüllung vorgegebener Zwecke.«6 Sowohl die Einheit des Systems als auch der zu realisierende Zweck sind hier vorausgesetzt und nicht selbst Gegenstand kybernetischer Forschung; ihr geht es allein um die Erklärung oder Herstellung bestimmter Funktionen der Informationsübertragung im gegebenen System zum antizipierten Zweck. Bereits 1876 zeigte Claude Bernard, dass Systeme von genügend hoher Komplexität in der Lage sind, ziel- oder zweckabhängige Prozesse zu steuern; hierüber erklärte er u.a. die (sogar situationsabhängig zweckmäßig schwankende) Regulation der Körpertemperatur warmblütiger Organismen. Mit Hilfe kybernetischer Begriffe und Modelle lassen sich solche Zusammenhänge heute als homöostatisch beschreiben. Als Homöostase wird eine besondere Form der Selbstregulation bezeichnet, nämlich die durch einen internen Regelungsprozess geleistete Aufrechterhaltung eines Gleichgewichtzustandes in einem offenen dynamischen System. Wenn ein System sich in dieser Weise durch innere Prozesse der Regulierung im Gleichgewicht erhält, befindet es sich in Homöostase und wird als ein Homöostat bezeichnet. So lassen sich beispielsweise Säugetiere und Vögel hinsichtlich der Regulierung einer konstanten Körpertemperatur unabhängig von der Umgebungstemperatur mit kybernetischen Begriffen als Homöostaten beschreiben. Eine Übertragung der Kybernetik auf die Biologie ist jedoch nach Bernhard Hassenstein »nur dort sinnvoll, wo es Systeme, die sich durch Begriffe und Gesetze der Kybernetik erfassen lassen, im Bereich der Lebewesen auch wirklich gibt. […] Jeder einzelne 3 4 5

6

Vgl. André-Marie Ampéres, »Essai sur la philosophie des sciences«, Paris 1834. Dort nennt er die Wissenschaft vom Steuerungsinstrumentarium eines Staates ›cybernétique‹. Norbert Wiener, Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine, Paris/ Cambridge/Mass/New York 1948. Vgl. Hermann Schmidt, »Regelungstechnik – Die technische Aufgabe und ihre wirtschaftlichen, sozialpolitischen und kulturpolitischen Auswirkungen«, in: VDI-Zeitschrift 85:4 (1941), Düsseldorf, S. 81-88. Hilmar Frank (Hg.), Kybernetik – Brücke zwischen den Wissenschaften, Frankfurt a.M. 1966, S. 16.

10. Kybernetik und Selbstorganisationstheorien in der Biologie

biophysikalische und biochemische Vorgang […] ist mathematisch beschreibbar und wird auch vielfach – zur Erfassung der Gesetzmäßigkeiten und damit zu seinem wissenschaftlichen Verständnis – mathematisch formuliert. Eine solche mathematische Formulierung hat aber nur dann einen biologisch-kybernetischen Sinn, wenn der betreffende Vorgang infolge seiner speziellen mathematischen Form eine bestimmte Rolle in einem Prozess der Regelung, Steuerung, Informationsübertragung oder Datenverarbeitung spielt. Sonst handelt es sich allein um Biophysik oder um Biochemie.«7 Jeder Prozess lässt sich mathematisch darstellen, aber nur die mathematische Darstellung von sich regelnden Systemprozessen fällt in die biologische Kybernetik. Auch Erkenntnisse der herkömmlichen Physiologie lassen sich in kybernetischer Terminologie erfassen, etwa der Zusammenschluss von Sinnesorganen, Nervenbahnen und Effektoren zu Regelkreisen, aber die Kybernetik fügt der Erkenntnis dieser Zusammenhänge nichts hinzu. Gibt es also Forschungsfragen in der Biologie, »die nur mit den Mitteln der Regel- und Informationstheorie und nicht mehr mit Hilfe der bekannten physiologischen Methoden und Begriffe untersucht und verständlich gemacht werden«8 können? Nur, wenn die Kybernetik einen eigenständigen Beitrag zur Erkenntnis der Organismen leisten könne, sei nach Hassenstein von einer kybernetischen Biologie im eigentlichen Sinne zu sprechen. Die gestellte Frage wird von ihm mit Ja beantwortet, denn »die Biologie hat für einige Begriffe, wie Proportional- und Integralregler, Frequenzgang, Sollwertstellung eines Regelkreises, zeitliche Mittelung, und vor allem für den Begriff der Information keine Analoga bereit.«9 Und nur mit diesen Begriffen lassen sich bestimmte biologische Phänomene – z.B. wie Ameisen bei wechselndem Sonnenstand einen gleichbleibend geraden Weg zum Ziel laufen können – begreiflich machen. Dabei geht Hassenstein davon aus, dass, da die Begriffe der Kybernetik aus der Technik stammen, die biologischen Regelkreise, wenn sie kybernetisch beschrieben werden können, wesentlich identisch mit den technischen Regelkreisen sind: »[E]in biologischer Regelkreis unterscheidet sich nach allen bisherigen Kenntnissen in seinem Wesen nicht von den in der Technik bekannten.«10 Den Fortschritt für die Biologie durch die Integration und Anwendung kybernetischer Modelle sieht auch Hassenstein ganz klar in der Überwindung alter metaphysischer Konzepte, ohne dabei auf alte metaphysische Begriffe verzichten zu müssen: »Mit der Kenntnis der selbsttätigen Regelung, die inzwischen zum Allgemeingut aller Biologen wurde, hat jedoch die Verdächtigung des Begriffes der Ganzheit aufgehört; denn auch Regelsysteme halten einerseits, als seien sie ›zielstrebig‹, ihren Zustand gegen Abweichungen beliebiger Richtung aufrecht und verhalten sich dadurch ›ganzheitlich‹; andererseits sind sie aber kausal völlig durchsichtig und determiniert.«11

7 8 9 10 11

Bernhard Hassenstein, Biologische Kybernetik, Heidelberg 1965, S. 123 f. (Künftig zitiert: Hassenstein, Biologische Kybernetik). Bernhard Hassenstein, »Forschungsbeispiele aus der biologischen Kybernetik«, in: Hilmar Frank (Hg.), Kybernetik – Brücke zwischen den Wissenschaften, Frankfurt a.M. 1966, S. 25-31, S. 25. Bernhard Hassenstein, »Forschungsbeispiele aus der biologischen Kybernetik«, in: Hilmar Frank (Hg.), Kybernetik – Brücke zwischen den Wissenschaften, Frankfurt a.M. 1966, S. 25-31, S. 31. Hassenstein, Biologische Kybernetik, S. 126. Ebd.

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Dialektik des Lebendigen

Dass Organismen in sich funktional sind, als ob sie technische Artefakte seien, ist dabei keine neue Erkenntnis,12 sie wird nur neu legitimiert, indem diese Analogie in Begriffen der Kybernetik beschrieben werden kann. Die Biologie braucht die Kybernetik also, um die teleologische Gerichtetheit organischer Systeme mit mathematischen und technischen (Funktions-)Begriffen zu beschreiben, ohne sie als teleologisch zu benennen. Denn im kybernetischen Regelkreis ist die teleologische Form der Organisation immer schon vorausgesetzt. Die biologische Kybernetik als ein Teilbereich der Kybernetik braucht das teleologische Moment, das der Kybernetik in technischen Systemen und Regelkreisen selbstverständlich innewohnt, nicht besonders zu rechtfertigen. Um dies zu verdeutlichen, sind zwei Punkte wichtig: Erstens ist aufzuzeigen, dass schon das Modell des Regelkreises teleologisch verfasst ist und es genau darum zur Beschreibung bestimmter Funktionsprozesse im Organismus alternativlos ist. Zweitens muss zugleich klargestellt werden, dass in einem auf negativer Rückkopplung basierenden Funktionsmechanismus eines Systems die ›lineare‹ Kausalität von Ursache und Wirkung keinesfalls aufgehoben ist und die bloße Form der hier vorliegenden Wechselwirkung nicht das teleologische Moment ausmacht. Nur wenn diese beiden Punkte auseinandergehalten werden, wird deutlich, dass der beständige Hinweis vieler Biologen darauf, dass mit kybernetischen Modellen Organismen endlich ohne teleologische Spekulation als sich selbst regulierende Systeme zu beschreiben seien, zwar in Bezug auf die jeweiligen kausal erfolgenden Regelungsmechanismen durchaus richtig ist, aber zugleich falsch, da das bloße Vorhandensein eines Regelkreises nicht ohne teleologische Ordnung gedacht werden kann. Denn im klassischen Regelkreis13 muss die Regelgröße (der Sollwert) als »konstant zu haltender Zustand oder Vorgang«14 gesetzt werden, der das Telos des Prozesses ausmacht – sonst wäre es kein Regelprozess, weil es nichts zu regeln gäbe, wenn keine bestimmte Regelgröße als Ziel angegeben werden könnte. Diese ist zwar empirisch das Resultat des Regelkreises, muss ihm aber zugleich ideell vorausgesetzt werden, da der Prozess darauf gerichtet ist, diese bestimmte Größe des Sollwerts zu erhalten. Im kybernetischen Regelkreis führen von außen wirkende Störgrößen zu einer Veränderung des Istwertes der Regelgröße, was wiederum Auswirkungen auf die Stellgröße hat, dergestalt, dass der Istwert sich wieder in Richtung des – zu diesem Zeitpunkt bloß ideellen und nicht empirischen – Sollwerts korrigiert. Ohne Telos lässt sich das nicht denken. Es ist eine wesentliche Differenz, ob X konstant y °C hat, weil dieser oder jener chemische/physikalische Einfluss diese Temperatur erzeugt, oder ob X konstant y °C hat, damit diese oder jene Funktionen erhalten werden, die die Sollgröße bestimmen, zu deren Gewährleistung bestimmte regelnde Prozesse stattfinden. Erst die Funktionalität macht den Regelungsprozess zu einem gerichteten Prozess, der etwas regelt. So sind im Hypothalamus des Gehirns homoiothermer Säugetiere knapp ein Drittel der Neuronen wärmesensitiv. Sie bekommen Informationen über die Temperatur aus verschiedenen Regionen (insbesondere der Haut) und leiten ihrerseits Signale weiter,

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Vgl. Kapitel 2. Z.B. nach Felix von Cube, Was ist Kybernetik?, Bremen 1968, S. 126 f. oder Hassenstein, Biologische Kybernetik, S. 45. Hassenstein, Biologische Kybernetik, S. 45.

10. Kybernetik und Selbstorganisationstheorien in der Biologie

die eine Verengung oder Erweiterung der Blutgefäße bewirken; im Resultat bleibt die Körpertemperatur gegenüber der Außentemperatur weitgehend konstant. Wenn das nicht klappt, kollabiert der ganze Organismus und das System zerfällt. Nur wenn die Erhaltung des Organismus als Ziel des Prozesses vorausgesetzt wird, lässt sich diese Temperaturregulation kybernetisch beschreiben, denn nur dann ist der in der Regel aufrechterhaltene Temperaturbereich ein Sollwert. Während beim Artefakt der Sollwert wie der Zweck heteronom gesetzt ist, liegt er beim Organismus in diesem selbst begründet. Damit ist der Homöostat auch und gerade dann, wenn er kein Artefakt ist, notwendig teleologisch zu bestimmen. Dabei sind die regelnden Prozesse auch in der negativen Rückkoppelung linear kausal bestimmt. Wenn der Istwert der Regelgröße durch negative Rückkopplung auf den Stellwert wirkt, indem etwa ein Teil der Ausgangsgröße so auf den Eingang zurückgeführt wird, dass er dem Eingangssignal entgegenwirkt, entsteht ein Wirkzusammenhang, der in einer stabilen Regelgröße resultiert. Beispielsweise kann ein hohes Nahrungsangebot in einer Population zu mehr Individuen führen, was zu einem geringeren Nahrungsangebot und einer wachsenden Anzahl von Fressfeinden führt, welches ein Abnehmen der Population zur Folge hat, was wiederum das Nahrungsangebot erhöht, während die Anzahl der Fressfeinde wegen Nahrungsmangel wieder abnimmt.15 Obgleich hier ein Faktor auf die ihn bedingenden Bedingungen zurückwirkt und wir kein ganz einfaches lineares Schema von ›A führt zu B führt zu C…‹ vor uns haben, ist diese Wechselwirkung in jedem einzelnen Ursache-Wirkungs-Bezug vollständig kausal und so linear wie alle hochkomplexe Wechselwirkung in der Natur es nur sein kann, auch wenn beim schematischen Aufmalen der Pfeil von C zu A zurückführt. Denn was die Linearität der ganzen Kausalität bestimmt und ausmacht, ist das Nacheinander in der Zeit – und nicht, dass ein Kausalprozess, in dem Gegenstand A Ursache einer Wirkung war, in keinem seiner Glieder jemals wieder auf diesen Gegenstand eine Auswirkung haben dürfe. Nur dann, wenn eine antizipierte Wirkung als Ursache ihrer sie realisierenden Bedingungen angenommen werden muss, ist von einem nicht kausalen, weil teleologischem Verhältnis zu Recht die Rede. Dieses liegt im Regelkreislauf aber nicht in der negativen Rückkopplung vor, sondern in der Regelgröße oder dem Sollwert, der als solcher kein empirisch gemessener Wert oder Ist-Zustand ist, sondern ein ideell gesetzter Wert, auf den hin das ganze Regelsystem erst gedacht und erkannt werden kann. Dies ist der Grund, warum die Kybernetik ein mittlerweile unentbehrlicher Bestandteil biologischer Theorie geworden ist. Die negative Rückkoppelung als physikalischer Prozess dagegen bleibt linear, ist nicht teleologisch und lässt sich auch ohne kybernetisches Bezugssystem beschreiben – nur nicht als Regulierungsprozess, sondern als linearer Prozess sich abhängig voneinander verändernder (oder gleichbleibender) Größen. Dass das Setzen des Sollwertes als einer intelligiblen Größe, welche in artifiziellen Modellen nicht thematisiert werden muss, sondern als selbstverständlich vorausgesetzt werden darf, nicht unproblematisch auf einen Naturgegenstand übertragen werden kann, ist nur am Rande der biologischen Debatte thematisch. So bestimmt der britische Kybernetiker Gordon Pask die Aufgabe der Kybernetik in der Biologie explizit über die 15

Nein, ich füge kein Schaubild zur Populationsdynamik ein.

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Dialektik des Lebendigen

Differenz von Artefakt und Organismus. Während es in der Mechanik selbstverständlich sei, dass der inhärente ›Zweck zu etwas‹ als Funktion den Maschinen wesentlich eigen sei, gehe es in der kybernetischen Biologie um die Klärung der Frage, wie ein Organismus in seinem Verhalten gesteuert werde, also wie das Telos sich begründe.16 Tatsächlich war es der Begriff der Teleologie, der anfangs im Zentrum der kybernetischen Biologie stand. Rosenblueth, Wiener und Bigelow verwendeten für die Kybernetik den Ausdruck teleologisch, um sinnvoll gerichtete Regelkreise zu beschreiben, deren Verhalten über die Beobachtung der Umwelt adaptiv an einer Rückkoppelungsschleife ausgerichtet ist.17 Das Verhältnis zwischen homöostatischem System und Umwelt werde durch ›Feedback‹ aneinander angepasst, was die aktive Beobachtung und Umsetzung der so gewonnenen Informationen in einer Rückkoppelungsschleife zur entsprechend sinnvollen Regulierung des eigenen Verhaltens oder Zustandes voraussetzt. Für eine extrapolierende Zielverfolgung sei dabei nicht allein die Beobachtung zentral, sondern es seien auch Voraussagen über die Umwelt zu leisten. (Bsp.: Die Katze springt so, dass sie dort landet, wo die Maus zum Zeitpunkt der Landung sein wird.18 ) Ohne den teleologischen Aspekt ließe sich eine adaptive Rückkopplungsschleife dieser Art nicht hinreichend erklären. »Der Begriff der Teleologie, der von Christian Wolff 1728 eingeführt wurde, um den finalen Zweck in der Metaphysik des Aristoteles und der metaphysischen, scholastischen Auslegung zu bezeichnen, ist also von Forschern wie Wiener unter neuen Vorzeichen wieder in die wissenschaftliche Debatte eingeführt worden, um ein erweitertes Konzept von Steuerung theoretisch fundieren zu können.«19 Denn ohne Telos lässt sich von Steuerung nicht reden.

10.1.1

Der Organismus als kybernetisches System20

Wie in der technischen Kybernetik, so trennt auch der Biologe bei der Betrachtung des Organismus als kybernetisches System zwischen geregelten und regelnden Größen. Da der Sollwert – also die zu regelnde Größe – im Organismus nicht wie beim Artefakt heteronom festgelegt wird, sondern im Prozess der gelungenen Regulation als dessen

16 17 18

19 20

Vgl. Gordon Pask, An approach to cybernetics, London/Hutchinson 1961. Vgl. Arturo Rosenblueth/Norbert Wiener/Julian Bigelow, »Behavior, Purpose and Teleology«, in: Philosophy of Science, Vol. 10, Issue 1, January 1943, S. 18-24. Dies wäre eine Voraussage erster Ordnung. Wenn das System seine eigenen Veränderungen während einer zweckgerichteten Handlung mit einbeziehen muss oder andere Objekte (z.B. Werkzeuge) als Mittel zur Erreichung des Zwecks benutzt, sprechen Rosenblueth, Wiener und Bigelow von einer Voraussage zweiter Ordnung. Diese Fähigkeit, Voraussagen zweiter Ordnung zu treffen, zeichne insbesondere den Menschen aus. Wikipedia, Kybernetik, Zugriff am 8.6.2015. Teile dieses Abschnittes wurden bereits veröffentlicht in Christine Zunke, »Künstliches Leben und ratio perversa. Craig Venter als Newton des Grashalms?«, in: Myriam Gerhard/Christine Zunke (Hg.), Die Natur des Menschen. Aspekte und Perspektiven der Naturphilosophie, Würzburg 2012, S. 73104.

10. Kybernetik und Selbstorganisationstheorien in der Biologie

Resultat erscheint, führt das kybernetische Modell in der Biologie zu immanenten Widersprüchen, wenn Organismus und Artefakt streng analog erklärt werden sollen. Diese in der Analogie zu technischen Systemen gründenden Widersprüche finden sich exemplarisch bei Ernst Mayr. Die beiden charakteristischen Komponenten teleonomischen Verhaltens sind ihm zufolge erstens das Vorhandensein eines Programms, durch das das Verhalten gesteuert wird, und zweitens die Existenz eines Zieles, zu dem das Verhalten hin gesteuert wird.21 Dies impliziert die Annahme einer eindeutigen Differenz zwischen regelnden und geregelten Größen im Organismus. Das genetische Programm gilt in der biologischen Kybernetik als regelnde, die Aufrechterhaltung der Lebensfunktionen (Stoffwechsel, situativ angepasstes Verhalten) als geregelte Größe in der Gleichung des Organismus.22 Doch während im technischen System Programmierung und Zweck – regelnde und geregelte Größe – unabhängig voneinander bestimmt werden können, fallen sie im lebendigen System des Organismus zusammen. Diese Differenz von geregelten und regelnden Größen existiert im Organismus als Ganzheit nicht, in dem sich alles wechselseitig Zweck und Mittel zugleich ist; er verhält sich stets als Einheit. »Die in einem Organismus zu einem Zeitpunkt aktuell stattfindenden Vorgänge sind – im scharfen Gegensatz zu technischen Systemen – nicht voneinander abgegrenzt. Im Gegenteil, sie geben sich gegenseitig die nötigen Bedingungen ihrer Entwicklung. Der Organismus-Begriff ist also das Synonym für eine dynamisch geordnete und organisationell geschlossene Ganzheit. Als solche besteht sie aus einer Mannigfaltigkeit zusammenwirkender Elemente, deren dynamische Relationen zueinander den Zusammenhalt dieser Ganzheit überhaupt erst bewirken.«23 Das genetische ›Programm‹ reguliert die Bedingungen seiner eigenen Reproduktion und ist daher ebenso Ziel (geregelte Größe) wie Mittel (regelnde Größe). Und umgekehrt sind die Lebensprozesse wie Stoffwechsel etc. nicht nur Ziel, sondern zugleich Teil des ›Programms‹ zur Aufrechterhaltung des Lebens, also Mittel. Da die Programm-Metapher auf die implizite Trennung von regelnden und geregelten Größen angewiesen ist, diese Trennung im Organismus aber so nicht aufgefunden werden kann – gerade mit zunehmender Aufdeckung komplexer Wechselbeziehungen durch die rasanten Fortschritte der Molekularbiologie in den life sciences –, sucht die heutige theoretische Biologie und Naturphilosophie nach neuen Begrifflichkeiten. Sie findet sie insbesondere in den Theorien selbstorganisierter Systeme.

21 22 23

Vgl. Mayr, Philosophie der Biologie, S. 61. Vgl. auch Kapitel 7.4. Vgl. Lily E. Kay, Das Buch des Lebens. Wer schrieb den genetischen Code?, Frankfurt a.M. 2005. Spyridon A. Koutroufinis/Dirk Holste, »Prozeßphilosophie und Theorien des organismischen Werdens«, in: Spyridon A. Koutroufinis (Hg.), Prozesse des Lebendigen. Zur Aktualität der Naturphilosophie A. N. Whiteheads, Freiburg, München 2007, S. 97-148, S. 117. (Künftig zitiert: Koutroufinis/Holste, Prozeßphilosophie).

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312

Dialektik des Lebendigen

10.2

Selbstorganisierte Systeme in der Biologie »[D]ie A u t o k r a t i e der Materie in Erzeugungen, welche von unserem Verstande nur als Zwecke begriffen werden können, ist ein Wort ohne Bedeutung.«24

Theorien der Selbstorganisation (aus der Chaostheorie, also der Lehre von der Ordnung der Unordnung stammend)25 sind populär und scheinen erklärungsstark. Von der Selbstorganisation sozialer Netzwerke oder Kunstwerke über Sprache als Selbstorganisation, sich selbst organisierende Moleküle und Sonnensysteme, bis zur Selbstorganisation von Mobilfunknetzen findet sich die Vorstellung der reflexiven Organisation ohne Subjekt in nahezu jeder Fachwissenschaft.26 Bei der Bandbreite von Gegenstandsbereichen, die mit Theorien der Selbstorganisation arbeiten, lässt sich schon zuvor vermuten, was genauere Analysen zutage fördern: Unter dem Begriff der Selbstorganisation wird in den verschiedenen Disziplinen Unterschiedliches verstanden. Dennoch scheint hierauf eine neue Hoffnung zu gründen, trotz dieser Divergenzen in einer allgemeinen Systemtheorie der Selbstorganisation eine theoretische Einheit der Einzelwissenschaften herstellen zu können. Helmut Schwegler formuliert den Anspruch so: »Die Einheit der Handlungswelt verlangt die Einheit der Wissenschaft. […] Manche hoffen, daß die trennenden ›Schnittstellen‹ durch neue übergreifende Begriffe wie System, Selbstorganisation, Emergenz überbrückt werden können. Dies setzt jedoch ein gemeinsames Verständnis der neuen Konzepte voraus.«27 Dass Schwegler diese Hoffnung, wenngleich mit großer Vorsicht und kritischer Distanz, teilt, zeigt sich in seinem anschließenden Versuch, einer gemeinsame Sprache und einem gemeinsamen Verständnis dieser Begriffe in den verschiedenen Wissenschaften einen Weg zu ebnen. Interessant ist in unserem Zusammenhang dabei vor al-

24 25 26

27

Kant, KdU, S. 288 [372]. Vgl. Hermann Haken, Die Selbstorganisation komplexer Systeme – Ergebnisse aus der Werkstatt der Chaostheorie (Wiener Vorlesungen), Wien 2004. Vgl. z.B. Günter Dedié, Die Kraft der Naturgesetze: Emergenz und kollektive Fähigkeiten durch spontane Selbstorganisation von Elementarteilchen bis zur menschlichen Gesellschaft, Hamburg, 2015, Michael Liesenfeld, Selbstorganisation von Porphyrinmolekülen an Edelmetallelektroden, Bonn 2014, Wolfgang Wildgen, Dynamische Sprachtheorie: Sprachbeschreibung und Spracherklärung nach den Prinzipien der Selbstorganisation und der Morphogenese, Bochum 1987, Muhammad Naseer-ul-Islam, Self-organized coverage and capacity optimization for cellular mobile networks, Ilmenau 2013, Konrad Sandhoff (Hg.), Vom Urknall zum Bewusstsein – Selbstorganisation der Materie. Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte: 214. Versammlung, Stuttgart 2007, Hermann Haken, Die Selbststrukturierung der Materie – Synergetik in der unbelebten Welt, Wiesbaden 1991. Helmut Schwegler, »Systemtheorie als Weg zur Vereinheitlichung der Wissenschaften?«, in: Wolfgang Krohn/Günter Küppers (Hg.), Emergenz: Die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung, Frankfurt a.M. 1992, S. 27-56, S. 27. (Künftig zitiert: Schwegler, Systemtheorie).

10. Kybernetik und Selbstorganisationstheorien in der Biologie

lem, dass diese Begriffe mit zunehmender Präzisierung ihre verheißungsvolle, universal erscheinende Erklärungsmacht verlieren. Zum Begriff der Selbstorganisation heißt es bei Schwegler: »Die ›Selbst‹-Begriffe wie Selbstorganisation, Selbstreferentialität, Selbstherstellung, Selbstbegrenzung und Selbsterhaltung werden zwar viel gebraucht – häufig in der abwegigen Vermutung, ein Begriff allein könne bereits etwas ›erklären‹. Aber nur selten wird eine einigermaßen präzise Definition gegeben, die es erlaubt, wenigstens bei den formalisierbaren Systemen zu entscheiden, wann der Begriff erfüllt ist.«28 Es sei also gar nicht klar, wann eigentlich eine Selbstorganisation vorliege und wann ein System durch Faktoren von außen organisiert werde. Ein Problem des Versuchs der Beschreibung von geschlossenen Systemen besteht darin, dass der zweite Hauptsatz der Thermodynamik jeweils nur für einen experimentell isolierten Bereich gilt, der sich als ein geschlossenes System definieren lässt. Er gilt nicht für die Totalität des Universums – dieses kann darum nicht als geschlossenes System im Sinne der Thermodynamik angenommen werden.29 Da die zu beschreibenden Systeme in der sie umgebenden Welt liegen und keine gänzlich abgeschlossenen Totalitäten bilden, ist eine ›reine‹ Selbstorganisation ein theoretisches Konstrukt. So gelangt Schwegler zu dem Schluss, »daß reine Selbstorganisation und reine Fremdorganisation idealisierte Grenzfälle sind. Fast alle Systeme liegen hingegen irgendwo dazwischen, wobei es meist schwierig ist, die Anteile von Selbst- und von Fremdorganisation zu bemessen.«30 Es gibt also, entgegen dem inflationären Gebrauch des Begriffes, offenbar gar keine tatsächlich oder ›rein‹ selbstorganisierten Systeme. Dennoch bezeichnet der Begriff etwas, denn rein fremdorganisierte Systeme treten ebenso wenig auf.31 Dies erklärt sich über den Begriff des Systems. Dieses bildet eine dynamische Einheit, in der Prozesse ablaufen, ist also getrennt von der umliegenden Welt und es ergibt sich so ein Innen und ein Außen. In einer reinen Fremdorganisation hingegen hätte man kein hiervon getrenntes System – nichts, was bezogen auf sich als eine geordnete Einheit beschrieben werden könnte, ohne zugleich einen Bezug auf die ordnenden Faktoren zu haben. Wenn der Unterschied zwischen Innen und Außen wegfällt – und mit ihm die Differenz zwischen ›selbst‹ und ›fremd‹ – macht die Differenzierung in verschiedene Formen der Organisierung keinerlei Sinn mehr. Darum können logisch keine ›rein‹ selbst- oder fremdorganisierten Systeme bestehen, solange die Bezugsgröße keine Totalität umfasst; umfasst sie aber eine Gesamtheit der Existenz, ist diese Differenzierung hinfällig. Selbstorganisierte Systeme sind also tatsächlich keine vollständig unabhängigen Einheiten, sondern hängen von Faktoren außerhalb ihrer selbst ab. Aber als Einheiten 28 29

30 31

Ebd. Da das gesamte Universum nicht als ein einziges geschlossenes System verstanden werden kann, herrscht in ihm keine Entropie – und umgekehrt. Hieraus entstand die Vorstellung, dass es sich bei dem Universum um ein Gesamtsystem entgegen der Entropie, in Analogie zum Lebewesen, handeln würde. Schwegler, Systemtheorie, S. 51. Selbst bei Artefakten spricht man von einem System nur dort, wo ein Rückbezug der Wirkungen auf ihre Ursachen stattfindet. Darum ist ein Hammer kein System, eine mechanische Uhr schon.

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Dialektik des Lebendigen

sind sie gegen ihr Außen abgegrenzt, haben also ein Innen, einen Selbstbezug. Dieser stellt sich als eine Ordnung dar, die sich gegen das umgebende Chaos, die Unordnung (die auch eine andere Form der Ordnung sein kann), abgrenzt. Ordnung ist nach Schwegler jedoch keine physikalische Tatsache, nicht als ›negative Entropie‹ hinreichend bestimmt und damit kein genuin physikalischer Begriff, sondern eine Leistung des Beobachters, der damit auch den Rand oder die Grenzen des Systems bestimmt. »Der konstruierende Wissenschaftler wählt den Rand nach Zweckmäßigkeitskriterien, zum Beispiel nach seiner Kenntnis einer vorgegebenen Situation.«32 Systeme wie ihre Ordnung sind demnach anthropomorphe Projektionen. Dasselbe zeigt Ulrich Müller-Herold für den Begriff der Ordnung, dessen Definition zirkulär bleiben muss: »Ordnung ist ein nicht schulmäßig definierbarer Fundamentalbegriff: Da eine Klärung des Begriffs ›Ordnung‹ selbst ordnungsgemäß erfolgen muß, setzt sie ihn selbst voraus (Kuhn 1973, S. 1037). Dementsprechend haftet allen Definitionsversuchen – etwa: Ordnung benennt eine Konfiguration von Teilen, die jedem ihrer Bestandteile seine Stelle anweist – der Verdacht der Zirkelhaftigkeit an. Denn seinem wesentlichen Gehalt nach wird das Definiendum dabei durch Worte wie Konfiguration oder composito oder disposito vorweggenommen.«33 Müller-Herold sieht im Konzept der Selbstorganisation darum auch keinen hoffnungsvollen Wegweiser zur Einheit der Wissenschaften, sondern einen zu überwindenden Mangel an Wissenschaftlichkeit: »So bleibt am Ende nur das Fazit, daß Selbstorganisation oder Selbstordnung oder auch Autopoiese in den exakten Naturwissenschaften gerade keine ›Grundkonzepte‹ sind, und weiter die Vermutung, daß sie gerade deshalb über deren Grenzen hinaus die Phantasie beflügeln, weil sie keinen hinreichend präzisierbaren Inhalt, wohl aber eine große intuitive Resonanzbreite besitzen; das heißt, weil sie eben gerade keine theoretischen Konzepte, sondern schillernde Begriffe sind, mit denen ein jeder nach Gutdünken verfährt.«34 Oszillierende Begriffe zwischen den Wissenschaften funktionieren nur, solange sie ungenaue Bezeichnungen bleiben. Im Folgenden soll darum der Begriff der Selbstorganisation nur in der Weise, wie er in der Biologie verwendet wird, betrachtet werden. Doch schon in dieser Eingrenzung zeigt sich, dass die Selbstorganisation kein hinreichendes Kriterium zur Bestimmung des Lebendigen sein kann.

32 33

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Schwegler, Systemtheorie, S. 47. Ulrich Müller-Herold, »Selbstordnungsvorgänge in der Späten Präbiotik«, in: Wolfgang Krohn/ Günter Küppers (Hg.), Emergenz: Die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung, Frankfurt a.M. 1992, S. 89-103, S. 90 f. Ulrich Müller-Herold, »Selbstordnungsvorgänge in der Späten Präbiotik«, in: Wolfgang Krohn/ Günter Küppers (Hg.), Emergenz: Die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung, Frankfurt a.M. 1992, S. 89-103, S. 103.

10. Kybernetik und Selbstorganisationstheorien in der Biologie

10.2.1

Selbstorganisierte Systeme

Der Begriff der Biologie wurde schon zu Beginn dieser sich herausbildenden Wissenschaft gegen Ende des 18. Jahrhunderts terminologisch mit dem des Systems verknüpft.35 Dies war zunächst das taxonomische System; mit einer Erklärung taxonomischer Ordnung als evolutionärer Verwandtschaft – also mit Darwin – wurde das biologische System dann erstmalig als sich selbst organisierend gedacht. Ein selbstorganisiertes System stellt entgegen der Entropie eine Ordnung her und dar, die es aufrechterhält. »Der Terminus ›Selbstorganisation‹ besagt, daß die spontane Entfernung eines dynamischen Systems vom Zustand der größten Unordnung, d.h. der maximal ihm möglichen Entropie, Resultat der gesetzmäßigen Interaktionen seiner Elemente ist und nicht durch das Wirken einer wirklichen oder ideellen Entität, wie einer ›Seele‹, einer ›platonischen Idee‹ oder eines Programms entsteht.«36 Der Begriff der Entropie geht auf Rudolf Clausius zurück und bezeichnet zunächst allgemein das Streben nach einem ausgeglichenen Zustand. So gleicht sich der von der Umgebungsluft unterschiedene Druck der Luft in einem Ballon aus, sobald eine Verbindung beider ›Systeme‹ hergestellt wird etc. »Entropie bezeichnet die Vorliebe der Natur für den betreffenden Zustand, sie kann bei allen Prozessen, welche innerhalb des Systems vor sich gehen, stets nur wachsen, niemals abnehmen.«37 Über die Entropie unterscheiden sich irreversible Prozesse von reversiblen: Ist bei einer Veränderung von Zustand A nach Zustand B die Entropie gleich, so ist die Veränderung reversibel; ist die Entropie bei B größer, so ist sie irreversibel. Darum sind komplexe Systeme wie Organismen nicht wiederherzustellen, wenn sie einmal kollabiert, d.i. tot sind. Gerade dies macht es aber unmöglich, die Entropie eines Organismus zu bestimmen: »Wie kann man die Entropie eines Lebewesens berechnen oder auch nur schätzen? Um die Entropie eines Systems zu berechnen, muß man es auf irreversible Weise schaffen oder zerstören können. Wir können uns keinerlei reversibles Verfahren vorstellen, durch das ein lebendiger Organismus geschaffen oder getötet werden könnte: Geburt und Tod sind irreversible Prozesse. Es gibt absolut kein Mittel, die Entropieveränderung zu bestimmen, die in einem Organismus im Zeitpunkt seines Todes stattfindet. Wir könnten uns ein Verfahren vorstellen, mit dem man die Entropie eines toten Organismus messen könnte, obwohl wir noch nicht in der Lage sind, dies zu tun, aber das würde uns nichts über die Entropie des Organismus kurz vor seinem Tod sagen!«38

35

36 37 38

Vgl. Kant, KrV, »Die Architektonik der reinen Vernunft«, B 860 ff.: Jede Wissenschaft setzt die Idee eines Systems voraus; der Biologie ist entsprechend die Idee des Systems der belebten Natur vorausgesetzt. Koutroufinis/Holste, Prozeßphilosophie, S. 119. Max Planck, Einheit des physikalischen Weltbildes, Leipzig 1909, S. 17 Léon Brioullin, Vie, Matèrie et Observation, S. 50, zitiert nach Jacques Ninio, »Betrachtungen eines Biologen«, in: Manfred Buhr (Hg.), Kritische Betrachtungen zu Jaques Monods ›Zufall und Notwendig-

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Dialektik des Lebendigen

Die Theorien über selbstorganisierte Systeme haben gemeinsam, dass sie die Entstehung des Systems – i.d.R. als empirisches Faktum und nicht als eine durch den Wissenschaftler konstituierte und festgelegte Entität – über das Phänomen der Emergenz erklären. Die Emergenz benennt das Auftauchen einer neuen Qualität – des organisierten Systems –, die nicht aus dem vorherigen Zustand hinreichend erklärt werden kann. In avancierten Emergenztheorien wird die neue Qualität nicht allein durch die hohe Komplexität39 , sondern durch die besondere, selbstorganisierende Prozessdynamik erklärt. Da jedoch diese Prozessdynamik zugleich schon selbst dasjenige sei, was als Wesentliches der neuen Qualität angenommen wird, gerät diese Erklärung zur Tautologie: Die neue Qualität, die sich nicht hinreichend aus den Reaktionen und Eigenschaften des zugrundeliegenden Zustands erklären lässt, wird stattdessen durch sich selbst erklärt; sie emergiere, indem sie sich setze – als selbstorganisierender Prozess, der in seinem Prozessieren etwas anderes sei als die bloße Summe der beteiligten Elemente in kausaler Wechselwirkung.

10.2.2

Von der theoretischen Biologie zur Mathematisierbarkeit der Strukturbildung lebendiger Systeme

Mathematische Beschreibungen von Selbstorganisationsvorgängen haben eine sehr große Attraktivität, die den theoretischen Aufwand und die eher spärlichen Resultate zu rechtfertigen scheinen. Der Rückgriff auf mathematische Modelle der Selbstorganisation ist ein weiterer Ausdruck der grundlegenden theoretischen Krise der Biologie: Die teleologische Form der Organismen, ihre innere Zweckmäßigkeit und ihre nur darauf hin zu begreifende Organisiertheit muss nach wie vor erklärt werden. Wenn ein Schöpfer als naturwissenschaftliche Erklärung ausgeschlossen werden muss, wenn der Begriff der Teleologie als metaphysisch zu verwerfen ist, wenn auch die evolutionäre Anpassung an die Umwelt immer schon Organisiertheit voraussetzen muss und zugleich die spezifischen Formen der Organisation nicht hinreichend erklären kann, wenn nicht auf teleologische sprachliche Metaphern verzichtet werden kann und hierüber innere Widersprüche in der dem Anspruch nach rein naturkausalen Theorie produziert werden, dann ist der Bezug auf die Theorien der sich selbst organisierenden Systeme zunächst zu betrachten als ein weiterer Versuch, diesen Aporien zu entkommen. Die theoretische Biologie entwickelt heute formale/mathematische Modelle, mit denen bestimmte biologische Phänomene dargestellt werden. Johannes Reinke begründete mit seiner 1901 herausgegebenen Einleitung in die theoretische Biologie40 diesen Zweig der Naturphilosophie in dem Bestreben einer konzeptionellen Grundlegung der Biologie. Neben Uexküll griff insbesondere Julius Schaxel die Idee einer theoretischen Bio-

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40

keit‹, Frankfurt a.M. 1973, S. 72-95, S. 81. Zum Problem der Entropie vergleiche Berry Campbell, »Biological Entropy Pump«, in: Nature 215, S. 1308 (1967). Hohe Komplexität von Materie gibt es allenthalben, auch ohne dass aus ihr neue Qualitäten emergierten. Dass die Komplexität ausreichend hoch sei, um in neue Qualität umzuschlagen, erweist sich daher nur am Vorhandensein der neuen Qualität, nicht jedoch am messbaren Grad der vorzufindenden Komplexität. vgl. Christine Zunke, Kritik der Hirnforschung, Berlin 2007, S. 196 ff. Johannes Reinke, Einleitung in die theoretische Biologie, Berlin 1901.

10. Kybernetik und Selbstorganisationstheorien in der Biologie

logie auf, indem er u.a. in der von ihm seit 1919 herausgegebenen Schriftenreihe Abhandlungen zur theoretischen Biologie41 den immanenten Problemen biologischer Theoriebildung einen Diskussionsrahmen bot. Auch andere Naturphilosophen wie Bertalanffy können in diesem Sinne als Vertreter einer theoretischen Biologie verstanden werden. Doch der Begriff hat sich dahingehend gewandelt, dass vor allem eine mathematisierte Darstellung organischer Strukturen und Prozesse als theoretische Biologie verstanden wird. In den 1930er Jahren unternahm Alfred Lotka den Versuch, physikalische Prinzipien der Thermodynamik auf biologische Systeme zu übertragen und so die Evolution als Energieumwandlung zu beschreiben. Es gelang ihm, die Dynamik von Populationen in Differenzialgleichungen zu fassen.42 Diese Gesetze einer idealen Räuber-BeuteBeziehung bilden bis heute das bekannteste biologische Modell der Kybernetik (s.o.). Spätestens mit der Möglichkeit der Mathematisierung der Entwicklungsbiologie durch den von Alan Turing beschriebenen gleichnamigen Turing-Mechanismus43 , der die spontane Strukturbildung in Reaktions-Diffusions-Systemen darstellt, ist die theoretische Biologie von mathematischen Modellen nicht mehr zu trennen. Der Bezug der theoretischen Biologie auf die physikalische Systemtheorie oder Kybernetik kann auf zweierlei Arten verstanden werden, methodisch oder ontologisch. D.h. entweder die Erklärung der Organismen über die Analogie mit komplexen, nichtlinearen Systemen, die über einen gewissen Zeitraum Zustände entgegen der Entropie realisieren, trägt so weit, dass hierüber ein Erkenntnisfortschritt möglich ist, oder Organismen sind (nichts anderes als) dynamische physiko-chemische Systeme. In dieser Differenz spiegelt sich das Problem, das die Frage nach dem heuristischen Wert der Annahme der Zweckmäßigkeit von Organismen generell aufwirft.44 Denn ein Erkenntnisfortschritt findet nur dann statt, wenn der Gegenstand mit seiner Erklärung (der Art, wie wir ihn denken) übereinstimmt. In dem Beharren darauf, die Betrachtung des Organismus als dynamisches selbstorganisierendes System sei von bloß methodischer Relevanz, verbirgt sich vielleicht die Einsicht, dass das Prinzip des Lebendigen nicht über die an der anorganischen Natur gewonnenen Erkenntnisse herzuleiten ist. Doch solange hieraus nicht eigenständige – negative, teleologische – Begriffe folgen, ist diese Einschränkung auf den bloß methodischen Charakter der Analogie in keiner Weise fortschrittlich. Dass die Ursache der teleologischen Form der Organisation von lebendigen Körpern nur negativ zu bestimmen ist – im Modus des ›Als-ob‹, was bedeutet, der Organismus sei nur so zu denken, wie er zugleich nicht zu denken sei –, führt uns wieder zurück zu Kants Überlegungen in der Kritik der Urteilskraft.

41 42

43 44

Julius Schaxel (Hg.), Abhandlungen zur theoretischen Biologie, Heftreihe mit 31 Monographien, Stuttgart 1919-1931. Vgl. Alfred J. Lotka, Elements of Physical Biology, Baltimore 1925. Etwa zeitgleich entwickelte der Mathematiker und Physiker Vito Volterra dieselbe mathematische Fassung der Populationsverhältnisse von Beute und Räuber, so dass diese heute als ›Lotka-Volterra-Regeln‹ bekannt sind. Vgl. Alan Turing, »The chemical basis of morphogenesis«, in: Philosophical Transactions of the Royal Society of London, Series B, Biological Sciences, Vol 237, No. 641, London 1952, S. 37-72. Vgl. Kapitel 7.4.2.

317

318

Dialektik des Lebendigen

10.2.3

Eine Theorie der Organisation: im Organismus ist alles wechselseitig Zweck und Mittel

Prigogine und Stengers gehen davon aus, »daß wir ohne eine Theorie der Organisation nicht auskommen, wenn wir es nicht mit bloß verbalen Metaphern des ›Organisators‹ und genetischer ›Programme‹ bewenden lassen wollen.«45 Eine solche Theorie der Organisation und Selbstordnung bietet die Theorie der sich selbst organisierenden Systeme. Die Theorie selbstorganisierender Systeme verspricht vor allem, eine heteronome Organisation der organischen Einheit durch etwas, das als zum Material und seiner gesetzmäßigen Bestimmtheit Hinzutretendes gedacht wird, überflüssig zu machen. Keine Seele, die dem Material seine Formbestimmung aufdrückt, keine Lebenskraft, die aktiv das Material ordnet, keine Idee, der sich anzugleichen die Materie strebt, kein Programm, das den Bauplan schon vorher enthielte und keinen vorausgesetzten Sollwert, der das Ziel der regulierenden Funktionen wäre. Insgesamt soll es hier keine Trennung zwischen regelnden und geregelten Größen geben und die Analogie zum Artefakt endlich aufgehoben werden. Diese Abkehr von einer impliziten Trennung in Zwecke und Mittel im Organismus stellt unbestreitbar einen großen Fortschritt in der theoretischen Biologie dar. Sie hat ihren Anfang in Kants Kritik der Urteilskraft, wo er den Organismus als ein sich selbst organisierendes Wesen bestimmt. Über die Analogie zum Artefakt unter Negation der »Kausalität der Begriffe von vernünftigen Wesen außer ihm«46 , also ohne dass ein Mensch oder Gott heteronom einen Zweck in es gesetzt und realisiert hätte, entwickelt Kant einen Begriff des Organismus, in dem alle Teile wechselseitig Ursache und Wirkung (ihrer Form) sind und so ein Ganzes, eine Einheit bilden.47 Indem er die vernünftige Ursache der Idee negativ ausschließt, lässt sich eine Ursache dieser Form des Naturzweckes nicht positiv bestimmen, weshalb die Idee der Zweckmäßigkeit der Form nicht Grund der Existenz der Organismen, sondern allein Erkenntnisgrund ihrer Existenz sein kann. »Denn auf solche Weise ist es allein möglich, daß umgekehrt (wechselseitig) die Idee des Ganzen wiederum die Form und Verbindung aller Teile bestimme: nicht als Ursache – denn da wäre es ein Kunstprodukt – sondern als Erkenntnisgrund der systematischen Einheit der Form und Verbindung alles Mannigfaltigen, was in der gegebenen Materie enthalten ist, für den, der es beurteilt.«48 Im Gegensatz zum Artefakt sei der Organismus darum zu beurteilen nicht bloß als ein organisiertes, sondern als ein sich selbst organisierendes Wesen: »In einem solchen Produkte der Natur wird ein jeder Teil, so wie er nur d u r c h alle übrigen da ist, auch als u m d e r a n d e r e n und des Ganzen w i l l e n existierend, d.i. als Werkzeug (Organ) gedacht; welches aber nicht genug ist (denn 45 46 47 48

Ilya Prigogine/Isabelle Stengers, Dialog mit der Natur, München 1981, S. 174, zitiert nach Weingarten, Organismen, S. 246. Kant, KdU, S. 290 [236]. Vgl. Kapitel 1.3. Kant, KdU, S. 291 [236].

10. Kybernetik und Selbstorganisationstheorien in der Biologie

er könnte auch Werkzeug der Kunst sein und so nur als Zweck überhaupt möglich vorgestellt werden), sondern als ein die anderen Teile (folglich jeder den anderen wechselseitig) h e r v o r b r i n g e n d e s Organ, dergleichen kein Werkzeug der Kunst, sondern nur der allen Stoff zu Werkzeugen (selbst denen der Kunst) liefernden Natur sein kann; und nur dann und darum wird ein solches Produkt als o r g a n i s i e r t e s und s i c h s e l b s t o r g a n i s i e r e n d e s Wesen ein N a t u r z w e c k genannt werden können.«49 Hiermit wird ein Organismusbegriff als Begriff einer selbstorganisierten Einheit möglich. Dass diese Einheit als lebendige stets auch disparate Momente haben muss, ergibt sich daraus, dass sie nicht bloß Reflexionsbegriff, sondern als Organismus existierende Einheit ist.50 Wie im sechsten Kapitel dieser Arbeit dargestellt wurde, ergibt die bloße Summierung der empirischen Merkmale eines Körpers keinen tauglichen Begriff des Lebendigen. Um die Einheit des Organismus in seinen Prozessen – und nicht statisch nach Merkzeichen – zu erfassen, ist seine Betrachtung als System offenbar besser geeignet, als jede herkömmliche Realdefinition. So schreibt Wuketits Anfang der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts: »Wir können Leben nicht hinreichend bestimmen, wenn wir bloß die an einzelnen Organismen erkennbaren Merkmale addieren. […] Die systemorientierte Betrachtung hingegen geht weit über die Aufzählung von Merkmalen hinaus und gewährt uns durchaus Einsichten in fundamentale Kriterien des Lebenden, die als miteinander in Wechselwirkung stehend erst das ergeben, wovon wir schon auf vorrationaler Ebene den Eindruck haben, ›es lebt‹.«51 Der Organismus wird noch heute oft in einer Weise definiert, die sich als systemorientierte Betrachtung sehr eng an das Kantische Vorbild hält. »Ohne diesen Hinweis [von Kant] auf den heuristischen Wert nicht-empirischer Begriffe in den Wissenschaften ist der terminologische Gewinn der Verbindung von ›Biologie‹ und ›System‹, auch der hier vorbereitete, obwohl erst viel später geprägte Begriff ›Selbstorganisation‹, nur schwer vorstellbar: Der Gesichtspunkt der (objektiven) Zweckmäßigkeit dient der Beurteilung von etwas und der des Systems ist ein Beispiel für etwas. Keiner dieser Begriffe ist deskriptiv. In biologischen Systemen gehen die genannten Gesichtspunkte der Synthese einer nach objektiven Zwecken organisierten Ganzheit ein. Der Gedanke des biologischen Systems wird im Ausgang von der Transzendentalphilosophie an die lebendige Natur herangetragen und nicht umgekehrt.«52 So bestimmt auch Toepfer im Historischen Wörterbuch der Biologie den Begriff des Organismus in einer Weise, die sich deutlich an die Kantische anlehnt: 49 50 51 52

Kant, KdU, § 65, S. 236 f [291 f]. Vgl. Kapitel 11.7.3. Wuketits, Biologische Erkenntnis, S. 176 f. Reinhard Schulz, »Stichwort: ›System, biologisches‹« in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Basel 1997, S. 856-862, S. 857.

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Dialektik des Lebendigen

»Ein Organismus ist ein materielles System aus wechselseitig voneinander abhängigen Teilen und Prozessen, das in physischer und funktionaler Hinsicht eine integrierte Einheit bildet und charakteristische Funktionen und Aktivitäten […] aufweist. Die physische Einheit des Organismus besteht in seiner materiellen Verfasstheit in einem kontinuierlich bestehenden kohärenten Körper, dessen Stoffe und Form jedoch einem Wechsel unterliegen können […]. Die funktionale Einheit des Systems besteht in seiner Organisation, d.h. in einem Gefüge aus Prozessen, die seine materiellen Teile erzeugen und erhalten und die damit […] wechselseitig voneinander abhängen. Dieses Zusammenspiel seiner Funktionen und Aktivitäten konstituiert die Identität des Systems über alle Stoff- und Formveränderungen hinweg.«53 Janich und Weingarten sehen in Kants Bestimmung des Organismus sogar die Grundlegung für eine Biologie mit eigenständigem Gegenstandsbereich: »Für die Vermutung aber, daß ohne Verfügung über den Terminus ›Organismus‹ die Biologie als Wissenschaft nicht möglich ist, spricht entscheidend der historische Umstand, daß die Biologie als eigenständige Wissenschaft u.a. durch Lamarck, Treviranus und andere genau deshalb entwickelt werden konnte, weil mit den Überlegungen I. Kants in seiner ›Kritik der Urteilskraft‹ zum ersten Male ein wirklich handhabbarer Organismus-Begriff zur Verfügung stand.«54 In gleicher Weise bewertet auch Warnke die Bedeutung der Kantischen Theorie, in der nicht über einzelne empirische Kennzeichen, sondern über ein gemeinsames Prinzip der (Selbst-)Organisation der sich wechselseitig hervorbringenden Teile die Ganzheit des Organismus als Funktionszusammenhang oder System erstmals theoretisch gefasst wird: »Indem er [Kant] die Eigenschaften zu bestimmen unternimmt, die ungeachtet ihrer Unterschiede jener Gruppe von Wesen gemeinsam ist, die man gemeinhin Lebewesen nennt, indem er also den einheitsbildenden Begriff des Organismus zu schaffen sucht, arbeitet er an den theoretischen Voraussetzungen, die es ermöglichen, die Biologie als Wissenschaftsdisziplin mit einem eigenen abgrenzbaren Gegenstand zu konstituieren.«55

10.2.4

Die Aporie der Selbstorganisation

Über die Kantische Bestimmung des Organismus als Naturzweck ergibt sich jedoch eine Aporie56 , da der Grund der Selbstorganisation weder aus der unbelebten Materie heraus nach dem nexus effectivus, noch nach dem im Artefakt als organisierendes Prinzip gedachten nexus finalis, der ein Intelligibles erfordert, hinreichend begründet werden kann. Wenn die Materie selbst ein organisierendes Prinzip in sich trüge, folgte

53 54 55 56

Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie, Artikel: Organismus, S. 777. Peter Janich/Michael Weingarten, Wissenschaftstheorie der Biologie, München 1999, S. 115. Camilla Warnke, »›Naturmechanismus‹ und ›Naturzweck‹ Bemerkungen zu Kants OrganismusBegriff«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Bd. 1/2, 1992, S. 42-52, S. 42. Vgl. Kapitel 13.2.

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ein Hylozoismus und die Grenze zwischen belebt und unbelebt ginge wieder verloren, da alle Materie belebt wäre und sich allenfalls im Grade der Organisiertheit, nicht aber im organisierenden Prinzip unterschiede. Wenn aber das organisierende Prinzip nicht aus der Materie selbst herrührt, sondern intelligibel heteronom gesetzt gedacht würde, resultierten jene Konzepte von Teleologie, Vitalismus oder Schöpfungstheorie, die durch die Anleihe an Selbstorganisationstheorien überwunden werden sollten. Die Aporie, die sich bezüglich des Naturzweck-Seins des Organismus bei Kant findet, ist auch in späteren Prozess- oder Autopoiesis-Theorien zu finden.57 Im Folgenden wird dies an zwei Beispielen verdeutlicht.

10.2.4.1

Die Aporie im Verhältnis von Form und Prozess im Stoffwechsel (Hartmann)

Das Prinzip des Lebendigen erscheint bei Nicolai Hartmann im Stoffwechsel als einem teleologischen Wechselverhältnis von Form und Prozess. Der Stoffwechsel wird hierbei nicht als ein bloß empirisches Kennzeichen oder Merkmal des Lebendigen bewertet, denn damit ginge die Reflexion über das Verhältnis von Form und Prozess verloren. Hartmann geht davon aus, dass die bloße Form des Organismus, die Anordnung der Materie für sich allein genommen, noch gar keinen Begriff des Lebens geben könne, da die Form selbst nur in Bezug auf den Prozess ihrer Genese ein Lebendiges sei. »In der bloßen Formation des Lebewesens ist der Unterschied von der anorganischen Formation noch nicht einmal angegeben. Die lebende Form hat eben ihr Wesen in etwas anderem, nämlich darin, daß sie in einem fortwährenden Formungsprozeß begriffen ist«58 . Leben sei wesentlich dynamisch, nicht statisch, und entsprechend muss seine (jeweils zu einem Zeitpunkt als statisch gedachte) Form immer auf den »Gegenbegriff«, den Prozess, bezogen gedacht werden. »Nie treten sie isoliert auf, und immer sind sie derart miteinander verwoben, daß man die Form nicht ohne den Prozeß verstehen, den Prozeß nicht ohne die Form erkennen kann. Das Leben ist überall und in jeder Hinsicht ebenso sehr Form als Prozeß.«59 Von diesem Gedanken ausgehend bestimmt Hartmann dann die Stoffwechselfähigkeit zu der dynamischen Grundeigenschaft des Lebendigen, der Erhaltung im Wandel. Die von Hartmann beschriebene Einheit von Form und Prozess bildet so ein System – und dieses ist als selbstbezügliches oder selbstorganisiertes nichts anderes als die innere Zweckmäßigkeit; der Prozess ist auf die Erhaltung der Form ausgerichtet und die Form ermöglicht den Prozess. Der lebende Organismus »würde sich eben gar nicht erhalten können, wenn nicht seine eigenen Formen und seine eigenen Prozesse

57

58 59

Vgl. Wolfgang Krohn/Günter Küppers, »Die natürlichen Ursachen der Zwecke. Kants Ansätze zu einer Theorie der Selbstorganisation«, in: Gebhard Rusch/Siegfried J. Schmidt, Konstruktivismus: Geschichte und Anwendung, Frankfurt a.M. 1992, S. 34-58. Hartmann, Philosophische Grundfragen, S. 80. Hartmann, Philosophische Grundfragen, S. 104.

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Dialektik des Lebendigen

›zweckmäßig‹ in Bezug auf seine Selbsterhaltung wären […]. So sind alle Systembeziehungen im Organismus Zweckmäßigkeitsbeziehungen, unbeschadet ihres kausalmechanischen Charakters; und er selbst, als ihre Systemeinheit, ist ein Zweckmäßigkeitssystem.«60 Zweckmäßigkeit und Angepasstheit des Organismus müssen jedoch immer schon vorausgesetzt sein, weil sie genau das Verhältnis benennen – angepasst an eine bestimmte Umwelt, um überleben zu können –, welches das Lebendige im Unterschied zum Anorganischen ausmacht. »Nur das Lebendige kann angepaßt sein, denn nur in ihm handelt es sich um Selbsterhaltung. Von ihm aber gilt es zugleich mit Notwendigkeit, daß es angepaßt sein muß. Und erst diese apriorische Notwendigkeit gibt der erscheinenden Zweckmäßigkeit eindeutigen Sinn«61 . Angepasstheit und Zweckmäßigkeit sind keine empirisch festzustellenden Fakten, sondern verdanken sich der Reflexion auf ein Verhältnis – der Organismus verhält sich in Bezug auf seine eigene Existenz und die Existenz seiner Art zweckmäßig und muss sich hierfür in bestimmter Weise an seine Umwelt angepasst haben. Im Resultat des angepassten Organismus erscheint der Prozess der Anpassung nicht, sondern er wird gedacht als dasjenige, was als zweckmäßiger Prozess zu diesem Resultat führte. Der Grund der Selbstorganisation kann also auf keines der beiden Elemente – Prozess oder Form – zurückgeführt werden, sondern ist in beiden als ihr Resultat vorausgesetzt.

10.2.4.2

Die Aporie autopoietischer Systeme (Varela/Maturana)

Francisco Varela und Humberto Maturana prägten 1973 den Begriff der Autopoiese für den Prozess, in dem die Organismen sich derart in geregelten Funktionen selbst erneuern und erhalten, dass die Einheit ihrer Struktur in der Funktionalität, die diesen Prozess ermöglicht und erfordert, sich erhält.62 Sie sprechen hier von einer rekursiven (nicht, wie Hartmann, von einer reflexiven) Organisationseinheit, dem Organismus. Dies mache die Besonderheit der Lebewesen gegenüber dem Unbelebten aus, »dass das Produkt ihrer Organisation sie selbst sind, das heißt, es gibt keine Trennung zwischen Erzeuger und Erzeugnis. Das Sein und das Tun einer autopoietischen Einheit sind untrennbar, und dies bildet ihre spezifische Art von Organisation«63 . Als dieses autopoietische System stellt der Organismus eine Einheit dar, zu der alle von ihm aufgenommenen und zu seiner Selbstreproduktion verarbeiteten Stoffe unmittelbar gehören, so dass die Grenze zu seiner Umwelt nicht stofflich, sondern über die Funktion der Teile (Komponenten) im Gesamtprozess und seine Dynamik bestimmt

60 61 62 63

Hartmann, Philosophische Grundfragen, S. 134 f. Hartmann, Philosophische Grundfragen, S. 139. Vgl. Humberto R. Maturana/Francisco J. Varela, »Autopoietic Systems«, in: Report BCL 9.4. Urbana, III, Illinois 1975. Humberto Maturana/Francisco Varela, Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des Erkennens, München 1987, S. 56.

10. Kybernetik und Selbstorganisationstheorien in der Biologie

ist.64 »Der Organismus endet an der Grenze, die seine selbstreferentielle Organisation für die Erhaltung seiner Identität definiert.«65 Da die selbsterhaltenden, gerichteten Funktionen des Systems wirksam sind, werden sie als ›Handlungen‹ und als ›kognitiv‹ bezeichnet. Autopoietische Systeme sind damit der Sache nach durch ein Intelligibles teleologisch geleitete Systeme. Die ›Interaktionseinheiten‹ lebende Systeme bestimmt Maturana als abhängig von ihrer Umwelt, weshalb weder sie noch diese unabhängig voneinander definiert werden können.66 »[Der Organismus als] zirkuläre Organisation stellt ein homöostatisches System dar, dessen Funktion darin besteht, eben diese zirkuläre Organisation selbst zu erzeugen und zu erhalten. […] Diese zirkuläre Organisation definiert außerdem ein lebendes System als eine Interaktionseinheit und ist wesentlich für ihre Erhaltung als eine Einheit. […] Alle die besonderen Eigenschaften der verschiedenen Arten von Organismen ergeben sich aus dieser grundlegenden Zirkularität.«67 Aber diese Einheit ist selbst nach Maturana keine innere, sondern eine heteronom durch den Beobachter gestiftete; sie ist damit ein anthropologisches Konstrukt:68 »Genaugenommen bleibt die Identität einer Interaktionseinheit, die sich fortwährend verändert, nur mit Bezug auf einen Beobachter erhalten, für den sie als Interaktionseinheit unverändert bleibt.«69 Denn die Einheit wird über das Funktionsganze gestiftet, welches durch die wechselnden Stoffe (und Arten) hindurch kein Materielles, sondern ein Ideelles ist. Das Ziel der Selbsterhaltung ist ein Telos, das für die Zukunft antizipiert werden muss, damit seine Umsetzung als eine solche erkannt werden kann. Bei Maturana erscheint dies in der Form der impliziten Voraussage, die in der Zirkularität, die stets in den gleichen Zustand zurückkehren soll, enthalten ist: »Die zirkuläre Organisation impliziert die Voraussage, daß eine Interaktion, die einmal stattgefunden hat, wiederum stattfinden wird. Geschieht dies nicht, so zerfällt das System. Findet die vorausgesagte Interaktion jedoch statt, so bewahrt das System seine Integrität (Identität mit Bezug auf den Beobachter) und tritt in eine neue Voraussage ein.«70 Da die Einheit des Systems von der Systembetrachtung abhängt, können Zellstoffwechsel, Gesamtorganismus oder auch Sozialgefüge gleichermaßen als lebendige Systeme

64

65 66

67 68 69 70

Nach dieser von Maturana und Varela aufgestellten Definition des Lebendigen lassen sich also Artefakte ganz klar aus dem Bereich des Lebendigen ausgrenzen – ebenso die Viren, die als einzelne Großmoleküle über keine Autopoiese verfügen; sie können allenfalls als Teil eines vom Virus befallenen und auf ihn reagierenden Gesamtsystems, also als Komponente eines Organismus aufgefasst werden. Vgl. Maturana, Erkennen, S. 45. Vgl. Maturana, Erkennen, S. 35. Auf die bekannten erkenntnistheoretischen Folgen seiner Theorie des Lebendigen wird im Kontext dieser Arbeit nicht eingegangen. Leider auch nicht auf Luhmanns Übertragung des Autopoiesisbegriffs in seine soziologische Systemtheorie. Ebd. Vgl. Schwegler, Systemtheorie. Maturana, Erkennen, S. 36. Ebd.

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324

Dialektik des Lebendigen

angesehen werden. Um eine (Meta-)Ordnung der Systembetrachtungsweisen zu erhalten, trennt Maturana diese verschiedenen Systeme nach Ordnungsgraden: »Der Staat der (Honig-)Bienen ist ein Beispiel für ein solches selbstreferentielles System dritter Ordnung. Es besitzt eine zirkuläre Organisation, die auf den selbstreferentiellen Systemen zweiter Ordnung, den Bienen, aufbaut. Die Bienen wiederum besitzen eine zirkuläre Organisation, die auf den lebenden Systemen erster Ordnung, den Zellen, beruht. Alle drei Systeme mit ihren jeweiligen Interaktionsbereichen dienen sowohl der Erhaltung ihrer selbst als auch der Erhaltung der anderen.«71 Da der Beobachter konstitutiv für die gestiftete Einheit des Systems ist, lässt sich nun nicht mehr differenzieren, ob der Bienenstaat selbst lebendig ist oder eine Abstraktion, oder ob die Zelle lebendig ist oder bloße Funktion für die Biene; die Lebendigkeit der Biene stellt nur einen Grad der Ordnung lebendiger Systeme dar.72 Indem das intelligible Moment des selbstreferenziellen, also teleologischen Systems in das Erkenntnissubjekt verlagert wird – das ohne Zweifel als denkendes Wesen, das Zwecke setzen kann, vorausgesetzt werden muss –, scheint die Aporie gelöst zu sein. Jedoch um den Preis, dass Lebendigkeit, wie die Schönheit, allein im Auge des Betrachters liegt und zu einem bloß subjektiven Urteil regrediert. Im Widerspruch hierzu steht die gleichzeitige Bestimmung von Organismen als rekursive Organisationseinheiten, die selbst als Produkte ihrer Organisation – und nicht als Produkte unserer Projektion – gefasst werden.

10.2.5

Leben in hierarchischen Systemkonzeptionen

Eine Wiederaufnahme der kybernetischen Trennung von regelnden und geregelten Größen findet sich in hierarchischen Systemkonzeptionen. Diese sind besonders anschlussfähig an die Evolutionsvorstellungen der Biologie. In ihnen wird die untergeordnete Systemstruktur von der ihr jeweils übergeordneten organisiert und reguliert (›gesteuert‹). Der organisierende (teleologische) Faktor liegt damit außerhalb des organisierten Systems, dieses wird von einer heteronomen Instanz aus fremdgesteuert und die steuernde Instanz liegt somit selbst außerhalb des betrachteten Systems. So muss zum einen beispielsweise in Fortpflanzungssystemen kein autonomer, organisierender Faktor im einzelnen Organismus als organisiert zu beschreibendem System angenommen oder nachgewiesen werden. Zum anderen lässt sich wie im Ökosystem der Organismus als ein durch seine Umwelt extern gesteuertes System beschreiben, wobei die Steuerung dann genau in der Anpassung an die Umwelt (das übergeordnete System) begriffen wird.73

71 72

73

Maturana, Erkennen, S. 37. Da nach Maturana lebende Systeme kognitive Systeme sind (vgl. Maturana, Erkennen, S. 39), lassen sich entsprechend nicht nur Individuen, sondern auch Gesellschaften als kognitive Systeme begreifen, was Maturanas Überlegungen für Luhmann so attraktiv und fruchtbar machte. In erkenntnistheoretischer Hinsicht beschränkt Maturana sich weitgehend auf die Kognition einzelner Organismen, also selbstreferentielle Systeme zweiter Ordnung, ohne diese Einschränkung jedoch theoretisch einzuholen. Vgl. z.B. Rupert Riedl, Evolution und Erkenntnis, München 1984, S. 150 ff.

10. Kybernetik und Selbstorganisationstheorien in der Biologie

10.2.5.1

Das Leben als Fortpflanzungssystem

Während bei Maturana verschiedene Ordnungsgrade von lebendigen Systemen ausgemacht wurden, die hierarchisch aufeinander aufbauen, findet sich bei Hartmann der Gedanke eines durchgehenden Prinzips, dem die einzelnen Lebenserscheinungen untergeordnet sind. So, wie sich nach Hartmann der einzelne Organismus im Wechsel der Stoffe erhalte, so erhalte sich auch die Art im Wechsel der Exemplare. Fortpflanzung und Generationenfolge lassen sich so auf einer höheren Ebene als Stoffwechsel der Gattung/Art betrachten, wobei die im Prozess wechselnden und das Ganze erhaltenden Elemente hier die vorhergehenden Individuen sind. »Die ganze Zweckmäßigkeit dieses Leben erhaltenden Prozesses zielt eben nicht mehr auf das Individuum ab, sondern auf die Gattung. Das Individuum wird zum Mittel, zum vorübergehend funktionierenden Organ. Das Leben der Gattung ordnet sich ihm über. Es weist ihm seine Teilfunktion innerhalb der höheren Systemeinheit an. Das Individuum verschwindet in der Gattung; diese bleibt stabil in der Labilität des Individualgleichgewichts. Sie treibt mit den Individuen gleichsam einen Stoffwechsel im großen Stil, in welchem ganze Stoffwechselsysteme zum wechselnden Stoff herabgedrängt sind.«74 Nun ergibt sich ein Problem, dass sich angesichts der oben angeführten Unmöglichkeit eines abgeschlossenen Systems und des Bezugs der Biologie auf hierarchische Systemmodelle, bei denen ein beschriebenes System von übergeordneten Systemebenen abhängt, immer wieder stellt: Ist das Leben als prozessierende Selbstorganisation nun der Stoffwechselprozess des Einzelorganismus, oder ist dieser nur Systemteil im Wechsel der Generationen und ist nicht letztendlich der Gattungsprozess und evolutionär betrachtet der Prozess des Artenwandels auf der Erde als Ganzes ›das Leben‹? Denn einzelnes Leben entsteht nicht spontan, sondern es pflanzt sich fort. Die Frage ist also, ob es genügt, jeden einzelnen Organismus systemtheoretisch abzubilden, oder ob man nicht das Leben in seiner Gesamtheit als stabiles, dynamisches und hochkomplexes System begreifen müsste. Letzteres führt weit über die Grenzen empirischer Wissenschaft hinaus, obgleich es sich im Fortgang der Theorie spekulativ ergibt. Da das System erstens kein in sich abgeschlossenes sein kann und zweitens das teleologische Moment, das dem einzelnen empirischen Naturgegenstand nicht widerspruchsfrei zugesprochen werden kann, in die je höhere Ordnungsebene verschoben wird, ergibt sich eine Ordnungshierarchie als infiniter Regress. Wer bei der biologischen Selbstregulation des Zellstoffwechsels beginnt, kann so – spekulativ dem Prinzip der aufsteigenden Systemhierarchie folgend – leicht in esoterischen Gaia-Postulaten enden.75 Das System scheint auch bei Hartmann aufzusteigen; was in der unteren Stufe ein Ganzes als Stoffwechselsystem ist, wird in der höheren zum bloßen Stoff, dessen Wechsel ein umfassenderes System erhält: Vom ganzen System des Organismus zum übergeordneten System der Art/Gattung, Evolution als Prozess des Lebens.

74 75

Hartmann, Philosophische Grundfragen, S. 114. Anschaulich demonstriert z.B. in: David Layzer, Die Ordnung des Universums, Frankfurt a.M. 1997. Zur Gaia-Hypothese vgl. Kapitel 12.5., Fn. 63.

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Dialektik des Lebendigen

In der Biologie und insbesondere in den naturphilosophischen Betrachtungen finden sich noch höhere Systeme. In der Vorstellung des Ökosystems wird die Art zum austauschbaren Stoff und kann gegen eine andere Art, welche die gleiche ökologische Nische besetzt, ausgetauscht werden – Evolution als (übergeordneter) Stoffwechselprozess des Lebens, aus dem die ausgestorbenen Arten ausgeschieden wurden. In Folge bleibt es bei der Theorie der Selbstorganisation des Lebendigen ungeklärt, was überhaupt das Subjekt dieses Selbst, das sich organisiert und erhält, sein soll – ist es der einzelne Organismus, der diese Aufgabe jeweils nur für einen eng begrenzten Zeitraum meistert, bis seine Organisation und damit er selbst sich wieder auflöst (Tod als Unordnung/Zerstörung der Ordnung)? Oder ist es ›das Leben‹, das sich über einen längeren Zeitraum hinweg durch die einzelnen Exemplare hindurch, durch Fortpflanzung und Evolution in immer wieder neuen Formen organisierter Materie erhält? Die meisten Theorien scheinen in diese Richtung zu deuten. Dann wäre Leben ein abstraktes Prinzip der Organisation von Materie, und diese würde durch ein intelligibles Prinzip der Ordnung und nicht durch sich selbst organisiert werden. Ein Dualismus von physikalischer Materie (dem Material, das organisiert werden kann) und intelligiblem Lebensprinzip (dasjenige, was die Organisation bestimmt und so die unbelebte/unorganisierte von der belebten/organisierten Materie trennt) ist dann der Theorie der Selbstorganisation immanent.

10.2.6

Vitalistische Aspekte in Theorien der Selbstorganisation

Eine Autonomie oder Selbstbezüglichkeit der belebten Natur (Selbsterhaltung etc.) wird, wie oben gezeigt, in der Biologie oft nicht als Teleologie bewertet, da es kein äußeres heteronom bestimmtes Ziel gibt.76 Dennoch ist die Beschreibung von Funktionszusammenhängen innerhalb des Organismus, seine Darstellung als selbstorganisierendes System, der Form des Urteils nach immer teleologisch.77 In der aktiven Regulation der eigenen Funktionen zu ihrer Erhaltung erscheint eine ›Selbst‹-Leistung der Organismen,78 die auf die Traditionen des Vitalismus bezogen bleibt. Tatsächlich ist und war die Biologie in der überwiegenden Mehrzahl ihrer Arbeiten niemals so konsequent mechanistisch, wie die deutliche Ablehnung vitalistischer Konzepte in der Biologie es vermuten ließe. »Kritisch kann gegen die Exponierung des Mechanismusbegriffs in wissenschaftstheoretischen Analysen allerdings eingewendet werden, dass dieser in biologischen Abhandlungen selbst gar nicht zu den prominentesten Konzepten zählt. Häufiger als ›Mechanismus‹ wird in zellbiologischen Untersuchungen z.B. der stärker aktivistische

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77

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Vgl. z.B. Mayr, Philosophie der Biologie, S. 70 f. Dort argumentiert er, dass ein Telos auf einen Endpunkt ausgerichtet sei; das Erhalten des Lebens als permanenter Prozess eines ›statischen Systems‹ habe jedoch keinen solchen Endpunkt. Eine schöne Übersicht über die wissenschaftstheoretischen Varianten, biologische Funktionszusammenhänge zu beschreiben, findet sich z.B. bei Ulrich Krohs, »Der Funktionsbegriff in der Biologie«, in: Andreas Bartels/Manfred Stöckler (Hg.), Wissenschaftstheorie. Texte zur Einführung, Paderborn 2007, S. 287-306. Vgl. Roux, Kapitel 6.3.1.

10. Kybernetik und Selbstorganisationstheorien in der Biologie

Begriff der ›Regulation‹ verwendet, der einem Organismus oder einer anderen Entität den Status eines Agenten einräumt.«79 Das aktive Moment der teleologischen Organisationsform ist in vielen Begriffen vergangener wie aktueller Konzepte präsent, in allen Vorstellungen, die mit der Vorsilbe ›selbst‹ beschrieben werden ebenso wie in Begriffen der Funktion, Organisation und Regulation. In der wirkenden Kraft oder Aktivität des Selbstbezuges auf sich als und zu einer Einheit des Systems wird eine intelligible Identität über den Wechsel der Stoffe des Körpers hinaus gestiftet. Die Zweckmäßigkeit kann unter der Fahne der Selbstorganisation wieder ganz offen Teil der biologischen Erklärung sein. »Dieser in der Biologie des 20. Jahrhunderts anrüchig gewordene Terminus [der Zweckmäßigkeit] konnte von Seiten der Kybernetik und Systemtheorie […] rehabilitiert werden«80 . Aufgrund der Analogie zur Technik und der abstrakt-mathematischen Darstellung wird der intelligible Gehalt von Begriffen wie Regulation, Funktion, Organisation und Zweckmäßigkeit unterschlagen. So wird versucht, über die Kybernetik, unter Absehung ihres Ursprungs in der Technik, ein vormals vitalistisches Prinzip als kausales anzunehmen. Damit aber bekommt die empirische Natur selbst ein metaphysisches Moment, das seinen Ursprung gerade nicht in der Erkenntnistätigkeit des denkenden Subjekts, das den Gegenstand erforscht, haben soll. Positivistische Wissenschaft erklärt sich als blind gegen das ursprüngliche Problem der Biologie, das im Vitalismusstreit offen lag. »Mit der Kenntnis der selbsttätigen Regelung, die inzwischen zum Allgemeingut der Biologen wurde, hat […] die Verdächtigung des Begriffes der Ganzheit aufgehört; denn auch Regelsysteme halten einerseits, als seien sie ›zielstrebig‹, ihren Zustand aufrecht und verhalten sich dadurch ganzheitlich; andererseits sind sie aber kausal völlig durchsichtig und determiniert«81 . Dass ein nach einer Zweckidee gestalteter, realer Gegenstand – z.B. ein Toaster – in seinen regulierenden Funktionen – die z.B. den Bräunungsgrad des Brotes bestimmen – ›kausal völlig durchsichtig und determiniert‹ ist, ist banal. Doch das Prinzip, nach dem wir den Toaster als zu einem bestimmten Zweck funktional gestaltet erkennen, ist notwendig teleologisch. Ebenso werden Organismen nach einem teleologischen Prinzip als in sich funktional gedacht, weil all die – mehr oder minder durchsichtigen – Kausalprozesse im Gesamtzusammenhang als zweckmäßig erscheinen. Würde jeder kausale Prozess nur darum, weil er als empirischer Ablauf kausal verfasst ist (was für jeden realen Prozess notwendig gilt), auch nach dem kausalen Prinzip des nexus effectivus beurteilt werden, dann gäbe es keinen nexus finalis – d.h. keine Technik, keine Kunst und keine Lebewesen.

79 80 81

Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie, Artikel: Organismus, S. 820 f. Wuketits, Überwindung von Mechanismus und Vitalismus, S. 381. Bernhard Hassenstein, »Kybernetik und Biologie. Möglichkeiten und Grenzen«, in: Felix von Cube (Hg.), Was ist Kybernetik?, München 1975, S. 197-202, S. 201. Zum Begriff der Ganzheit vgl. Kapitel 8.7.

327

328

Dialektik des Lebendigen

Die Erleichterung der Biologen darüber, wieder von Zweckmäßigkeit als einem kausalen Naturphänomen (und nicht einer metaphysischen Annahme) sprechen zu dürfen, war groß. Wuketits beschreibt sie so: »Entscheidend dabei ist vor allem jener Umstand, daß damit bestimmte de facto existierende bzw. für den Beobachter evidente Erscheinungen nicht als ›unangenehm‹ empfunden werden, weil für ihre ›Erklärung‹ vermeintlich auf vitalistisches Gedankengut zurückgegriffen werden müsse; sondern daß diese Phänomene naturwissenschaftlich diskutabel sind und dem kybernetischen und systemtheoretischen Methodenarsenal untergeordnet werden können, ohne daß damit ein extrem mechanistischer Standpunkt wachgerufen werden würde. Indem der Organismus als ein System von interagierenden Elementen dargestellt wird, in welchem komplizierte Regelungsund Rückkoppelungsprozesse manifest werden, liegt es freilich auf der Hand, daß altehrwürdige Begriffe wie jener der Zweckmäßigkeit zwar wieder auftreten, allerdings eine entsprechende Umdeutung erfahren.«82 Ob etwas uns evident erscheint oder ob es sich um ein (physikalisches) Faktum handelt, wäre zunächst zweierlei. Dass ein für den Beobachter evidentes gedachtes Zweckverhältnis zu einem de facto existenten Naturphänomen wird und beides als identisch erscheint, gehört zu den Grundproblemen der theoretischen Biologie. Die Umdeutung des Begriffs der Zweckmäßigkeit, die hier angesprochen wird, entspricht der Verschiebung von Teleologie zur Teleonomie, die schon im siebten Kapitel diskutiert wurde. Das Resultat bei Wuketits ist: »Zweckmäßigkeit ist damit kein vitalistisches Prinzip, sondern folgt als ein ›ganz natürliches‹ Prinzip aus den Systembedingungen jedes lebendigen Systems.«83 Doch die natürlichen Systembedingungen lebendiger Systeme sind zugleich offenbar andere, als diejenigen nichtbelebter selbstorganisierter Systeme.

10.2.7

Die Theorie der Selbstorganisation bringt der Biologie keinen Erkenntnisfortschritt

In den letzten Jahrzehnten wurden Selbstorganisationstheorien jenseits des Vitalismus in der Biologie zunehmend wichtig. Der Grund hierfür liegt jedoch nicht darin, dass diese Theorien in Bezug auf die Organismen evidente oder zumindest plausible Erklärungen selbst anbieten; im Gegenteil sind starke theoretische Modifikationen nötig, um sie für das Interesse der Biologie passend zu machen. So sind beispielsweise morphologische Konstruktionen nicht mit Selbstorganisationstheorien fassbar, weil die Morphologie auf statische Funktionszusammenhänge verwiesen ist, wohingegen die Zirkulations- und Austauschprozesse, welche die Selbstorganisation beschreibt, gänzlich ohne bestimmbare morphologische Struktur des Organismus beschrieben werden müssen – der bloßen Form des organisierten Zirkulierens steht so das fixe Formengefüge des ineinander greifenden Aufbaus der Teile des Organismus unvermittelbar gegen-

82 83

Wuketits, Überwindung von Mechanismus und Vitalismus, S. 383. Wuketits, Überwindung von Mechanismus und Vitalismus, S. 381 f.

10. Kybernetik und Selbstorganisationstheorien in der Biologie

über.84 Bezüge zu Selbstorganisationstheorien eignen sich daher nicht dazu, Lebensoder Evolutionsprozesse nach physikalischen Gesetzen zu erklären, wie Weingarten ausführt. »[Denn es] gilt, daß die Selbstorganisationstheorien nur dann wirklich biologisch interpretiert werden können, wenn in den Modellen die ›spezifischen Gesetzmäßigkeiten‹, die biologische Objekte unterscheiden von z.B. physikalischen Objekten, angegeben werden können. Das heißt, daß das mathematische Modell und dessen physikalische Interpretation nicht einfach auch auf die Biologie angewendet werden können, auch nicht in einer analogen Verwendung, die Haken85 vorschlägt. Den ›gordischen Knoten‹ der herkömmlichen Evolutionsbiologie, nämlich die zirkuläre Definition, daß nur der Beste überlebt, will Haken durch ein analoges Beispiel aus der unbelebten Natur, der Laserphysik, zerschlagen (lassen wir hier einmal die Frage beiseite, ob die Laserphysik nicht doch eher ein Beispiel aus der Technik ist und nicht aus der ›Natur‹). ›Hier hatten wir festgestellt, daß bei den Laserwellen eine Konkurrenz stattfindet,86 bei der auch nur eine überlebt. Diese können wir natürlich als ›beste‹ definieren. Das wichtige ist aber, daß wir in der Laserphysik von vornherein berechnen können, welche Mode bzw. welche Welle überleben wird, welche also die beste ist. Es gibt hier also objektive Kriterien, nach denen wir bereits vor dem ganzen Prozess sagen können, wer ihn gewinnen wird‹ (Haken 1993, S. 84). Damit die Analogie greift, müssen eben für biologische Objekte ebenfalls solche ›objektiven Kriterien‹ formuliert werden, allerdings jetzt biologische Kriterien. Diese finden sich aber – soweit ich die Literatur kenne – in keiner Abhandlung zur Selbstorganisation! Und damit hängt die gesamte Übertragung der physikalischen Theorien der Selbstorganisation auf biologische Vorgänge in der Luft.«87 Dass sich in der Literatur zur Selbstorganisation keine objektiven biologischen Kriterien finden lassen, nach denen der Gang der evolutionären Entwicklung der Organismen sich berechnen ließe und Vorhersagen für künftige lebendige organisierte Strukturen zumindest theoretisch möglich wären, liegt daran, dass es solche Kriterien nicht geben kann.88 Diese Entwicklung ist weder über Selbstorganisation noch chaostheoretisch

84

85 86

87 88

Vgl. hierzu Michael Weingarten, »Form, Selbstorganisation, Konstruktion. Die Notwendigkeit der Neubegründung der Morphologie aus der Biomechanik«, in: Karl Edlinger (Hg.), Form und Funktion. Ihre stammesgeschichtlichen Grundlagen, Wien 1989, S. 173-182. Hermann Haken, (Physiker). Vgl. hierzu auch sein mit Maria Haken-Krell verfasstes Werk: Entstehung biologischer Information und Ordnung, Darmstadt 1995. C.Z. Auf diesen Anthropomorphismus kapitalistischer Marktregulierungsmechanismen wurde in Bezug auf die Evolutionstheorie in Kapitel 2 bereits hingewiesen. Dass sich diese mittlerweile auch in der Physik finden, ist bezeichnend für die Wirksamkeit der zweiten Natur. C.Z. Weingarten, Organismen, S. 260. Vgl. Kapitel 11.7.

329

330

Dialektik des Lebendigen

mathematisch zu fassen, weil die ihr immanente Teleologie kein physikalischer oder mathematischer Begriff ist.89

10.2.8

Das Problem der Unterscheidung von Lebewesen und nichtlebendigen selbstorganisierten Systemen

Nach Kant sind Organismen nur über das teleologische Prinzip zu begreifen, dass die einzelnen Teile wechselseitig als Ursachen und Wirkungen voneinander abhängen. Dieses Prinzip, nach dem sich Organismen erkennen lassen, habe nach Toepfer auch in anderen Zusammenhängen dieselbe heuristische Funktion – etwa bei chemischen Reaktionen, wo Produkte von Reaktionen zugleich als Katalysatoren für Reaktionen dienen, die (nach einigen Zwischenstufen) jene Stoffe zum Resultat haben, welche die erstgenannte Reaktion ermögliche; oder auch im Erkennen der wechselweisen Zusammenhänge eines ökologischen Systems oder eines Wasserkreislaufs als System: Das Wasser der Ozeane verdampft, regnet an anderer Stelle wieder ab und speist so Flüsse, die wiederum in die Ozeane münden. Die Besonderheit des Organismus sei darum nicht in der teleologischen Verfasstheit allein zu finden, sondern zusätzlich auf spezifische Merkmale angewiesen; an dieser Stelle komme den klassischen empirischen Merkmalen der Lebewesen ihre Bedeutung zu. Etwa das Material der DNA – und damit die spezifische Funktion der DNA – komme den Lebewesen exklusiv zu und trenne sie vom Wasserkreislauf, auch wenn beide Systeme als Systeme nur teleologisch zu erkennen seien.90 Wenn die Form der Zweckmäßigkeit nicht nur Lebewesen, sondern auch anderen Naturprozessen zugesprochen wird, kann damit ein Zweck in die gesamte Ordnung der Natur gelegt werden. Auch Prozesse der Entstehung von Flüssen oder Gebirgen können nicht bloß beschrieben, sondern zudem als zweckgerichtet beschrieben werden – und eine logische Grenze, diesen Zweck in die Natur zu legen, ist hierbei nicht abzusehen. So verdampfe das Wasser der Meere, um dem Land Regen und Fruchtbarkeit zu bringen und dann reflexiv zu sich zurückzukehren etc. Doch all diese Prozesse der unbelebten Natur lassen sich auch ohne die Formulierung ›um zu‹ hinreichend beschreiben; wir können einen Zweck hineininterpretieren, aber die unbelebten Objekte nötigen uns nicht dazu; dem Organismus bescheinigte Monod dagegen, dass er uns zwingt, ihn als zweckmäßig zu denken, d.h. dass die Form der Zweckmäßigkeit konstitutiv dafür ist, dass wir ihn als lebendig erkennen. Die Differenz zu unbelebten Systemen liegt zuerst darin, dass der Organismus keinem äußeren Zweck dient, sondern seinen Zweck in sich selbst hat. Der Organismus muss in bestimmter Weise organisiert sein, um ein Organismus zu sein und zu bleiben – und durch diese Organisation verschiedenster Materialien zum Lebewesen ist seine

89

90

Weingarten kritisiert darüber hinaus an der Wendung der Selbstorganisationstheorien auf die Organismen, dass hierbei nicht zwischen der Experimentalsituation und einem natürlichen Verlauf unterschieden werde; stattdessen werde die »im Experiment erzwungene Verlaufsform als Natur behandelt.« Weingarten, Organismen, S. 263. Vgl. Georg Toepfer, »Teleologische Gegenstandsbestimmung«, in: Ingo Elbe/Christine Zunke (Hg.), Oldenburger Jahrbuch für Philosophie 2011, Oldenburg 2012, S. 63-80, (Künftig zitiert: Toepfer, Gegenstandsbestimmung).

10. Kybernetik und Selbstorganisationstheorien in der Biologie

Einheit erst gegeben. Anders beim Wasserkreislauf – das Wasser hört nicht auf, Wasser zu sein, wenn es die Meere verlässt, wenn es in Flüssen oder Organismen existiert. Es verdampft nicht zu dem Zweck, um wieder abzuregnen und es regnet nicht ab, um über Flüsse wieder ins Meer zu gelangen. Es wird nicht als Selbstzweck gedacht. Das Ende des Wasserkreislaufs wäre das Ende von Vielem, aber nicht das des Wassers. Die Einheit beim Wasserkreislauf ist also nicht durch die Organisation gestiftet, sondern durch das identische Material (H2 O). Das Wasser braucht keinen Prozess, um sich als Wasser zu erhalten. Deshalb beschreibt der Wasserkreislauf auch nicht, was Wasser ist, sondern seine Bewegungen. Die teleologische Organisationsstruktur der Organismen auf ökologische Systeme auszuweiten, ist jedoch ein verbreiteter Gedanke, der an oben dargestellte Theoreme anschließt.

10.2.8.1

Exkurs: Ökosysteme sind keine Organismen

Sowohl bei Hartmann als auch bei Maturana löste der einzelne Organismus sich unter dem Prinzip der Lebendigkeit als lebendige Einheit auf, um Teil einer größeren Einheit zu werden: der Art, der Gattung oder der Lebendigkeit als solcher. Das Exemplar wurde Teil des ›Lebens‹ insgesamt in seinem durch alle Lebensformen hindurchgehenden und sich in und über alle Arten und Exemplare hinaus erhaltenden Prozess, der keinem wirklichen Gegenstand mehr kongruiert. ›Das Leben‹ wird zu einem Abstraktum, das durch die lebendigen Organismen allenfalls unzureichend repräsentiert ist. Der einzelne Organismus wird nicht als sich selbst organisierend – und damit als Subjekt seiner Existenz – vorgestellt, sondern ist bloßes, zufälliges und austauschbares Element in einem höheren Prozess der Selbstorganisation. Bezieht man nun noch die Wechselwirkungen von Organismen und ihrer Umwelt mit ein, so hat man die Vorstellung einer Biosphäre, die als selbsterhaltendes System funktioniert. Nach Oparin zeige schon das thermodynamische Ungleichgewicht der Organismen, die sich als Systeme entgegen der Entropie erhalten, dass Lebewesen nicht mit isolierten Systemen verglichen werden können.91 Charakteristisch für das Lebendige sei die Wechselwirkung nicht nur seiner Teile, sondern mit der es umgebenden Umwelt. Die Biosphäre wird in der wissenschaftlichen Beschreibung in verschiedene Ökosysteme eingeteilt, die selbstredend im Zusammenhang miteinander stehen.92 Daher ist innerhalb der Biosphäre die Grenze zwischen einem Ökosystem und einem anderen nicht gegeben, sondern muss gesetzt werden. Im Begriff der Biosphäre wird die Bestimmung des Organismus, dass alles wechselseitig Zweck und Mittel von- und füreinander sei, über das konkrete Lebewesen hinaus auf einen abstrakten ›Gesamtorganismus‹ übertragen. Da echte Symbiosen, in denen tatsächlich eine physiologische wechselseitige Abhängigkeit besteht, die seltene Ausnahme sind, werden hierbei jedoch einander bloß bedingende Zusammenhänge zu ei-

91 92

Vgl. Oparin, Leben, S. 14. Auch Kant entwirft das Konzept einer »Weltorganisation« (Kant, OP, XXI, S. 570) aus dem »zweckmäßigen Verhältnis verschiedener Arten deren eine um der anderen Willen da ist« (Kant, OP, XXI, S. 566), als eine »Organisation eines Ganzen aus verschiedenen Species für einander und zu ihrer Erhaltung dienenden organischen Wesen« (Kant, OP, XXII, S. 300). Vgl. Immanuel Kant, Opus postumum, Berlin 1936-38. (Oben zitiert als: Kant, OP).

331

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Dialektik des Lebendigen

ner Einheit hypostasiert; kausale Zusammenhänge werden so teleologisch gedeutet, ohne dass jedoch die innerhalb des Organismus zur Erklärung von Prozessen offenbar heuristisch zwingende Formulierung des ›Um-zu‹ gebraucht würde. So bringen etwa weidende Herden durch das regelmäßige Abfressen von Schösslingen das Grasland hervor, welches sie als ihre Umwelt brauchen, ohne dass Gras und Rind hierbei tatsächlich Teile eines Ganzen sind wie Herz und Lunge. Denn die Einheit des Organismus wird über seine Grenze zwischen ihm und der umgebenden Welt manifest. Das Rind bringt das Gras nicht in gleicher Weise hervor, wie es seine Organe hervorbringt. Grasland mag zwar lebensnotwendig für Rinder sein, es ist jedoch kein Teil von ihnen. Auch wenn ein Rind ohne Ohren oder Hörner überleben kann, nicht jedoch ohne Futter und Wasser, so bedeutet diese physiologische Abhängigkeit nicht, dass das Leben des Rinds als organische Einheit mit Futter und Wasser identisch sei. Die Einheit oder Ganzheit des Organismus lässt sich nicht allein über das Zusammenhängen in einem System bestimmen, denn Systeme finden sich je nach Betrachtung, also je nach Eingrenzung des beschriebenen Zusammenhanges, sowohl innerhalb von Organismen – z.B. die Zelle – als auch über den einzelnen Organismus hinausgehend und ihn als Teil einschließend in Artzusammenhängen oder Ökosystemen. Die Besonderheit der Ganzheit eines lebendigen Organismus muss also durch etwas anderes begründet werden können. Werden Ökosysteme analog zu Organismen als teleologische Einheiten beschrieben, dann werden kausale Auswirkungen aufeinander fälschlich als teleologische Wechselwirkungen gedeutet – wechselseitig einander zugleich Zweck und Mittel zu sein wird zu einer Wechselwirkung im physikalischen Sinne (Rückkoppelungseffekte etc.), d.i. ein Haben kausaler Einflüsse aufeinander. Im Ökosystem wird ein Zusammenwirken von belebter und unbelebter Natur unter einem Zweck zusammengefasst. Dieser Zweck ist vom Menschen gesetzt und je nach Erkenntnisinteresse verschieden, woraus verschiedene Arten von Ökosystemen resultieren. So sind etwa unter dem ökonomischen Zweck der Fischereiwirtschaft andere Faktoren zentral als unter dem der Tourismusbranche, da kleine bunte Fische durch andere Faktoren gefördert werden als große essbare; unter dem Zweck großer Biodiversität wiederum könnte ein Ökosystem als ideal funktionierend beschrieben werden, dass sich weder touristisch noch lebensmittelwirtschaftlich optimal nutzen ließe. Dabei erweist sich die verbreitete Vorstellung des harmonischen, stabilen Gleichgewichts eines Ökosystems als ideologisch, da alle diese Systeme immer notwendig offene bzw. Teilsysteme sind. Zu ihrer Aufrechterhaltung sind bestimmte Bedingungen außerhalb des Systems notwendig, die auf dieses System wirken – wenn ein gesetzter Zweck durch den Menschen die Aufrechterhaltung oder (Wieder-)Herstellung dieses Systems anstrebt, wirkt er aktiv auf dieses von außen ein. Hier hat die Ökologie, also die Lehre vom Haushalt (oikos) der belebten Natur, ihren Ursprung.93 Wieviel Wasser

93

»Unter Oecologie verstehen wir die Lehre von der Oeconomie, von dem Haushalt der thierischen Organismen. Diese hat die gesamten Beziehungen des Thieres sowohl zu seiner anorganischen, als zu seiner organischen Umgebung zu untersuchen, vor allen die freundlichen und feindlichen Beziehungen zu denjenigen Thieren und Pflanzen, mit denen es in directe oder indirecte Berührung kommt; oder mit einem Worte alle diejenigen verwickelten Wechselbeziehungen, welche Darwin als die Bedingungen des Kampfes um’s Dasein bezeichnet« (Ernst Haeckel, »Ueber Ent-

10. Kybernetik und Selbstorganisationstheorien in der Biologie

braucht der Fluss, wenn darin reichlich Forellen leben sollen? Und wieviel Wasser darf folglich wann zur Bewässerung von Anbauflächen abgeleitet werden? Wer hier haushält mit Ressourcen, ist immer der Mensch, nicht die Natur. In der unbearbeiteten Natur gibt es keine Ökosysteme im strengen Sinne, es gibt Prozesse und Veränderungen, Lebensräume für Tiere und Pflanzen, die von ihnen geprägt sind und sich über längere oder kürzere Perioden hinweg stabil erhalten können – oder auch nicht. Anders als im Erkennen des Lebewesens über ein teleologisches Prinzip ist die Annahme teleologischer Ökosysteme nur unter einem ihnen heteronomen Zweck möglich und daher ein bloßer Anthropomorphismus.

10.2.9

Die Grenze der mathematischen Darstellbarkeit in der Biologie94

Die Theorie dynamischer Systeme, die die Bedingungen ihres eigenen Prozessierens reproduzieren, kann belebte ebenso wie nichtbelebte Zustände mathematisch abbilden. Darum kann sie keine Differenz des Belebten vom Nichtbelebten begründen. Sie kann das Spezifische der Organismen nicht erklären, sie kann nur bestimmte Faktoren des Lebens zu einer mathematischen Darstellung bringen – aber sie kann sie nicht mathematisch begründen, wie Koutroufinis und Holste aufzeigen: »Ein so komplexes, sich selbst überlassenes, dynamisches System würde oft Bereiche prinzipiell indeterminierter Dynamik betreten, in denen unmittelbar benachbarte Trajektorien stark voneinander divergieren. Dabei darf man nicht davon ausgehen, daß viele physikalisch mögliche Zustände automatisch Zustände des Lebendigseins sind. Nur eine extrem geringe Anzahl physikalisch möglicher Zustände sind biologisch sinnvoll, denn schon eine geringe Veränderung des physikalischen Gesamtzustands eines Organismus – die im Zustandsraum mit dem Übergang auf einen nicht entfernten Punkt abzubilden ist – kann seinen Tod bedeuten.«95 Es mag zwar ab und an vorkommen, dass Organismen auch ohne erkennbare äußere Störung von innen heraus kollabieren, aber nicht annähernd so oft, wie das mit dynamischen Systemen generell passiert. Nur wenige physikalisch mögliche Zustände dynamischer Systeme erhalten den Organismus in seiner Funktion, d.i. lebendig. Diese realisierte Unwahrscheinlichkeit ist nicht hinreichend erklärt. Nach der in dieser Arbeit aufgezeigten Notwendigkeit, dass das Lebendige nach einem eigenständigen Prinzip begriffen werden will und wird, weist das von Koutroufinis und Holste hier angeführte Indiz schon auf seine Lösung: Nur sehr wenige mögliche stabile Zustände eines dynamischen Systems sind ›biologisch sinnvoll‹ – d.h. der Sinn (die innere Zweckmäßigkeit, das Telos) muss durch ein anderes Prinzip bestimmbar sein, als dem in der Theorie komplexer, dynamischer, sich selbst organisierender Systeme enthaltenen. Mit Hilfe der Selbstorganisationstheorien

94

95

wickelungsgang und Aufgabe der Zoologie«, in: Jenaische Z. Med. Naturwiss. 5, (1870), S. 353-370, S. 365). Der folgende Abschnitt enthält Passagen aus: Christine Zunke, »Künstliches Leben und ratio perversa. Craig Venter als Newton des Grashalms?«, in: Myriam Gerhard/Christine Zunke (Hg.), Die Natur des Menschen. Aspekte und Perspektiven der Naturphilosophie, Würzburg 2012, S. 73-104. Koutroufinis/Holste, Prozeßphilosophie, S. 125 f.

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Dialektik des Lebendigen

und der Kybernetik lässt sich darum nur ein bestimmter Aspekt des Lebendigen darstellen, nicht dieses selbst begreifen. Doch anstatt das Prinzip der Erklärung explizit zu wechseln, versuchen Prozessphilosophien, wie die bekannteste von Whitehead, eine Erklärung zu finden, die anscheinend immanent die hinreichende Bedingung des Lebendigen als Eigenschaft der Materie enthält. Whiteheads Erklärung arbeitet mit der Annahme einer aktiven Spontaneität, einer ›Entscheidung‹ zur ›sinnvollen Realisation‹, die der Sache nach das teleologische Moment enthält, ohne dabei einen Wechsel im Erklärungsprinzip anzunehmen.

10.2.10

Whiteheads Prozessphilosophie – actual entities als Homunculi des Universums

Die organistische Philosophie Whiteheads, die er vor allem in Prozess und Realität. Entwurf einer Kosmologie96 entfaltet hat, ist ein Versuch, der Kosmologie in der Philosophie wieder einen Platz zu verschaffen und sie mit der naturwissenschaftlichen Kosmologie zu verbinden. »Die wissenschaftliche Kosmologie hat viel zur Durchsetzung der Einsteinschen Relativitätstheorie beigetragen. Innerhalb dieser wissenschaftlichen Kosmologie treten jedoch paradoxerweise gerade diejenigen Fragen, die bei Kant als unentscheidbare dem Bereich, in dem positives Wissen abgeschlossen ist, zugewiesen und kritisiert wurden, wieder in den Vordergrund: Ob die Natur im ›Letzten‹ atomar oder kontinuierlich sei, wird im Zusammenhang mit der Quantentheorie wieder diskutiert. Ob das Universum einen Anfang (auch einen Anfang der Zeit) habe, wird im Zusammenhang mit der Relativitätstheorie ebenfalls wieder erörtert. Daß gerade in der ›wissenschaftlichen‹ Kosmologie diese Fragen, die Kant als Metaphysik, die dem Widerstreit der Vernunft mit sich selbst entspringt, kritisierte, im Zusammenhang mit der modernen Wissenschaft wieder aktuell werden, ist ein Hinweis darauf, daß die Unterscheidung zwischen Philosophie und Metaphysik mit den Entwicklungen, die zur Ablösung des neuzeitlichen Weltbildes führten, selbst wieder in Bewegung geraten ist.«97 Die Antinomien entspringen nach Kant dem Widerstreit zwischen dem Vermögen zum Unbedingten (Vernunft, Frage nach der ersten Ursache) und dem Vermögen der Bedingungen (Verstand, Frage nach der Reihe der Ursachen), die beide konstitutiv für die Erkenntnis sind. Da der Anspruch, die Reihe der Bedingungen als vollständig zu denken, den jede Naturwissenschaft implizit haben muss, notwendig zu der Frage nach dem Unbedingten führt, ist es unvermeidlich, dass die physikalische Kosmologie in eben diese Antinomien führt.98 Doch Whitehead missversteht dies, indem er das Auftauchen der Antinomien in der Physik als Indiz dafür nimmt, diese hätten einen Grund im Gegenstand der Erkenntnis, während Kant laut Whitehead die Ursache im Subjekt vermutete. Es sei also an der Zeit, sich die von Kant als Antinomien gefassten Fragen – etwa nach der Existenz kleinster diskreter Teilchen oder einem Anfang der Zeit – in 96 97 98

Alfred North Whitehead, Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie, Frankfurt a.M. 1987. Alois Rust, Die organismische Kosmologie von Alfred North Whitehead, Frankfurt a.M. 1987, S. 4 f. Vgl Kant, KrV, B435 [401].

10. Kybernetik und Selbstorganisationstheorien in der Biologie

einer philosophischen Kosmologie wieder vorzulegen, weil die moderne Physik an verschiedenen Forschungsgebieten immer wieder auf eben diese Fragen stoße; und dies zeige doch, dass es sich nicht ›bloß‹ um einen Widerstreit im menschlichen Erkenntnisvermögen, sondern um ›echte‹ Probleme handele, die nicht im Denken, sondern im Material begründet liegen müssten. In dieser dichotomen Trennung von Subjekt und Objekt der Erkenntnis zeigt sich schon im Entwurf der organistischen Philosophie Whiteheads, was er in anderem Zusammenhang selbst über sie schrieb, nämlich »daß die organistische Philosophie im Großen und Ganzen ein Rückgriff auf vorkantsche Denkweisen ist.«99 Dieser Rückgriff, der gleichzeitig ein Rückschritt ist, geht davon aus, dass Erkenntnis der Gegenstände ursächlich in der Wahrnehmung begründet liege. Entsprechend geht auch sein Naturbegriff nicht auf die Reflexion der Einheit der Erkenntnis, sondern auf die Summe des Wahrnehm- und also Erkennbaren: »Natur ist das, was wir in der Wahrnehmung durch die Sinne zur Kenntnis nehmen. In dieser Sinneswahrnehmung wird uns etwas bewußt, was nicht gedacht und gegenüber dem Denken, dem es vorliegt, eigenständig ist. Diese Eigenschaft, in sich abgeschlossen dem Denken verfügbar zu sein, liegt am Grunde der Naturwissenschaften. Sie bedeutet, daß man sich die Natur als geschlossenes System denken kann, dessen wechselseitige Beziehungen nicht die Darlegung der Tatsache erfordern, daß über sie nachgedacht wird.«100 Darum, so Whitehead, könne die Naturwissenschaft homogen über die Natur nachdenken, also ohne Reflexion auf den Erkenntnisprozess, und genau hierin liege der Unterschied zur Naturphilosophie, die heterogen über Natur nachdenke, also das Denken über die Natur zum Gegenstand habe. Er sieht im homogenen Naturverständnis der Naturwissenschaften keinen Mangel, weil der Erkenntnisprozess nicht konstitutiv für das Erkannte sei, sondern das Andere zum Denken selbst – die Natur also – schon das sich dem ›sinnlichen Bewusstsein‹ offenbarende Objekt sei. Ungeachtet dieser strikten Trennung des Objekts der Erkenntnis vom erkennenden Subjekt, verwirft Whitehead allen Dualismus, insbesondere die nach ihm willkürliche Gabelung der Natur in belebte und unbelebte. Er knüpft hier an Leibniz an mit der These, dass alle Materie organisiert sei und so auch die Organisiertheit der Lebewesen dieser Grundordnung der Materie selbst entspringe, ohne dass ein besonderes belebendes Prinzip angenommen werden müsse. Da das Lebendige zugleich nicht reduzierbar sei, sucht er ähnliche Phänomene der Organisation in der nicht-biologischen Naturwissenschaft. Er findet sie im Erklärungsmuster von Selbstorganisationstheorien. Hierüber weitet er den Begriff des Organischen auf ›nicht-linear-kausales Verhalten‹ physikalischer Phänomene aus und erweitert so faktisch den Gegenstandsbereich der Biologie in die theoretische Physik hinein – oder umgekehrt. Nach Koutroufinis erfordere die ›sinnvolle‹ Selbstorganisation der Organismen die Fähigkeit zur Entscheidung, die auf eine ›mentale Struktur‹ verweise:

99 Alfred North Whitehead, Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie, Frankfurt a.M. 1987, S. 22. 100 Alfred North Whitehead, Der Begriff der Natur, Weinheim 1990, S. 6.

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»Auf der Basis dieser Überlegungen [dass nur eine extrem geringe Anzahl physikalisch möglicher Zustände biologisch sinnvolle, also lebendige, Systeme darstellten] stellt sich mit Notwendigkeit die Frage, wie es einem Organismus gelingen kann, nur solche möglichen Entwicklungsbahnen einzuschlagen, die für die Regeneration seiner Struktur oder für das Erreichen einer für seine Art typischen Gestalt am Ende seiner Embryogenese stehen. Was erlaubt einem Organismus, die Entgleisung in Bereiche der Desorganisation bzw. der embryonalen Fehlentwicklung zu vermeiden, wenn er oft vor verschiedenen physikalisch gleichberechtigten Möglichkeiten steht und dabei über keine teleologische Geistigkeit verfügt, die ihm erlauben würde, unter diesen Möglichkeiten, eine biologisch sinnvolle Auswahl zu treffen? […] Rein theoretisch ist es denkbar, daß in der fernen Zukunft die Theorie dynamischer Systeme unter dem Einsatz von unvorstellbar leistungsfähigen Großrechnern den modalen Aspekt von Organismen, d.h. die möglichen Wege der physikochemischen Entwicklung ihrer Gesamtzustände, berechnen können wird. Dies umfaßt jedoch nicht den aktualen Aspekt ihrer Entwicklung. Dieser besteht in der Verwirklichung einer extrem geringen Zahl von Möglichkeiten, die zwar aus biologischer Sicht sinnvoll sind, aber nach physikochemischen Kriterien den restlichen, nicht verwirklichten Möglichkeiten gleichberechtigt sind. Die eben umschriebene Verwirklichung ist nichts anderes als eine Entscheidung – im eigentlichen und nicht im metaphorischen Sinne des Wortes. Als solche verlangt sie notwendig nach einem Akt des Bewertens, dessen mentale Struktur noch so primitiv sein kann.«101 Die Theorie dieser primitiven mentalen Struktur, die über ›keine teleologische Geistigkeit verfügt‹, hat Whitehead entwickelt. Diese primitive mentale Struktur, die den Entscheidungsakt zur sinnvollen, weil lebendigen, physikalischen Verwirklichung leistet, zeige eine mögliche Eigenschaft der Materie, nicht bloß an Ursachen, sondern auch an der »Verwirklichung von Sinn«102 orientiert zu sein. Dieses soll kein Neuaufguss des Psychovitalismus sein, wie ihn z.B. der (Al-)Chemist Georg Ernst Stahl103 vertreten hat, weil dieser – wie jeder Vitalismus einschließlich der avancierten Fassung von Driesch – »die Annahme einer im Organismus agierenden realen Entität«104 impliziere, also von einem Dualismus ausgehe, den es zu überwinden gelte.105 Der Dualismus wird in der organismischen Theorie vermieden, indem die Belebtheit als Eigenschaft der Materie selbst ausgewiesen werden soll. Leben, der Wille zur

101

102 103 104 105

Koutroufinis/Holste, Prozeßphilosophie, S. 127. Insbesondere Koutroufinis unternahm den Versuch einer systematischen Darstellung des Whiteheadschen kosmologischen Systems. Ich beziehe mich im Folgenden vornehmlich auf seine (affirmative) Darstellung Whiteheads in dem Band Prozesse des Lebendigen, da in seiner pointierten Rezeption die systematischen Mängel der Whiteheadschen Prozessphilosophie, die ich aufzeigen möchte, besonders deutlich zutage treten. Ebd. Vgl. Georg Ernst Stahl, Über den Unterschied zwischen Organismus und Mechanismus, Halle 1714. Koutroufinis/Holste, Prozeßphilosophie, S. 129. Vgl. Koutroufinis/Holste, Prozeßphilosophie, S. 134.

10. Kybernetik und Selbstorganisationstheorien in der Biologie

formenden Ganzheit – unter welchem Namen auch immer diese besondere Eigenschaft, die die Differenz zwischen belebt und unbelebt markiert, firmiert – trete bei Whitehead nicht wie im Vitalismus zur Materie hinzu, sondern sei ihr schon immer immanent. Diese Überführung des dualistischen Widerspruchs in den neuen Widerspruch, dass Belebtes wie Unbelebtes gleichermaßen belebt sei, findet sich schon bei früheren Theoretikern; am populärsten vielleicht bei Ernst Haeckel: »Als wichtigste Errungenschaft […] betrachten wir die definitive Überzeugung von der fundamentalen Einheit aller Naturerscheinungen, die im Begriffe des ›Monismus‹ ihren einfachsten und klarsten Ausdruck findet. Es fielen jetzt mit einem Schlage die künstlichen Grenzen, die man bisher zwischen anorganischer und organischer Natur, zwischen Tod und Leben, zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft errichtet hatte. Alle Substanz besitzt Leben, anorganische ebenso wie organische; alle Dinge sind beseelt«106 . Ein neues Gewand findet dieser Gedanke in Whiteheads Prozessphilosophie. Whitehead geht von ›primären Entitäten des Universums‹ aus, die nicht Substanz sind, sondern Prozesse, die er actual entities nennt und als ›elementarste Fakten der Wirklichkeit‹ bestimmt. Die erste Ursache sind also Prozesse; dieser Wechsel vom Singular zum Plural bezeichnet sowohl den Bruch mit der philosophischen Tradition als auch zugleich eine Schwierigkeit der Whiteheadschen Theorie, welche als Prinzip materieller Wirklichkeit nicht einen Reflexionsbegriff, sondern tatsächliche, physikalisch wirksame Prozesse des Ursprungs des Universums annimmt.107 Die actual entities sind ihm so denknotwendiges Prinzip und physikalische Prozesse in gleicher Weise. Insofern sind die actual entities nicht das Prinzip, sondern der Homunculus des Universums und so zugleich der Homunculus der Lebewesen. In Folge dieser Überfrachtung generieren sie Eigenschaften, die die naturwissenschaftlichen Möglichkeiten physikalischer Prozesse übersteigen. Koutroufinis fasst die wichtigsten Bestimmungen der actual entities zusammen und gibt hierbei zugleich einen wichtigen Einblick in die Gründe, welche die Whiteheadsche Theorie für die Biologie attraktiv machen.108 Dinge (Ganzheiten) sind nach Whitehead Gesellschaften (societies) von actual entities. Die Differenz zwischen belebten und nichtbelebten Gegenständen (oder lebendigen und nichtlebendigen societies) liege in der Struktur der society begründet, die ihrerseits durch die sie konstituierenden actual entities bestimmt werde.

106 Ernst Haeckel, Kristallseelen, Leipzig 1925, S. VII. 107 Dieses Problem findet sich schon in den ersten Anfängen der Philosophie, in der vorsokratischen Epoche des Übergangs vom Mythos zum Logos, wo bspw. Thales das Wasser zum ersten Prinzip alles Seienden und damit auch zum Prinzip seiner selbst erklärte. Prinzip des empirischen Stoffs und empirischer Stoff zugleich zu sein überforderte das flüssige Element, so dass es sich verdoppelte und in Widersprüche mündete. 108 Vgl. auch Spyridon A. Koutroufinis, Organismus als Prozess. Zur Begründung einer neuen Biophilosophie, Freiburg (Brsg.)/München 2017.

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Dialektik des Lebendigen

»Lebewesen sind besondere societies. Es ist essentiell für das Whiteheadsche Verständnis des Lebendigen, daß eine society nur dann lebendig ist, wenn sie auch actual entities enthält, deren mentaler Pol von besonderer Originalität ist.«109 Diese ›living occasions‹, also lebendigen Ereignisse, erhielten ihre Originalität durch einen kreativen Kern, den ›entirely living nexus‹, der ebenso aus actual entities bestehe wie alles andere auch und sich nur in seiner überaus kreativen Dynamik von anderen Gesellschaften der actual entities unterscheide. Der entirely living nexus wird also als dasjenige gedacht, was die Differenz zwischen Leben und Nichtleben ausmache, als Ursache oder Kern des Lebens, die jedoch insofern von traditionellen Begriffen der Seele oder vitalistischen Annahmen einer belebenden Kraft unterschieden ist, als sie ohne ontologische Differenz zu anderen actual entities gedacht werden können soll, also eine qualitative Differenz begründend, ohne ein qualitativ Differierendes zu sein. Im Bemühen, den Substanzdualismus zu vermeiden, wird die Differenz in das Identische gesetzt: actual entities seien einander gleich, aber manche entschieden sich in ihrer Bildung zu größerer Kreativität und verwirklichten daher ›mehr Sinn‹ in ihren societies, als andere: »Die ›living occasions‹ sind nichts anderes als actual entities; ihre Besonderheit besteht lediglich darin, daß ihre initial aims etwas einführen, das bis zum Zeitpunkt ihres Eintretens weder im nexus noch in der restlichen lebendigen society schon verwirklicht worden ist.«110 Wie die qualitative Differenz des Kreativ-Seins in die actual entity kommt, ist und bleibt Geheimnis ihrer eigenen Spontaneität (über die sie als mental-physische Einheit ja verfügen muss). Dass dies eine qualitative Differenz begründet, ist deutlich: »In Bezug auf die oben erläuterte Problematik, der Entgleisung eines Organismus in Bereiche der Desorganisation, läßt sich, auf der Basis der prozessualen Teleologie der ›living occasions‹ Whiteheads, die Richtung einer Antwort erahnen: Eine einzige actual entity, die ein ›lebendiges Ereignis‹ ist, kann einen Organismus, der am Beginn der Divergenz benachbarter Trajektorien steht, allein durch ihre Manifestation als raumzeitliches Datum bestimmter Beschaffenheit in den einen oder anderen Bereich des Phasenraumes lenken.«111 Die Vorteile dieser Theorie sind offenbar so attraktiv, dass sie über all die hier produzierten Widersprüche hinweghelfen können: »Diese Synthese [aus der biosystemischen Mathematisierung von Organismen und der Whiteheadschen Prozessphilosophie] ist frei von alt metaphysischen Lasten: Denn auf prozessphilosophischer Basis kann die Frage, die jeder Spielart des animistischen Vitalismus essentiell anhaftet – wie eine mentale Substanz mit einer

109 Koutroufinis/Holste, Prozeßphilosophie, S. 145 (Vgl. auch Whitehead, Process and Reality. An Essay in Cosmology, New York 1978, S. 103). 110 Koutroufinis/Holste, Prozeßphilosophie, S. 146. 111 Koutroufinis/Holste, Prozeßphilosophie, S. 147.

10. Kybernetik und Selbstorganisationstheorien in der Biologie

körperlichen interagieren kann –, nicht einmal formuliert werden, da jede actual entity ein bipolarer Prozeß mental-physischer Natur ist.«112 So ist die innere Zweckmäßigkeit des Organismus kein Rätsel mehr, allerdings um den Preis des Verlustes einer prinzipiellen Grenze zwischen Belebtem und Unbelebtem. Die Theorie Whiteheads ist in ihren Grundstrukturen keinesfalls neu, sondern geht auf die Vorstellung eines Weltorganismus zurück, wie sie vor allem im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert in der Philosophie entwickelt wurde. Idee und Erscheinung werden innerhalb der neuplatonischen Lehre durch den Begriff der Entwicklung miteinander verbunden. Die Vielheit der Erscheinungen fällt so nicht mehr in disparate auseinander, sondern wird als Gesamtheit unter der Einheit der Ideen betrachtet. Erst hierdurch werden die mannigfaltigen Erscheinungen als wechselseitig aufeinander bezogene und einander bedingende Glieder einer Ganzheit gedacht. Diese wechselseitige Bedingtheit wird als Belebtheit des Weltalls vorgestellt. »Es gibt somit eine W e l t s e e l e, ein einiges Leben, das alles erfüllt und durchströmt, alles in sich zusammenhält und verknüpft, um die Maschine der gesamten Welt zu einer Einheit zu machen«113 . Diese Vorstellung des Alls als eines Weltorganismus bildet ideengeschichtlich betrachtet den Übergang von der Vorstellung, Naturveränderungen ließen sich nur analog zum menschlichen Handeln durch den Eingriff eines Subjekts erklären, hin zu einem Verständnis der Natur als einer unter durchgängigen Prinzipien bestimmten Gesamtheit.114 Die wechselseitige Bedingtheit der Glieder, welche sich in der Idee des Weltorganismus findet, ist die Voraussetzung des Verständnisses einer durchgehenden kausalen Gesetzlichkeit, so dass jede einzelne Einwirkung auf einen Teil weitere Auswirkungen auf Art und Gestaltung der Gesamtheit haben kann. »Der Begriff des W e l t o r g a n i s m u s, der hier erreicht wird, ist die erste Form, in die der Gedanke der Selbstgenügsamkeit der Naturgesetze sich kleidet. Jetzt kann keine Veränderung mehr durch fremde Willkür – sie sei menschlicher oder ›dämonischer‹ Art – gesetzt werden, wenn sie nicht zugleich durch die e i g e n e n Bedingungen, die in dem momentanen Zustand der Dinge und ihrem inneren Entwicklungsgesetz liegen, bestimmt und vorgeschrieben ist.«115

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Koutroufinis/Holste, Prozeßphilosophie, S. 148. Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim, »De occulta philosophia«, in: Opera, Bd. I, S. 1-499, S. 294, zitiert nach der Übersetzung von Ernst Cassirer, Gesammelte Werke Bd. 2, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Erster Band, Hamburg 1999, S. 173. Auch der Naturalismus von LaMettrie schlug schon, denselben Gedanken folgend, in Idealismus um. Bei LaMettrie muss bereits die Natur moralisch sein, weil der Mensch Moral hat und der Mensch nichts anderes ist als Natur. Folglich hat die Materie als Eigenschaft ein Gewissen und die Fähigkeit zu denken, weil es sonst unerklärlich wäre, wie der Mensch zum Denken und zur Moral in der Lage sein sollte. (Vgl. Julien Offray de LaMettrie, Der Mensch eine Maschine, Berlin 1875, S. 48, vgl. auch die Abgrenzung gegen Leibniz’ Monaden als »beseelte Materie«, ebd. S. 17.) Die Frage, wie Materie zur Bewegung und zum Gefühl (und Denken) kommt, ist laut LaMettrie allerdings nicht zu beantworten. Nur die Tatsache, dass es so ist, sei empirisch festzustellen. Ernst Cassirer, Gesammelte Werke Bd. 2, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Erster Band, Hamburg 1999, S. 173.

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Dialektik des Lebendigen

Soll kein Wechsel im Organisationsprinzip der Materie angenommen und so die Aporie, in welche Kants ›Als-ob‹ führt, vermieden werden, so muss das Organisationsprinzip der Organismen als in dem allgemeinen aller Materie enthalten gedacht werden. Den grundsätzlichen Fehler dieses Ansatzes hat bereits Kant in der Kritik der Urteilskraft aufgezeigt: »[D]ie ganze Schwierigkeit, welche die Frage wegen der ersten Erzeugung eines in sich selbst Zwecke enthaltenden und durch sie allein begreiflichen Dinges umgibt, beruht auf der Nachfrage nach Einheit des Grundes der Verbindung des Mannigfaltigen a u ß e r e i n a n d e r in diesem Produkte; da denn, wenn dieser Grund in dem Verstande einer hervorbringenden Ursache als einfacher Substanz gesetzt wird, jene Frage, sofern sie teleologisch ist, hinreichend beantwortet wird, wenn aber die Ursache bloß in der Materie, als einem Aggregat vieler Substanzen außer einander, gesucht wird, die Einheit des Prinzips für die innerlich zweckmäßige Form ihrer Bildung gänzlich ermangelt; und die A u t o k r a t i e der Materie in Erzeugungen, welche von unserem Verstande nur als Zwecke begriffen werden können, ist ein Wort ohne Bedeutung.«116 Weil diese Autokratie der Materie ein ›Wort ohne Bedeutung‹ ist, kann sie auch nichts erklären. »Daher kommt es, daß diejenigen, welche für die objektiv-zweckmäßigen Formen der Materie einen obersten Grund der Möglichkeit derselben suchen, ohne ihm eben einen Verstand zuzugestehen, das Weltganze doch gern zu einer einigen allbefassenden Substanz (Pantheism) oder (welches nur eine bestimmtere Erklärung des obigen ist) zu einem Inbegriffe vieler einer einigen e i n f a c h e n S u b s t a n z inhärierenden Bestimmungen (Spinozism) machen, bloß um jene Bedingung aller Zweckmäßigkeit, die E i n h e i t des Grundes, herauszubekommen; wobei sie zwar e i n e r Bedingung der Aufgabe, nämlich der Einheit in der Zweckverbindung vermittelst des bloß ontologischen Begriffs einer einfachen Substanz, ein Genüge tun, aber für die a n d e r e Bedingung, nämlich das Verhältnis derselben zu ihrer Folge als Z w e c k, wodurch jener ontologische Grund für die Frage näher bestimmt werden soll, nichts anführen, mithin die g a n z e Frage keineswegs beantworten.«117 Die falsche Auflösung des Widerspruchs provoziert so einen Rückschritt in der Naturphilosophie.118

10.3

Selbstorganisation des Organismus ist kein physikalischer Begriff

In Whiteheads Theorie war die Selbstorganisation der Materie – bei allem spekulativen Überschuss und aller Widersprüchlichkeit – dadurch erklärlich, dass sie auf ein ›Selbst‹,

116 117 118

Kant, KdU, S. 288 [372]. Kant, KdU, S. 288 f [372 f]. Aktuelle Varianten sind neben Whiteheads Prozessphilosophie verschiedene Spielarten der GaiaHypothese oder des Pan-Proto-Psychismus.

10. Kybernetik und Selbstorganisationstheorien in der Biologie

nämlich das der Spontaneität und Kreativität der actual entities, zurückgeführt wurde. Die moderne Naturwissenschaft kann ein solches ›Selbst‹ in der unbewussten Natur nicht annehmen. Dass die Selbstorganisation mangels reflexivem Selbst kein physikalischer Begriff sein kann – und darum auch physikalisch nicht klar definiert werden kann –, wurde abstrakt gezeigt; dies soll nun immanent noch einmal beispielhaft dargelegt werden. So wird etwa in den Texten von Prigogine schnell deutlich – entgegen seiner Intention –, dass der Begriff der Selbstorganisation kein physikalischer ist. Als zweite physikalische (!) Minimalforderung (nach der Irreversibilität) an ein selbstorganisiertes biologisches System formuliert er: »daß wir imstande sein sollten, dem Begriff des Ereignisses Sinn zu verleihen.«119 Dieser Sinn ist eine innere Zweckmäßigkeit, eine reflexive Selbstbezüglichkeit, die Prigogine im Weiteren als »Quelle von Kohärenz« und »gewisse Autonomie«120 bezeichnet, was eindeutig keine physikalischen Eigenschaften sind, sondern Reflexionsbegriffe, die nicht in Naturkausalität abzubilden sind. Da Sinn, Kohärenz und Autonomie in Organismen physikalische Eigenschaften sein sollen, die also als Wirkungen von Ursachen beschrieben werden können sollen, wird das Problem der Entstehung dieser Eigenschaften in den komplexen und langwierigen Verlauf der Entstehungsgeschichte der Organismen verlagert, bzw. in die dritte physikalische Minimalforderung, dass »Evolution durch Mechanismen oder Beziehungen gekennzeichnet ist, die imstande sind, dem Ereignis einen Sinn zu verleihen, von ihm ausgehend neue Kohärenzen herzustellen.«121 In der Mannigfaltigkeit der physikalischen Wechselwirkungen findet so ein Wechsel der Qualität statt, indem ein empirischer Begriff sich zu einem Reflexionsbegriff auswächst. Die Naturwissenschaft ist heute in ihrer empirischen Forschung längst über die relativ starren Kausalvorstellungen, die sich noch bis ins 20. Jahrhundert finden, hinausgewachsen. Vielfache Wechselwirkungen, Verknüpfungen diverser wirkender Faktoren können heute teilweise mathematisch dargestellt werden; so sind nichtlineare, sich selbst ordnende Systeme beschreibbar, bei denen man nicht von mehreren bekannten Systemreiz-Systemantwort-Paaren auf eine unbekannte Systemantwort zu einem gegebenem Systemreiz schließen kann. Gerade dieser Fortschritt in der Darstellbarkeit komplexer Systeme kommt auch der Biologie zugute. Dabei ist klar: einfache UrsacheWirkung-Verknüpfungen sind weder zur Beschreibung des Sonnensystems noch zur Beschreibung von Organfunktionen zureichend. Aber sie können keinen Wechsel in der Qualität begründen, wie er durch Begriffe wie ›Sinn‹ oder ›Kohärenz‹ markiert wird. Die Organisiertheit belebter Körper, die in der Biologie als hochkomplex beschrieben wird, ist jedoch reflexiv: Der Organismus bezieht sich zweckmäßig auf sich selbst. Er steht nicht nur unter gemeinsamen einheitlichen Gesetzen, wie alle Natur, er ist darüber hinaus in seinen Funktionen auf sich selbst, auf seine eigene Perpetuierung ausgerichtet. Ebenso problematisch wie der teleologische Begriff des kohärenten Sinns ist

Ilya Prigogine, »Die physikalisch-chemischen Wurzeln des Lebens«, in: Heinrich Meier (Hg.), Die Herausforderung der Evolutionsbiologie, München 1988, S. 15-52, S. 21. 120 Ilya Prigogine, »Die physikalisch-chemischen Wurzeln des Lebens«, in: Heinrich Meier (Hg.), Die Herausforderung der Evolutionsbiologie, München 1988, S. 15-52, S. 35. 121 Ilya Prigogine, »Die physikalisch-chemischen Wurzeln des Lebens«, in: Heinrich Meier (Hg.), Die Herausforderung der Evolutionsbiologie, München 1988, S. 15-52, S. 21 f. 119

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in diesem Zusammenhang der Begriff der Organisation. Eine Lösung des Teleologieproblems kann nach Verworn darin bestehen, die Organismen nicht als organisierte Wesen zu fassen: »Was man gemeinhin ›Organisation‹ nennt, das ist keine Erfahrung; es ist nur ein ›mystischer‹ Bestandteil, der in die Wissenschaft eingedrungen ist und dessen Ausmerzung eine ihrer wichtigsten Aufgaben bilden muss.«122 Die heutigen Forschungen zeigen, dass der entgegengesetzte Weg eingeschlagen wurde: Mit der mathematischen Darstellbarkeit selbstorganisierender Systeme wurden diese zum Gegenstand der Physik geadelt, ohne dass eine kausale Definition des reflexiven Selbstverhältnisses möglich wäre. »Daran, dass man diesen Begriff [der Selbstorganisation] physikalisch nicht klar definieren kann, zeigt sich, dass es sich nicht um einen rein physikalischen Begriff handelt.«123 Vielmehr seien hier nach Koltermann verschiedene Arten von Analogieschlüssen am Werk, um überhaupt sowohl den Begriff eines bewussten Selbst als auch den einer zielgerichteten Organisation auf per Definition unbewusste und nicht zielsetzende Materie anwenden zu können. Mit dem Begriff der Selbstorganisation wird also vielmehr ein Phänomen benannt, welches sich der Erklärung nach den Prinzipien einer physikalischen Naturwissenschaft grundsätzlich entzieht. Selbstorganisation impliziert Zweckmäßigkeit; sie geht auf die Vorstellung einer Einheit, die sich als System konstituiert, auf den Naturzweck. Selbstorganisationstheorien münden in der Einheit der sich selbst als durchgängig gesetzmäßiges System erhaltenden Ganzheit. Dies ist eine Gestalt der Idee der Einheit der Natur unter Gesetzen124 , des Naturzwecks. Doch ein spezifisch biologisches Naturgesetz lässt sich auch über die Theorien der Selbstorganisation nicht formulieren.

Ernst Cassirer, Erkenntnisproblem, S. 223. Er paraphrasiert hier Max Verworn, Kausale und konditionale Weltanschauung, Jena 1912 bzw. Max Verworn, Die Erforschung des Lebens. Ein Vortrag, Jena 1907. 123 Rainer Koltermann (SJ), Grundzüge der modernen Naturphilosophie, Frankfurt a.M. 1994, S. 72. 124 Vgl. Kapitel 1.1. 122

11. Gibt es biologische Naturgesetze? »Dies würde bedeuten, dass […] die Gesetze des organischen Lebens erst dem nächsthöheren Bereich der Wirklichkeit angehören, der sich zu dem der Quantentheorie ähnlich verhält wie die Quantentheorie zur klassischen Physik.«1

Dass Natur gesetzförmig sei, ist ein notwendiges Axiom jeder Wissenschaft.2 Da es wissenschaftlich abzubildende Ordnungen in der Mannigfaltigkeit des Belebten gibt, ist zunächst anzunehmen, dass es auch spezifische Gesetze des Lebendigen gebe, welche diese Ordnungen stiften. Dennoch erscheint die Suche nach spezifisch biologischen Gesetzen im Gegensatz zu den anderen Naturwissenschaften historisch als eine Odyssee.

11.1

Keine Gesetze der Biologie?

Im Kontrast zum hohen Ordnungsgrad belebter Materie scheinen hier keine spezifischen Naturgesetze zu wirken, die – vergleichbar dem Magnetfeld, das Eisenspäne entlang seines Feldes ausrichtet3 – das Organische in seine geordnete Struktur bringt. Was

1 2 3

Werner Heisenberg, Ordnung der Wirklichkeit, Berlin 2019, S. 104. Vgl. Kapitel 1.1.2. Die romantische Naturphilosophie dachte den Magnetismus – im Versuch einer Rationalisierung vitalistischer Theorien einer belebenden Kraft – als tellurische Kraft, welche als spezifische Kraft der Seele ordnend auf den Organismus wirkt. Ab 1817 gaben beispielsweise Karl August von Eschenmayer, Dietrich Georg von Kieser und Friedrich Nasse die Zeitschrift Archiv für den thierischen Magnetismus heraus, in welcher neben dem Messmerismus auch die Ordnungskraft in Organismen diskutiert wurde. Die Faszination lag darin, dass mit dem Magnetfeld eine ›unsichtbare‹ Ursache angenommen werden konnte, die ohne direkte mechanische Krafteinwirkung als ursächlich für die Erzeugung geordneter Muster angegeben werden konnte. Doch selbst wenn die tellurische Kraft kein wissenschaftlicher Irrweg gewesen wäre, würde sich das Problem einer spezifisch biologischen Ordnungskraft damit nicht lösen lassen, da der Magnetismus (auch) auf nichtbelebtes Metall wirkt.

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Dialektik des Lebendigen

die Biologie in ihren Forschungen hervorbringt, sind zunächst bloße Beschreibungen der gefundenen Ordnungen. Von der (An-)Ordnung der Zellen und Glieder bis zur taxonomischen Ordnung der Arten und sozialen Ordnungen im Gruppenverhalten finden wir Beschreibungen, die jedoch von keinem bekannten Naturgesetz abgeleitet werden können. Vielmehr wird in der Biologie die Notwendigkeit der gefundenen Ordnung über den der jeweiligen Ordnung zugeschriebenen Zweck begründet (›um zu‹). Da die Teleologie kein kausales Naturgesetz stiftet, kommen einige Biologen zu dem Schluss, dass es in der Biologie zwar zu beschreibende (zweckmäßige) Regelmäßigkeiten, aber keine Gesetze im strengen Sinne gebe. So stellte J. J. C. Smart dar, dass die Biologie mit Regelmäßigkeiten und Verallgemeinerungen arbeite, welche zwar bisweilen unter dem Namen ›Gesetze‹ geführt würden – etwa die Gesetze der Mendelschen Vererbung – die aber keine allgemeinen und notwendigen Gesetze seien.4 Auch Ernst Mayr lehnt den Begriff des Gesetzes für die Biologie ab und beschränkt die biologische Arbeit auf das Auffinden von Regeln.5 Viele sogenannte biologische Gesetze erweisen sich als Beschreibungen (mikro-)biologischer Vorgänge, wie etwa »DNA makes RNA makes protein«6 , was Francis Crick das zentrale Gesetz oder auch ›Dogma‹ der Molekularbiologie nannte. Hierzu merkt Bertold Schweitzer an: »Freilich ist die Bezeichnung ›Dogma‹ im letzten Falle recht unglücklich gewählt, denn die Behauptung ist gerade keine dogmatische Festlegung, sondern ein deskriptiver, universeller, potentiell falscher und sogar falsifizierbarer Satz.«7 Nur dort, wo allgemeine Gesetze gelten, bestimmen diese auch belebte Gegenstände, wie in der Biochemie oder den Theorien der Selbstorganisation. Wenn Biologen mit solchen Gesetzen zur Erklärung ihres Gegenstandes arbeiten, sind sie bisweilen versucht, diese als ›biologische Gesetze‹ anzusehen. So nennt z.B. Wuketits Systemgesetzlichkeiten, sofern sie auf Organismen bezogen werden, biologische Gesetzlichkeiten: »Jeder Organismus ist ein komplexes Gefüge (System) von Wechselbeziehungen, biologische Gesetzlichkeit mithin eine Gefüge- oder Systemgesetzlichkeit (vgl. RENSCH 1949, 1961, 1968, 1977, 1979).«8 Doch da das Gesetz abstrakt ist, verändert es seinen Charakter nicht durch den konkreten Gegenstand, der ihm unterliegt. Folglich sind die von der Biologie zur Beschreibung organischer Systeme genutzten Systemgesetzlichkeiten so wenig spezifisch biologisch, wie ein fallender Igel nach einem ›biologischen Fallgesetz‹ auf dem Boden aufschlägt. Was bedeutet es für die Praxis der Biologie, wenn es tatsächlich keine spezifisch biologischen kausalen Gesetze geben sollte? Ändert dies etwas an der Arbeit von Biologen, wenn sie mit Gesetzen der Chemie oder Systemtheorie ihren Gegenstand erforschen und als spezifisch biologische Erkenntnisse nur Regeln, aber keine Gesetze aufstellen?

4 5 6 7 8

Vgl. John Jamieson Carswell Smart, Philosophy and Scientific Realism, London 1963, S. 52 ff. Vgl. Mayr, Entwicklung der biologischen Gedankenwelt, S. 31. Francis Crick nach John Maynard Smith, Biologie, Basel u.a. 1992, S. 38. Bertold Schweitzer, »Naturgesetze in der Biologie?«, in: Philosophia naturalis, 37(2), 2000, S. 367374, S. 368. Wuketits, Biologische Erkenntnis, S. 116.

11. Gibt es biologische Naturgesetze?

Sicherlich nicht, denn genau dies tun sie schon lange und erfolgreich. Ernst Mayr konnte zeigen, dass es für die konkrete Arbeit des Biologen unerheblich ist, ob es biologische Gesetze im strengen Sinne gebe oder ob er es immer nur mit Regelmäßigkeiten (und deren Abweichungen) zu tun habe.9 Dies ist sicherlich richtig. Der Mikrobiologe im Labor muss den Weg von der DNA zum Protein kennen. Ob dies eine Regel oder ein Gesetz ist, erscheint dabei als unwesentlich. Doch für den Begriff der Biologie als Wissenschaft macht dies einen entscheidenden Unterschied, denn wenn es keine Gesetze gibt, dann sind ihre Erkenntnisse nicht notwendig, sondern haben bloß komparative Allgemeinheit. Wenn dies so wäre, dann könnte beispielsweise die Proteinsynthese bei Aliens gänzlich anders ablaufen (sofern sie stattfände), während das Fallgesetz auf ihrem Planeten ebenso gültig wäre, wie auf unserem. Dies wirft auf naturphilosophischer Ebene die Frage auf, ob es sich bei Biologie überhaupt um eine eigenständige Wissenschaft handelt. So fragt Erwin Bauer in Bezug auf die Existenz eigenständiger biologische Naturgesetze: »[G]ibt es eine eigene Wissenschaft vom Leben, die Biologie, oder stellt die Wissenschaft vom Leben nur einen Teil der angewandten Physik und Chemie dar?«10 Denn ohne eigenständige Gesetze, die einen spezifischen Gegenstandsbereich bestimmten, gäbe es keinen wissenschaftlichen biologischen Gegenstand und damit auch keine Biologie.

11.2

Gibt die Evolution ein Gesetz?

Während Darwin in seiner vorsichtigen Art eine mögliche Gesetzförmigkeit des Mechanismus der Evolution bloß andeutete, postulierte Wallace den Evolutionsgedanken als Gesetz, nach dem sich die Arten aus der Umwelt exakt deduzieren ließen. Weil die Organismen sich an ihre Umwelt anpassten, seien sie als deren Wirkung vollständig durch diese als ihre Ursache bestimmt. Die Körperfunktionen und Glieder der Tiere, ihre Sinnesleistung und ihr Bewegungsapparat seien über die evolutionäre Anpassung notwendig genauso verfasst, wie ihr Lebensraum es erfordere: »Es [das Gesetz der Evolution] beansprucht auch deshalb die Superiorität über frühere Hypothesen, weil es das, was existiert, nicht nur erklärt, sondern auch notwendig macht. Das Gesetz zugegeben, und viele der wichtigsten Tatsachen in der Natur können nicht anders gewesen sein, sondern sind fast ebenso notwendige Deduktionen aus demselben, wie es die elliptischen Bahnen der Planeten aus dem Gesetze der Gravitation sind.«11 Diesem Postulat liegt ein falscher Umkehrschluss zu Grunde, zu dem Wallace sich offenbar in seiner Begeisterung über die Erkenntnis des grundlegenden Evolutionsme-

9 10 11

Vgl. Mayr, Entwicklung der biologischen Gedankenwelt. Erwin Bauer, »Inhalt und Methode der theoretischen Biologie«, in: Timirjasoff-Institut (Hg.), Probleme der theoretischen Biologie, Moskau/Leningrad 1935, S. 323-346, S. 327. Alfred Russel Wallace, Über die Tendenz der Varietäten, unbegrenzt von dem Originaltypus abzuweichen (1858), zitiert nach: Gerhard Heberer (Hg.), Darwin-Wallace. Dokumente zur Begründung der Abstammungslehre vor 100 Jahren 1858/59-1958/59, Stuttgart 1959, S. 51.

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Dialektik des Lebendigen

chanismus hinreißen ließ. Indem er die Anpassung des Organismus als einen Prozess begriff, der den von Lyell geschilderten geologischen Veränderungen im Laufe der Erdgeschichte entsprach, wurde ihm offensichtlich, dass die Lebewesen durch die Veränderungen ihrer Umwelt gezwungen waren, sich ebenfalls zu verändern. Doch hierin steckt nur in der Negation eine Notwendigkeit. Wenn sich die Umweltbedingungen in gewissem Maße verändern, kann eine dort lebende Art ihre bisherigen Lebensgewohnheiten nicht fortsetzen. Sie wird aussterben oder sich sukzessive in einer Weise verändern, dass sie sich irgendwie unter den neuen Bedingungen reproduzieren kann. Doch bedeutet dies nicht, dass sich auch umgekehrt die Organstruktur positiv aus der Umwelt ableiten ließe. Ob Tiere beispielsweise bei Zunahme der Temperatur als evolutionäre Anpassungsleistung unter die Erde ziehen, nachtaktiv werden, aussterben, oder organische Kühlmechanismen ausbilden (etwa große Ohren oder Schweißdrüsen), bleibt unvorhersagbar; ganz zu schweigen von der Unmöglichkeit der Vorhersage der jeweils spezifisch vorgenommenen Organmodifikationen, die mit einer dieser Veränderungen der Lebensweise einhergeht. »Lebewesen müssen am Leben bleiben; wie sie dies bewerkstelligen, ist nebensächlich. […] Jede Lösung […] ist gleich gut, es gibt keine optimale Lösung.«12 Da es keine optimale Lösung bei der Frage der bestmöglichen Anpassung an die Umwelt des Organismus gibt, kann es auch keine Notwendigkeit einer bestimmten Variation geben. Erst im Nachhinein, nach der erfolgreichen Anpassung an neue Umweltbedingungen, lässt sich die jeweilige Modifikation in Organismus und Verhalten als ›optimale‹ Anpassung an die neuen Bedingungen begreifen – dieses Begreifen als Anpassung jedoch als eine Ableitung zu denken, welche diese Organstruktur notwendig mache, hieße, das zeitliche Verhältnis der Bedingung der Möglichkeit dieses Verständnisses umzukehren. Der evolutionäre Mechanismus der Anpassung taugt so allenfalls zur negativen Regel, dass eine Art bei stark veränderten Umweltbedingungen nicht in der bekannten Weise weiterexistieren wird. Grundlage für Wallace These, dass sich Arten aus ihrer Umwelt streng deduzieren ließen, war genau genommen gar nicht der Mechanismus der Evolution, sondern die schon seit der Antike beschriebene Beobachtung, dass Arten in ihren Strukturmerkmalen an ihre Umgebung angepasst sind. Neu war die Erkenntnis über den Prozess der Anpassungsleistung, nicht die Angepasstheit an die jeweiligen Lebensbedingungen. So hatte es schon zuvor ähnliche Überlegungen dazu gegeben, ob sich das Verhältnis von Umwelt und organischer Funktionsstruktur als Gesetz begreifen ließe. Denn es ist nicht von der Hand zu weisen, dass etwa die wasserbewohnenden Organismen bei aller Verschiedenheit oftmals gewisse Strukturmerkmale teilen, die sich bei Landbewohnern nicht in dieser Form finden. Mit einer Theorie der Evolution wird dieser Zusammenhang in gewisser Weise noch deutlicher. Denn es stellt sich heraus, dass sich solche Gemeinsamkeiten der Funktionsstruktur auch dort finden lassen, wo eine homologe Entwicklung aufgrund fehlender enger Verwandtschaft auszuschließen ist und wir also

12

Gerhard Roth, »Selbstorganisation – Selbsterhaltung – Selbstreferentialität: Prinzipien der Organisation der Lebewesen und ihre Folgen für die Beziehung zwischen Organismus und Umwelt«, in: Andreas Dress/Hubert Hendrichs/Günter Küppers (Hg.), Selbstorganisation. Die Entstehung von Ordnung in Natur und Gesellschaft, München 1986, S. 149-180, S. 162 f.

11. Gibt es biologische Naturgesetze?

von einer konvergenten Bildung gleichartiger Strukturen aufgrund ähnlicher Lebensbedingungen ausgehen müssen. Die Fledermäuse und die Vögel teilen sich die Flügel nicht aufgrund enger genetischer Verwandtschaft, sondern weil beide fliegen.

11.3

Morphologische Strukturgesetze

Der Begriff Morphologie wurde vor allem von Goethe geprägt, der hierüber Gesetze der Bildung von Grundtypen sowie auch die komplementierenden Gesetze ihrer mannigfaltigen Ausdifferenzierungen finden wollte: »Sie [die Grundlage der Physiologie der Formbildung] zeigt uns die Gesetze, wornach [sic] die Pflanzen gebildet werden. Sie macht uns auf ein doppeltes Gesetz aufmerksam 1. Auf das Gesetz der innern Natur, wodurch die Pflanzen konstituiert werden, 2. Auf das Gesetz der äußern Umstände wodurch die Pflanzen modifiziert werden.«13 Wie bei den Pflanzen, so soll auch bei den Tieren ein idealisiertes Modell oder ein Urbild schematischer Grundtypen gebildet werden, das als Bauplan die räumlichen und funktionellen Relationen der Teile im Ganzen darstellt und so jede einzelne Art in sich enthält. Dabei bezieht Goethe sich auf die Fortschritte der Anatomie, welche zunehmend Strukturgleichheiten bei Menschen und Säugetieren erforscht und auch bei Unterschieden in Größe und Form der Knochen sowohl identische Funktionen als auch die gleichen Regelmäßigkeiten im Bezug der Teile aufeinander festhält, so dass beispielsweise das Karpalgelenk des Pferdes nicht mehr in äußerlicher Analogie zum Menschen als ›Knie‹, sondern als Entsprechung des menschlichen Handwurzelgelenks erkannt wurde. Da diese innere Strukturgleichheit weit mehr als bloße Analogie bedeutet, muss sie sich idealtypisch darstellen lassen und es müssen Gesetze oder Regeln angebbar sein, nach denen sich die Relationen der Teile unter einander bestimmen lassen. Die Morphologie ist also insoweit von der Anatomie verschieden, als bei ihr nicht die Beschreibung der Teile des Organismus im Vordergrund steht, sondern deren relationale Beziehungen, wodurch der Bezug aller Funktionen und Strukturen auf die Ganzheit des Organismus herausgestellt wird. Hieraus soll ein allgemeines Schema abgeleitet werden, das alle Arten unter sich subsumieren kann. »Wie nun aber gegenwärtig bei so vielen trefflichen Vorarbeiten bei täglich fortgesetzten Bemühungen so vieler einzelner Menschen, ja ganzer Schulen, die Wissenschaft auf einmal zur Konsistenz gelangt, ein allgemeiner Leitfaden durch das Labyrinth der Gestalten gegeben ein allgemeines Fachwerk, worin jede einzelne Beobachtung zum allgemeinen Gebrauch niedergelegt werden könne, aufzubauen wäre, scheint mir der Weg zu sein wenn ein allgemeiner Typus, ein allgemeines Schema ausgearbeitet und aufgestellt würde, welchem sowohl Menschen als Tiere unterge-

13

Johann Wolfgang von Goethe, »Vorarbeiten zu einer Physiologie der Pflanzen« (ca. 1797), in: Johann Wolfgang von Goethe, Die Schriften zur Naturwissenschaft, Weimar 1959, LA, Bd. I, 10, S. 135136, S. 135.

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ordnet blieben, mit dem die Klassen, die Geschlechter und Gattungen verglichen, wornach [sic] sie beurteilt würden.«14 Im Anschluss an die Morphologie Goethes (der bei der Formulierung seiner typologischen Gesetze mehr von einem ästhetischen Interesse an der Schönheit in organischen Naturen geleitet wurde, weshalb sie mehr Weisen des Vergleichens darstellen als feste Regeln) formulierte der Anatom und Paläontologe Georges Cuvier ein morphologisches Korrelationsgesetz: »Tout être organisé forme un ensemble, un système unique et clos, dont toutes les parties se correspondent mutuellement, et concourent à la même action définitive par une réaction réciproce. Aucune de ces parties ne peut changer sans que les autres changent aussi; et par conséquent chacune d’elles, prise séparément, indique et donne toutes les autres«15 . Weil der Organismus eine Einheit seiner Teile ist, müssen letztere einander entsprechen; darum kann sich ein Teil des Organismus nur verändern, wenn die strukturell und funktional auf ihn bezogenen Teile sich ebenfalls ändern. Indem die Teile des Organismus notwendig funktional aufeinander bezogen sein müssen, ist die Möglichkeit der Entwicklung von Organen oder Einzelfunktionen durch die anderen Teile des Organismus, mit denen sie zusammen passen müssen, bedingt und indem der Organismus als ganzer in einer bestimmten Umgebung überlebensfähig sein muss, ergeben sich weitere Einschränkungen. In dieser Hinsicht sind mit einem Teil alle anderen zugleich gegeben und hierüber auch Rückschlüsse auf die Umweltbedingungen möglich. »Ist es uns einmal gelungen, die Haupt- und Grundtypen der Lebewesen zu erkennen – und die vergleichende Anatomie weist uns den sicheren Weg zu dieser Erkenntnis –, so wissen wir damit nicht nur, was tatsächlich existiert, sondern auch was miteinander bestehen kann und nicht bestehen kann. Dem induktiven Wissen tritt damit eine Form der Ableitung, der ›Deduktion‹ zur Seite, die auch der biologischen Erkenntnis keineswegs verschlossen ist, sondern die vielmehr nach Cuvier eines ihrer wesentlichen Kennzeichen bildet.«16 Aufbauend auf den anatomischen Gemeinsamkeiten lassen sich also Grundtypen der Organisationsform bilden, die sich dann taxonomisch gruppieren lassen. Vor diesem empirisch gewonnenen Hintergrund ist es dann möglich, auch bei Teilfunden eines neuen Lebewesens durch Vergleich auf seinen ganzen Organismus zu schließen. Aus dem Fund einzelner Knochen lässt sich dann beispielsweise in der Paläontologie ›ableiten‹, wie der Rest des Skelettes angeordnet gewesen sein muss; vom Skelettaufbau lässt sich auf Art und Verteilung der Muskeln, Sehnen und Bänder schließen, von der Beschaffenheit der Zähne auf die Nahrung und auf die Verdauungsorgane, schließlich

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Johann Wolfgang von Goethe, »Versuch über die Gestalt der Tiere« (ca. 1790), in: Johann Wolfgang von Goethe, Die Schriften zur Naturwissenschaft, Weimar 1959, LA, Bd. I, 10, S. 74-87, S. 76. Georges Cuvier, Recherches sur les ossemens fossiles de quadrupèdes, Bd. I, S. 58, 1812; zitiert nach Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie, Artikel: Morphologie, S. 626. Cassirer, Erkenntnisproblem, S. 150.

11. Gibt es biologische Naturgesetze?

durch die Gesamtheit der Funktionen auf den Lebensraum, das Klima, die zur Verfügung stehende Nahrung etc. So ist es möglich, dass wir heute z.B. sehr konkrete Vermutungen über das Aussehen und Verhalten diverser Dinosaurierarten anstellen können. Auch wenn nur unvollständige Skelettfunde vorliegen, können wir eine detaillierte Vorstellung von Größe und Lage ihrer Organe haben, da z.B. Lungenvolumen, Bemuskelung und Darmlänge sich aus dem, was Skelettteile über die Gesamtstruktur und diese über ihre Lebensweise verraten, zumindest annähernd bestimmen lassen. So schließt Jakob von Uexküll in seiner Lebenslehre direkt an Cuvier an, wenn er postuliert, die Biologie »ist eine reine Naturwissenschaft und hat nur ein Ziel – die Erforschung der Baupläne der Lebewesen, ihre Entstehung und ihre Leistung.«17 Diese Strukturverhältnisse des Organischen sind es, die feste Typen von Organismen bilden sollen, und die, wenn sie einmal erkannt sind, den deduktiven Schluss von einem Organ auf die Gesamtstruktur des Organismus ermöglichen. Da die einzelnen Teile eines Organismus zweckmäßig aufeinander bezogen sein müssen, ist es durchaus möglich, notwendige Beziehungen der Teile untereinander zu bestimmen. So lässt sich von der Beschaffenheit der Zähne auf die Nahrung und von dieser auf die Anforderungen des Verdauungssystems schließen; allerdings kann dieselbe Nahrung in verschiedener Weise verdaut werden – z.B. Gras von Wiederkäuern ebenso wie von Tieren mit nur einem Magen. Dass Wiederkäuer ein anderes Gebiss haben, als nichtwiederkäuende Grasfresser, ist nicht bloß nach formaler Zweckmäßigkeit zu erklären. Deutlicher wird dies noch, wenn man sich den Zusammenhang von beispielsweise Verdauungstrakt und Extremitäten anschaut. So findet sich bei Cuvier das Beispiel, dass wir mit dem Wissen um die notwendigen Strukturverhältnisse der Organismen von dem bloßen Abdruck eines gespaltenen Hufes darauf schließen können, dass das Tier, welches ihn hinterließ, ein Wiederkäuer gewesen sein muss.18 Hier wird die Grenze des Prinzips der formalen Zweckmäßigkeit zur Erklärung notwendiger Strukturverhältnisse deutlich, denn die Mägen verweisen zwar darauf, dass das Tier sich in bewachsener Landschaft beim Weiden fortbewegen können muss, aber durch welche Struktur dieser Zweck realisiert wird, ist in keiner Weise aus diesem Prinzip ableitbar. Es ist Resultat empirischer Untersuchungen, dass gespaltene Hufe immer mit einem bestimmten Verdauungstrakt gemeinsam auftreten. Nur abstrakt gilt, was Engels in seinen Notizen zur Dialektik der Natur festhielt: »Die ganze organische Natur ist ein ununterbrochener Beweis der Identität oder Untrennbarkeit von Form und Inhalt. Morphologische und physiologische Erscheinungen, Form und Funktion bedingen einander wechselseitig. Differenzierung der Form (Zelle) bedingt Differenzierung des Stoffs in Muskel, Haut, Knochen, Epithel etc., und Differenzierung des Stoffs bedingt wieder differente Form.«19 Diese ›Gesetze‹ der vergleichenden Morphologie haben sich dennoch in der Anwendung als sehr zuverlässig erwiesen, mit der Einschränkung, dass veränderte Struktu-

17 18 19

Jakob von Uexküll, Die Lebenslehre, Potsdam/Zürich 1930, S. 9. Vgl. Cuvier, Discours sur les révolutions de la surface du globe, et sur les changements qu’elles ont produits dans le règne animal, Paris 1930, S. 102, Nachweis nach Cassirer, Erkenntnisproblem, S. 151. Friedrich Engels, »Dialektik der Natur«, MEW Bd. 20, Berlin 1990, S. 563.

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ren ganz neue Funktionen verwirklichen können, so dass sich nicht von homologen Strukturen auf identische Funktionen schließen lässt, wie insbesondere Étienne Geoffroy St.-Hillaire betonte.20 Umgekehrt kann dieselbe Funktion durch verschiedene Strukturen realisiert werden. Die ›Baupläne‹, ›Strukturpläne‹ oder ›Konstruktionsprinzipien‹ der lebendigen Materie sind immer idealisierte Modelle, die auf Grundlage empirischer Erkenntnisse aufgestellt wurden. Sie sind damit nicht bloße Abstraktionen, sondern vielmehr Ideationen wirklicher Organismen – was im Resultat ihrer Erkenntnis bisweilen verloren ging, worauf insbesondere Weingarten hinweist. »Die Konstruktionsprinzipien für Organismen sind die apriorischen Grundlagen empirischer Rekonstruktionen von ›wirklichen‹ Organismen. Konstruktionsprinzipien und rekonstruierte reale Organismen bezeichnen nicht das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem; d.h. die Konstruktionsprinzipien werden nicht (können nicht) durch Abstraktion aus der Mannigfaltigkeit realer Organismen gewonnen (werden). Die Konstruktionsprinzipien werden vielmehr gewonnen durch Ideation, sie stellen somit Normen dar, die empirisch nie rein realisiert sind (genauso wie Herstellungsnormen für geometrische Formen, z.B. für Dreiecke, die sich unterscheiden von jedem gezeichneten Dreieck). Den Unterschied Abstraktion und Ideation nicht bemerkt zu haben ist das Dilemma der klassischen Morphologie: entweder erwartete sie realistisch die Existenz des Abstraktionsproduktes (Typus oder Bauplan als wirklich existierender Organismus), oder aber sie reduzierte nominalistisch den durch Abstraktion fixierten Typus zu einem letztlich irrelevanten Namen (idealistische Morphologie).«21 Der abstrakte Typus ist gerade kein empirisch wirklicher Organismus und wird so zum Begriff ohne Gegenstand, zum ens rationis, wenn er als ›Urtyp‹ hypostasiert wird. Lediglich im vergleichenden Bezug zwischen wirklichen Organismen hat er seine – immer empirisch bedingte – Legitimität; Realität hat nicht der Urtyp selbst, sondern real sind die Zuordnungen von für sich betrachtet recht verschiedenartigen Organen oder Knochen als der Grundstruktur nach identisch. Dass der Knochenbau des Fledermausflügels auf den der menschlichen Hand abgebildet werden kann und umgekehrt lässt auf eine Gemeinsamkeit schließen, aber nicht auf die Länge und Beschaffenheit derselben Knochenstruktur in einem ›Urtypus‹; dieser bleibt notwendig abstrakt und ideell. Über diese Bildung ideeller ›Typen‹ lassen sich biologische Strukturgesetze bilden, die nicht in chemische oder physikalische Gesetze aufgelöst werden können.22 Hans Mohr stellt am Beispiel der Osmose dar,

20 21 22

Vgl. Étienne Geoffroy Saint-Hilaire, Philosophie anatomique, Paris 1818. Weingarten, Organismen, S. 299. Sicherlich gibt es auch hier Überschneidungen und gewisse Anteile von Gesetzen aus der unbelebten Natur. Wenn z.B. ein gefundener Schädel sehr massiv ist und zudem breite Knochenansätze für Muskeln zeigt, lässt sich sein ungefähres ›Lebendgewicht‹ bestimmen. Hieraus ergibt sich dann ein mechanisches Mindestmaß an Stabilität für Hals, Schultern, Gliedmaßen usw. das angenommen werden muss. Ebenso gibt es in der ›Deduktion‹ des (fossilen) Organismus einen chemischen Anteil, grade wenn es um die anzunehmenden Stoffwechselprozesse geht.

11. Gibt es biologische Naturgesetze?

»daß es möglich ist, auch biologische Gesetze in Form von Gleichungen zu fassen. Auf der anderen Seite gibt es in der Biologie jedoch viele Gesetzmäßigkeiten, bei denen eine mathematische Formulierung nicht angemessen wäre. […] Der Inhalt des sogenannten Embryosacks der Blütenpflanzen stellt eine weibliche Geschlechtspflanze, einen weiblichen Gametophyten dar. Diese Aussage hat […] Gesetzescharakter, da sie ganz allgemein für alle Blütenpflanzen gilt. Dies bedeutet: Wenn mir ein lebendiges System vorgelegt wird, das ich aufgrund einiger vegetativer Merkmale mit Sicherheit zu den Blütenpflanzen zu rechnen habe, so kann ich mit sehr, sehr hoher Wahrscheinlichkeit voraussagen, daß dieses System an bestimmten Stellen der Blüte Embryosäcke ausbilden wird, die weibliche Geschlechtspflanzen enthalten. […] Im biologischen Gesetz will man etwas Allgemeines ausdrücken; man will eine Aussage machen, die für eine Vielzahl von Systemen verbindlich ist. Die Art, wie diese Aussage gemacht wird, ob mathematisch oder nicht, ist dabei zweitrangig.«23 Die Mathematisierbarkeit findet sich bei Mohr dort, wo notwendige physikalisch-chemische Vorgänge beschrieben werden. Dies sind jedoch keine spezifisch biologischen Gesetze. Auch wenn die Osmose in Organismen eine wichtige Funktion bei der Regulation des Wasserhaushalts erfüllt, ist ihr Vorkommen nicht an lebendige Körper gebunden, wie das Osmosekraftwerk in Tofte zeigt. Alle anderen ›Gesetze‹ der Biologie haben diese strenge Notwenigkeit nicht, denn dass etwa die Gehörknöchelchen der Säugetiere mit dem primären Kiefergelenk der Fische homolog sind, ist eine Folge zufälliger evolutionärer Abläufe und Ausdruck der Verwandtschaft der Wirbeltiere untereinander. Daher können wir hierüber »mit sehr, sehr hoher Wahrscheinlichkeit« sichere Aussagen aufgrund der Forschungen der vergleichenden Morphologie machen. Wenn man den Hüftknochen eines noch unbekannten Tieres findet, wird man zunächst davon ausgehen, dass es Extremitäten besaß, sonst wäre die Struktur der Hüfte sinnlos. Doch es handelt sich auch hierbei bloß um Regeln; die Hüftknochen könnten auch ein Relikt sein, wie es bei Riesenschlangen zu finden ist. Die Wahrscheinlichkeit solcher Regeln kann je nach Gegenstand höher oder geringer sein. Von der Regel, dass Eisvögel sieben Küken haben, gibt es deutlich mehr Abweichungen als von der Regel, dass Säugetiere über sieben Halswirbel verfügen; Ausnahmen kommen in beiden Fällen vor.24 In den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelte sich eine theoretische Morphologie, die durch computergestützte Simulation bekannter morphogenetischer Prozesse und durch die spekulative Konstruktion von »theoretical morphospaces«25 mögliche Organismen unter möglichen Umweltbedingungen konstruierte.

23 24

25

Mohr, Gesetz, S. 38. Die bekannteste Ausnahme von dieser Regel sind Faultiere, die acht bis zehn Halswirbel haben – allerdings nur, wenn man Halswirbel dadurch definiert, dass sie oberhalb des Schultergürtels liegen und keine Rippen aufweisen. Im Gegensatz hierzu hat ein Forschungsteam 2010 die These aufgestellt, dass es sich bei den untersten zusätzlichen Halswirbeln der Faultiere um nach oben verschobene, rippenlose Brustwirbel handelt, so dass auch diese Tiere nur über den üblichen Satz von sieben Halswirbeln verfügen. Vgl. Lionel Hautier/Vera Weisbecker/Marcelo R. Sánchez-Villagra/ Anjali Goswami/Robert J. Asher, »Skeletal development in sloths and the evolution of mammalian vertebral patterning«, in: PNAS November 2, 2010, 107 (44), S. 18903-18908. George R. McGhee Jr., Theoretical Morphology: The Concept And its Applications, New York 1992, S. 2.

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Dialektik des Lebendigen

»What is understood as theoretical morphology today, however, was generally not feasible until the advent of the computer. Two quite different conceptual areas of evolutionary biology are understood today under the umbrella term of theoretical morphology: (1) the mathematical simulation of organic morphogenesis and (2) the analysis of the possible spectrum of organic form via hypothetical morphospace construction.«26 Zwar sind hierüber keine exakten Vorhersagen der künftigen evolutionären Entwicklungen unter sich weiter verändernden Umweltbedingungen möglich, aber es können immerhin Szenarien aufgestellt werden, die auf Grundlage der bekannten Zusammenhänge von Struktur- und Funktionsveränderungen in Organismen den Charakter eines wissenschaftlich fundierten science fiction haben.27

11.3.1

Die Vorhersage der Süßlupine: Vavilovs Gesetz der homologen Reihe

Nach Cuviers These, dass die Funktionen in Organismen sich nicht einzeln, sondern nur im Gesamtzusammenhang entwickeln können und so die Bandbreite von möglichen Variationen in bestimmten Grundtypen beschränkt ist, müssten auch umgekehrt bestimmte Variationen mit statistisch zu bestimmender Häufigkeit in nahe verwandten Arten auftreten. Im Jahr 1920 formulierte Nikolai Iwanowitsch Vavilov diesen Gedanken als das Gesetz der homologen Reihen in der erblichen Veränderung der Pflanzen auf dem Dritten Allrussischen Kongress für Züchtungsforschung in Saratow. Dieses Gesetz besagt, dass bei verwandten Arten gleichartige Variationen auftreten.28 Auf seinen Expeditionen untersuchte Vavilov vor allem Kulturpflanzen und stellte fest, dass in parallelen Zuchtlinien zwischen Arten derselben Gattungen oder Familien so zuverlässig analoge Variationen auftreten, dass sich analog schließen lasse, die Eigenschaften noch unbekannter Pflanzengruppen könnten aus den bekannten vorhergesagt werden.29 Hieraus leitete er ein »Periodensystem der Pflanzen« ab, das analog zum chemischen Periodensystem eine systematische Bestimmung der Formen und Eigenschaften noch zu entde26 27 28

29

George R. Mc Ghee Jr., Theoretical Morphology: The Concept And its Applications, New York 1992, S. 1 f. Vgl. Kapitel 11.7.2. Vgl. Nikolai Iwanowitsch Vavilov, »The law of homologous series in hereditary variation«, in: Journal of Genetics 12, 1922, S. 47-89. Dieser Gedanke findet sich auch schon in Darwins Entstehung der Arten, wo er im fünften Kapitel Beispiele für analoge Variationen bei Tauben aufzeigt. Vgl. Darwin, Entstehung der Arten, S. 196 ff. »Die genetisch nahe verwandten Arten und Gattungen zeichnen sich durch homologe Reihen in der erblichen Variabilität mit solch einer Regelmäßigkeit aus, daß wir aufgrund der Vielfalt von Formen innerhalb einer Art auf das Vorhandensein von Parallelformen auch in anderen schließen können. Je enger dabei die Verwandtschaftsbeziehungen von Organismen sind, um so vollständiger ist die Ähnlichkeit in den Reihen ihrer erblichen Variabilität.« (Nikolai I. Vavilov, Botanischgeographische Grundlagen der Selektion, ohne Ort 1935. Leider hatte Vavilov unter Stalin politische Differenzen mit Lyssenko, der ihm neben der Beschäftigung von Intellektuellen in seinem Forschungsinstitut auch eine antidarwinistische Haltung vorwarf. Worin auch immer diese begründet gewesen sein mag, Vavilov kam ins Gefängnis und verstarb. Seine Schriften sind seither schwer zu bekommen, weshalb das obige Zitat leider weder genauer ausgewiesen noch nachgeprüft werden konnte, hier zitiert nach Grüner Anzeiger 6/2007 (Hamburg): https://www.grueneranzeiger.de/ Seiten/Artikel/Vavilov.html, zuletzt aufgerufen am 6.11.2021).

11. Gibt es biologische Naturgesetze?

ckender Pflanzen ermöglichten sollte. Die statistische Häufigkeit der zu erwartenden Variationen sollte mit Hilfe der Gesetze der Mendelschen Vererbung bestimmt werden. Wenn tatsächlich die genetischen Zusammenhänge dieses Phänomens erkannt würden, wäre dies ein qualitativer Fortschritt der taxonomischen Ordnung – so, wie es durch das Periodensystem in der Chemie möglich war, die Existenz bestimmter noch unbekannter Elemente mit Gewissheit vorauszusagen und diese dort, wo sie empirisch nicht auffindbar waren, künstlich zu erzeugen (Transurane), so ließen sich auch Organismen nach einem Ordnungsprinzip ableiten und zumindest der Möglichkeit nach auch herstellen. Doch der erfolgreichste Beweis von Vavilovs Gesetz der Parallelvariationen wurde nicht theoretisch, noch nicht einmal genetisch geführt. Gestützt auf das Gesetz der homologen Reihe stellte Erwin Baur 1927 die These auf, dass es natürliche alkaloidfreie Exemplare der gelben Lupine geben müsse, da sich in der Familie der Fabuceae (Hülsenfrüchte) Exemplare ohne Alkaloide fänden. Im politischen Streben nach einer autarken Landwirtschaft, in der die Süßlupine das Soja ersetzen sollte, stellte das deutsche Reichsministerium ausreichend Gelder und Infrastruktur bereit, so dass Reinhold von Sengbusch am Kaiser-Wilhelm-Institut ein Alkaloidnachweisverfahren entwickeln konnte, mit dessen Hilfe man die ungiftigen Exemplare der Lupine fand. Nachdem 1,2 Millionen Pflanzen geprüft worden waren, kam 1930 die Süßlupine auf den Markt. In seinem Buch Die Süßlupine. Natürlicher Organismus, technisches Artefakt oder politisches Manifest? schreibt Thomas Wieland: »Hervorzuheben ist, daß man die Süßlupine einem technischen Messverfahren verdankte, ohne das sie nicht mehr als eine Spekulation geblieben wäre.«30 Für die Frage nach Gesetzen der Biologie ist es andersherum hervorzuheben, dass die Süßlupine zuerst eine Spekulation war, weshalb man sie gezielt finden konnte. Sie ist keine Züchtung, bei der möglichst bitterstofffreie Exemplare solange miteinander vermehrt wurden, bis ein ungiftiges Exemplar entstand. Theodor Roemer hatte entsprechende langwierige Zuchtversuche Jahre vor Baers kurzfristigem Erfolg aufgegeben.31 Doch vermarktet und wahrgenommen wurde Baers Süßlupine fälschlicher Weise als Produkt der modernen Genetik (die damals noch tief in der rudimentären Grundlagenforschung steckte), weshalb das erkenntnistheoretisch interessante Moment von der Biologie unbeachtet blieb. Die Süßlupine ist ein Phänotyp niedriger Frequenz, der als natürliche Besonderheit unter Lupinen immer mal wieder vereinzelt unbemerkt auftritt. Zu einer neuen Kulturpflanze konnte sie nur werden, weil mit der Hypothese von Vavilov, dem ›Gesetz der homologen Reihen in der erblichen Veränderung der Pflanzen‹, ihre Existenz spekulativ angenommen werden konnte, um ein technisches Verfahren zu entwickeln, mit dessen Hilfe diese bislang unbekannte Variation gezielt gesucht, gefunden und vermehrt wurde.32 30

31

32

Thomas Wieland, »Die Süßlupine. Natürlicher Organismus, technisches Artefakt oder politisches Manifest?«, in: Verein Deutscher Ingenieure (Hg.), Technikgeschichte Jahresinhalt 1999 (Bd. 66, Heft 4), S. 295-309, S. 302. Vgl.: Thomas Wieland, »Die Süßlupine. Natürlicher Organismus, technisches Artefakt oder politisches Manifest?«, in: Verein Deutscher Ingenieure (Hg.), Technikgeschichte Jahresinhalt 1999 (Bd. 66, Heft 4), S. 295-309, S. 301. Zu einer Kulturpflanze konnte sie zugleich auch nur darum werden, weil die politische Situation in Deutschland auf einen Krieg hin steuerte und darum in hohem Maße in eine möglichst autarke

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Dialektik des Lebendigen

Es war auf Grundlage der Beobachtungen an verwandten Kulturpflanzen sehr wahrscheinlich, Süßlupinen zu finden; doch da dies eine durch Analogie aufgestellte und keine reine Erkenntnis ist, war ihre Existenz nicht deduzierbar, weshalb auch Vavilovs Gesetz nur eine Regel ist.

11.4

Zur Differenz von biologischer Regel und statistischem Gesetz

Der Mangel an eigenständigen Gesetzen (bzw. die mangelhafte Unterscheidung zwischen Regel und Gesetz) war historisch eine bedeutsame Unterscheidung zwischen der Biologie und den ›strengen‹ Naturwissenschaften Physik und Chemie. Die Biologen leisteten vor allem empirische Feldforschung, deren Forschungsergebnisse beschreibenden Charakter hatten und illustrierten Reiseberichten glichen, wie wir sie von Alexander von Humboldt kennen; aber es gab keinen ernstzunehmenden theoretischen Anteil. Dies wurde insbesondere daran festgemacht, dass es keine Darstellung biologischer Gesetzmäßigkeit in abstrakten Formeln gab, aus denen sich ein organischer Gegenstand oder sein Verhalten (mathematisch) bestimmen ließe. Dass Wissenschaftlichkeit und Mathematisierbarkeit so eng verzahnt sind, hat einen erkenntnistheoretischen Grund. In der Vorrede zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft schreibt Kant: »Ich behaupte aber, daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist. Denn nach dem Vorhergehenden erfordert eigentliche Wissenschaft, vornehmlich der Natur, einen reinen Teil, der dem empirischen zum Grunde liegt und der auf Erkenntnis der Naturdinge a priori beruht.«33 Ohne einen solchen reinen Teil können die gewonnen Erkenntnisse keine Notwendigkeit und also auch keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen. Da die Biologie in Hinblick auf die Mathematisierbarkeit lange nicht über das bloße Zählen von Exemplaren, Wirbeln oder Staubblättern hinauskam, nahm sie eine Sonderstellung ein, da ihr Gegenstand keine strenge Notwendigkeit und Allgemeinheit in den regelhaften Prozessen des Organismus bestimmen konnte. Darum erregten die Mendelschen Gesetze der Vererbung, nachdem sie durch neuere Forschungen von de Vries, Tschermak und Correns mit der Verteilung von Chromosomen an die Nachkommen verbunden werden konnten, große Aufmerksamkeit. Die so formulierten Gesetze der Uniformität, Spaltung oder Unabhängigkeit der vererbten Merkmale beanspruchten dabei eine Notwendigkeit, die sich in einer bestimmten statistischen Verteilung dieser Merkmale in den Folgegenerationen niederschlug. So führt die Notwendigkeit, dass ein dominantes Gen sich gegen ein rezessives durchsetzt, dazu, dass nur der Anteil der Nachkommen, welche dieses Gen nicht geerbt haben, die dominant vererbte Eigenschaft nicht aufweist. Es handelt sich damit also nicht um ein

33

Landwirtschaft investiert wurde. Für das bloße Erkenntnisinteresse eines Botanikers wurden und werden keine Mittel in diesem Ausmaß bewilligt. Kant, MAN, S. 6 (VIII f).

11. Gibt es biologische Naturgesetze?

statistisches Gesetz, sondern um ein strenges Gesetz, dessen Wirkung sich statistisch fassen lässt. Durch die spätere Entdeckung genetischer Phänomene wie extrachromosomale Vererbung oder Genkopplung wurde jedoch davon Abstand genommen, von Vererbungsgesetzen zu reden, so dass heute von Mendelschen Regeln der Vererbung gesprochen wird. Dort, wo die Genetik heute mit Gesetzen arbeitet, handelt es sich um (bio)chemische Zusammenhänge. Die Forderung an die Biologie, sich im Grad der Wissenschaftlichkeit an die anderen Naturwissenschaften anzugleichen, wurde dann zunächst weniger von Seiten der Biologie, als von Seiten der Physik erfüllt. Mit den Theorien von Heisenberg zur Quantenphysik und im Weiteren der Theoreme über nichtlineare Gleichungen (Chaostheorie) wurde die strenge Notwendigkeit und Allgemeinheit unter Naturgesetzen der Newtonschen Mechanik in vielen Bereichen abgelöst durch das Berechnen von Wahrscheinlichkeiten. Hier muss unterschieden werden zwischen zwei Formen. Zum einen finden sich strenge Gesetze, deren Gegenstand begrifflich exakt bestimmt ist, deren empirische Gegenstände jedoch nicht an die Exaktheit des Begriffs heranreichen und somit ein Ergebnis mit einer statistischen Streuung oder einem ›Rauschen‹ produzieren, wie es im Galtonschen Nagelbrett veranschaulicht wird. Hier hat das Gesetz strenge Notwendigkeit, doch das empirische Ergebnis ist statistisch. Zum anderen gibt es Gegenstände, die – auch begrifflich – in sich eine Varianz enthalten, wie z.B. instabile Isotope34 , wobei der Zeitpunkt des Zerfalls für ein einzelnes Isotop nicht vorausgesagt werden kann. Insgesamt lässt sich im molekularen Bereich und im Bereich kleinster Teilchen zwar ein regelhafter statistischer Durchschnitt für Reaktionen angeben, das Verhalten einzelner Teilchen oder Moleküle bleibt jedoch unbestimmt (z.B. Diffusion, Isotopenzerfall etc.). Diese Gesetze sind echte statistische Gesetze, weil ihr Gegenstand eine immanente Varianzbreite des Verhaltens in sich trägt. Natur muss sich im Nachhinein, vom Resultat aus, als durchgängig nach Gesetzen bestimmt und bestimmbar darstellen (lassen)35 – ohne ›Lücken‹ für einen spontanen Eingriff aus Freiheit. Das statistische Naturgesetz bestimmt die gesamte Spannbreite des möglichen Verhaltens einer Art von Gegenständen unter spezifischen Bedingungen. D.h. jedes wirkliche Verhalten muss in Art und Häufigkeit unter diese Spannbreite fallen, auch wenn es sich nicht exakt im Voraus bestimmen lässt. Hierin, die Möglichkeiten des Verhaltens eines Gegenstandes einzuschränken und mit verschiedenen Wahrscheinlichkeiten angeben zu können, liegt der Form nach eine strenge Kausalität von Ursache und Wirkung, die also auch bei statistischen Gesetzen vorausgesetzt ist. Besonders bei statistischen Naturgesetzen ist die Voraussage darum eine, die die Möglichkeit erst retrospektiv in den Bereich des Wirklichen einordnet und keine exakten Vorhersagen im Einzelfall zulässt, sondern lediglich das Unmögliche ausschließt und das Wahrscheinlichste annimmt. In der Masse ergibt dies exakte Werte dafür, wie sich bestimmte Stoffe unter spezifischen Bedingungen verhalten und bestimmt zugleich den möglichen Wert der Abweichung einzelner Teile. Der Diffusionskoeffizient bestimmt

34 35

Von den ca. 3300 bekannten Nukliden werden heute etwa 250 als stabil angenommen. Diese gelten als Ausnahmen, weshalb Isotope traditionell als wesentlich instabil angenommen werden. Vgl. Kapitel 1.

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Dialektik des Lebendigen

das exakte Maß der Beweglichkeit bestimmter Teilchen unter spezifischen Bedingungen, ohne damit die tatsächliche Bewegung eines einzelnen Teilchens vorherzusagen. »Wenn man schon das Maß einer Wirksamkeit bestimmen kann, so darf man nicht mehr in Zweifel sein, daß sie mit Notwendigkeit erfolgt, und man kann eben deshalb die Wirkung in ihrem ganzen Umfange voraussagen.«36 Über die statistischen Naturgesetze in der Physik wurde eine Brücke zur Biologie geschlagen, deren spezifische Gegenstände in ihrem Verhalten in ähnlicher Weise zwar als insgesamt regelhaft, jedoch im Einzelfall spontan erscheinen. Damit scheint die qualitative Differenz hinsichtlich der Mathematisierbarkeit zwischen der Biologie und der Physik aufgehoben worden zu sein – wenngleich in umgekehrter Richtung, als dies im 19. Jahrhundert gefordert und versucht wurde. Ernst Mayr sieht die Gemeinsamkeit von nur statistisch anzugebenden chemischen Reaktionen oder physikalischem Verhalten mit organischen Systemen in der allen gemeinsamen Komplexität: »In der Biologie macht die Vielfältigkeit von Verursachungen und Lösungen die Vorhersage zu einer Sache der Wahrscheinlichkeit, wenn denn derlei Vorhersagen überhaupt möglich sind. Voraussage im umgangssprachlichen Sinn, das heißt das Vorhersagen zukünftiger Ereignisse, ist in der Biologie ebenso mit Unsicherheit behaftet wie in der Meteorologie und anderen naturwissenschaftlichen Bereichen, in denen es um komplexe Systeme geht.«37 Empirisch ist es richtig, dass wie in der Biologie so auch in der Meteorologie und diversen anderen Bereichen exakte Vorhersagen nicht mit Sicherheit gelingen, sogar mathematisch nachweislich unmöglich zu erbringen sind.38 Doch Mayr geht hier aufgrund der Analogie fälschlich von identischen Gründen aus: Der Komplexität des Systems. Dagegen ist einzuwenden, dass die belebten Systeme nicht nur komplex sind, sondern ihnen darüber hinaus eine eigenständige Autonomie oder Spontaneität aufgrund ihrer inneren Zweckmäßigkeit zuzusprechen ist, wie wir sie auch dem komplexesten Wetterphänomen absprechen müssen. Daher liegt die Ursache dafür, dass hier keine exakten Voraussagen möglich sind, nicht allein in der Komplexität des Gegenstandes, sondern in seiner besonderen Qualität begründet. Er kann sich – in gewissen Grenzen – selbst zu etwas bestimmen, ist nicht rein durch äußere Ursachen bestimmt und darum auch nicht hinreichend durch sie bestimmbar. Hinter der formalen Gleichheit zwischen statistischen Gesetzen der Physik und der Biologie verbirgt sich also eine Analogie, die für Identität zu halten zu einem Fehler in der begrifflichen Bestimmung des Gegenstandes führen muss. Elementarteilchen sind einander gleich; die statistische Varianz in ihrem Verhalten ist ihnen immanent und gründet nicht in einer individuellen Verschiedenheit. Makroskopische Körper hingegen weisen individuelle Differenzen auf, auf die ihr unterschiedliches Verhalten zurückzuführen ist. Bei Organismen kommt hinzu, dass ›Verhalten‹ hier eine andere Bedeutung hat als in der Physik: Während dieser Begriff in der Physik die passive Wirkung aus Ursachen gemäß der materiellen Bestimmtheit des 36 37 38

Baer, Zielstrebigkeit, S. 160. Mayr, Philosophie der Biologie, S. 32. Das fängt schon bei der Entdeckung des Dreikörperproblems durch Kepler und Kopernikus an.

11. Gibt es biologische Naturgesetze?

Gegenstandes bezeichnet, bedeutet Verhalten insbesondere in Bezug auf komplexere Organismen die aktive Reaktion auf innere und/oder äußere Reize. Diese steht immer in Relation zur angenommenen Zweckmäßigkeit der Organismen. Darum können Organismen im Gegensatz zu unbelebten Dingen auch verhaltensgestört sein, d.i. ein dysfunktionales Verhalten zeigen. Die Weise der individuellen Abweichungen im Verhalten der Organismen wie bei Elementarteilchen über eine immanente Spannbreite der Reaktionsvarianz erklären zu wollen und als statistisches Gesetz zu formulieren, setzt den mathematischen Durchschnitt der Art an Stelle des Einzelexemplars. Nur hierüber werden die Einzelexemplare dann abstrakt als identisch – wie Elementarteilchen – betrachtbar. Dies verkennt eine qualitative Begriffsdifferenz zwischen Elektron und Exemplar; während alle Elektronen physikalisch identisch gedacht werden müssen, weisen z.B. Katzen lediglich hinreichende Gemeinsamkeiten bestimmter Merkmale auf, um sie unter einer Art zusammenzufassen. Eine analoge Erklärung ihres bloß im Durchschnitt anzugebenden Verhaltens verkennt diese Differenz. Ähnlich ist es mit der Analogie zur Chaostheorie, in der einzelne Moleküle eine Geschichte ihrer Wirkungen haben, aus der nichtidentisches Verhalten resultiert. Hier scheint der Bezug zum Organismus näher zu sein, denn dieser hat – zumindest bei komplexer entwickelten Organismen – (auch) eine Geschichte seiner Erfahrungen. Darum reagiert z.B. die eine Katze auf einen bestimmten Reiz anders, als die andere Katze. Doch das individuelle Verhalten der Organismen ist in seiner Ursache nicht mit einer verschiedenen Wirkungsgeschichte von Molekülen identisch. Denn der Organismus reagiert als Ganzes, in sich Zweckmäßiges und ist dabei in seinen Aktionen und Reaktionen auf diese Zweckmäßigkeit bezogen. Während das statistische Gesetz in der Physik die immanente Varianzbreite des zu erkennenden Gegenstandes fasst, konstruiert die Biologie das Abstraktum eines statistischen Gegenstands. Die biologische Art umfasst die Summe je verschiedener Einzelexemplare, nicht die Menge identischer Teilchen. Auch wenn das Resultat formal identisch erscheint, ist die Ursache hierfür also qualitativ verschieden. Denn wenn der Gegenstand selbst nicht mit sich identisch, sondern bloß abstrakt allgemein ist, kann es keine Gesetze geben, sondern bloß Regeln. Wenn lebendige Organismen wie physikalische Teilchen oder chemische Moleküle in ihren Reaktionen unter statistische Gesetzmäßigkeiten gefasst werden (was unter Abstraktion vom Inhalt formal und empirisch immer möglich ist), dann erscheint die Differenz zwischen Leben und Unbelebtem nicht mehr. In Folge wird die so gewonnene Erkenntnis dem biologischen Gegenstand nicht gerecht. Die Differenz im Prinzip zwischen Belebtem und Unbelebtem erscheint nicht, daher erscheinen statistische Wahrscheinlichkeiten in der Biologie fälschlich als identisch mit solchen in der Physik. Dort, wo es um physikalische/chemische Stoffeigenschaften des Organismus und seiner (Stoffwechsel-)Prozesse geht, trifft die These der Identität zu. Aber bei statistischer Gesetzmäßigkeit von spezifisch nur im Lebendigen anzutreffenden Gegenständen, ist sie bloß analog, d.i. wesentlich verschieden. Sowohl die Diffusion von Gasen als auch das Balzverhalten der Auerhühner lässt sich mit statistischer Wahrscheinlich recht exakt vorhersagen – aber hinter ersterer steht eine physikalische Notwendigkeit, hinter letzterer dagegen die teleologische Notwendigkeit, dass sich die Art zu ihrem

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Dialektik des Lebendigen

Erhalt fortpflanzen muss. Zwei Gase müssen diffundieren, aber Auerhähne müssen nicht tanzen. Es gibt keine kausal determinierte, keine chemische oder mechanische Notwendigkeit zum Balztanz, sondern diese Notwendigkeit ist bloß teleologisch unter dem Zweck der Fortpflanzung gesetzt, deren Ausformung evolutionshistorisch zufällig ist. Wenn zwei Gase sich spontan der Diffusion verweigerten, stünde der Chemiker vor einem Rätsel, dessen Ausmaß nicht nur das Fricksche Gesetz, sondern seine ganze Wissenschaft in Frage stellte. Wenn dagegen Auerhühner nicht gemäß der schematischen Handlungskette aus dem Lehrbuch balzen, sondern sich ohne vorherigen Balztanz paaren oder auch gar kein Sexualverhalten zeigen, diagnostiziert der Biologe lediglich eine Verhaltensstörung; diese kann zwar das Fortbestehen der Auerhühner, aber nicht das der Biologie in Frage stellen. Statistische Gesetze müssen gedanklich bezogen werden auf etwas, das genau diese statistische Verteilung notwendig macht, um eben Gesetze und keine bloßen Regeln zu sein. Im Fehlen auf die dem Maß der statistischen Streuung zugrunde liegende Notwendigkeit unterscheiden sich biologische Regeln grundsätzlich von statistischen Gesetzen in der Physik und Chemie. Das Problem der Biologie, im Gegensatz zur Physik und Chemie keines kausalen Gesetzes fähig zu sein, bleibt also auch unter Einbeziehung statistischer Gesetze und nichtlinearer chaotischer Systeme bestehen. In den meisten Fällen werden darum in der Biologie heute explizit nur Regeln benannt. Die Allensche Proportionsregel (die besagt, dass Extremitäten in kälterem Klima kürzer sind), die Dollosche Regel (nach der Evolution eine irreversible Entwicklung ist) oder die Bergmannsche Regel (der zufolge Tiere in kälterem Klima größer werden) gehen explizit von diversen Ausnahmen aus. Auch das Hardy-Weinberg-Gesetz (das die Allelverteilung in idealen Populationen beschreibt) oder die Mendelschen Gesetze der Vererbung werden heute in den meisten Publikationen zu Recht Regeln genannt.

11.5

Der Versuch, kausale biologische Gesetze aufzustellen, scheitert

Die Frage danach, ob es eigenständige Gesetze der Biologie geben kann, weist auf den Streit zwischen Vitalisten und Mechanisten zurück.39 Dem Mechanismus zufolge reichen die Gesetze der Chemie und Physik hin, um organische Prozesse vollständig zu erklären. Nur der Vitalismus ging von einer spezifischen, ausschließlich im Lebendigen wirkenden Kraft aus, die entsprechend unter eigene Gesetze zu fassen wäre, die im Unbelebten keinen Geltungsbereich hätten. Der Vitalismus scheiterte daran, dass er kein zugrunde liegendes Prinzip beweisen konnte, nach dem sich – analog zum Prinzip der Kausalität – spezifisch biologische Gesetze formulieren ließen. Die Verneinung eigener Gesetze führt auf einen Reduktionismus der Biologie und ihre Auflösung in die Chemie. Insbesondere nach der Entdeckung der DNA-Struktur wurde der Ruf laut, dass die Biochemie – unter dem neuen Namen der Molekularbiologie – der einzig tatsächlich wissenschaftliche Zweig der Biologie sei und sich durch

39

Vgl. Kapitel 8.

11. Gibt es biologische Naturgesetze?

sie die Probleme der bisherigen mangelnden Gesetzförmigkeit in Zukunft lösen ließen.40 Diese Vorstellung stieß unmittelbar auf Gegenstimmen. Nach Zdzisław Kochański stellen »sowohl die bewertenden Begriffe und Urteile wie auch die historischen und teleonomischen Erklärungsarten einen integralen Bestandteil der gegenwärtigen biologischen Sprache dar, während sie weder in der Quantenmechanik noch in anderen Gebieten der Physik oder Chemie anwendbar sind. Wir glauben nicht, dass diese Ausdrücke und Erklärungsarten überflüssig sind oder sich in die Sprache der Quantenmechanik übersetzen ließen. Würde man solche Begriffe einfach eliminieren, müßten ganze biologische Disziplinen ausgeklammert werden.«41 Das ist zunächst eine Beobachtung – es gibt bewertende Begriffe und historische und teleonomische Erklärungsarten in der Biologie – an die sich der Glaube knüpft, sie seien »nicht überflüssig«. Der Grund hierfür wird allerdings von Kochański nicht genannt, weil er in seiner Skepsis gegen transzendentalen Vitalismus die Biologie zwar als eigenständige Naturwissenschaft legitimieren möchte, aber gerade darum sich das Problem stellt, sie auf den empirischen, festen Boden positivistischer Wissenschaft zu gründen. Der Mangel an formalen Gesetzen in der Biologie wird so nicht systematisch aus ihrem teleologischen Prinzip heraus begründet, sondern gerät ihm zum Indiz der »gegenwärtigen Unreife der Biologie«42 . Eine reife Biologie, so lässt sich hieraus schließen, wäre zu eigenständigen nicht-teleologischen Gesetzen fähig und könnte folglich auf die »teleonomischen Erklärungsarten« verzichten. Sie wäre also, im Widerspruch zu Kochańskis Intention und gemäß seiner Ausführungen, letztendlich doch auf die Biochemie reduziert. Ungebrochen aktuell erscheint so, was Nardi in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts schrieb: »Es muß zugegeben werden, daß auch heute noch, trotz unserer tiefsten Einblicke in die kleinsten Einzelheiten nicht nur der lebenden Substanzen, sondern der Materie überhaupt, dem Leben genug Probleme anhaften, die nicht mit physikalischchemischen Gesetzmäßigkeiten zu erklären sind.«43 Die Verneinung der Möglichkeit eigenständiger biologischer Gesetze reduziert die Biologie auf einen Teilbereich der Chemie und löst sie so als eigenständige Wissenschaft auf, indem sie in Konsequenz den Begriff des Lebendigen in Abgrenzung zum Unbelebten negiert. Die Bejahung der Möglichkeit eigener Gesetze der Biologie impliziert die Annahme einer qualitativen Differenz zwischen Belebtem und Unbelebtem über eine Natureigenschaft, welche die Chemie und Physik übersteigt; sonst wäre es keine Eigengesetzlichkeit der Biologie. Beide Varianten stehen im Gegensatz zur Praxis biologischer Forschungen, die heute ohne Annahme einer systematisch und begrifflich

40 41 42 43

Vgl. z.B.: Zdzisław Kochański, »Kann Biologie zur Physiko-Chemie reduziert werden?«, in: Bernulf Kanitscheider (Hg.), Materie-Leben-Geist, Berlin 1979, S. 67-120. Zdzisław Kochański, »Kann Biologie zur Physiko-Chemie reduziert werden?«, in: Bernulf Kanitscheider (Hg.), Materie-Leben-Geist, Berlin 1979, S. 67-120, S. 116. Zdzisław Kochański, »Kann Biologie zur Physiko-Chemie reduziert werden?«, in: Bernulf Kanitscheider (Hg.), Materie-Leben-Geist, Berlin 1979, S. 67-120, S. 118. Francesco Nardi, Organismus und Gestalt. Von den formenden Kräften des Lebendigen, München/Berlin 1942, S. 22.

359

360

Dialektik des Lebendigen

begründbaren qualitativen Differenz des Belebten zum Unbelebten, wie einer vitalistischen Lebenskraft, ihren Gegenstandsbereich faktisch gegen die Chemie und Physik abgrenzt. Dass die Biologie auf teleonomische Erklärungsarten und die entsprechende Sprache nicht verzichten kann und ihr Gegenstand sich nur unzureichend in formalen Gesetzen fassen lässt, liegt in dem Prinzip begründet, das ihren Gegenstandsbereich bestimmt: Das Lebendige als in sich Zweckmäßiges. Wie im Abschnitt über Teleologie gezeigt wurde,44 käme die Biologie ohne die Unterstellung einer Funktion nicht einmal zu ihren Forschungsfragen, geschweige denn zu Ergebnissen. Wie die Lunge funktioniert, der Blutkreislauf aufgebaut ist etc. erschließt sich nur unter der Voraussetzung einer Funktionalität. Wie auch die Entdeckung der DNA-Struktur selbst beweist: »Die Hintergrundannahme, dass die Funktion der Nukleinsäuren die Speicherung und Übermittlung von genetischer Information ist, hat unmittelbar Einfluss auf die Entwicklung von Modellen der Struktur der DNA.«45 Molekularbiologie und Biochemie sind als Garanten der Wissenschaftlichkeit der Biologie trotz der Mathematisierbarkeit ihrer Forschungsergebnisse darum gerade nicht geeignet, denn erst der teleologische Sprachgebrauch verweist auf dasjenige, was eine eigenständige Naturwissenschaft vom Lebendigen begründet: ein eigenes Erklärungsprinzip, das einen Gegenstandsbereich konstituiert.

11.6

Biologische Gesetze müssen sich wesentlich von Gesetzen der Physik und Chemie unterscheiden, indem sie ihren Gegenstand nicht kausal, sondern funktional (teleologisch) erklären

Das Problem der Möglichkeit, Naturgesetze in der Biologie zu formulieren, hängt nach dem bislang Ausgeführten an der teleologischen Form (nexus finalis) des zu beschreibenden Gegenstandes, die in bloß linearer Kausalität von Ursache und Wirkung (nexus effectivus) nicht aufgeht. Dieses Problem ist im Grunde gut bekannt: »Über die exekutive Kausalität hinaus haben wir jedoch angesichts der komplizierten sich in der [belebten] Natur abspielenden Prozesse eine funktionelle Kausalität anzunehmen«46 . Doch zugleich wird der Grund des Problems nicht erkannt, da – nicht allein bei Wuketits – der qualitative Wechsel im Prinzip der Beurteilung nicht reflektiert, sondern stattdessen der nexus finalis als eine Art Erweiterung oder Variante des nexus effectivus vorgestellt wird. Der Kausalitätsbegriff erfährt durch die Biologie eine Erweiterung um die teleologische Form, um zweckmäßige Prozesse naturkausal erscheinen zu lassen, wie wir es oben schon bei Ernst Mayr gesehen haben.47 So heißt es differenzierter bei Wuketits:

44 45 46 47

Vgl. Kapitel 7. Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie, Artikel: Zweckmäßigkeit, S. 817 f. Vgl. auch Schrödingers DNA-Modell in Kapitel 9. Wuketits, Biologische Erkenntnis, S. 117. Vgl. Kapitel 7.4.

11. Gibt es biologische Naturgesetze?

»Hinsichtlich der funktionalen und der teleologischen Erklärung können wir festhalten: Sie sind kausale Erklärungen insoferne [sic], als ihnen – ebenso wie der im engeren Sinne kausalen, d.h. mechanischen Erklärung – ein Kausalitätsschema zugrunde liegt; insofern aber, als mit einer kausalen Erklärung ausschließlich die Analyse von Kausalketten (lineare, exekutive Kausalität) in Verbindung gebracht wird, ist es schon aus terminologischen Gründen gerechtfertigt, für diese zwei Erklärungstypen eigene Bezeichnungen zu wählen.«48 Wuketits differenziert Kausalformen und nennt neben der Kausalität im engen, mechanistischen Sinne, noch die funktionale Leistung und die teleonomische – also zielgerichtete, aber nicht zielintendierte – Zweckmäßigkeit als besondere Kausalformen für die biologische Naturbeschreibung. Dabei wird zur Erklärung der Zweckmäßigkeit nicht auf eine intelligible Ursache für zielintendierte Vorgänge zurückgegriffen, sondern allein der selektive Wert einer Struktur begründe ihre zielgerichtete Leistung, die genetisch fixiert und realisiert werde. »Teleonom sind demnach Strukturen und/oder Funktionen genau dann, wenn sie sich auf der Grundlage genetischer Programme entwickeln bzw. vollziehen, also auf der Basis einer Optimierung der genetischen Informationsprogramme.«49 Biologische Gesetze der Evolution wären damit (genetische) Optimierungsgesetze, die auf das Telos einer optimalen Anpassung des Organismus an seine Lebensbedingungen ausgerichtet wären. Das grundlegende Problem, dass die ›teleonome Struktur‹ respektive Funktionalität nur über einen intelligibel vorauszusetzenden Zweck nach dem nexus finalis, nicht aber nach dem nexus effectivus erkannt werden kann, bleibt hierbei jedoch bestehen. Bei Wuketits Versuch, die Funktionalität organischer Strukturen als ein Epiphänomen naturkausaler Vorgänge zu betrachten, wendet er sich der Sache nach für die Erklärung biologischer Vorgänge vom nexus effectivus ab und dem nexus finalis zu; die Integration des letzteren als bloßes Epiphänomen des Ersteren entlarvt sich so als gescheiterter Versuch, den Wechsel im Prinzip der Erklärung zu kaschieren. In einer Überwindung des klassischen Funktionalismus versuchen Esfeld und Sachse das Problem der Epiphänomene zu umgehen, indem sie zunächst im weitesten Sinne von kausalen Eigenschaften ausgehen, deren spezifische Wirkungen dann als Funktionen in Bezug auf das Ganze von den Einzelwissenschaften beschrieben werden können. In einem zweiten epistemologischen Schritt sollen diese funktionalen Beschreibungen dann sprachlich derart präzisiert werden »dass sie extensionsgleich mit den physikalischen Beschreibungen der Zusammensetzung der entsprechenden Konfiguration sind«50 , so dass eine Ableitbarkeit, aber keine bloße Reduktion auf die Physik stattfände. So werde der »Holismus ausgebaut zu einer umfassenden Metaphysik kausalfunktionaler Strukturen«51 . Zentrales ›Beispiel‹ dieser Vorgehensweise ist die Biologie,

48 49 50 51

Wuketits, Biologische Erkenntnis, S. 122. Wuketits, Biologische Erkenntnis, S. 124. Esfeld/Sachse, Kausale Strukturen, S. 9. Esfeld/Sachse, Kausale Strukturen, S. 11.

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Dialektik des Lebendigen

die »von Strukturen handelt, die kausal durch ihre Funktion anstatt durch ihre physikalische Zusammensetzung definiert sind«52 . Bei der Beschreibung kausaler biologischer Strukturen stellt sich ihnen die Frage, »aufgrund welcher Kriterien wir eine Eigenschaft funktional definieren können. Gemäß der kausalen Theorie von Eigenschaften besteht eine Eigenschaft ganz allgemein darin, bestimmte Wirkungen zu produzieren. Für die Biologie benötigen wir jedoch einen engeren Funktionsbegriff als den aller Wirkungen einer Eigenschaft. Die Funktion einer Eigenschaft im Sinne der Biologie sind deren charakteristische biologische Wirkungen (und Ursachen).«53 Das charakteristisch biologische dieser Ursachen wird nicht begrifflich gefasst (denn dann wären es teleologische Zwecke und Ziele, nicht kausale Ursachen und Wirkungen), sondern in der Darstellung des biologischen Materials veranschaulicht. Am Beispiel des Herzens wird dargestellt, dass seine charakteristische biologische Eigenschaft nicht in Masse, Farbe oder Geräuscherzeugung liegt, sondern darin, Blut durch den Organismus zu pumpen: »[S]o lässt sich die ›Herzfunktion‹ in erster Linie durch das Pumpen von Blut charakterisieren. Die Funktion, ein Herz zu sein, ist demnach durch selektive Vorteile in der Vergangenheit definiert, wodurch auch erklärt wird, weshalb es noch heute Organismen mit Herzen gibt. In diesem Sinn ist der Unterschied zu einer physikalischen Beschreibung evident; Letztere orientiert sich nicht an selektiven Vorteilen oder Ähnlichem.«54 Hiermit haben sie einen qualitativen Sprung vollzogen, der dorthin zurück verweist, wohin die Autoren nicht wollen: In die teleologische Verfasstheit des biologischen Gegenstandes. »Der kausal-dispositionale Ansatz definiert eine biologische Funktion als kausale Disposition, Wirkungen hervorzubringen, die im Zusammenhang mit Fitness stehen.«55 Die Wirkungen, von denen hier die Rede ist, stehen darum »im Zusammenhang mit Fitness«, weil sie im System der Selbsterhaltung eines Organismus funktional sind. Der Organismus wie sein Überleben muss als Telos vorausgesetzt sein, d.h. ohne teleologische Verknüpfung von Organismus und Herz lässt sich der Begriff der Fitness gar nicht denken. Und genau diese implizit vorausgesetzte teleologische Verfasstheit des Organismus stiftet bei Esfeld und Sachse dasjenige, was aus einer ›Wirkung‹ eine ›spezifisch biologische Eigenschaft‹ macht, welche sie jedoch als bloß kausal bezeichnen möchten: »Biologische Eigenschaften zeichnen sich durch ihren jeweiligen Fitnessbeitrag aus, der entsprechend der vorhandenen relevanten Umwelt variieren kann. Es ist somit ein Charakteristikum kausaler biologischer Strukturen, dass sich ihre Funktionalität verändern kann, und es ist ein Vorteil des kausal-dispositionalen Ansatzes, in der Definition biologischer Funktionen sich ständig ändernde Umweltbedingungen berücksichtigen zu können.«56

52 53 54 55 56

Esfeld/Sachse, Kausale Strukturen, S. 10. Esfeld/Sachse, Kausale Strukturen, S. 149. Esfeld/Sachse, Kausale Strukturen, S. 150. Esfeld/Sachse, Kausale Strukturen, S. 151. Esfeld/Sachse, Kausale Strukturen, S. 153.

11. Gibt es biologische Naturgesetze?

Anders ausgedrückt: Weil Organismen unter dem intelligibel vorausgesetzten Zweck der Fitness gedacht werden, darum ist es ein ›Charakteristikum kausal biologischer Strukturen‹, teleologisch zu sein. Nur über die Ausrichtung auf den Zweck für das Ganze des Organismus kann die Variabilität der Funktionalität begriffen werden. So sind Szenarien denkbar (bei Esfeld/Sachse die Diagnostizierbarkeit von Herzfehlern), in denen die Geräuscherzeugung des Herzens zur charakteristischen biologischen Funktion avanciert. Darum erklären die ›extensionsgleichen physikalischen Beschreibungen‹ in diesem Zusammenhang auch nichts, weil sie an der spezifisch teleologischen Struktur des Gegenstandes vorbeigehen müssen. Im Kern ist die Differenz hier also immer noch dieselbe, die sich durch alle betrachteten Versuche zieht, den Begriff des Lebendigen zu klären: Die Kausalität der Natur ist a priori bestimmt durch den nexus effectivus, d.h. die Ursache macht die Wirkung notwendig. Alles Geschehen im Organismus lässt sich hierdurch erklären, aber der Organismus als Ganzheit, auf den hin ausgerichtet dieses Geschehen als funktional begriffen wird, kann hierüber nicht erfasst werden. Dazu brauchte es den qualitativen Wechsel hin zur Beurteilung nach dem nexus finalis, denn der Zweck macht die Wirkung nicht in physikalischer oder chemischer Hinsicht, sondern nur in Hinsicht auf ihn selbst notwendig. Die dringliche Notwendigkeit, dass das Herz seine Funktion erfüllt, besteht im Zweifelsfall genau gegen jene chemischen oder physikalischen Notwendigkeiten, welche Ursache für ein Herzversagen sind. Ersteres ist also eine gänzliche andere Art von Notwendigkeit, denn sie ist notwendig nur bezogen auf den intelligiblen Zweck des Lebens, also teleologisch. Dies hat Auswirkungen auf die Art der Geltung des Gesetzes, das nach dieser Form der Kausalität aus Freiheit (nexus finalis) formuliert wird: Da seine Notwendigkeit auf den immanenten Zweck des Organismus oder der Art bezogen ist, bleibt sie, wie dieser, ideell; wenn die Wirkung der ideell angenommenen Ursache nicht eintritt, hört der Organismus oder die Art auf, zu existieren. Die Notwendigkeit zu stoffwechseln oder sich fortzupflanzen, besteht – aber nicht als eine chemische oder physikalische Notwendigkeit nach dem nexus effectivus, sondern als ideelle Notwendigkeit bezogen auf die in sich teleologische Existenz des Gegenstandes. Wenn ein Körper aufhörte, dem Gesetz der Gravitation zu folgen, würde dies unsere Erkenntnis der Natur radikal in Frage stellen. Wenn dagegen Organismen aufhören, in sich zweckmäßig zu sein, dann sterben sie; hiermit wird kein Gesetz der Natur gebrochen. Darum ist ein Universum ohne den Gegenstandsbereich der Biologie möglich, nicht jedoch ohne die Gegenstandsbereiche der Chemie und Physik.

11.7

Wie an dem Organischen die Vorstellung eines Gesetzes überhaupt verloren geht

In seiner Kritik der Urteilskraft stellt Kant in der Einleitung dar, wie der bestimmenden Urteilskraft das Gesetz der Kausalität als reiner Verstandesbegriff a priori gegeben ist, wie jedoch die mannigfaltigen Formen der Natur hierdurch unbestimmt gelassen werden. Deren Bestimmtheit kann uns nur durch unsere Erfahrung als empirische Naturgesetze gegeben werden (welche alle gemäß des allgemeinen Naturgesetzes der Kausalität

363

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Dialektik des Lebendigen

sein müssen), so dass diese empirischen Naturgesetze in Bezug auf unseren Verstand bloß zufällig sind.57 An dieser Stelle entsteht für Kant die Notwendigkeit eines weiteren Prinzips zur Naturerkenntnis, das kein reiner Verstandesbegriff a priori ist. Denn wenngleich die empirischen Naturgesetze für unsere Verstandeseinsicht bloß zufällig sind, so müssen sie doch von uns als notwendig angesehen werden, da sie, »wenn sie Gesetze heißen sollen (wie es auch der Begriff einer Natur erfordert), aus einem, wenngleich uns unbekannten, Prinzip der Einheit des Mannigfaltigen«58 unter eben diese Einheit gefasst gedacht werden müssen. Ohne einheitsstiftendes Prinzip würden die empirischen Naturgesetze, weil zufällig, als Disparate auseinanderfallen und müssten und könnten nicht untereinander in systematischer Ordnung zu einem einheitlichen System zusammenstimmen, wie der Begriff der Natur es fordert.59 Dasjenige Prinzip, welches diese Einheit stiftet, ist die allgemeine Zweckmäßigkeit der Natur.60 Der Begriff dieser allgemeinen Zweckmäßigkeit der Natur entspringt der reflektierenden Urteilskraft und setzt als Prinzip a priori, dass alle Naturerscheinungen gesetzförmig in einem System zusammenstehend gedacht werden müssen. Während die besondere innere Zweckmäßigkeit des Lebendigen die selbstbezügliche Funktionalität der Organismen umgreift, fasst die allgemeine Zweckmäßigkeit der Natur keine funktionale, sondern eine insgesamt kausal-gesetzförmige Einheit. Der Begriff der Zweckmäßigkeit stiftet eine Einheit, die ihren Umfang aus sich selbst heraus bestimmt. Über diesen Begriff ist es möglich, von einem System, einem Organismus, einer Natur überhaupt zu reden. Ein Zweck ist etwas Intelligibles und daher nicht widerspruchsfrei ohne ein ihn setzendes Subjekt zu denken. Darin allerdings liegt zugleich ein grundlegender Konflikt zum Verständnis von Naturwissenschaft. Denn die Natur ist kein vernünftiges Subjekt – und doch muss sie, wenn es eine systematische Einheit der Naturgesetze geben soll, d.i. wenn Naturwissenschaft möglich ist, unter dem Naturzweck als Einheit gefasst werden. Dies bedeutet nach Kant, die Natur so zu denken, »als ob gleichfalls ein Verstand (wenngleich nicht der unsrige) sie zum Behuf unserer Erkenntnisvermögen, um ein System der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen möglich zu machen, gegeben hätte.«61 In der philosophischen Tradition, die eng mit der theologischen verknüpft ist, wurde oft tatsächlich ein solcher Verstand angenommen, als Bedingung der Einheit und durchgängigen Bestimmtheit sowie Bestimmbarkeit der Natur. Unbewegter Beweger, Gott, aktive Materie, actual entities sind verschiedene Varianten, den Naturzweck, der ein notwendiger Begriff und darum nicht zu umgehen ist, in hypostasierter Form zu bestimmen. Kant erkannte sowohl die Notwendigkeit dieses Begriffes, als auch, dass der Verstand sich mit der Annahme einer tatsächlichen vernünftigen Entität als Ursache der Natureinheit überhebt. Seine Lösung des ›Als-ob‹ wirft die bekannten Probleme auf, verdankt sich jedoch dem großartigen Versuch, weder den Begriff der Einheit der

57 58 59 60 61

Vgl. Kapitel 1.1.2. Zur Diskussion vgl. Kristina Engelhard, »Empirische Naturgesetze bei Kant«, in: Tobias Schlicht (Hg.), Zweck und Natur, München 2011, S. 55-89. Kant, KdU, S. 16 [XXVI]. Darum ist der Welle-Teilchen Dualismus ein Problem. Vgl. Kapitel 1. Vgl. Kapitel 1.1. Kant, KdU, S. 16 f [XXVII].

11. Gibt es biologische Naturgesetze?

Natur aufzugeben (und damit an der Möglichkeit von Naturwissenschaft und Naturerkenntnis festzuhalten), noch die Grenzen desjenigen, worüber unser Verstand urteilen kann, zu überschreiten. Sowohl die Einheit des empirischen Mannigfaltigen und der durch sie gegebenen Naturgesetze zu einem durchgängigen Ganzen (als Naturzweck) als auch die Einheit eines Organismus sind nur unter jenem Prinzip der Einheit möglich, das die reflektierende Urteilskraft sich selbst als Gesetz zur Reflexion gibt. Durch dieses Gesetz wird die Natur nicht bestimmt, es ist also weder ein allgemeines noch ein empirisches Naturgesetz, sondern es bestimmt a priori allein die Reflexion der Urteilskraft auf die Mannigfaltigkeit der Natur oder bestimmte Naturgegenstände als eine Einheit. Kant zufolge kann nur unter diesem Prinzip, die Welt so zu denken, als ob ein Verstand sie als erkennbare eingerichtet hätte, die geleistete Vermittlung von Erkenntnis und zu erkennendem Gegenstand (der immer schon Erscheinung ist) als möglich gedacht werden. Nur unter diesem regulativen Prinzip kann auch der Organismus begriffen und das Belebte vom Unbelebten getrennt werden, indem er gleichfalls von der reflektierenden Urteilskraft als in sich zweckmäßig organisierte Einheit gefasst wird. Das Kantische Problem der Gleichzeitigkeit von Bestimmtheit und Bestimmbarkeit der Welt besteht darin, dass die Bestimmtheit der Welt zu unseren Formen der Anschauung und der Vernunft a priori passen muss. Von der Wirklichkeit der Naturwissenschaft lässt sich zwar auf ihre Möglichkeit und damit auf ein im Resultat gelungenes Vermittlungsverhältnis von Denken und Welt schließen, aber es behält doch letztendlich den Charakter eines Glücksfalles. Hegel löst dieses Problem, indem er von der Erkennbarkeit der Welt durch die Vernunft auf die Vernünftigkeit der Welt schließt. Dieser Schluss wird von Hegel nicht empirisch gewendet – wie dies sowohl in der alten Metaphysik als auch in moderneren Metaphysiken, etwa bei Whitehead oder Theorien des Pan-Proto-Psychismus geschieht –, sondern die Welt ist nach Hegel als Ganzes vernünftig. Subjekt der Vernunft ist allein diese selbst, es findet keine weitere Verlagerung in eine zusätzliche Entität statt. Weil dieser Gedanke, der im objektiven Geist mündet, bei Hegel so abstrakt bleibt, lässt er sich materialistisch wenden: Die Welt ist in sich vernünftig, also logisch, d.h., sie ist in der Sprache der Logik beschreibbar, also mathematisierbar. Dies ist (mit Hegel) die Bedingung der Möglichkeit der Welt, nicht bloß (mit Kant) die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis der Welt.62 Wenn nun eine Wissenschaft nicht vollständig mathematisierbar ist, dann ist ihr Gegenstand nicht aus sich heraus logisch. Er muss jedoch zugleich vernünftig sein, d.i. der Form der Vernunft gemäß sein, sonst wäre es überhaupt kein möglicher Gegenstand der Erkenntnis. Da das Lebendige offenkundig ein möglicher Gegenstand der Erkenntnis ist, muss es auch der Form der Vernunft gemäß sein. Das ist es auch, und zwar in seiner in sich zweckmäßigen Form, die wir analog in jedem Artefakt schaffen und wiedererkennen. Nur ist das Artefakt

62

So löst Hegel die Schwierigkeiten, die das Ding an sich bei Kant mit sich bringt. Zugleich – und hier gilt es Kant gegen Hegel hochzuhalten – ist die Natur nicht ihre Mathematisierbarkeit; eine Sperrigkeit des Anderen zum Denken bleibt notwendig bestehen und tritt uns auch noch in den reinen Naturwissenschaften entgegen, beispielsweise in dem Postulieren von Naturkonstanten.

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Dialektik des Lebendigen

per definitionem kein bloßer Naturgegenstand. Doch wenn ein Naturzweck die oberste Bedingung der Möglichkeit durchgehender Gesetzmäßigkeit und damit von Naturwissenschaft überhaupt ist, dann sollte doch ein in sich zweckmäßiger Teil der Natur innerhalb der Naturwissenschaften keine größeren Probleme bereiten. Leider ist das Gegenteil der Fall, denn im bewusstlosen Selbstbezug ist das Organische nach Hegel wesentlich durch sich selbst bestimmt, nicht durch das ihm Äußere. Als Folge ist im Lebendigen die Notwendigkeit aus der Wirklichkeit herausgetreten. Als Herausgetretene ist die Notwendigkeit, die sich an dem realen Lebewesen nicht findet, »das Gegenteil eines Gesetzes«63 , nämlich die teleologische Beziehung. An dem Organischen geht Hegel zufolge so die Vorstellung eines Gesetzes überhaupt verloren, weil es im Unterschied zum Unbelebten wesentlich nicht über Äußeres, also kausal bestimmt ist, sondern sich teleologisch durch Beziehung auf sich selbst bestimmt.64 Die Besonderheit des Lebendigen ist durch ein Prinzip zu fassen, das als innere Zweckmäßigkeit ein Moment der Freiheit – »organische Freiheit«65 – gegen die Bestimmbarkeit durch Äußeres hat. Was die Biologie oft als einen im Fortschreiten der Wissenschaft zu überwindenden Mangel ansieht, zeigt sich so als eine Notwendigkeit: Die Biologie ist nicht zu eigenen (kausalen) Gesetzen fähig, weil ihr Gegenstand nicht in Kausalverhältnissen aufgeht.

11.7.1

Biologische Regeln sind einsichtig, insofern sie zweckmäßig sind

Das Problem, biologische Gesetze zu finden, liegt also nicht darin, dass es keine Regelmäßigkeiten in den Erscheinungen des Lebendigen gäbe oder dass die gefundenen Zusammenhänge nicht plausibel wären. Gerade die Plausibilität, welche die zweckmäßige Angepasstheit der Organismen für ihr jeweiliges (Über-)Leben hat, verleitet zu dem Fehlschluss, dass man es hier mit (kausalen) Gesetzen zu tun habe, weil jedermann leicht einsieht, dass der Eisbär ein dickes warmes Fell braucht, dass Vögel einen leichten Knochenbau und Federn benötigen und dass die Stromlinienform den Fischen das Schwimmen erleichtert. »Allein solche Gesetze, daß die Tiere, welche der Luft angehören, von der Beschaffenheit der Vögel, welche dem Wasser, von der Beschaffenheit der Fische sind, nordische Tiere ein dickbehaartes Fell haben usf., zeigen sogleich eine Armut, welche der organischen Mannigfaltigkeit nicht entspricht. Außerdem daß die organische Freiheit diesen Bestimmungen ihre Formen wieder zu entziehen weiß und notwendig allenthalben Ausnahmen solcher Gesetze oder Regeln, wie man sie nennen wollte, darbietet, so bleibt dies an denjenigen selbst, welche unter sie fallen, eine so oberflächliche Bestimmung, daß auch der Ausdruck ihrer Notwendigkeit nicht anders sein kann und es nicht über den großen Einfluß hinausbringt; wobei man nicht weiß, was diesem Einflusse eigentlich angehört und was nicht. Dergleichen Beziehungen des Organischen auf das Elementarische sind daher in der Tat nicht Gesetze zu nennen;«66 63 64 65 66

Hegel, Phänomenologie, S. 198. Vgl. Hegel, Phänomenologie, »A. Beobachtende Vernunft«, S. 197 f und S. 211. Hegel, Phänomenologie, S. 197. Hegel, Phänomenologie, S. 197.

11. Gibt es biologische Naturgesetze?

Wie schon oben dargelegt wurde,67 lässt sich die bestimmte Körperstruktur nicht aus der jeweiligen Umgebung ableiten. Es lassen sich allenfalls Strukturen angeben, die ohne weitere Modifikation unter bestimmten Bedingungen eher nicht auftreten können. So finden sich keine Lungenatmer in der Tiefsee (außer tauchende Pottwale), keine dickbehaarten Tiere in heißen Wüsten (außer dem Fennek, der sogar behaarte Sohlen hat, die seine Pfoten vor dem heißen Sand schützen) und keine langsamen, unbeweglichen Jäger (außer Lauerjägern wie etwa der Schnappschildkröte). Und auch diese Regeln, dass Lungenatmer über Wasser und Kiemenatmer unter Wasser leben, beruhen auf der Zweckmäßigkeit der Funktion dieser Organe; aber weder kausal, noch begrifflich stehen anatomische Eigenschaften von Organismen mit ihrer Umwelt in einem Verhältnis strenger Notwendigkeit. »Im Begriffe der Säure liegt der Begriff der Base, wie im Begriffe der positiven die negative Elektrizität; aber so sehr auch das dickbehaarte Fell mit dem Norden oder der Bau der Fische mit dem Wasser, der Bau der Vögel mit der Luft zusammen angetroffen werden mag, so liegt im Begriffe des Nordens nicht der Begriff dicker Behaarung, des Meeres nicht der Bau der Fische, der Luft nicht der Bau der Vögel.«68 Das dickbehaarte Fell wird oft im Norden angetroffen, weil Säugetiere ihre Körpertemperatur konstant halten und gegen die Außentemperatur regulieren müssen. Wenn man einen Moschusochsen oder Eisbären in seiner natürlichen Umwelt rasierte, wäre ihm kalt und er würde erfrieren. Er braucht sein Fell notwendig zum Überleben, das versteht jedes Kind. Diese Einsicht geht jedoch auf die Funktionalität des warmen Fells für den Organismus und enthält kein kausales Gesetz, das sich aus irgendetwas ableiten ließe. Dass es am Nordpol kein flüssiges Wasser gibt, sondern nur Eis, versteht auch jedes Kind. Aber dieser Zusammenhang ist nicht funktional, sondern kausal. Der Nordpol braucht das Eis nicht, es entsteht einfach aufgrund der tiefen Temperaturen mit Notwendigkeit und schmilzt mit steigenden Temperaturen aufgrund der Klimaerwärmung. Die Biologie kann also nur über die innere Zweckmäßigkeit des Organismus einsichtig machen, dass das Fell im konkreten Fall sinnvoll ist, aber sie kann hierüber kein allgemeines Gesetz aufstellen, denn es mangelt dafür zum einen an der begrifflichen oder kausalen Notwendigkeit, und zum anderen spricht auch die Erfahrung dagegen. In Norwegen lassen sich sowohl dickbehaarte als auch unbehaarte Säuger beobachten, etwa Moschusochsen und Orcas. Letztere haben mit ihrer dicken Speckschicht und der Regulierung der Durchblutung der Außenhaut einen anderen Mechanismus entwickelt, um ihre Körpertemperatur gegen die Außentemperatur konstant zu halten, der ebenso einsichtig ist, wie das Fell der erstgenannten, weil er seinen Zweck für den Organismus erfüllt. Weil sie in sich zweckmäßig sind, erscheint in der Natur nichts so sinnvoll und einleuchtend, wie die Organismen in ihren je spezifischen Ausformungen und Leistungen, die sich funktional auf ihre eigene Existenz beziehen. Und grade darum, weil dieser Selbstbezug reflexiv ist und nicht kausal, ist genau dieser Teil der Natur nicht unter allgemeine Gesetze der Natur zu bringen. So kann die Biologie es im Unterschied 67 68

Vgl. 11.3. Hegel, Phänomenologie, S. 197 f.

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Dialektik des Lebendigen

zu denjenigen Naturwissenschaften, deren Gegenstand wesentlich kausal verfasst ist, wie die Beobachtung bei Hegel »nicht über artige Bemerkungen, interessante Beziehungen, freundliches Entgegenkommen dem Begriffe hinausbringen.«69

11.7.2

Die Gesetzlosigkeit der Evolution

Es gibt Versuche, die Evolution zu einem allgemeinen Naturgesetz zu erheben, indem sie als Entwicklungsprinzip auch auf unbelebte Materie angewandt wird. So beschreibt Wuketits eine ›kosmische Evolution‹, die in die biologische Evolution münde: »Wir können heute den Ursprung des Lebens auf der Erde im größeren Rahmen der kosmischen Evolution betrachten, im Rahmen der Entwicklung des Weltalls zu seinen gegenwärtigen, von der Astrophysik und Kosmologie einigermaßen erschlossenen Strukturen und Dimensionen.«70 Wenn der Begriff der Evolution so weit gefasst wird, dass er jedwede Entwicklung (die letztendlich zur Entwicklung des Lebens auf der Erde führte und hierin bei Wuketits ein Telos zu haben scheint) unter sich fasst, dann kommt man zur Formulierung eines abstrakten Prinzips, das an physikalische Theorien anschlussfähig zu sein scheint; doch ist dies dann kein spezifisches Prinzip des Lebendigen, denn dieser weite Begriff Evolution geht auf Veränderungsprozesse im Organischen und Anorganischen gleichermaßen. In der spezifischen Bedeutung der Entwicklung der biologischen Arten steht die Evolution hingegen unter dem Prinzip der Zweckmäßigkeit (oder mit Hegel der ›organischen Freiheit‹). Somit hat die Evolution keine kausalen Gesetze und darum lassen sich ihre Resultate zwar in gewisser Hinsicht plausibel auf frühere Formen zurückführen, aber sie lassen sich nicht aus den früheren Formen – auch nicht unter Bezugnahme auf die sich ändernden Umweltbedingungen – ableiten. »Diese regressiv nur mögliche Analyse, also ausgehend von bekannten, letztendlich rezenten Formen auf deren (mögliche) Vorläufer schließend, erlaubt nicht umgekehrt die Behauptung, daß aus den regressiv erschlossenen Vorläufern mit Notwendigkeit dann die bekannten, fossil oder rezent vorhandenen Organismen haben entstehen müssen; das faktische Vorhandensein impliziert in keiner Weise die Notwendigkeit dieses Vorhandenseins.«71 Prägnanter hatte Marx formuliert: »Die Anatomie des Menschen ist ein Schlüssel zur Anatomie des Affen. Die Andeutungen auf Höhres in den untergeordneten Tierarten können dagegen nur verstanden werden, wenn das Höhre selbst schon bekannt ist.«72

69 70 71 72

Hegel, Phänomenologie, S. 226. Franz M. Wuketits, Grundriß der Evolutionstheorie, Darmstadt 1989, S. 63. Vgl. auch Rupert Riedl, Die Ordnung des Lebendigen. Systembedingungen der Evolution, Hamburg/Berlin 1975, viertes Kapitel. Weingarten, Organismen, S. 125. Karl Marx, Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie, Marx-Engels-Werke 13, Berlin 1968, S. 636. (Im Kontext ist diese Unmöglichkeit der Ableitung des Menschen aus dem Affen eine Metapher dafür, dass sich zwar Momente bürgerlicher Ökonomie rückblickend in früheren Gesellschaftsformen erkennen lassen, es jedoch wesentliche Unterschiede gibt und sie nicht als notwendiger Ent-

11. Gibt es biologische Naturgesetze?

Die Systematik der Evolutionstheorie ist die Geschichte der Arten in Form einer Erzählung, nicht in Form einer Deduktion. Im Laufe der Naturgeschichte entstehen die ermöglichenden oder auch ausschließenden Bedingungen weiterer Entwicklung, aber keine notwendigen Bedingungen zur Entwicklung einer bestimmten Lebensform. In diesem Sinne wird oft auch Darwins Schilderung der Mechanismen des Evolutionsprozesses verstanden: »Evolution versteht Darwin dementsprechend [nach der Selektionstheorie] als eine adaptive Entwicklung und nicht als eine einem bestimmten Naturgesetz folgende Entwicklung.«73 Da die Organismen als in sich zweckmäßige nach dem Prinzip der Teleologie begriffen werden, kann es keine eigenständigen Gesetze der evolutionären Entwicklung geben, aus denen von den Ursachen auf die Wirkungen geschlossen werden könnte. Die Evolution ist also kein Gesetz nach dem Voraussagen der Entwicklung von Organismen möglich wären, wie Wallace es behauptete. Sie beschreibt zwar über Mutation und Selektion die Mechanismen der Veränderungen, aber die spezifische Art der Veränderung ist hiermit nicht zu benennen (geschweige denn abzuleiten), noch nicht einmal, dass es überhaupt Veränderungen notwendig geben müsse. Einige Arten, sogenannte ›lebende Fossilien‹ wie Quastenflosser oder Pfeilschwanzkebse, sind seit langen Zeiträumen unverändert geblieben, obgleich ihr Lebensraum sich durchaus veränderte und auch sie sich prinzipiell jederzeit evolutionär hätten verändern können.74 Die Evolutionstheorie begründet kein geschlossenes System aus Prinzipien, auf denen notwendige und allgemeine Gesetze gründen könnten, und der wissenschaftliche Fortgang der Biologie verdankt sich darum nicht dem Bemühen, ein System nach erkannten Prinzipien zu vervollständigen oder diese zu hinterfragen und zu modifizieren. Während anderen Wissenschaften die Empirie mittlerweile fast ausschließlich zur Verifizierung oder Falsifizierung von Hypothesen dient, die aufgrund bestimmter Systemeigenschaften aufgestellt wurden, sammelt die Wissenschaft des Lebendigen, sobald sie die Schnittmenge, die sie sich mit Chemie und Physik teilt, verlässt, Materialeigenschaften zusammen, um mit diesen dann ein mehr oder minder konsistentes System abzubilden. Während die Chemie also ein Periodensystem aufstellen konnte, das es erst ermöglichte, gezielt nach bestimmten Elementen zu suchen oder diese künstlich zu erzeugen, weil das Prinzip, nach denen Elemente zusammengesetzt sind, erkannt

73

74

wicklungsweg hin zum Kapitalismus gelesen werden dürfen, wie es der Historische Materialismus behauptete.) Myriam Gerhard, »Streit um die Deutungshoheit der Natur: Materialismus-, Darwinismus- und Ignorabimus-Streit«, in: Thomas Kirchhoff/Nicole Karafyllis u.a. (Hg.), Naturphilosophie. Ein Lehrund Studienbuch, Tübingen 2017, S. 66-72, S. 70. Die gängige biologische Erklärung hierfür ist fehlende Spezialisierung als Evolutionsvorteil. Hochspezialisierte Lebewesen sind so gut an ihre Umwelt angepasst, dass schon kleine Veränderungen zu ihrem Aussterben oder Abwandern führen können. Wenn ein Organismus auch durch gewisse Veränderungen hindurch in seinem Lebensraum bleibt und mit den variierten Bedingungen offenbar grundsätzlich klar kommt, ohne die eigene Funktionsstruktur nennenswert zu verändern, dann ist er offenbar nicht spezialisiert, hat beispielsweise ein breites Spektrum an Nahrungsquellen und/oder kommt mit einem breiten Temperaturspektrum zurecht. So kommt es zu dem Widerspruch, dass der evolutionäre Vorteil der perfekten Anpassung an den Lebensraum zugleich ein Nachteil ist et vice versa.

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Dialektik des Lebendigen

wurde, ist ein analoges Vorgehen für die Taxonomie unmöglich.75 Allenfalls retrospektiv können hier sogenannte ›missing links‹ angenommen werden, die die fossilen Lücken in der angenommenen Entstehungsgeschichte heutiger Arten schließen sollen. Alle erdhistorischen oder heutigen Lebensformen lassen sich einigermaßen konsistent in dieses System einordnen, ohne dass zukünftige Lebewesen oder Entwicklungsschritte daraus mit Notwendigkeit und Allgemeinheit abzuleiten wären. Darum erscheint die bloße Präsentation eines empirischen Sammelsuriums plus einiger Interpretationsvorschläge als Ergebnisse biologischer Forschungsarbeit nicht als mangelhaft. Die theoretische Morphologie kann allenfalls organische Formen spekulativ aufstellen, deren künftige Existenz auf Grundlage des heutigen Wissens nicht unmöglich ist. Mögliche Entwicklungen müssen nicht nur die bekannten Gesetze der Physik und Chemie beachten, sondern darüber hinaus bekannten Strukturplänen und Funktionszusammenhängen folgen. Der Anfang der Morphologie bei Goethe weist bereits das Moment realistischer Phantastik auf: »Die Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll. Mit diesem Modell und dem Schlüssel dazu kann man alsdann noch Pflanzen ins unendliche erfinden, die konsequent sein müssen, das heißt: die, wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten und nicht etwa malerische oder dichterische Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben. Dasselbe Gesetz wird sich auf alle übrige Lebendige anwenden lassen«76 . Die dreiteilige Fernsehserie The Future Is Wild77 zeigt ganz in diesem Sinne ›konsequente‹ Organismen auf Grundlage von Forschungen der theoretischen Morphologie und setzt sie in das Szenario einer möglichen künftigen Welt, in der sie sich evolutionär entwickelt haben könnten. Auffallend ist hier, dass die mitwirkenden Wissenschaftler vor der Kamera mehrfach betonen: »This ist not science fiction. All this could be real.«78 Die im Film computergraphisch dargestellten Entwicklungen seien durchaus möglich, denn schon heute gäbe es analoge Entwicklungen bei bekannten Arten. Was sie damit meinen, ist, dass es sich nicht um reine Phantasterei handelt, wie bei Fabelwesen im Fantasy, sondern dass ihre fiction sich tatsächlich auf der Grundlage der science bewegt. In beiden Fällen wird deutlich, dass die angestrebte Objektivität keine Notwendigkeit beanspruchen kann. Die unendlichen zu erfindenden Pflanzen bei Goethe sind dadurch nicht bloßer Schein, dass sie nach demselben Prinzip und Urbild erdacht wurden, welches er den existierenden Pflanzen zu Grunde legt, so dass sie hierin eine ›innerliche Wahrheit‹ erhalten. Die Fiktionen künftiger Lebensformen sollen darum

75 76 77 78

Vavilovs Gesetz der homologen Reihe war ein solcher Versuch, der sich nicht auf ein diese Regel notwendig machendes Prinzip stützen konnte. Vgl. 11.3.1. Johann Wolfgang von Goethe, »Brief von 1787 aus Neapel an Herder«, in: Johann Wolfgang von Goethe, Italienische Reise, München 1962, S. 289 f. Adams/Cadle et al. (Prod.), The Future Is Wild, Erstausstrahlung 02.04.2002, BBC Two. Das Buch Die Zukunft ist wild von J. Adams und D. Dixon erschien ebenfalls 2002 im Egmont Verlag. Ebd.

11. Gibt es biologische Naturgesetze?

nicht bloße science-fiction sein, weil ihre Existenz auf Grundlage der Kenntnisse über morphologische Struktur und Funktionszusammenhänge als möglich gedacht werden kann. Insofern seien sie realistisch (genau dies macht übrigens gute science fiction aus79 ). Die evolutionäre Veränderung der Organismen zur Anpassung an die äußeren Umstände ist also kein kausaler Zusammenhang von Ursache und Wirkung, sondern ihre autonome Eigenleistung nach den Mechanismen von Mutation und Selektion. Dieses aktive Moment ist auch in Darwins Terminus der natürlichen Zuchtwahl benannt.80 Denn der Organismus muss in seiner inneren Organisation lebensfähig sein, und diesen Funktionszusammenhang der Organe können äußere Ursachen nicht herstellen. Umweltfaktoren können rein kausal auf Organismen wirken, wenn sie sie zerstören, aber die Anpassung muss auf eine andere Ursache zurückgeführt werden.

11.7.2.1

Kryptobiologie

Weil Arten sich nicht auseinander unter Berücksichtigung der sich verändernden Umweltbedingungen mit Notwendigkeit ableiten lassen, fällt eine Bewegung wie die Kryptobiologie81 nicht vollständig in die Esoterik, wenn sie unbestätigten Sichtungen oder mythologischen Beschreibungen von Organismen nachgeht, die in der Taxonomie (noch) nicht oder nicht mehr aufgeführt sind. Dabei suchen Kryptobiologen sowohl nach Beweisen für die Existenz dieser Wesen als auch nach Erklärungen, welche ihre Existenz im Rahmen der heutigen Biologie plausibilisieren sollen. So vermutete Ivan T. Sanderson hinter den Yetis eine Reliktpopulation einer unentdeckten Hominiden-Art,82 während Reinhold Messner die Yetis als eine Unterart des Tibetischen Braunbären beschreibt.83 Heute arbeiten Kryptobiologen neben dem praktischen Sammeln von Hinweisen auf Sichtungen bislang unbekannter – meist beeindruckend großer – Tiere oft theoretisch, indem sie versuchen, die biologische Möglichkeit von Drachen, Einhörnern, Bigfoots u.Ä. darzulegen. Hierzu werden die Fabelwesen von allen magischen Kräften bereinigt und es werden analoge Fähigkeiten anderer Spezies herangezogen, um aufzuzeigen, dass beispielsweise ein Drache als fliegendes Reptil möglich wäre.84 79 80 81

82 83 84

Vgl. Stanisław Lem, Science fiction. Ein hoffnungsloser Fall mit Ausnahmen, Hamburg 1987. Vgl. Kapitel 3.4. Und so hält sich das empfehlenswerte Journal Of Cryptozoology an die Einhaltung der gängigen Standards des Wissenschaftsbetriebs (peer review etc.). Vgl. The Jounal Of Cryptozoology Vol.1, Bideford 2012, S. 3. Vgl. Ivan T. Sanderson, Abominable Snowmen: Legend Come to Life, The Story of Sub-Humans on Five Continents from the Early Ice Age Until Today, Philadelphia/New York 1961. Vgl. Reinhold Messner, Yeti – Legende und Wirklichkeit, Frankfurt a.M., 2000. Ein schönes Beispiel zeigt: Justin Hardy (Prod.), Dragon’s World – A Fantasie Made Real, Studio Sony Pictures Home Entertainment, USA 2004. Ein im Stil einer Dokumentation aufgebauter Film über Drachen, die von der Kreidezeit bis ins 15. Jahrhundert in verschiedenen Arten die Erde bevölkerten. Dabei werden Fähigkeiten wie fliegen oder feuerspucken nicht magisch, sondern chemischphysikalisch erklärt und durch teilweise analoge Fähigkeiten bekannter Arten plausibilisiert. Kritik aus den eigenen Reihen richtet sich vor allem gegen die morphologische Inkonsistenz, Drachen als Wirbeltiere mit sechs Gliedmaßen dazustellen. Abstrakt betrachtet wären auch Wirbeltiere mit vier Gliedmaßen nicht mehr oder weniger wahrscheinlich, als welche mit sechs oder acht; innerhalb der existierenden Ordnung ist jedoch das plötzliche Auftauchen einer Art von Wirbeltie-

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Dialektik des Lebendigen

Die Kryptozoologie will aus dem Nachweis der Möglichkeit auf die Wirklichkeit schließen; darum sind sie, wie Goethes aus der Urpflanze abgeleiteten nichtexistenten aber möglichen Pflanzen, um morphologische Konsistenz bemüht. Die grundlegende Differenz besteht allein darin, dass es das eine Tier als Gegenstand der empirischen Wahrnehmung gibt, das andere nicht. So entzieht die Kryptobiologie sich ihren eigenen Gegenstand, sofern ihre Forschungen Erfolg haben, und überführt ihn in die Biologie: aus dem Meeresungeheuer wird ein Riemenfisch, aus dem Yeti ein Bär. Die Kryptozoologie feierte ihren größten Erfolg bei der Erhebung des Riesenkalmars (Architeuthis) aus dem Reich der Fabeln in das Reich der Biologie. Doch ihr Reiz liegt darin, dass die Grenze zwischen dem Wirklichen und dem Möglichen in der Biologie allein durch die (immer begrenzte) Erfahrung gezogen werden kann. Gerade weil sich die Organismen nicht aus einem Prinzip ableiten lassen, sind wir bei dem Nachweis ihrer Existenz ganz auf die Erfahrung verwiesen. Wenn Nessie eines Morgens tot am Rande des Loch Ness läge, wäre ihre Existenz bewiesen. Ihre Nichtexistenz zu beweisen, ist ungleich schwieriger. Die belebte Natur fasziniert uns in jedem Naturfilm mit phantastisch anmutenden Lebensformen und die Phantasmen der Kryptobiologie können nicht durch ein allgemeines Prinzip von existierenden Organismen unterschieden werden. Eine Kryptophysik oder Kryptochemie kann es nicht in analoger Weise geben. Die theoretische Physik ist keine Kryptophysik, die Postulierung der Eigenschaften neuer synthetischer Verbindungen fällt nicht in eine Kryptochemie. Denn die grundlegende Differenz von Wirklichkeit und Möglichkeit, welche die Trennlinie zwischen Biologie und Kryptobiologie bildet, existiert hier nicht in gleicher Weise. Die unwissenschaftliche Spekulation gilt in der Physik darum als unwissenschaftlich, weil ihre Theoreme im Widerspruch zum physikalisch Möglichen stehen. Dasjenige aber, was möglich, jedoch nicht zugleich wirklich ist, hat in der theoretischen Physik durchaus seinen Platz. Ebenso in der Chemie, deren Fortschritte grade im Bereich technischer Anwendung u.a. darin bestehen, Stoffverbindungen mit Eigenschaften herzustellen, die es bislang nicht gab. Wenn im Periodensystem ein Element ausgemacht wird, das es natürlicher Weise nicht gibt, ist nicht allein seine künstliche Erzeugung ein wissenschaftlicher Fortschritt, auch schon der Beweis seiner Möglichkeit gehört hier zu den Erkenntnissen der Naturwissenschaft. Ein Beweis der biologischen Möglichkeit von Organismen, die nicht wirklich sind oder waren, fällt jedoch mit Recht aus der Biologie als seriöser Wissenschaft heraus. Dies liegt an der Besonderheit, dass die innere Zweckmäßigkeit kein Prinzip ist, das konstitutiv für eine prinzipiell begrenzte Menge bestimmter Gegenstände wäre. Darum lassen sich Organismus-Formen nicht ableiten – anders als Elemente, die nach einem Prinzip des Aufbaus der Atome bestimmt sind. So passt mit Hegel die Fledermaus, die weder dem Himmel noch der Erde angehört, in kein wahres System.85 Und jede Systematik der Organismen muss – anders als in der Physik oder Chemie – bloß

85

ren mit sechs Gliedmaßen morphologisch unmöglich – es sei denn, die zusätzlichen Gliedmaßen ließen sich aus der früheren Form heraus erklären, etwa, indem Elle und Speiche der Vorderextremitäten sich trennten und so phänotypisch als eigenständige Glieder erscheinen, die an einem gemeinsamen stark verkürzten Oberarmknochen anschließen. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, »Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobinische und Fichtesche Philosophie«, in: Hegel, Werke Bd. 2, Frankfurt a.M. 1979, S. 287-433, S. 299.

11. Gibt es biologische Naturgesetze?

empirisch bleiben und kann keinen reinen Teil enthalten, weil die Formen des Lebendigen sich auch dann, wenn das innere Prinzip ihrer Organisation als in sich zweckmäßig begriffen ist, nicht einmal rudimentär aus diesem deduzieren lassen.

11.7.3

Nicht alles im Organismus ist sich wechselseitig Zweck und Mittel

Wenn es auch kein kausales Gesetz des Lebendigen gibt, so gibt es doch teleologische Axiome, durch welche die Biologie in ihren Forschungen geleitet wird. Das Hauptaxiom ist hierbei das der Funktionalität: Alles im Organismus habe eine für die Erhaltung des Individuums und/oder der Art sinnvolle Funktion, oder hatte sie einmal. Wenn ein Biologe ein neues Organ, eine neue Struktur oder ein neues Verhalten auffindet, versucht er es darüber zu erklären, seine spezifische Funktion nachzuweisen. Dysfunktionale Organismen sind genau dadurch dysfunktional, dass sie sich nicht (mehr) am Leben erhalten bzw. fortpflanzen können und sterben somit (aus). Unfunktionale Teilstrukturen werden in der Regel damit erklärt, dass sie Relikte ehemaliger sinnvoller Funktionszusammenhänge seien oder dass wir ihre Funktion bislang noch nicht erkannt hätten. Da die Überlebens- und Fortpflanzungsstrategien des Lebens Legion sind, lassen sich die Thesen zur Erklärung unfunktionaler Aspekte des Organismus immanent nicht widerlegen. So sei z.B. das Spielverhalten, das viele Tiere zeigen, nicht zweckfrei, sondern diene dem Erlernen von Jagd- oder Paarungsverhalten; zum Fliegen ungeeignete Federn oder übergroße Geweihe seien auf die Konkurrenz in der Fortpflanzung zurückzuführen; unfunktionale Blinddärme bei Menschen oder Hüftknochen bei Riesenschlangen verwiesen als Relikte auf evolutionär frühere Arten, bei denen sie eine Funktion inne gehabt hätten etc. Die Entwicklung der Organismen muss sich gemäß den kausalen Naturgesetzen vollziehen, aber sie hat hierin keinen hinreichenden Grund, da aus ihnen keine Zweckmäßigkeit abgeleitet werden kann.86 Nach Kant lässt sich ein Organismus nur als ein System von Endursachen begreifen: »Ein organisiertes Produkt der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist.«87 Nur aufgrund dieser Wechselseitigkeit ist ein Lebewesen ein organisiertes Wesen und eine organische Einheit. Im Organismus ist die Materie dergestalt angeordnet, »daß die Teile desselben sich dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden, daß sie voneinander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind.«88 So ist es aufgrund der wesentlich teleologischen Struktur des Organismus zunächst richtig, davon auszugehen, dass in ihm alles (!) wechselseitig Zweck und Mittel sei. Andererseits gibt es keinen hinreichenden Grund anzunehmen, dass sich nicht auch Strukturen in Verhalten oder Körperbau und -färbung ergeben (und erhalten) können, die lediglich nicht nachteilig für die teleologische Funktionalität des Ganzen sind. So könnten bunt gefärbte blinde Höhlenbewohner in lichtloser Umwelt auftreten, ohne dass ihre Farbigkeit einen evolutionären Sinn erfüllt oder bei ihren Vorfahren erfüllte. Denn das ›Gesetz‹ der Zweckmäßigkeit bezieht sich auf das Ganze als organische 86 87 88

Vgl. Kant, KdU, § 77. Zur Entstehung des Lebens vgl. Kapitel 5. Kant, KdU, S. 239 [295 f]. Kant, KdU, S. 236 [291].

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Dialektik des Lebendigen

Einheit; dies muss für einen überwiegenden Teil seiner Struktur bedeuten, nur wechselseitig füreinander als Zweck und Mittel existieren zu können – aber jedes Haar, Blatt, Schuppe, Pigment, jede Geste, Bewegung oder Besonderheit kann gar nicht zweckgerichtet sein, weil sonst evolutionäre Entwicklung gar nicht möglich wäre. Der Organismus ist kein Reflexionsbegriff wie ›Natur‹ und seine Einheit ist als empirischer, sich verändernder Gegenstand immer auch in Teilen disparat – bis zur Dysfunktionalität. Die Variationen müssen gemäß der Evolutionstheorie sogar mannigfach sinnfreie Teile hervorbringen, weil sich erst im Nachhinein einige von ihnen als unter bestimmten veränderten Umständen als zweckmäßig erweisen. Darum ist die Suche nach der Funktion zwar ein notwendiges Axiom biologischer Forschung, aber zugleich darf hieraus nicht umgekehrt gefolgert werden, dass alles am Organismus als Zweck und Mittel für seine Gesamtheit zu begreifen sei.

11.8

Sind teleologische Gesetze der belebten Natur möglich?

Im ersten Kapitel wurde das dialektische Verhältnis von empirischer Erfahrung und besonderen Naturgesetzen bestimmt; Erfahrung ist notwendig zur Erkenntnis der Gesetze und umgekehrt sind die Gesetze (als empirisch konkrete Gestalt der vorauszusetzenden Form allgemeiner kausaler Gesetzmäßigkeit) notwendige Bedingung der Erfahrung (als konsistenter, begrifflich fassbarer Erfahrung, als gelungener Synthese von Anschauungen und Begriffen durch Sinnlichkeit und Verstand zu bestimmter Erkenntnis eines Gegenstandes). Mit Bezug auf Carl Friedrich von Weizsäckers Kritik des Empirismus fasst Klaus Müller diese Zirkularität knapp zusammen: »Nicht nur haben die Naturgesetze ihre einzige Rechtfertigung in der Erfahrung, sondern umgekehrt hat auch die objektivierbare Erfahrung ihre einzige Rechtfertigung in den Naturgesetzen.«89 Wenn nun die Erfahrungen mit dem Lebendigen uns diese Objekte als wesentlich vom Unbelebten unterschieden erkennen lassen,90 dann kann dies nur durch allgemeine Gesetze möglich sein, die diesen Gegenstandsbereich bestimmen und die qualitativ von den Gesetzen der Physik und Chemie (welche die lebendigen Objekte als materielle Körper gleichfalls bestimmen müssen, aber eben nicht als eigenständige Gegenstandsklasse bestimmen können) unterschieden sind. Der Unterschied im Charakter des Gesetzes muss, wie oben gezeigt wurde, in der Form des sie bestimmenden Prinzips der Beurteilung liegen, nämlich darin, dass die Organismen als teleologisch nach dem nexus finalis begriffen und beurteilt werden. Das bedeutet aber, dass diese Gesetze nur bezogen auf das intelligibel angenommene Telos Notwendigkeit und Allgemeinheit beanspruchen können, diesem Telos selbst jedoch diese Notwendigkeit nicht zukommen kann, da es ihr vorausgesetzt sein muss. Biologische Gesetze haben so die Notwendigkeit eines hypothetischen Imperativs, dem die

89

90

Adolf M. Klaus Müller, »Naturgesetz, Wirklichkeit, Zeitlichkeit«, in: Ernst von Weizsäcker (Hg.), Offene Systeme I, Beiträge zur Zeitstruktur von Information, Entropie und Evolution, Stuttgart 1974, S. 303358, S. 317. Vgl. Kapitel 6.1.

11. Gibt es biologische Naturgesetze?

Maxime des Fortbestandes des in sich zweckmäßigen Organismus und seiner Art zu Grunde gelegt ist: Wenn der Organismus sich erhalten soll, dann muss er z.B. stoffwechseln und die Art des Stoffwechsels ergibt sich aus seiner organischen Struktur etc. Für den Organismus ist es also eine Notwendigkeit, geeignete Nahrung aufzunehmen. Doch wie bei einem juristischen oder auch moralischen Gesetz gibt es hier keine physikalische oder chemische Notwendigkeit, die seine Befolgung erzwingt. Ein schwerer Gegenstand kann nicht im Fall plötzlich innehalten und das Fallgesetz verletzen; aber ein Organismus kann verhungern und ganze Arten können aussterben, weil der Zweck ihrer eigenen Existenz als Selbstzweck zwar bestimmte Imperative vorgibt, nach denen dieser Zweck erfüllt werden kann, der Zweck selbst jedoch hypothetisch bleibt und nicht selbst wiederum durch irgend eine Ursache außer ihm notwendig ist. Notwendig ist er nur für die belebte Natur: Wenn ein Organismus aufhört, dem teleologischen Gesetz zu folgen, d.i. wenn er seine innere Zweckmäßigkeit verliert, ist er tot. Wenn also von teleologischen Gesetzen in der belebten Natur gesprochen werden kann, dann hat der Begriff des Gesetzes hier eine gänzlich andere Bedeutung, als der des empirischen Naturgesetzes in der unbelebten Natur. Da die empirischen teleologischen Gesetze oder hypothetischen Imperative von der – nicht aus dem Begriff des Lebendigen abzuleitenden – spezifischen Struktur des Organismus abhängen, ist die Biologie eine erzählende Wissenschaft. Sie erzählt z.B. zunächst, wie die Wölfe leben, welche Nahrung sie brauchen, wie sie sich fortpflanzen. Aber sie erzählt nicht bloß, sie stellt dabei zugleich den reflexiven Zusammenhang des Lebens in Begriffen dar und erkennt so teleologisch notwendige Zusammenhänge zwischen Lebensweise, Verhalten und Körperbau, zwischen Umwelt, Fortpflanzungsstrategien und Genpool. Aber dies sind keine Naturgesetze im herkömmlichen Sinne, weil diese Begriffe nur retrospektiv, nur in Bezug auf das konkrete Lebendige, teleologische Notwendigkeit haben, keine kausale Notwendigkeit. An dieser Stelle stellt sich die systematische Frage, ob die Biologie dann eine Naturwissenschaft genannt werden kann, wenn sie ihren Gegenstand nicht nach der Kausalität des nexus effectivus konstituieren kann, weil er keine äußere Notwendigkeit hat, sondern nur innere. Gehört die Biologie damit nicht dem Charakter nach zu den Geistes- oder Sozialwissenschaften, denen sie das teleologische Prinzip der Beurteilung entlehnt hat? Wenn Darwin ein ökonomisches Prinzip zur Grundlage des Mechanismus der Evolution erhob,91 wenn die Erklärung der Funktionsstruktur des Organismus über die Analogie mit Artefakten gewonnen wurde,92 wenn Verhaltensforscher ihren Ausgangspunkt in der anthropomorphen Projektion finden, dann zeigt sich in den grundlegenden Prinzipien der Biologie doch eine sehr große Nähe zu den Sozialwissenschaften, die sich in Folge auch in den selben Schwierigkeiten bei der Formulierung eigenständiger Gesetze wiederfindet. Und diese Nähe ist kein Irrtum oder Zufall, sondern dem spezifischen Gegenstand der Biologie geschuldet, der als in sich zweckmäßiger reflexiv ist. Und doch ist die Biologie eine Naturwissenschaft und hat genau deswegen ein Problem mit der Annahme eines teleologischen Ordnungsprinzips, das die Sozialwissenschaften nicht haben. Da das Lebendige ein empirischer Naturgegenstand ist 91 92

Vgl. Kapitel 3.5. Vgl. Kapitel 2.

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Dialektik des Lebendigen

und kein Artefakt, kein von Menschen geschaffenes System, bleibt die Verknüpfung nach dem nexus finalis im Modus des ›Als-ob‹ und führt auf epistemische Widersprüche. Denn dieser Naturgegenstand hat gegenüber unbelebten Naturgegenständen die Besonderheit, nur über einen intelligiblen inneren Zweck begriffen werden zu können, der ein teleologisches Prinzip der Erkenntnis verlangt, das jedoch nicht a priori vorausgesetzt werden kann; so ist er nach Gesetzen zu beschreiben, deren Notwendigkeit sich auf die hypothetische Realisierung eines vorauszusetzenden Zwecks beschränkt, den vorauszusetzen wir keinerlei Anspruch haben. Menschen als vernunftbegabte Subjekte können beliebige Zwecke setzen und daher sind teleologische Strukturen in jedem Gegenstand der Sozialwissenschaften evident. In biologischen Beschreibungen erscheinen auch andere Organismen in der sprachlichen Darstellung als oft Subjekte, da insbesondere ihre Anpassungsleistungen an die Umwelt logisch ein aktives Moment enthält.

11.8.1

Organismen als Subjekte?

Grammatisch und logisch sind Organismen in der biologischen Darstellung die Subjekte ihrer selbstorganisierten Prozesse. So sieht Annette Schlemm die Spezifik des Lebendigen in der aktiven Auswahl unter diversen Möglichkeiten: »Die Spezifik des Lebendigen gegenüber den Wechselwirkungen des Nichtlebendigen entsteht dadurch, daß Energie, stoffliche Materie und Information hierbei nicht einfach entsprechend physikalisch-chemischen Gesetzmäßigkeiten von einem lebendigen Wesen auf ein anderes oder von der Umgebung ›übertragen‹ wird, sondern das lebendige Wesen sich aussucht, welche Stoffe, Energien oder Informationen es aufnimmt und sie dann noch spezifisch verarbeitet.«93 Dass die teleologische Form der Selbstorganisation den Organismus der Sache nach zu einem Subjekt erklärt, wurde vor allem im Holismus explizit. Bernhard Dürken, Vertreter der Ganzheits-Biologie94 , bezeichnet aufgrund seiner selbstgerichteten, teleologischen Struktur das »Lebewesen als sich selbst gestaltendes und handelndes Subjekt«95 . Seine Ganzheit sei keine bloß formale oder systemtheoretische Bestimmung, sondern Zielstrebigkeit und aktive Autonomie. »Das unlebendige Gefüge [der funktionalen Maschine] kennt keine Handlung; es ist nur ein Ding, der Organismus ein Subjekt.«96 Gestützt auf neuere Forschungen und Fragestellungen wird dieser Gedanke wieder aufgenommen. Evolutionstheorien kommen seit den 1980er Jahren über das Problem, dass die Besonderheiten von Organismen sich nicht stringent aus ihrer Umwelt ableiten lassen, wieder zu einem Begriff der Autonomie der Organismen in ihrer eigenen evolutionären Entwicklung gegenüber einer sie umgebenden Außenwelt zurück: »Aus genetischer Sicht ist das Genom keineswegs Produkt der Umwelteinflüsse, sondern ein organisiertes System, das auf die Spannungen der Umwelt ›reagiert‹ (Do93 94 95 96

Annette Schlemm, Daß nichts bleibt, wie es ist… Philosophie der selbstorganisierten Entwicklung, Bd. I: Kosmos und Leben, Münster 1996, S. 76. Vgl. Kapitel 8.4.4. Dürken, Hauptprobleme, S. 257. Dürken, Hauptprobleme, S. 270.

11. Gibt es biologische Naturgesetze?

bzhansky und Waddington) und seine ›Reaktionsnormen‹ in sich trägt. Aus embryologischer Sicht impliziert die epigenetische Entwicklung eine Reihe von Austauschprozessen mit interner, die Wahl der benutzten Nahrungsstoffe bestimmender Steuerung. Aus physiologischer Sicht zeugt das System der Regulationen von ständiger Aktivität, die wiederum nicht die Austauschprozesse mit der Umwelt über sich ergehen läßt, sondern sie kanalisiert und regelt. Aus neurologischer Sicht beschränkt sich das Nervensystem nicht darauf, sich seine Aktivität von Seiten der Stimuli aufzwingen zu lassen. Es zeigt vielmehr spontane Aktivitäten und reagiert auf Reize erst dann, wenn es für sie sensibilisiert ist, d.h. wenn es sie aktiv an schon vorhandene Reaktionsschemata assimilieren kann.«97 Auch wenn diese Vorstellungen in der neueren Biologie sprachlich zumeist nicht mehr mit Begriffen wie Freiheit oder Autonomie ausgedrückt werden, sondern stattdessen von Aktivität und bisweilen von Spontanität die Rede ist, so ist doch hiermit im Kern derselbe Sachverhalt benannt, wie er schon früher (mit anderem Vokabular und am Beispiel anderer empirischer Forschungsresultate) gegen rein mechanistische Vorstellungen angeführt wurde; die Organismen werden logisch und sprachlich als Subjekte ihrer Prozesse vorgestellt, nicht als bloße Objekte eines heteronomen Naturmechanismus. Doch mit dem Rekurs auf den Begriff der Autonomie wie wir ihn seit den 1980er Jahren wieder in der Biologie finden, soll nun kein metaphysischer Lebensbegriff reanimiert werden, sondern eine neue Lesart der Evolutionstheorie angeboten werden, die bisher auftretende Widersprüche auflösen könnte. Dieser Ansatz findet sich beispielsweise in der Autopoiesis-Theorie von Maturana.98 Unter der Prämisse von Individualität und Autonomie des sich selbst organisierenden und autopoietischen Systems sind Veränderungen im System nicht als durch die Umwelt determiniert zu betrachten, sondern sie hängen von dem System selbst und der Art und Weise wie es sich reproduziert und was es an Organisation hervorbringt ab. Der ›Zufall‹ im Entwicklungsgeschehen der Evolution muss nicht in die Unkenntnis der komplexen Wechselwirkungen der Umwelt als verdeckte Notwendigkeit verschoben werden, sondern wird der Autonomie des Systems zugesprochen. Diesen Gedanken greift auch Weingarten auf. Bei der Beschreibung von Organismen als selbstorganisierten Systemen diagnostiziert er eine Erklärungslücke – wie formen, verändern und verhalten diese Systeme sich in dieser spezifischen Weise als Organismen? Weingarten erklärt diese Lücke als etwas, das nur durch ein aktives Moment der Organismen gefüllt werden könne. Organismen seien daher nicht Objekte, sondern Subjekte der Evolution – sie müssen selbst das aktive Moment sein, welches die Lücken in der Erklärung des Lebendigen schließt, ohne in die alte Metaphysik zurückzufallen und ein heteronomes Subjekt (Gott) postulieren zu müssen. Die evolutionäre Anpassung wird als autonomer, spontaner Akt der Organismen selbst aufgefasst: »Wenn im Sinne der neuen Evolutionstheorien Organismen autonom sind, dann hat nicht die Anpassung an eine Umwelt Entwicklung zur Folge, sondern vielmehr die Aus97 98

Jean Piaget, Biologie und Erkenntnis, Frankfurt a.M. 1983, S. 33. Vgl. Kapitel 2.3.3.

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nutzung, Differenzierung und Leistungssteigerung von Verhaltensfähigkeiten einer organismischen Konstruktion führt zu Entwicklungsvorgängen, die zur Folge haben, daß spezifische Außenweltgegebenheiten dann zu Umwelten umgearbeitet werden durch die Aktivität von autonomen Organismen. Einem Beobachter, also etwa einem Biologen, erscheint dann das Resultat eines solchen Vorganges als Passung eines Organismus in diese Umwelt. Der Prozeß aber, der zu dieser strukturellen Koppelung von Organismus und Außenwelt geführt hat, ist empirisch nicht wahrnehmbar, d.h. es gibt kein empirisch wahrnehmbares Lesrichtungskriterium dafür, ob dies ein Vorgang war, der von außen (der Umwelt) nach innen (die Organismen) wirkte oder umgekehrt von innen nach außen. Der Prozeß, der im Resultat der erscheinenden Passung verschwunden ist, kann daher nur in einer Theorie anhand von Modellen rekonstruiert werden.«99 Nur dann, wenn der Organismus sich durch ein ihm innewohnendes aktives Vermögen verändert, d.i. sich entwickelt, bildet er autonom neue Funktionen und Verhaltensfähigkeiten heraus, die dann zur Folge haben, dass bestimmte äußere Eigenschaften der Welt als Umwelt für diesen Organismus in spezifischer Weise erlebbar werden. Hier muss dann zwischen Außenwelt und Umwelt unterschieden werden – die Außenwelt enthält auch Elemente, die vom Organismus nicht genutzt werden und völlig irrelevant sein können; Umwelt ist dasjenige, mit dem der Organismus eine Passung aufweist. Auch Uexküll fokussiert auf dieses autonome Moment und kehrt hierbei das Verhältnis von Umwelt und an sie angepassten Organismen sogar um: Der Bauplan des Tieres schafft seine Umwelt, indem einem Tier durch die Art seiner Sinnesorgane und seiner körperlichen Fähigkeiten sich erst eine hierdurch bestimmte Umwelt ergebe. Daher gebe es auch keine bessere oder schlechtere Anpassung, sondern jedes Tier sei vollkommen in seine Umwelt eingepasst. Die Welt eines jeden Lebewesens sei ihm nicht heterogen entgegengesetzt, sondern erst mit und durch seinen spezifischen organischen Aufbau gegeben. Der Regenwurm lebt in einer »Regenwurmwelt« etc.100 Ähnlich geht Weingarten davon aus, dass nicht die Umwelt ›aktiv‹ den Organismus formt, indem ein passiver Anpassungsmechanismus evolutionär auf ihn einwirkt (dann wären Lebewesen aus ihrer Umwelt ableitbar), sondern dass Umwelt erst dasjenige ist, was auf die ›aktive‹ – also aus inneren Mechanismen kommende und nicht von außen gesteuerte – Entwicklung der Lebewesen passt: »Es gibt eben keine ›Nahrung an sich‹, die nur gefressen zu werden brauchte, vielmehr kann eine Substanz nur dann als Nahrung bestimmt werden, wenn sie bezogen wird auf eine bestimmte Konstruktion. Genauso verhält es sich mit dem Begriff der Umwelt; es gibt ebenfalls keine ›Umwelten an sich‹, keine ›Nischen an sich‹, sondern immer nur bezogen auf bestimmte organismische Leistungen bzw. Leistungserfordernisse. Die Konstruktion legt fest, was für sie eine Umwelt sein kann, nämlich derjenige Ausschnitt aus der Außenwelt, in dem der Organismus das vorfindet, was er zum Leben braucht.«101 99 Weingarten, Organismen, S. 232. 100 Vgl. Jakob von Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere, Berlin 1921, S. 217. 101 Weingarten, Organismen, S. 281.

11. Gibt es biologische Naturgesetze?

Da im Resultat die Passung eine wechselseitige ist, kann das empirische Material diese Differenz, ob die Umwelt den Organismus oder dieser sie zu seiner Umwelt bestimmt, nicht aufweisen. Dass Organismen gegenüber ihrer Umwelt autonom seien, heißt jedoch nicht, dass sie in keinerlei Beziehung zu dieser stünden. Überlegungen zur Konstituierung der Außenwelt als Umwelt durch den Organismus finden sich auch bei Gutmann: »Die grundlegenden Eigenheiten der lebenden Organisation sind überhaupt nicht von den Außen- und Umweltbedingungen her zu begründen und zu verstehen. Es ist die Konstruktion, die das Eindringen in neue Habitate ermöglicht; sie bestimmt auch, welche Umweltbedingungen in der neuen Situation relevant werden können. Die Körperkonstruktion läßt nur bestimmte Lokomotionsformen und auch deren Weiterentwicklung zu. Was Nahrung für eine Konstruktion ist, bestimmt sich vom vorher existierenden Apparat, das Aufschließen neuer Energiequellen geschieht immer nach Maßgabe der lebenden Organisation und deren konstruktiven Bedingungen. Organisatorischer Wandel, also der mehr oder weniger tiefgreifende Umbau lebender Konstruktionen, ist nicht direkt mit Umweltbedingungen und deren Wandel verbunden.«102 Diese Überlegungen, den Organismen in ihrer evolutionären Entwicklung ein autonomes Moment, ein Moment aus Freiheit oder Spontaneität zuzusprechen, ergeben sich allein aus der Anerkennung der Teleologie als Prinzip des Lebendigen. Denn mit ihr ist ein Prinzip in die Natur gesetzt, dass nicht in der kausalen Gesetzmäßigkeit der heteronomen Bestimmtheit unbelebter Materie aufgeht.

11.8.2

Die Evolution als teleologisches Gesetz der Systematik des Lebendigen

Julius Schaxel interpretiert die Evolutionstheorie als unglücklichen Versuch, den teleologischen Prozess der Entwicklung bloß historisch zu deuten: »Die Selektionstheorie ist wohl das eigenartigste Gedankengebäude der Biologie: mechanistischem Postulat zuliebe wird verkannte Teleologie in Historie aufgelöst«103 . Weil die Evolutionstheorie nicht mechanistisch sei, sondern ›verkannte Teleologie‹, darum sei auch nichts aus ihr ableitbar außer der stets vorauszusetzenden Zweckform jedes Lebewesens. Aus diesem Grund tauge sie solange nicht zum Gesetz, wie ihr teleologisches Prinzip nicht erkannt sei. Als teleologische Theorie, so der Umkehrschluss den Schaxel nicht zieht, wäre die Evolutionstheorie also wohl des Gesetzes fähig. Nach Baer kann die Evolutionstheorie nur als teleologische eine wissenschaftliche Theorie sein. Er kehrt das analytisch-empirische Wissenschaftsverständnis, nach dem die Evolutionstheorie nicht auf ein metaphysisches Telos hin ausgerichtet sein darf, ohne zugleich ihre Wissenschaftlichkeit zu verlieren, um. Er argumentiert, dass gerade dann, wenn es kein Telos in der Entwicklung des Lebens gebe, die Darwinsche Evolutionstheorie keine wissenschaftliche Theorie sei, weil sie sodann selbst sage, nur Zufälliges beschreiben zu können und also in keinem Moment eine Notwendigkeit bei 102 103

Wolfgang Friedrich Gutmann, Die Evolution hydraulischer Konstruktionen, Frankfurt a.M. 1989, S. 54 f. Julius Schaxel, Grundzüge der Theoriebildung in der Biologie, Jena 1922, S. 272.

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sich führt. Doch ohne Notwendigkeit lasse sich keine Entwicklung als gesetzmäßig beschreiben. »Soll der Darwinschen Hypothese wissenschaftliche Berechtigung zuerkannt werden, so wird sie sich dieser allgemeinen Zielstrebigkeit fügen müssen. Kann sie das nicht, so wird man ihr die Geltung zu versagen haben. Wenn die Vorgänge in der Natur nicht durch einheitliche Ziele oder auf andere Weise untereinander verknüpft sind, wenigstens durch gemeinschaftlichen Grund, so kann ihr gegenseitiges Verhältnis nur ein zufälliges genannt werden. Denn jeder Vorgang ist für den andern, wenn er nicht ursächlich mit ihm verbunden ist, nur ein Zufall.«104 Dieser gemeinschaftliche Grund ist in der Evolutionstheorie das Telos des Lebens, sich zu erhalten. Dieses verbindet die organischen Vorgänge – nicht als Ursachen und Wirkungen, sondern unter dem Begriff eines Zwecks. Auch das Postulat der Erhaltung des Lebens ist, wie oben gezeigt, kein Gesetz im Sinne einer Naturnotwendigkeit, denn nichts hindert Organismen, zu sterben (im Gegenteil!) oder ganze Arten, auszusterben. Der Organismus als einzelner ist nur begrenzt haltbar; zum Leben gehört, dass er nicht bloß sich in gewissem Zeitrahmen erhält, sondern seine Art reproduziert – die Dauer der Artreproduktion bestimmt darum das Minimum der durchschnittlichen Lebenserwartung der sich über eine bestimmte Zeitspanne erhaltenden Organismen. Hier wird die Wirkung der Fortpflanzung als Zweck und damit als ihre teleologische Ursache bestimmt. Dies zeigt, dass ein solches ›Gesetz‹ ein teleologisches und kein kausales ist. Das Leben selbst ist keine Naturnotwendigkeit, es könnte aufhören, zu existieren, ohne dass damit ein kausales Naturgesetz gebrochen wäre. Wenn es Leben gibt, dann ist es im lebendigen Organismus in sich hinreichend zweckmäßig für seine Erhaltung organisiert – denn (und dies lässt sich nur negativ bestimmen) sonst wäre es nicht. Diese tautologische Bestimmung taugt wegen ihrer Zirkularität nicht zum naturwissenschaftlichen Gesetz im herkömmlichen kausalen Sinne, weshalb sie oben als hypothetischer Imperativ bezeichnet wurde. Doch als teleologisches Gesetz, hat sie die Notwendigkeit und Wahrheit jeder Tautologie. Ein Problem für die weitgehend positivistische oder empiristische Biologie besteht darin, anzugeben, auf welchen Gegenstand ein solches teleologisches Gesetz der Evolution sich bezöge. Das Gesetz der Erhaltung des Lebens bestimmt den einzelnen Organismus als bloßes Mittel. Er ist bloßer Träger eines Prinzips, doch das Prinzip ist zugleich nur in den konkreten Organismen realisiert. Der einzelne Organismus ist nur wegen der Fortpflanzung wirklich, aber daraus umgekehrt zu schließen, jeder Organismus müsse sich fortpflanzen oder sei für die Fortpflanzung da, ist ebenso logisch unzulässig wie empirisch widerlegt. Das eigentlich lebendige Objekt wäre hiernach ein bloßer Begriff und kein empirischer Gegenstand: die Art. Die Gattungen oder Arten sind also das Subjekt des teleologischen Gesetzes der Evolution, nicht das einzelne Exemplar. Schon vor Darwin schrieb Kant in Auseinandersetzung mit Buffon: »Im Thierreiche gründet sich die Natureinteilung in Gattungen und Arten auf das gemeinschaftliche Gesetz der Fortpflanzung, und die Einheit der Gattungen ist nichts

104 Baer, Zielstrebigkeit, S. 148.

11. Gibt es biologische Naturgesetze?

anders, als die Einheit der zeugenden Kraft, welche für eine gewisse Mannigfaltigkeit von Thieren durchgängig geltend ist. Daher muss die Büffonsche [sic] Regel, daß Thiere, die miteinander fruchtbare Jungen erzeugen, (von welcher Verschiedenheit der Gestalt sie auch sein mögen) doch zu einer und derselben physischen Gattung gehören, eigentlich nur als die Definition einer Naturgattung der Thiere überhaupt zum Unterschiede von allen Schulgattungen derselben angesehen werden. Die Schuleintheilung geht auf Klassen, welche nach Ähnlichkeiten, die Natureintheilung aber auf Stämme, welche die Thiere nach Verwandtschaften in Ansehung der Erzeugung eintheilt. Jene verschafft ein Schulsystem für das Gedächtniß; diese ein Natursystem für den Verstand: die erstere hat nur zur Absicht, die Geschöpfe unter Titel, die zweite, sie unter Gesetze zu bringen.«105 Damit ist durch die Systematik des Lebendigen auf Grundlage der Evolutionstheorie dasjenige geleistet, was im Gegensatz zum Linnéschen System der Taxonomie das Lebendige unter Gesetze, nicht bloß unter Titel bringt.106 Die Evolution ist damit kein Gesetz, welches die spezifische Form von Organismen bestimmen könnte (auch kein Gesetz der Weiterentwicklung, Leistungssteigerung, vermehrten Anpassung, höher Entwicklung, zu- oder abnehmenden Komplexität der Formen, beständigen Wandels durch Fortentwicklung oder was auch immer), sondern sie ist Gesetz des Natursystems des Lebendigen durch und für den Verstand: dass die Fortpflanzung dasjenige ist, welches den systematischen Zusammenhang unter allen Lebendigen stiftet. Damit ist die Evolution kein kausales Naturgesetz, wie die Gesetze der Physik, aber doch ein Gesetz, das dem Prinzip der reflektierenden Urteilskraft folgt, das Mannigfaltige in Einheit unter ein System zu bringen.107 Die einzige Vorhersage die mit diesem Gesetz sicher möglich ist, ist die tautologische, dass alles, was auch immer aus der Fortpflanzung hervorgehen möge und selbst Teil einer funktionierenden Fortpflanzungsgemeinschaft ist, zum Reich des Lebendigen gehört und in dessen Systematik seinen bestimmten und bestimmbaren Ort hat. Wie bei der durch die reflektierende Urteilskraft vorausgesetzten Einheit der Natur unter Gesetzen muss dieses teleologische Prinzip jedoch konstitutiven Charakter bekommen, wenn wir ein Gesetz auf es gründen. Im ersten Kapitel wurde in Bezug auf die vorauszusetzende Einheit der (unbelebten) Natur unter Gesetzen gezeigt, dass der sich hier anbahnende Widerspruch von Kant dadurch entschärft werden konnte, dass ›Natur‹ ein Reflexionsbegriff und kein empirischer Gegenstand möglicher Erfahrung ist.108 Auch die Art als abgegrenzte Fortpflanzungsgemeinschaft ist ein Reflexionsbegriff und zudem in sich aporetisch.109 Die erkenntnistheoretische Herausforderung besteht darin, dass die empirisch wirklichen Organismen in sich zweckmäßig aufgebaut sind und ein teleologisches Prinzip zur wissenschaftlichen Erkenntnis der Notwendigkeit ihrer inneren funktional aufeinander bezogenen Wechselwirkungen fordern. Um dies 105 106 107 108 109

Immanuel Kant, »Von den verschiedenen Racen der Menschen« (1775), in: Immanuel Kant, Akademie Ausgabe Bd. II, Berlin/New York 1968, S. 429. Vgl. Kapitel 3.1.1. Vgl. Kapitel 1.1.4. Vgl. Kapitel 1.1.5. Vgl. Kapitel 4.

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leisten zu können und so die Biologie als eigenständige Naturwissenschaft zu beweisen, die sich nicht auf einen Teil der angewandten Physik und Chemie reduzieren lässt, bedarf es eines konstitutiven Prinzips, das die Objektivität der in sich zweckmäßigen Verfasstheit alles Lebendigen setzt. Nur aus einem konstitutiven teleologischen Prinzip können die teleologischen Gesetze folgen, welche die Biologie schon längst formuliert. Diese Gesetze scheitern wie oben dargelegt allesamt daran, dass sie keine kausalen Naturgesetze sind, nicht jedoch daran, dass sie die immanente Notwendigkeit der selbstbezüglichen Teleologie des Gegenstandes nicht formulieren könnten.

12. Vom regulativen Prinzip der reflektierenden Urteilskraft zum konstitutiven Prinzip des Lebendigen: Ein Widerspruch »Es mag immer sein, daß z.B. in einem tierischen Körper manche Teile als Konkretionen nach bloß mechanischen Gesetzen begriffen werden könnten (als Häute, Knochen, Haare). Doch muß die Ursache, welche die dazu schickliche Materie herbeischafft, diese so modifiziert, formt und an ihren gehörigen Stellen absetzt, immer teleologisch beurteilt werden, so daß alles in ihm als organisiert betrachtet werden muß, und alles auch in gewisser Beziehung auf das Ding wiederum Organ ist.«1

Im Vorausgegangenen wurde aufgezeigt, dass die Biologie immer wieder auf die teleologische Form des Organischen zurückgeworfen wird – auch wenn sie diese zu umgehen sucht – und welche epistemologischen Schwierigkeiten an neueren Konzepten hängen, eine mechanische Teleologie als Teleonomie anzunehmen. Im Zuge der Auseinandersetzung mit diesem Problem wird heute weniger darum gestritten, ob Organismen zweckmäßig vorgestellt werden müssen, um sie adäquat in ihren Funktionen zu begreifen, sondern mehr die Frage gestellt, was es epistemologisch bedeutet, Organismen als in sich zweckmäßig oder funktional zu denken. Das epistemologische Problem wirkt auf Begriffe und Selbstverständnis der Biologie als Wissenschaft zurück und bedarf also einer weiteren Klärung. Dies fordert eine kritische Reflexion auf das Erkenntnisvermögen. Den wichtigsten Anstoß hierzu gab bereits Immanuel Kant im zweiten Teil seiner Kritik der Urteilskraft, wie in Grundzügen bereits im ersten Kapitel dargelegt wurde. Insbesondere die Rolle, die Kant dort der reflektierenden Urteilskraft zuweist, erweist sich für die Bestimmung des Lebendigen als zentral, da das regulative

1

Kant, KdU, S. 240 [298].

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Prinzip, nach dem Organismen als teleologisch verfasst beurteilt werden, mit der Biologie einen ganzen Gegenstandsbereich der Naturwissenschaft zu konstituieren scheint. Dieser Widerspruch wird im Folgenden näher untersucht. Die Schwierigkeit für die Biologie, das Leben nach seinem eigenen Prinzip zu fassen, liegt darin, dass die Einheit des Organismus sich nicht aus einer Kausalfolge ergibt, sondern denkend gesetzt werden muss, um erkannt werden zu können. Dieses Erkennen hat damit die Form eines Anerkennens des Objekts als lebendig, d.i. als in sich zweckmäßig verfasst. »Im Setzen der Einheit oder in der Anerkennung eines Gegenstandes als diese Einheit, d.h. als lebendiges Wesen, liegt allerdings ein Wechsel der die Objektivität konstituierenden Kategorie vor. Solch ein Wechsel wird heute als Sprung im Erklärungsprinzip angesehen, der gerade die Notwendigkeit der Erklärung bzw. der Argumentationsfolge abbreche. Der Wechsel wird daher als unwissenschaftlich angesehen. Die moderne Wissenschaft setzt ihren ganzen Ehrgeiz daran, das Leben zu verstehen, ohne Wechsel des Erklärungsprinzips.«2 Dass dieses Unterfangen scheitert, zeigte sich in den vorigen Kapiteln. Mahner und Bunge fassen den sich hieraus ergebenden Widerspruch zusammen: »In der Biologie […] treffen wir auf eine Situation, die fast schon an eine Art ›Bewußtseinsspaltung‹ erinnert. Auf der einen Seite vertreten viele Autoren die Auffassung, teleologische Konzepte seien in der Biologie legitim, ja sogar Kennzeichen einer wissenschaftlichen Sonderstellung der Biologie; auf der anderen sind sie peinlichst darauf bedacht zu betonen, die biologische Teleologie sei keinesfalls eine echte Teleologie, sondern lediglich eine Als-ob-Teleologie, für die sogar ein eigenes Wort eingeführt wurde: ›Teleonomie‹ (Pittendrigh 1958). Einen ähnlichen Widerspruch finden wir in der Versicherung, teleologische Erklärungen könnten in der Biologie zwar in nichtteleologische übersetzt werden, aber die vollständige Eliminierung der Teleologie sei unmöglich, weil dabei ›etwas verloren gehe‹. Biologen können offenbar weder mit der Teleologie leben noch ohne sie.«3 Dies wurde durch die bisherigen Ausführungen bestätigt. Der Verlauf der sich hierin gründenden theoretischen Krise der Biologie wurde durch diverse Felder und Fragestellungen hindurch verfolgt. Dabei gibt es nur einen Grund, ein teleologisches Prinzip in einzelnen Naturgegenständen anzunehmen: Weil es Organismen gibt, ist die Naturwissenschaft in der Biologie gezwungen, teleologische Verbindungen zu einem organisierten Ganzen neben Kausalverbindungen von Ursache und Wirkung anzunehmen.

2 3

Thomas Kalenberg, Die Befreiung der Natur, Hamburg 1997, S. 292. Martin Mahner/Mario Bunge, Philosophische Grundlagen der Biologie, Berlin/Heidelberg 2000, S. 347.

12. Vom regulativen Prinzip der reflektierenden Urteilskraft zum konstitutiven Prinzip des Lebendigen

12.1

Kein Widerspruch zwischen Kausalität und Teleologie als Ordnungsformen der Erkenntnis

Die Beurteilung des Organismus nach Analogie zum nexus finalis steht nach Kant nicht im Widerspruch dazu, dass er zugleich vollständig unter naturkausale Gesetze nach dem nexus effectivus fällt, weil die Beurteilungsarten nach realen und intelligiblen Ursachen auf verschiedene Momente des Gegenstandes zielen. Darum sei auch die eine Beurteilungsart nicht im Fortschritt der Wissenschaft durch die andere zu ersetzen. »Weil nun aber ganz unbestimmt, und für unsere Vernunft auch auf immer unbestimmbar ist, wieviel der Mechanism der Natur als Mittel zu jeder Endabsicht in derselben tue; und, wegen des oben erwähnten intelligibelen Prinzips der Möglichkeit einer Natur überhaupt, gar angenommen werden kann, daß sie durchgängig nach beiderlei allgemein zusammenstimmenden Gesetzen (den physischen und den der Endursachen) möglich sei, wiewohl wir die Art, wie dieses zugehe, gar nicht einsehen können: so wissen wir auch nicht, wie weit die für uns mögliche mechanische Erklärungsart gehe, sondern nur so viel gewiß: daß, so weit wir nur immer darin kommen mögen, sie doch allemal für Dinge, die wir einmal als Naturzwecke anerkennen, unzureichend sein, und wir also nach der Beschaffenheit unseres Verstandes jene Gründe insgesamt einem teleologischen Prinzip unterordnen müssen.«4 Das Denken der Organismen als teleologisch verfasst kann nicht durch den Fortschritt ihrer mechanistischen Erklärung aufgehoben werden, doch es schmälert auch nicht den Wirkungsgrad des Kausalprinzips, der für alle Naturgegenstände immer a priori vorausgesetzt ist. »Aber das Prinzip: Alles, was wir als zu dieser Natur (phaenomenon) gehörig und als Produkt derselben annehmen, auch nach mechanischen Gesetzen mit ihr verknüpft denken müssen, bleibt nichtsdestoweniger in seiner Kraft, weil ohne diese Art von Kausalität organisierte Wesen, als Zwecke der Natur, doch keine Naturprodukte sein würden.«5 Dass die Zweckmäßigkeit als bestimmendes Prinzip des Lebendigen nicht naturkausal zu erklären ist, bedeutet nicht, dass die Realisierungen ihres Zwecks durch den Organismus der Naturkausalität widersprechen.6 Alle biologischen Prozesse vollziehen sich vollständig gemäß den bekannten Naturgesetzen und fügen sich vollständig in die

4 5 6

Kant, KdU, S. 282 [362]. Kant, KdU, S. 290 [374 f]. So oft, wie als Einwand gegen die als intelligibel bestimmte Zweckmäßigkeit des Organischen der – immer unbestrittene! – akribische Nachweis der rein naturgesetzlich ablaufenden Prozesse aller einzelnen Organfunktionen geführt wird, kann man es wohl nicht oft genug wiederholen: Alle organischen Prozesse laufen (wie auch alle technischen Prozesse) notwendig gemäß den physikalischen und chemischen Gesetzen ab – wie denn auch sonst?! Doch ihre dabei sich realisierende Funktionalität für den lebendigen Organismus sowie dessen hierfür vorauszusetzende Einheit sind nicht naturkausal ableitbar, sondern müssen (wie bei technischen Artefakten) intelligibel vorausgesetzt werden.

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Naturkausalität ein.7 Jedoch eröffnet umgekehrt die physikalische Erkenntnis kausaler Zusammenhänge den Blick auf das fein gegliederte funktionale Gefüge des Organismus. »Je genaueren Einblick wir in den physikalisch-chemischen Zusammenhang der Vorgänge gewinnen, um so deutlicher wird das Zweckmäßige, um so notwendiger der Zwang zu teleologischer Auffassung.«8 Die Teleologie oder innere Zweckmäßigkeit kann nicht das Resultat von kausalen Naturprozessen sein, weil das Ziel oder der Zweck zu dem kausalen Prozess gedanklich hinzutritt, um ihn als gerichtet und nicht bloß als gesetzförmig geschehend zu denken. Der nexus finalis ist als ideelle Umkehrung der linearen Zeitverhältnisse begrifflich nicht aus dem nexus effectivus zu entwickeln oder abzuleiten, sondern muss als eigene Form der Beurteilung gesetzt werden. Kant will zeigen, dass die Vereinigung der beiden Prinzipien, Kausalität und Teleologie, im Denken keinen Widerspruch darstellt. »Die ›Kritik der Urteilskraft‹ will zeigen, dass und warum zwischen diesen beiden Ordnungsformen der Erkenntnis keinerlei Antinomie besteht. Sie können einander nicht widerstreiten, weil sie sich auf verschiedene Problemkreise beziehen, die wir sorgfältig auseinanderhalten müssen. Die Kausalität geht auf die Erkenntnis der objektiven Zeitfolge des Geschehens, auf die Ordnung im Werden; der Zweckbegriff geht auf die S t r u k t u r jener Klassen von empirischen Objekten, die wir mit dem Namen der Organismen bezeichnen.«9 Beide Prinzipien sind zur Erkenntnis der Organismen notwendig, wobei die Kausalität nach dem Naturmechanismus dem teleologischen Prinzip insofern untergeordnet ist, als es hier als Mittel zur Realisierung des in sich zweckmäßigen Funktionierens des Organismus, d.i. »gleichsam als das Werkzeug einer absichtlich wirkenden Ursache«10 gedacht wird. Ein Werkzeug, das zur Realisierung eines Zwecks gebraucht wird, ohne dass ein zu realisierender Zweck in oder durch die Natur gesetzt angenommen werden dürfte. Als bloße Ordnungsformen der Erkenntnis besteht tatsächlich kein Widerspruch zwischen linearer Kausalität und teleologischem Zweckbegriff. Aber bezogen auf die hierdurch erkannten realen Objekte kann ein Widerspruch entstehen – denn es ist die empirische Ordnung der realen Objekte, die über diese Prinzipien erkannt wird. Bei Artefakten, deren teleologische Struktur durch das Denken gesetzt wurde, bestehen beide Prinzipien – die kausale Ordnung im Werden und die Zweckmäßigkeit des Gewordenen – in der Tat völlig widerspruchsfrei nebeneinander. Doch bezogen auf die Organismen können und müssen diese Prinzipien in einen antinomischen Widerstreit geraten, da die rein kausale Ordnung im Werden zugleich eine teleologische Struktur aufweist, deren Ursprung weder in der auf die lineare Kausalität restringierten Natur noch in einem schöpferischen Denken liegen kann. Die Antinomie besteht also tatsächlich nicht zwischen den Erkenntnisprinzipien nexus effectivus und nexus finalis, sondern im Begriff des Organismus als teleologisch verfasster Naturgegenstand.

7 8 9 10

Vgl. auch Kapitel 2.4.2. G. Wolff, Leben und Erkennen. Vorarbeiten zu einer biologischen Philosophie, 1933, S. 32, zitiert nach Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie, Artikel: Zweckmäßigkeit, S. 816. Cassirer, Erkenntnisproblem, S. 140 f. Kant, KdU, S. 289 [374].

12. Vom regulativen Prinzip der reflektierenden Urteilskraft zum konstitutiven Prinzip des Lebendigen

Da das zu ihrer Erklärung notwendige teleologische Prinzip die empirischen Organismen in keiner Weise aus ihren naturkausalen Zusammenhängen herausreißt, glaubt Mayr seine These, als Biologe teleologische Formulierungen benutzen und dabei ohne metaphysisches Prinzip auskommen zu können, bestätigt: »Heute sind die Biologen darüber einig, daß die teleologische Formulierung […] in keinem Widerspruch zur physikalischen Kausalität steht.«11 Doch jeglicher diesen Widerspruch leugnende Konsens unter Biologen nützt nichts angesichts des logischen Faktums, dass eine teleologische Formulierung eine teleologische Erklärung beinhaltet, d.i. eine Erklärung nach einem Prinzip, das nicht die naturgesetzliche Kausalität von Ursache und Wirkung ist.

12.2

Vom Spiel der Erkenntniskräfte zur Antinomie: Die Zweckmäßigkeit ohne Zweck

Kant bestimmt den Zweck als den »Gegenstand eines Begriffs, sofern dieser als die Ursache von jenem (der reale Grund seiner Möglichkeit) angesehen wird; und die Kausalität eines B e g r i f f s in Ansehung seines O b j e k t s ist die Zweckmäßigkeit (forma finalis).«12 Nun könne ein Objekt auch als zweckmäßig vorgestellt werden müssen, ohne es zu sein. Nämlich dann, wenn seine »Möglichkeit von uns nur erklärt oder begriffen werden kann, sofern wir eine Kausalität nach Zwecken, d.i. einen Willen, der sie nach der Vorstellung einer gewissen Regel so angeordnet hätte, zum Grunde derselben annehmen. Die Zweckmäßigkeit kann also ohne Zweck sein, sofern wir die Ursachen dieser Form nicht in einen Willen setzen, aber doch die Erklärung ihrer Möglichkeit nur, indem wir sie von einem Willen ableiten, uns begreiflich machen können. Nun haben wir das, was wir beobachten, nicht immer nötig durch Vernunft (seiner Möglichkeit nach) einzusehen. Also können wir eine Zweckmäßigkeit der Form nach, auch ohne daß wir ihr einen Zweck (als Materie des nexus finalis) zum Grunde legen, wenigstens beobachten und an Gegenständen, wiewohl nicht anders als durch Reflexion, bemerken.«13 An dieser Stelle der ästhetischen Urteilskraft geht es bei Kant im Weiteren um das Geschmacksurteil, das auf genau dieser Form der vorgestellten Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes gründet; hier können wir uns eine Zweckmäßigkeit ohne Zweck an einem Gegenstand vorstellen – d.i. ihn schön finden –, ohne dass dies eine Erkenntnis des Objekts wäre, also ohne dass wir es zugleich nötig hätten, das Objekt seiner Möglichkeit nach durch Vernunft einzusehen. In der ästhetischen Erfahrung kann also Zweckmäßigkeit ›erscheinen‹, indem die Reflexion der Erkenntniskräfte aus Anlass einer gewissen Wahrnehmung angeregt wird zum ›harmonischen Spiel‹. Weil es ein Spiel ist, keine Erkenntnis, gehört es dazu, dass wir so tun, ›als ob‹. Aber im zweiten Teil der Kritik der Urteilskraft wird es dann ernst: Wir erkennen die Zweckmäßigkeit an den Objekten, den 11 12 13

Mayr, Philosophie der Biologie, S. 52. Kant, KdU, S. 58 [32]. Kant, KdU, S. 59 [33 f]

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Organismen, immer noch im selben Modus des ›Als-ob‹, aber nun soll hieraus eine Erkenntnis werden, die Erkenntnis eines Gegenstandes als lebendig. Wenn wir »das, was wir beobachten«, auch »durch Vernunft einsehen«, d.i. erkennen wollen, dann gerät das Denken hier notwendig in den Widerspruch, die Organismen nur über den ihrer Existenz vorauszusetzenden Zweck – als Grund ihrer Möglichkeit – erkennen zu können, ohne dass ein solcher Zweck als Grund organischer Zweckmäßigkeit angenommen werden dürfte. Also ist jeder Organismus »aus sich selbst zweckmäßig, aber ohne Zweck und Absicht, die in ihm oder seiner Ursache lägen«14 . Dieser Widerspruch, zweckmäßig ohne Zweck zu sein15 , findet sich auch in diversen zeitgenössischen Versuchen, die spezifische Teleologie des Lebendigen zu beschreiben, z.B. in den Theorien selbstorganisierter Systeme16 , die ihre Selbstorganisation leisten, ohne ein ›Selbst‹ zu haben, also ohne Subjekte zu sein. Kant scheitert am Lebensbegriff in der teleologischen Urteilskraft ebenso, wie die biologischen Theorien.17 Die Antinomie des Organischen wird zu lösen versucht, die Lösung gelingt jedoch nicht und jeder Lösungsversuch mündet in neue Widersprüche. Hier wird, anders als in der ästhetischen Urteilskraft, die Zweckmäßigkeit ohne Zweck zum Ausdruck der Antinomie, weil das ›Als-ob‹ – anders als im Geschmacksurteil einer ästhetischen Erfahrung – nicht Prinzip einer (naturwissenschaftlichen) Erkenntnis sein kann.

12.3

Welche epistemologische Bedeutung hat die innere Zweckmäßigkeit der Organismen?

Unsere Erkenntnis hat nach Kant bekanntlich zwei Quellen, Sinnlichkeit, die uns Anschauungen gibt, und Verstand, welcher Begriffe bildet. Die Wirklichkeit der Lebewesen lässt sich nach Kant jedoch aus keiner dieser Quellen schöpfen: »[W]ie aber Zwecke, die nicht die unsrigen sind, und auch der Natur (welche wir nicht als intelligentes Wesen annehmen) nicht zukommen, doch eine besondere Art der Kausalität, wenigstens eine ganz eigene Gesetzmäßigkeit derselben ausmachen können oder sollen, läßt sich a priori gar nicht präsumieren. Was aber noch mehr ist, so kann uns selbst die Erfahrung die Wirklichkeit derselben nicht beweisen;«18 Die innere Zweckmäßigkeit der organisierten Wesen gehört nicht zum Begriff der Natur.19 Da wir Natur nicht als Vernunftwesen denken, können in ihr auch keine Zwecke realisiert sein, die sie selbst gesetzt hätte. Innere Zweckmäßigkeit, also Lebendigkeit, kann demnach gar keine Eigenschaft der Materie sein. 14 15 16 17 18 19

Immanuel Kant, Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie, Kants Werke, Akademie Textausgabe Bd. VIII, Berlin/New York 1971, S. 157-184, S. 181. Im 13. Kapitel wird dann das wahre Moment dieser (und anderer) widersprüchlichen Bestimmung aufgezeigt, indem das Prinzip des Lebendigen als negativ und antinomisch sich erweist. Vgl. Kapitel 10. Vgl. Kapitel 12.3.1. Kant, KdU, S. 221 [268]. Vgl. Kapitel 1.1., 1.3.

12. Vom regulativen Prinzip der reflektierenden Urteilskraft zum konstitutiven Prinzip des Lebendigen

Nun haben wir aber den Begriff von organisierten Wesen, von Lebewesen. Das Leben war in den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zwar einerseits der Gegenbegriff zur Materie20 , aber andererseits kann das Leben an nichts anderem sein und an nichts anderem wahrgenommen werden als an einer Materie. Es ist darum zunächst zu denken als ein immaterielles Prinzip, das eine Materie belebt, indem es sie organisiert. Aristoteles nannte ein solches Prinzip Seele.21 Da Kant als Philosoph der Aufklärung metaphysische Begriffe wie den einer existierenden, immateriellen Seele überwunden hat, schreibt er dieses Prinzip nicht den Organismen selbst, sondern dem Erkenntnissubjekt zu. Die innere Zweckmäßigkeit der Lebewesen ist also unsere Projektion: Wir denken die Organismen im Gegensatz zu unbelebten Dingen so, als ob sie nach einem Prinzip der inneren Zweckmäßigkeit organisiert wären. Doch zugleich ist diese Projektion nicht willkürlich und damit nicht individuell subjektiv und zufällig, sondern es muss einen äußeren Grund geben, warum wir den Igel lebendig nennen und den Stein nicht. Diese Projektion, einige Naturgegenstände so zu beurteilen, als ob sie in sich einen Zweck realisierten, macht Erscheinungen erklärlich, die wir ohne sie nicht begreifen könnten – und eröffnet so den Raum für eine ganze Wissenschaft, die Biologie. Wenn der Begriff des Lebens nach Kant weder durch reine Vernunft, noch durch bloße Erfahrung gegeben oder bewiesen werden kann, dieses aber die einzigen Quellen unserer Erkenntnis sind, muss er sich aus ihrem Zusammenspiel ergeben: Die Vernunft spielt ihn offenbar – wie beim Geschmacksurteil – in gewisse Erscheinungen hinein, ohne ihn tatsächlich aus ihnen herzunehmen oder ihn in ihnen als notwendig vorauszusetzen. Kant nennt dies eine Vernünftelei: »[E]s müßte denn eine Vernünftelei vorhergegangen sein, die nur den Begriff des Zwecks in die Natur der Dinge hineinspielt, aber ihn nicht von den Objekten und ihrer Erfahrungserkenntnis hernimmt, denselben also mehr braucht, die Natur nach der Analogie mit einem subjektiven Grunde der Verknüpfung der Vorstellungen in uns begreiflich zu machen, als sie aus objektiven Gründen zu erkennen.«22 Wie kommt es zu dieser Vernünftelei? Organismen sind zweckmäßig ohne Zweck, insofern in ihnen Ganzes und Teile wechselseitig für einander Mittel und Zwecke sind. Diese Zweckmäßigkeit ist nach Kant eine (bloß) regulative Beurteilung der Organismen als in sich funktional. Nur über diese Beurteilung lässt sich der Organismus als solcher begreifen. Also haben die Organismen zumindest insofern eine objektive Zweckmäßigkeit, als sie erst über den Zweckbegriff erkannt, d.i. zu Objekten unserer Erkenntnis werden. Der Zweckbegriff in Naturgegenständen erscheint der reflektierenden Urteilskraft nach Kant zunächst als Analogon eines Zweckes. »Obzwar unser Begriff von einer subjektiven Zweckmäßigkeit der Natur in ihren Formen nach empirischen Gesetzen gar kein Begriff vom Objekt ist, sondern nur ein

20 21 22

Vgl. Kapitel 1.3.2. Vgl. Kapitel 2.1.1. Kant, KdU, S. 221 f [268].

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Prinzip der Urteilskraft, sich in dieser ihrer übergroßen Mannigfaltigkeit Begriffe zu verschaffen […]: so legen wir ihr doch hierdurch gleichsam eine Rücksicht auf unser Erkenntnisvermögen nach der Analogie eines Zwecks bei; und so können wir die Naturschönheit als Darstellung des Begriffs der formalen (bloß subjektiven), und die Naturzwecke als Darstellung des Begriffs einer realen (objektiven) Zweckmäßigkeit ansehen, deren eine wir durch Geschmack (ästhetisch, vermittelst des Gefühls der Lust), die andere durch Verstand und Vernunft (logisch, nach Begriffen) beurteilen.«23 Wir beurteilen die Naturzwecke, d.i. die Lebewesen, als »Darstellung des Begriffs einer realen (objektiven) Zweckmäßigkeit«, wobei diese Zweckmäßigkeit zugleich »gar kein Begriff vom Objekt ist, sondern nur ein Prinzip der Urteilskraft«. Damit ist der Begriff vom Organismus als objektiv zweckmäßig zugleich kein Begriff vom hierüber begriffenen Objekt. Dies ist ein Widerspruch. Auf der einen Seite ist der Zweckbegriff in Naturgegenständen ein bloßes Analogon eines Zwecks und damit nicht wirklich, nicht bezogen auf die Realität des Objekts als zweckmäßig, auf der anderen Seite geht es in der teleologischen Urteilskraft explizit um »das Vermögen, die reale Zweckmäßigkeit (objektive) der Natur durch Verstand und Vernunft zu beurteilen«24 . Das Schöne hat subjektive Zweckmäßigkeit, das Artefakt äußere; nur das Organische hat innere Zweckmäßigkeit und führt schon bei der Frage nach seinem Erkenntnisgrund in Widersprüche. Es geht Kant im zweiten Teil der Kritik der Urteilskraft nämlich weder um die formale Zweckmäßigkeit des ästhetischen Urteils über die Naturschönheit, noch um die äußeren Zwecke der Nützlichkeit, die nur in Relation auf Anderes bestehen, so wie wir das Gras als nützlich für die Kühe beurteilen etc. Sondern es geht um die innere Zweckmäßigkeit der realen Naturzwecke (Organismen), welche das Erkenntnisvermögen in Widersprüche treibt.

12.3.1

Die ›Vernünftelei‹, eine innere Zweckmäßigkeit von Naturgegenständen anzunehmen, brauchen wir nur bei ›gelegentlicher Veranlassung‹

Die reflektierende Urteilskraft enthält ein apriorisches Prinzip, nach welchem sie die Idee des Zweckes der Beurteilung des gegebenen Organismus voraussetzt. Dadurch gibt sie nicht der Natur ein Gesetz und nimmt auch kein Gesetz der Natur bloß auf, sondern sie gibt sich selbst ein Gesetz, durch welches der Mensch die belebte Natur erst denken und verstehen kann, nämlich nicht anders als für uns (und damit in sich25 ) zweckmäßig. Dieser Begriff einer Kausalität der Natur nach der Regel der Zwecke ist als subjektiver problematisch und kann im Gegensatz zum Begriff der Kausalität nach Naturgesetzen laut Kant nicht konstitutiv sein, da es kein reiner Verstandesbegriff a priori ist. Doch ist dieses regulative Prinzip für die Erkenntnis der organischen Naturgegenstände, der Organismen, notwendig »als ob es ein objektives Prinzip wäre.«26

23 24 25 26

Kant, KdU, S. 30 f [XLIX f]. Kant, KdU, S. 31 [L]. Bei Hegel stellt sich dieses Verhältnis umgekehrt dar: die Organismen seien in sich zweckmäßig und damit für uns. Kant, KdU, S. 270 [344]. Vgl. auch Kapitel 1.1.4.

12. Vom regulativen Prinzip der reflektierenden Urteilskraft zum konstitutiven Prinzip des Lebendigen

Dieses Prinzip muss angenommen werden, da die Organisation eines Organismus sowie die der Organismen untereinander, beispielsweise in der Fortpflanzung, nur als in sich zweckmäßige begriffen werden kann. Die Zweckmäßigkeit ist nach Kant insofern immer anthropomorph, als sie auf der intelligiblen Ebene des Begriffs liegt. Die Zweckmäßigkeit der Natur auf eine göttliche Zwecksetzung in der Natur zurückführen zu wollen, führte logisch in den Zirkel, zuerst Gott als transzendentes Subjekt anzunehmen, »um sich die Zweckmäßigkeit der Natur erklärlich zu machen, und hernach diese Zweckmäßigkeit wiederum [zu gebrauchen], um zu beweisen, daß ein Gott sei«27 . Das Subjekt, welches den intelligiblen Zweck in die materiellen Objekte hineinbringt, ist also der Mensch selbst, so dass ich »in meine eigene Vorstellungsart von dem, was mir äußerlich, es sei an sich, was es wolle, gegeben wird, die Z w e c k m ä ß i g k e i t h i n e i n b r i n g e, nicht von diesem über dieselbe empirisch belehrt werde, folglich zu jener keinen besonderen Zweck außer mir am Objekte bedürfe.«28 Der innere Zweck der lebenden Form ist also nach Kant ein Zweck der Organisation, dessen letzte Ursache entweder eine bloße Projektion der Urteilskraft ist, oder sich der menschlichen Vernunft verschließt, die aber zugleich mit der Notwendigkeit eines objektiven Prinzips der Erkenntnis angenommen werden muss – und zwar als eine, die nicht als real im empirischen Objekt liegend erkannt werden kann. Hieraus ergibt sich folgende Antinomie: »D i e e r s t e M a x i m e derselben ist der S a t z: Alle Erzeugung materieller Dinge und ihrer Formen muß als nach bloß mechanischen Gesetzen möglich beurteilt werden. D i e z w e i t e M a x i m e ist der G e g e n s a t z: Einige Produkte der materiellen Natur können nicht als nach bloß mechanischen Gesetzen möglich beurteilt werden (ihre Beurteilung erfordert ein ganz anderes Gesetz der Kausalität, nämlich das der Endursachen).«29 Die erste Maxime entspringt einem reinen Verstandesbegriff a priori, der Kategorie »der Kausalität und Dependenz (Ursache und Wirkung)«30 , während die zweite Maxime »durch besondere Erfahrungen veranlasst wird, welche die Vernunft ins Spiel bringen, um nach einem besonderen Prinzip die Beurteilung der körperlichen Natur und ihrer Gesetze anzustellen.«31 Da diese beiden Sätze im kontradiktorischen Gegensatz zueinander stehen, »trifft es sich dann, daß diese zweierlei Maximen nicht wohl nebeneinander bestehen zu können den Anschein haben, mithin sich eine Dialektik hervortut, welche die Urteilskraft in dem Prinzip ihrer Reflexion irre macht.«32

27 28 29 30 31 32

Kant, KdU, S. 245 [305]. Kant, KdU, S. 226 [276]. In § 61 ist hübscher vom »Hineinspielen« des Zweckbegriffes in die Naturdinge die Rede. Kant, KdU, S. 250 [314]. Kant, KrV, B106. Kant, KdU S. 250 [314]. Ebd.

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Um nicht an diesem Problem irre zu werden, degradiert Kant sowohl die Beurteilung nach kausalen Gesetzen als auch die nach dem teleologischen Prinzip zu bloßen Maximen für die reflektierende Urteilskraft. Als regulative Grundsätze verstanden enthalte die erste Maxime »gar keinen Widerspruch«33 , denn man könne so Naturprodukte nach kausalen Gesetzen beurteilen, ohne damit zugleich anzunehmen, dass sie nur nach diesen Gesetzen möglich wären. So könne man dann »bei gelegentlicher Veranlassung […] bei einigen Naturformen«34 diese zugleich nach dem teleologischen Prinzip beurteilen, ohne dass hierdurch die erstere kausale Beurteilung aufgehoben wäre, denn beide Grundsätze seien bloß Maximen oder regulative Grundsätze – und damit seien sie explizit nicht konstitutiv für die Möglichkeit der Objekte. So löst er die Antinomie, aber um den Preis, »daß die m e n s c h l i c h e V e r n u n f t […] auf diese Art niemals von dem, was das Spezifische eines Naturzwecks ausmacht, den mindesten Grund […] wird auffinden können;«35 das Begreifen des Lebendigen fällt in eine subjektive Methode der Beurteilung zurück, ein belastbarer Begriff des Lebens lässt sich hierüber nicht entwickeln. Das Leben selbst bleibt dem Denken ein Rätsel. Hegel zufolge greift Kant in der Kritik der teleologischen Urteilskraft die dritte Antinomie von Naturkausalität und Freiheit wieder auf, wenn er sagt, dass »[a]lle Erzeugung materieller Dinge […] nach bloß mechanischen Gesetzen«36 geschieht, und er in Bezug auf das Lebendige zugleich annehmen muss, dass »[e]inige Erzeugung derselben […] nach solchen Gesetzen nicht möglich«37 seien. Hegel kritisiert Kants Umgang mit diesem Gegensatz wie folgt: »Die kantische Auflösung dieser Antinomie ist dieselbige wie die allgemeine Auflösung der übrigen: daß nämlich die Vernunft weder den einen noch den anderen Satz beweisen könne, weil wir von [der] Möglichkeit der Dinge nach bloß empirischen Gesetzen der Natur kein bestimmendes Prinzip a priori haben können, – daß daher ferner beide nicht als objektive Sätze, sondern als subjektive Maximen angesehen werden müssen, daß ich einerseits jederzeit über alle Naturereignisse nach dem Prinzip des bloßen Naturmechanismus reflektieren solle, daß aber dies nicht hindere, bei gelegentlicher Veranlassung einige Naturformen nach einer anderen Maxime, nämlich nach dem Prinzip der Endursachen nachzuspüren, – als ob nun diese zwei Maximen, die übrigens bloß für die menschliche Vernunft nötig sein sollen, nicht in demselben Gegensatze wären, in dem sich jene Sätze befinden.«38 Für die Erkenntnis des Lebendigen ist mit widersprüchlichen Maximen ebenso wenig gewonnen, wie mit der Annahme einander widersprechender Sätze. Die ›gelegentliche Veranlassung‹, Belebtes anders als Unbelebtes so zu beurteilen, als ob es nach dem nexus finalis organisiert sei, überbrückt bei Kant dasjenige, was

33 34 35 36 37 38

Kant, KdU, S. 251 [315]. Kant, KdU, S. 251 [316]. Kant, KdU, S. 251 f [316]. Kant, KdU, S. 251 [314] Kant, KdU, S. 251 [315]. Hegel, Logik II, S. 442 f.

12. Vom regulativen Prinzip der reflektierenden Urteilskraft zum konstitutiven Prinzip des Lebendigen

er nicht erklären kann und was ihn in einen antinomischen Widerspruch treibt. Diese Veranlassung ist das sinnliche (Er-)Scheinen der teleologischen Idee im Organismus. Nach Hegel besteht der wesentliche Mangel der Kantischen Vorgehensweise darin, bloß pragmatisch aufgrund ›gelegentlicher Veranlassung‹ mal die eine, mal die andere Maxime anzuwenden, ohne dabei nach der Wahrheit dieser Bestimmungen zu fragen. Dies wäre Hegel zufolge aber die allererste philosophisch wichtige Frage, gleich, ob es sich um die Wahrheit bezüglich der Bestimmungen der Objekte, oder um die Wahrheit der Bestimmungen des menschlichen Erkenntnisvermögens handelt.39 Nimmt man die Analogisierung zur dritten Antinomie40 von Kant, die Hegel hier aufmacht, ernst, dann bedeutet dies, dass das Vermögen zum Unbedingten, die Vernunft, die Wahrheit des Vermögens der Bedingungen, des Verstandes, sei und Ersteres Letzteres aufgehoben in sich enthalte. Da das teleologische Prinzip bei Kant jedoch in die reflektierende Urteilskraft fällt, und damit das Vermittelnde zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelnen in der Anschauung ist, trifft eine strenge Analogisierung, wie Hegel sie aufmacht, hier nicht zu. Das Verhältnis zwischen der dritten Antinomie und dem in der Kritik der teleologischen Urteilskraft dargelegten Gegensatz zwischen mechanischer Erzeugung und Objekten, deren Erzeugung mit diesem Gesetz alleine unmöglich zu denken ist, kann zwar in gewisser Weise parallelisiert und analog geführt werden, jedoch nur, wenn die wesentliche Verschiedenheit beider Gegensätze hierbei nicht aus dem Blick gerät. Denn nicht Verstand, der die Reihe der Bedingungen in unendlichem Regress verfolgt und Vernunft, die den Begriff des Unbedingten fordert, geraten hier in ein notwendig widerstreitendes Verhältnis, wie es in den kosmologischen Antinomien dargelegt wird, sondern eine Gruppe sinnlich gegebener Naturgegenstände nötigen uns dazu, sie über ein teleologisches Prinzip zu begreifen: »Organisierte Wesen sind also die einzigen in der Natur, welche […] nur als Zwecke derselben möglich gedacht werden müssen, und die also zuerst dem Begriffe eines Zwecks, der nicht ein praktischer, sondern Zweck der Natur ist, objektive Realität und dadurch für die Naturwissenschaft den Grund zu einer Teleologie, d.i. einer Beurteilungsart ihrer Objekte nach einem besonderen Prinzip verschaffen, dergleichen man in sie einzuführen […] sonst schlechterdings nicht berechtigt sein würde.«41 Der Grund dieser Antinomie ist also sinnlich vermittelt. Keine epistemologische Reflexion, sondern allein die besonderen Erfahrungen mit dem empirischen Material nötigen dazu, Organismen und ihre Lebensprozesse nicht bloß kausal, sondern zudem über ein teleologisches Prinzip der inneren Zweckmäßigkeit zu begreifen.42

39

40 41 42

Die Wahrheit liege laut Hegel auf der Seite der teleologischen Zweckbestimmung, da diese auch die Wahrheit der Naturkausalität aufgehoben in sich enthalte. Die Zweckmäßigkeit erweist sich als die Wahrheit des Mechanismus, weil der Inhalt des Objektes, der nach dem Mechanismus oder der Naturkausalität zwar notwendige Folge seiner Wirkung, aber für sich selbst genommen äußerlich und bloß zufällig ist, dann, wenn er als Organismus unter der Form der Zweckmäßigkeit steht, selbst auch an sich wesentlich auf sich selbst gerichtet ist. Vgl. Hegel, Logik II, S. 437 f. Vgl. Kant, KrV, B 472 ff. Kant, KdU, S. 239 [295]. Vgl. insbesondere Kapitel 7.

393

394

Dialektik des Lebendigen

12.4

Die Notwendigkeit der Projektion innerer Zweckmäßigkeit der Organismen wird durch Erfahrung gegeben

Was uns veranlasst, manche Naturgegenstände über ein teleologisches Prinzip als in sich zweckmäßig zu beurteilen, ist die empirische Existenz von lebendigen Organismen. Zugleich schloss Kant die Sinnlichkeit als Quelle der Erkenntnis von Naturzwecken jedoch aus. Seine Argumentation, warum sich aus der empirischen Erfahrung keine Erkenntnis über die Wirklichkeit von organisierten Wesen gewinnen lässt, bei denen alle Teile wechselseitig als Zweck und Mittel aufeinander bezogen sind, ist schlüssig. Denn Zwecke (und also auch Mittel) sind etwas Intelligibles und können also nicht als sinnliche oder physikalische Eigenschaften von Gegenständen erscheinen. Ich kann bei einer Katze das Fell, die Knochen, die Bewegung des Blutes durch die Adern etc. sehen bzw. messen (und jeden Teilprozess kausal beschreiben), ihre innere Organisation als zweckmäßigen Lebensprozess jedoch nur denken; dass die innere Zweckmäßigkeit der Organisation in Organismen wirklich ist, kann darum keine empirische, d.i. keine in der empirischen Anschauung gegebene Tatsache sein. Innere Zweckmäßigkeit oder Lebendigkeit erscheint ebenso wenig, wie äußere Zweckmäßigkeit an Artefakten erscheint. Bei beiden muss die intelligible Ursache gedacht werden. Nur über die uns selbstverständliche Antizipation eines Zwecks im empirischen Material konnte Paley davon ausgehen, dass wir eine Uhr im Wüstensand jederzeit als Artefakt identifizieren könnten.43 Analog identifizieren wir Lebendiges, indem wir seine selbstbezügliche funktionelle Struktur als eine solche begreifen. Bei Monod sind es die Organismen selbst, die uns zwingen, sie teleologisch zu denken und uns damit einen erkenntnistheoretischen Widerspruch aufdrängen. Auch bei Kant ist es die Erfahrung, die uns zwar die innere Zweckmäßigkeit der Organismen nicht direkt als eine Erscheinung geben kann – da Intelligibles nicht erscheint – aber uns doch veranlasst, einige Naturdinge nach der Form ihrer Zweckmäßigkeit zu beurteilen, um sie zu erkennen. Die Biologie kann auf teleologische Erklärungen nicht verzichten, weil ihr Gegenstand sie einfordert. Das würde bedeuten, dass der metaphysische Begriff der Teleologie, der ein Ideelles ist, uns von den Organismen selbst, die materiell sind, aufgezwungen wird, wie Monod es sagt. Darum hat die Biologie ihren Kampf gegen teleologische Erklärungsweisen immer verloren und sich schließlich in die wackelige Konstruktion eines bloß heuristischen oder methodischen Prinzips gerettet. Es gibt also Erscheinungen, die eine solche Vernünftelei, die teleologische Form in ein Objekt zu spielen, nicht bloß ermöglichen, sondern sogar erfordern. Zugleich ließen sich Naturgegenstände durch diese Projektion, sie zu denken, als ob sie in sich Zwecke realisierten, jedoch nicht erklären und diese Annahme einer inneren Zweckmäßigkeit führe laut Kant somit nicht dahin, sie »aus objektiven Gründen zu erkennen.«44 Wenn jedoch die Kausalität nach dem nexus effectivus offenbar nicht hinreichend ist, um lebendige Erscheinungen vollständig unter Regeln zu bringen, dann muss in der

43 44

Vgl. Kapitel 2.2.1.1. Kant, KdU, S. 222 [268].

12. Vom regulativen Prinzip der reflektierenden Urteilskraft zum konstitutiven Prinzip des Lebendigen

empirischen Erfahrung ihrer Wirklichkeit uns etwas entgegentreten, das unsere Vernunft dazu treibt, nach Monod sogar zwingt, Zwecke in Analogie zu unseren Zwecken nach dem nexus finalis in sie hineinzuspielen, um sie uns als lebendige Objekte adäquat begreifbar zu machen. Die innere Zweckmäßigkeit organisierter Wesen ist eine Projektion, als subjektive Maxime der reflektierenden Urteilskraft eine Vorstellungsart eines Objektes, aber dabei als Erkenntnisprinzip zugleich bezogen auf Organismen nicht bloß willkürlich, sondern Resultat empirischer Forschung am Gegenstand. »[Im Gegensatz zur ästhetischen Urteilskraft] gibt die teleologisch gebrauchte Urteilskraft die Bedingungen bestimmt an, unter denen etwas (z.B. ein organisierter Körper) nach der Idee eines Zwecks der Natur zu beurteilen sei; kann aber keinen Grundsatz aus dem Begriffe der Natur, als Gegenstandes der Erfahrung, für die Befugnis anführen, ihr eine Beziehung auf Zwecke a priori beizulegen, und auch nur unbestimmt dergleichen von der wirklichen Erfahrung an solchen Produkten anzunehmen; wovon der Grund ist, daß viele besondere Erfahrungen angestellt und unter der Einheit ihres Prinzips betrachtet werden müssen, um eine objektive Zweckmäßigkeit an einem gewissen Gegenstande nur empirisch erkennen zu können.«45 Die innere Zweckmäßigkeit von Naturgegenständen ist im Gegensatz zur Kausalität von Ursache und Wirkung nicht a priori gegeben. Darum müssen »viele besondere Erfahrungen angestellt und unter der Einheit ihres Prinzips betrachtet werden«, um zu beurteilen, ob sie unter dem Prinzip des nexus finalis spezifisch erkannt werden können. Für die Biologie als Naturwissenschaft erscheint es zunächst als evident, dass »jene ins Auge fallende ›Zweckmäßigkeit‹ des Baues lebender Körper«46 durch empirische Erfahrung gewonnen wurde. Auch Schrödinger geht davon aus, dass wir die Selbsterhaltung des Lebendigen über die Wahrnehmung der ›Kraft‹ seiner Ordnung erkennen: »Wir nehmen also wahr, daß eine waltende Ordnung die Kraft besitzt, sich selbst zu erhalten und geordnete Vorgänge hervorzurufen«47 . Doch ist diese Wahrnehmung keine unmittelbare. Die kausale Verknüpfung eines Gegenstandes mit seinen Ursachen (und Wirkungen) ist a priori vorausgesetzt, seine bestimmten Eigenschaften wie Masse, Größe etc. lassen sich in einer einzelnen Erfahrung erkennen, seine Lebendigkeit hingegen nicht. Erst viele besondere Erfahrungen mit unterschiedlichen lebendigen Körpern, die allesamt trotz ihrer Verschiedenheiten unter der Einheit des Prinzips der teleologischen Zweckmäßigkeit betrachtet und hierüber erkannt werden, ermöglichen es, nach der Bildung des Begriffs des Lebendigen die objektive Zweckmäßigkeit eines auch einzelnen Dinges als Naturzweck zu erkennen und es unter den erst durch Erfahrung und nicht a priori gegebenen Begriff des Lebendigen zu subsumieren. Zwar ist das Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur ein Prinzip der Urteilskraft a priori, aber dass es nach

45 46 47

Kant, KdU, S. 32 [LI f]. Oparin, Leben, S. 78 f. Hervorhebung C.Z. Erwin Schrödinger, »Beruht das Leben auf physikalischen Gesetzen?«, in: Bernd-Olaf Küppers (Hg.), Leben=Physik+Chemie? Das Lebendige aus der Sicht bedeutender Physiker, München 1987, S. 7384, S. 74. Hervorhebung C.Z.

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396

Dialektik des Lebendigen

diesem Prinzip auch empirische Naturgegenstände gebe, die als Naturzwecke existieren, das kann nur Erfahrung – und zwar nicht einzelne, sondern nur reiche Erfahrung – uns aufdecken.

12.4.1

Die Erkenntnis des Lebendigen bleibt im Modus des ›Als-ob‹

Die innere Zweckmäßigkeit der Organismen unterscheidet sich von allen anderen Arten der Zweckmäßigkeit. Sie ist wie alle Zweckmäßigkeit intelligibel, fällt also ins Denken, aber ihre erkennbare Intelligibilität fällt, obgleich objektiv und an vielen Erfahrungen zu prüfen, nur in das sie erkennende Subjekt. Anders als die subjektive Zweckmäßigkeit des Naturschönen postuliert sie eine objektive Zweckmäßigkeit in der Natur, die nicht bloß formal, sondern materiell in der spezifischen Art der Organisation vorliege. Dies scheint zu bedeuten, dass ein Intelligibles in der Natur sei, dass die Natur hier etwas hervorbringe, das seinen Grund nicht in Notwendigkeit, sondern in Freiheit habe. Da wir aber kein intelligibles Subjekt in der Natur oder als in der Natur zwecksetzend tätig annehmen können, kann eine Zweckmäßigkeit in Naturgegenständen lediglich in Analogie zum nexus finalis gedacht werden: Als ob ein intelligibles Subjekt aus Freiheit Zwecke in sie gesetzt hätte, in dem gleichzeitigen Wissen darum, dass dies nicht der Fall ist. Dies ist widersprüchlich, aber zugleich notwendig, um einen Begriff des lebendigen Objekts bilden zu können, da die ›Gesetze der Kausalität nach dem bloßen Mechanism der Natur‹ den Begriff organischer Funktionalität nicht geben können. Darum bleibt uns nichts anderes übrig, als »die Natur als durch eigenes Vermögen technisch [zu] denken«48 , ohne ihr zugleich ein solches Vermögen zuzusprechen. In Analogie zu den von Menschen geschaffenen Artefakten, welche das zweckmäßige Prinzip als technische Grundlage ihres Funktionierens durch uns in sie gesetzt enthalten, denken wir uns die belebte Natur als »durch eigenes Vermögen technisch« (Kant), als »Objekte mit einem Projekt« (Monod) bzw. als von einem »Programm« (Mayr) auf ein Ziel hin gesteuert, als ob sie gleichsam Artefakte der Natur wären. Da Organismen jedoch nachweislich keine Artefakte sind, wird durch das ›Als-ob‹ ihre Organisation nach dem Prinzip des nexus finalis zugleich negiert, um sie als Naturgegenstände von den Kunstgegenständen abzugrenzen. Damit sind Organismen widersprüchlich bestimmte Objekte.

12.4.2

Als Objekt der Erkenntnis wird das Lebendige widersprüchlich gedacht

Ein Objekt ist nach Kant ein begrifflich erkannter Gegenstand, d.i. die gelungene Vermittlung der sinnlichen Anschauung mit dem Denken. Ein spezifischer Gegenstand als Objekt der Erkenntnis muss sinnlich erfahrbar und durch den Verstand erkennbar sein, d.i. er muss existieren und sich gemäß den Kategorien unter Regeln des Denkens bringen lassen. Hierbei müssen die Regeln, nach denen er verfasst ist, zugleich und ebenso notwendig seine eigenen sein, die sich in ihrer spezifischen Bestimmtheit dadurch erkennen lassen, dass sie sich gemäß den Kategorien in ihrer inhaltlichen Bestimmtheit erkennen und begreifen lassen. Das Objekt ist gemäß Kants kopernikanischer Wende 48

Kant, KdU, S. 222 f [270].

12. Vom regulativen Prinzip der reflektierenden Urteilskraft zum konstitutiven Prinzip des Lebendigen

sowohl das Andere zum Denken als auch den Regeln des Denkens notwendig gemäß und damit selbst Gedachtes. Es ist das Eigenständige und gegen das Erkennen in gewissem Grade Widerständige und zugleich die zugängliche Regelhaftigkeit der Erscheinung. Seine Besonderheit ist dasjenige, was ihm seine Sperrigkeit gegen das Erkanntwerden verleiht, seine Regelhaftigkeit dasjenige, was es für uns erkennbar macht.49 Dies »setzt aber voraus: daß die Erscheinungen selbst wirklich einer solchen Regel unterworfen seien, […] denn ohne das würde die Einbildungskraft niemals etwas ihrem Vermögen Gemäßes zu tun bekommen, also, wie ein totes und uns selbst unbekanntes Vermögen im Inneren des Gemüts verborgen bleiben.«50 Im Begriff des Objektes fallen so die An-sich-Bestimmtheit des Gegenstandes und die Art, wie ein Gegenstand denkend durch uns bestimmt wird, in eine Einheit. Wenn der Organismus also nicht selbst in sich teleologisch verfasst wäre, dann könnten wir ihn durch die Anwendung eines (bloß regulativen) teleologischen Prinzips der reflektierenden Urteilskraft gar nicht erkennen. Die Vernünftelei des ›Als-ob‹ bliebe ästhetisches Spiel und könnte nicht zu einer Erkenntnis im Begriff des Organischen werden. Da wir die Organismen aber als tatsächlich in sich teleologisch verfasst denken (müssen), geraten wir in einen Widerspruch, den Kant durch den Verweis auf die bloß subjektive Beurteilung nach der reflektierenden Urteilskraft vergeblich zu verhindern suchte.

12.5

Eine den Gegenstand konstituierende Methode?

Der nexus finalis, die Kausalität nach Zwecken, ist ausschließlich menschlichen Handlungen eigen. Bei der zielgerichteten Handlung wird die Zeitreihe transzendiert, indem das vorgestellte Resultat die Ursache des Prozesses ist, der das vorgestellte Resultat in materialiter als Resultat hervorbringt. Diese Kausalität der Zwecke erfordert ein denkendes Subjekt, das einen Zweck ideell fassen und umsetzen kann. Von dieser Form des nexus finalis in menschlichen Handlungen gibt es nun Variationen, die zustande kommen, wenn die reflektierende Urteilskraft diese ihr zur Verfügung stehende Beurteilungsart nicht auf Artefakte, sondern auf Naturgegenstände wendet: Die subjektive Zweckmäßigkeit des Naturschönen und die objektive Zweckmäßigkeit organisierter Wesen. Indem Organismen im Unterschied zu allen anderen Naturgegenständen als in sich zweckmäßig erkannt werden, ist dieses Prinzip der Beurteilung ›als ob es teleologisch sei‹, konstitutiv für einen ganzen Bereich der Natur: das Belebte. Nun bleibt es aber problematisch, dass ein Prinzip im Modus des ›Als-ob‹ einen objektiven Gegenstandsbereich konstituiert. Georg Toepfer schlägt hier eine Lösung vor, indem er zwischen der realen Ursache und dem epistemologischen Bestimmungsgrund von Organismen differenziert. Toepfer sieht in der Zweckmäßigkeit keine transzendierte Zeitreihe, sondern bloß eine besondere Beschreibung des Prozesses:

49

50

Vgl. Christine Zunke, »Die Objektivität der Natur«, in: Wahrheit und Geschichte. Die gebrochene Tradition metaphysischen Denkens. Festschrift zum 70. Geburtstag von Günther Mensching, Alia MenschingEstakhr/Michael Städtler (Hg.), Würzburg 2012, S. 275-290. Kant, KrV, A 100 f.

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Dialektik des Lebendigen

»Die Wirkung, also das Spätere, wird zwar zum Bestimmungsgrund, damit aber nicht zur realen Ursache des betreffenden Gegenstands. Die Wirkung bildet lediglich das identifizierende Moment, […] weil sie es ist, die primär interessiert. Der Bezug auf das zeitlich Spätere bezeichnet also nicht eine besondere obskure Kausalfolge, eine Rückwirkung, sondern schreibt dem Ziel oder Zweck des Prozesses lediglich eine epistemologische Priorität zu; der Bezug auf das Spätere liegt also allein in der Beschreibung des Prozesses: Der Zweck ist das, was den Gegenstand und den Prozess, der zu ihm führt, definiert. Der Exponierung von Zwecken kommt auf diese Weise eine besondere methodische Funktion für die Bestimmung eines Organismus zu«51 . Hinter dieser epistemologischen Priorität, die innere Zweckmäßigkeit als Bestimmungsgrund, aber nicht als Existenzgrund der Organismen fassen zu wollen, liegt dieselbe Schwierigkeit verborgen, die Kant zur Formulierung des Zweckes ›Als-ob‹ zwang. Der Zweck sei Erkenntnisgrund, nicht Existenzgrund des Organismus, bloß nach einem regulativen Prinzip der reflektierenden Urteilskraft gedacht, nicht durch ein konstitutives Prinzip der bestimmenden Urteilskraft bestimmt. D.h. die Beschreibung des Gegenstandes, seine Definition als teleologisch strukturierter Organismus, trifft ihn offenbar zugleich nicht, weil tatsächlich keine obskure, verkehrte Kausalfolge vorliege. Dies wirft die Frage auf: Was genau erkennen wir denn dann? Einen Gegenstand oder Prozess, der sich nur als teleologischer beschreiben und definieren lässt, aber tatsächlich etwas ganz anderes (nämlich nicht telelogisch, sondern kausal) sei? Dann wäre die Annahme der Zweckmäßigkeit ein methodischer Mangel, der abzuschaffen wäre. Zugleich scheint der Zweck jedoch objektiv zu sein, er definiert den Gegenstand und hat darum epistemische Priorität. Diese lässt sich jedoch nur darüber begründen, dass wir in der Tat etwas Objektives erkennen, wenn wir Organismen teleologisch beurteilen, und zwar nicht nur über unser eigenes Erkenntnisvermögen und seine Grenzen, sondern auch über den Gegenstand, den in sich zweckmäßigen, lebendigen Organismus. Der Satz: »Der Zweck ist das, was den Gegenstand und den Prozess, der zu ihm führt, definiert.« besagt, dass der Zweck dasjenige ist, was den Gegenstand als lebendigen wesentlich ausmacht. Der Zweck ist dem Gegenstand also logisch vorausgesetzt. Der Zeit nach kann dieser Zweck – anders als beim Artefakt – dem Lebendigen jedoch nicht vorhergehen, da sein Zweck kein heteronomer, durch ein denkendes Wesen gesetzter ist, sondern als innere Zweckmäßigkeit nur im Lebendigen selbst als (voraus)gesetzt angenommen werden muss. Eine ›obskure Kausalfolge‹ läge in beiden Fällen – beim Lebendigen wie beim Artefakt – nur dann vor, wenn man die intelligible Zweckursache mit der physikalischen Verursachung verwechselte: Die Vorstellung des fertigen Produkts geht beim Artefakt seiner Realisierung zeitlich und logisch voraus, und diese ideelle Ursache, erdacht worden zu sein, ist sein intelligibler Existenzgrund. Zugleich liegt die naturkausale Ursache des Artefakts in seinem Produktionsprozess, der zwar ideell auf das fertige Produkt

51

Georg Toepfer, »Teleologie«, in: Ulrich Krohs/Georg Toepfer (Hg.), Philosophie der Biologie, Frankfurt a.M. 2005, S. 36-52, S. 50.

12. Vom regulativen Prinzip der reflektierenden Urteilskraft zum konstitutiven Prinzip des Lebendigen

ausgerichtet ist, aber materiell gänzlich physikalisch und kausal abläuft. Auf der ideellen Ebene des nexus finalis ist die Vorstellung des fertigen Produkts die Ursache seiner Existenz – was darum nicht obskur ist, weil diese ideelle Ursache in der Kausalfolge des Herstellungsprozesses gar nicht erscheint, außer in der Reflexion auf seine zweckmäßig ausgerichtete Gesamtheit, die aber keine physikalische, sondern eine teleologische und damit ideelle Eigenschaft ist. Beim Organismus ist die Vorstellung analog – nur dass die ideelle Ursache nicht angenommen werden darf. Allein dies ist obskur respektive notwendig widersprüchlich: Dass der Prozess der Lebensfunktionen des Organismus als ideell gerichtet, aber zugleich ohne ideelle Ursache gedacht werden muss. Mit der Zeitfolge hat das nichts zu tun. Sie scheint hier vorgeschoben zu sein, um den eigentlichen Widerspruch des ›Als-ob‹ umgehen zu können. Da Toepfer durch den Abweis einer ›obskuren Kausalfolge‹ den grundlegenden Widerspruch nicht lösen konnte, läuft seine folgende Argumentation wiederum auf einen Widerspruch hinaus: Er vertritt mit engem Bezug auf Kant die These, »dass die Teleologie primär keine erklärende und keine heuristische Funktion hat, sondern eine für die Biologie gegenstandskonstituierende: Über teleologische Reflexion wird die Einheit und Ganzheit von Organismen und damit ihre Ausgliederung als eine eigene Klasse von Gegenständen im Bereich der Natur begründet.«52 Zugleich geht er im Widerspruch zu seiner These davon aus, dass »›Zweckmäßigkeit‹ ein Begriff [ist], der nicht im Kontext der gegenstandskonstituierenden Prinzipien des Verstandes steht, sondern vielmehr eine reflektierende Einstellung betrifft.«53 Hieraus folgt dann, dass durch die teleologische Reflexion auf die Zweckmäßigkeit von Organismen zwar kein neuer Gegenstandstyp konstituiert werden kann, aber eine neue Klasse von Gegenständen identifiziert und beschrieben – also konstituiert – werden könne: »Diese Reflexion etabliert zwar in konstitutionstheoretischer Hinsicht keinen neuen Gegenstandstyp […], trotzdem können diese Gegenstände als einheitliche Klasse zumindest beschrieben werden. Die Teleologie bei Kant hat damit eine wesentliche Funktion in der Identifizierung von Gegenständen, die in physikalischer Beschreibung nicht als einheitliche erscheinen.«54 Diese Leistung des Zweckbegriffs, den Gegenstandsbereich der lebendigen Gegenstände zu identifizieren, nennt Toepfer zu Recht eine teleologische Gegenstandsbestimmung – und ist sich des Problems, das aus dem Widerspruch resultiert, dabei durchaus bewusst: »Etwas missverständlich ist diese Bezeichnung vor dem Hintergrund der kantischen Philosophie, weil es sich um eine Leistung nicht der Bestimmung, sondern der Reflexion auf einen Gegenstand handelt. Durch diese Reflexion wird aber ein Gegenstand in seiner Einheit erst erkannt und damit überhaupt erst zu einem einheitlichen Gegenstand. In dieser Hinsicht erscheint es also gerechtfertigt von einer Gegenstandsbestimmung zu sprechen.«55 52 53 54 55

Toepfer, Gegenstandsbestimmung, S. 63. Toepfer, Gegenstandsbestimmung, S. 65. Toepfer, Gegenstandsbestimmung, S. 66. Ebd.

399

400

Dialektik des Lebendigen

Der Begriff der Zweckmäßigkeit spiele für unseren Verstand demnach »eine quasikonstitutive Rolle, weil er die Erkenntnis einiger Gegenstände der Natur, der Organismen, erst ermöglicht«56 . Der Begriff der Zweckmäßigkeit ist also konstitutiv oder zumindest ›quasikonstitutiv‹ für die Erkenntnis von Organismen, weil wir sie ohne ihn nicht denken könnten – und damit ist die teleologische Reflexion faktisch eine konstitutive Gegenstandsbestimmung, auch wenn sie es, der ›bloß‹ reflektierenden Urteilskraft entspringend, gar nicht sein kann. In Anlehnung an Quarfoods ›two-level interpretation‹57 wird der Widerspruch im Folgenden bei Toepfer aufzulösen versucht, indem er in verschiedene Methoden des Erkennens verlagert wird, bei denen die Kausalebene und die teleologische Ebene getrennt bleiben und also widerspruchsfrei nebeneinander angenommen werden können, wie auch bei Kants Auflösung der Antinomie in der Kritik der Urteilskraft. In Folge wird allerdings die zuvor betonte Leistung der Gegenstandsbestimmung notwendig wieder relativiert: »Wird die teleologische Reflexion als eine Methode verstanden, mittels derer Systeme von interdependenten Prozessen identifiziert werden, dann ist es naheliegend, diese Methode nicht allein auf Organismen anzuwenden«58 . So werden auch Ökosysteme und anorganische (geochemische) Kreisläufe als Systeme beschrieben, in denen eine Rückkopplung jedes Prozesses auf sich selbst vorliegt und also die Teile des Systems voneinander wechselseitig Ursache und Wirkung seien.59 Warum diese Systeme dann im Unterschied zu Organismen nicht als lebendig erkannt und bezeichnet werden sollten, lässt sich in Folge bloß noch als historisch kontingent erklären. »Im Gegensatz zu den Teilen eines Organismus erscheinen die Elemente des Wasserkreislaufs auf den ersten Blick nicht als Komponenten eines integrierten Systems.«60 Ein weiterer Grund sei »die fehlende Verortung dieses Kreislaufs […] in einem physisch kohärenten Körper.«61 Konsequent angewendet bestimmt die teleologische Gegenstandsbestimmung so nicht mehr (nur) den Gegenstandsbereich der Biologie. »Die Teleologie verliert damit ihren Status einer exklusiv biologischen Beurteilungsweise und wird zur zentralen Methode einer allgemeinen Wissenschaft von Interdependenz- oder Kreislaufsystemen.«62 Die Frage, was dann Leben (und in Folge, was der Gegenstand der Biologie) sei, ist damit wiederum aufgegeben, der zunächst durch die teleologische Reflexion konstituierte Gegenstand des Lebendigen fällt erneut ins Unbestimmte zurück. Das teleologische Prinzip der reflektierenden Urteilskraft können wir zunächst auch auf die Natur als Ganzes oder auf einzelne Prozesse im Unbelebten anwenden. Wasserkreisläufe, Planetenbewegungen etc. können als zweckmäßige Selbstgerichtetheit betrachtet werden, was im Resultat dazu führt, Naturprozesse insgesamt so betrachten zu können, dass ›alles einen Sinn‹ habe: Ich kann z.B. denken, dass das 56 57 58 59 60 61 62

Toepfer, Gegenstandsbestimmung, S. 67. Marcel Quarfood, »Kant on biological teleology: towards a two-level interpretation«, in: Studies in History and Philosophy of Biological and biomedical Sciences 37 (2006), S. 735-747. Toepfer, Gegenstandsbestimmung, S. 74. Vgl. Kapitel 10.2.8.1. Toepfer, Gegenstandsbestimmung, S. 75. Toepfer, Gegenstandsbestimmung, S. 76. Toepfer, Gegenstandsbestimmung, S. 77.

12. Vom regulativen Prinzip der reflektierenden Urteilskraft zum konstitutiven Prinzip des Lebendigen

Wasser der Meere verdunstet, Wolken bildet und auf dem Land wieder abregnet, um die Pflanzen und Tiere mit Wasser zu versorgen. Dass sich das Wasser dann in Flüssen sammelt und ins Meer zurückkehrt, wo der Kreislauf von vorne beginnt. D.h. ich kann unbelebte Natur so betrachten, dass ihre Erscheinungsformen zweckmäßig füreinander gedeutet werden und wie die Gaia-Hypothese63 so den gesamten Planeten teleologisch, d.i. als Organismus, vorstellen. Nur erschließt diese Betrachtungsart keine neuen Gegenstandsbereiche oder birgt keine neuen Erkenntnisse über das als zweckmäßig beurteilte Material; das Wasser bleibt Wasser und seine verschiedenen Erscheinungsformen als Meer, Wolke, Regen oder Fluss lassen sich gleichermaßen auch rein physikalisch begreifen. Wir können eine solche ästhetisch verspielte ›Vernünftelei‹, uns die Bewegungen des Wassers auf der Erde als zweckmäßig zu denken, also auch unterlassen, ohne dass unserer Erkenntnis von der Welt dadurch etwas mangelte. Aber bei Organismen erschließt sich uns durch die teleologische Betrachtungsart ein ganzer Gegenstandsbereich, das Lebendige, den wir ohne diese ›Vernünftelei‹ gar nicht denken, nicht erklären, nicht begreifen und somit auch nicht erkennen könnten. Dieses regulative Prinzip der reflektierenden Urteilskraft, die Organismen als in sich zweckmäßig zu denken, ist also offenkundig mehr »als eine Methode verstanden, mittels derer Systeme von interdependenten Prozessen identifiziert werden«64 . Denn nur für die Erkenntnis des Lebendigen ist dieses Prinzip konstitutiv. Tropfsteinhöhlen sehen für den Laien so aus, als ob sie heilige Stätten fremder Kulturen seien, doch wir können die Bildung und Form ihrer imposanten Säulen und zarten Steinschleier hinreichend erklären, ohne in ihrer Entstehung ein Telos anzunehmen. Organismen sehen aber nicht bloß so aus, als ob sie zweckmäßig eingerichtet seien, sie sind tatsächlich so organisiert, als ob ihr Zweck in sie gesetzt sei und darum verliert dieser Eindruck sich nicht mit zunehmender Erforschung des Gegenstandes, sondern verfestigt sich und treibt das Denken in den Widerspruch. Denn im Gegensatz zu ›Wasserkreisläufen‹ oder Tropfsteingebilden lassen Organismen sich ohne Telos nicht hinreichend erklären. Dieses Konstitutiv-Werden eines bloß regulativen Prinzips verdankt sich folglich nicht allein unserer Art, Natur so zu beurteilen, als ob sie ein Telos habe (diese Form der Beurteilung bleibt z.B. bezogen auf Wasserkreisläufe o.Ä. bloß regulativ). Konstitutiv wird es erst dadurch, dass uns allein durch diese Beurteilungsart eine ganze Klasse von Objekten gegeben wird, die wir ohne diese Art der Beurteilung als teleologisch gar nicht erkennten. Nicht die Anwendung dieses Prinzips, sondern der hierdurch erreichte Erkenntnisfortschritt begründet den epistemologischen

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Die Gaia-Hypothese geht auf die Forschungen von Lovelock und Margulis in den 1970er Jahren zurück. Grundlage war Lovelocks Erkenntnis, dass auch unbelebte Bestandteile insbesondere der Erdoberfläche (z.B. Sauerstoffgehalt der Atmosphäre) wesentlich dadurch geprägt sind, dass auf diesem Planeten Organismen existieren, was einer naiven Dichotomie von Leben und unbelebter Materie widerspricht. Gemeinsam mit Margulis’ These, die Organismen als Symbiosen begreift, entstand so die Hypothese, der gesamte Planet sei als eine Symbiose von wechselwirkenden Organismen und somit selbst als ein lebendiger Gesamtorganismus zu denken. Popularisiert wurde diese Hypothese dann durch den Einfluss des Schriftstellers Golding, der den Begriff der Gaia Mater für unseren Planeten prägte. Vgl. James Lovelock, Gaia: A new Look at Life on Earth, Oxford 1979. Toepfer, Gegenstandsbestimmung, S. 74.

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Dialektik des Lebendigen

Widerspruch. Wir wüssten nicht, was ein Lebewesen ist, wenn wir es nicht so beurteilen würden, als ob es in sich zweckmäßig sei. Diesem besonderen Widerspruch, den die Organismen uns aufnötigen, muss der Begriff des Lebens gerecht werden.

12.6

Sind Organismen wirklich in sich zweckmäßig, oder denken wir sie nur so?

Bereits Roux machte deutlich, dass es sich bei den teleologisch zu beurteilenden Lebewesen nicht um eine ›wirkliche‹ Zweckmäßigkeit handeln könne, da diese immer auf den Willen eines vernünftigen Wesens verweise. In der Naturwissenschaft sei ein solcher Zweckbegriff abzulehnen. Daher läge in Lebewesen nur eine »scheinbare Zweckmäßigkeit«65 vor. Was genau jedoch eine empirisch vorliegende scheinbare Zweckmäßigkeit sei, ließ er unbestimmt. Cassirer fasst das sich hieraus ergebende Problem für die Wissenschaftstheorie prägnant zusammen: »Die Frage, die […] zurückbleibt und auf deren Entscheidung unsere Auffassung vom Wissenschaftscharakter der Biologie beruht, besteht darin, welche Art der methodischen Geltung wir dem Zweckbegriff zuzusprechen haben. Gilt er nur ›ex analogia hominis‹, oder gilt er ›ex analogia universi‹; bezeichnet er einen Grundzug der R e a l i t ä t, wobei diese selbst nur als empirische Realität, als ›Realität der Erscheinung‹ zu denken ist, oder ist er lediglich ein subjektiver Gesichtspunkt, unter den wir bestimmte Phänomene zusammenfassen?«66 Sind Organismen also ›wirklich‹ in sich zweckmäßig? Oder denken wir sie bloß so, als ob sie es seien, wobei sie es in Wirklichkeit (vielleicht) nicht sind? Ist der Zweckbegriff in Bezug auf die belebte Natur ein bloßer Anthropomorphismus, von dem die Naturwissenschaft sich distanzieren muss, wie es schon Francis Bacon oder Baruch de Spinoza gefordert haben? Und wenn dem so ist, warum beurteilen wir Organismen dann weiterhin als in sich zweckmäßig, auch nachdem dieser ›Fehler‹ längst erkannt wurde? Der Gebrauch des teleologischen Prinzips ist in Ansehung der Naturdinge Kant zufolge jederzeit empirisch bedingt, da sich a priori nicht einsehen lässt, dass es in der Natur Zwecke geben müsse. D.h. dass es Lebendiges gibt, wissen wir nur aus Erfahrung; nur am Gegenstand selbst lässt sich empirisch feststellen, dass er sich nicht anders erkennen lässt als über das Prinzip der Zweckmäßigkeit.67 Erkenntnis ist die adaequatio rei et intellectus.68 Wenn die Beurteilung der Organismen als in sich zweckmäßig keine bloße Projektion ist, sondern eine Erkenntnis, dann muss sie den Gegenstand in seiner Eigenheit treffen, ihm begrifflich adäquat sein. Es ist nach Köchy »die objektive, wissenschaftlich erfassbare und intersubjektiv vermittelbare Zweckmäßigkeit von Naturprodukten […], die materiell in der Natur vorliegende

65 66 67 68

Wilhelm Roux, Terminologie der Entwicklungsmechanik der Tiere und Pflanzen, ohne Ort 1912, S. 460, zitiert nach Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie, Artikel: Zweckmäßigkeit, S. 808. Cassirer, Erkenntnisproblem, S. 139. Vgl. Kapitel 12.4. Vgl. z.B. Thomas von Aquin, Quaestiones Disputatae de Veritate, Ed. Leon. 22, Rom 1970-1976, I 1.

12. Vom regulativen Prinzip der reflektierenden Urteilskraft zum konstitutiven Prinzip des Lebendigen

Zweckmäßigkeit«69 , die durch die Beschreibung von Organismen als in sich zweckmäßig geleistet werden soll. Ein Prinzip einer Zweckmäßigkeit in der Natur ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, zwischen belebter und unbelebter Materie unterscheiden zu können. Diese Zweckmäßigkeit ist folglich keine Eigenschaft der belebten Natur, sondern das Prinzip, nach dem die besonderen Eigenschaften der belebten Natur in ihrem Zusammenhang als Eigenschaften eines lebendigen Organismus erkannt werden können. Wenn Zweckmäßigkeit keine empirische Eigenschaft ist, ist sie nicht unmittelbar sinnlich wahrzunehmen und nicht physikalisch messbar. Da sie das für den Begriff des Lebendigen denknotwendige Prinzip ist, muss sie eine dem belebten Objekt eigene Regelhaftigkeit treffen, sonst wäre die teleologische Bestimmung der Lebewesen ein bloßes Hirngespinst und folglich verzichtbar. Dass es nicht verzichtbar ist, hat u.a. Mayr mit dem Hinweis auf den Erkenntnisgewinn, der durch die Implikation einer Teleonomie gewonnen werden kann, gezeigt.70 Biologen, die versuchen weitgehend auf teleologische Formulierungen zu verzichten, müssen zugleich auch auf Erkenntnisse über Lebewesen verzichten und negieren so die Biologie. Indem das spezifische Objekt als lebendiges nur über dieses Prinzip konstituiert wird, ist das Prinzip selbst objektiv, d.h. notwendige Bedingung dafür, sich einen Begriff von diesem Objekt machen zu können. Die Frage, ob dies nun lediglich unsere Beurteilungsart der Organismen ist, die wir als Subjekte der Erkenntnis anstellen, oder ob die Zweckförmigkeit der Organismen ihnen in der empirischen Realität als Erscheinungen wirklich zukommt, ist also falsch gestellt. Tatsächlich muss, wie wir gesehen haben, beides notwendig angenommen werden. Dass der Bezug auf die Erfahrung von Kant betont wird, scheint nahezulegen, dass die Zweckmäßigkeit eine empirische Eigenschaft der Lebewesen sei – doch zugleich macht er deutlich, dass es sich um ein bloß regulatives Prinzip der Urteilskraft handelt, das zudem lediglich in Analogie zum nexus finalis bestehe. Weder ist die teleologische Organisation der Organismen sinnlich erfahrbar, da sie ein Intelligibles ist, noch können wir sie a priori den Lebewesen beilegen, da sie kein reiner Verstandesbegriff ist. Wir müssen also bei der Erkenntnis des Lebendigen durch die Erfahrung ein nichtsinnliches Organisationsprinzip gewinnen – was ein Widerspruch ist. »Die Schwierigkeiten in der Interpretation der ›Kritik der Urteilskraft‹ ergeben sich daraus, daß sich die Frage [ob Organismen objektiv in sich zweckmäßig seien], so gestellt, nicht mit einem einfachen Ja oder Nein beantworten läßt. Aber der Grund hierfür liegt nicht in einer Unklarheit oder Unsicherheit Kants. Er liegt vielmehr darin, daß die Kantische Philosophie an den Begriffen des ›Subjektiven‹ und ›Objektiven‹ einen einschneidenden B e d e u t u n g s w a n d e l vorgenommen hatte und daß dieser Wandel es nicht länger erlaubt, beide Begriffe als Glieder einer korrekten logischen Disjunktion anzusehen.«71 Das erkannte Objekt als gelungene Vermittlung von Denken und Erscheinung ist nach der kopernikanischen Wende von Kant weder bloß Gedachtes, noch liegt es gänzlich jenseits 69 70 71

Kristian Köchy, Biophilosophie zur Einführung, Hamburg 2008, S. 39. Vgl. Kapitel 7.4. Cassirer, Erkenntnisproblem, S. 139 f.

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des Denkens (wie das Ding an sich). Doch dieser von Cassirer benannte Bedeutungswandel der Begriffe führt bei unbelebten Objekten nicht auf dieselben Schwierigkeiten wie bei Organismen und kann daher nicht der (hinreichende) Grund für unser Problem sein. Die Schwierigkeit liegt im regulativen ›Als-ob‹. Wir erkennen physikalische Objekte nicht, als ob sie kausal mit anderen Objekten als Ursache und Wirkung verknüpft seien, sondern wir erkennen sie als objektiv kausal verbunden. Und zwar auch nach der kopernikanischen Wende, welche das Prinzip der Kausalität als notwendigen Verstandesbegriff a priori als durch das erkennende Subjekt vorausgesetzt aufweist, anstatt wie der naive Empirismus eine Eigenschaft der Dinge selbst hierin zu vermuten. Das ›Als-ob‹ hingegen lässt keine positive Bestimmung des empirischen Gegenstandes zu – wie kann etwas objektiv real so verfasst sein, als ob es so verfasst wäre, wie es erscheint? Die epistemologische Schwierigkeit bleibt und dies ist auch für die Biologie unbefriedigend, weil die Beurteilungsart von Organismen, als ob sie in sich zweckmäßig seien, an die Erfahrung dieser Zweckform in Naturgegenständen gebunden und hierüber objektiv ist, obgleich sie nicht den Gegenständen selbst als empirische Eigenschaft zugesprochen werden kann, noch auf einem a priori vorauszusetzenden Verstandesbegriff gründet.

12.7

Vom Kantischen ›Als-ob‹ zur positiven Bestimmung einer dritten Kausalität?

Die allgemeine Zweckmäßigkeit der Natur bestimmte Immanuel Kant als ein regulatives Prinzip a priori der reflektierenden Urteilskraft.72 Diese gibt weder der Natur ein Gesetz vor, noch empfängt sie eines aus ihr (es ist also weder ein allgemeines noch ein empirisches Naturgesetz), sondern sie schreibt sich hiermit nur selbst als Gesetz vor: dass die Natur durchgängig als Einheit unter kausalen Gesetzen erkennbar sei. Von dieser allgemeinen Zweckmäßigkeit der Natur, die sich in den einzelnen Naturgegenständen gerade nicht in innerer Zweckmäßigkeit, sondern im Gegenteil als ›bloßer Mechanismus‹, als vollständige kausale Bestimmbarkeit zeigt, ist die innere Zweckmäßigkeit der Organismen zu unterscheiden. Die allgemeine Zweckmäßigkeit der Natur setzt jeden Naturgegenstand notwendig unter das Prinzip des nexus effectivus und schließt eine besondere innere Zweckmäßigkeit von Naturgegenständen aus. Der Organismus als existierender Naturzweck ist nach diesem Prinzip jedoch nicht zu begreifen, sondern fordert zu seiner Erkenntnis, nach dem Prinzip des nexus finalis gedacht zu werden. Als in sich zweckmäßige oder als Zwecke an sich selbst scheiden sich die Organismen also von der Zweckmäßigkeit der gesamten Natur, deren Teil sie zugleich sind. Kant verstrickt sich hierüber im Gang der Argumentation der Kritik der teleologischen Urteilskraft in Widersprüche, da die Urteilskraft durch die sinnlich gegebene Existenz von Organismen »genötigt ist, für gewisse Formen in der Natur ein anderes Prinzip als das des Naturmechanisms zum Grunde ihrer Möglichkeit zu denken.«73 Dies treibt ihn dazu, implizit eine (unmögliche) dritte Kausalität neben nexus effectivus und nexus fina72 73

Vgl. Kapitel 1.1.2. Kant, KdU, S. 252 [316].

12. Vom regulativen Prinzip der reflektierenden Urteilskraft zum konstitutiven Prinzip des Lebendigen

lis anzunehmen, da ein lebendiger Körper, »der an sich und seiner inneren Möglichkeit nach als Naturzweck beurteilt werden soll,«74 sich selbst in der wechselseitigen Zweckmäßigkeit seiner Teile als »ein Ganzes aus eigener Kausalität«75 hervorbringen muss. Neben nexus effectivus und nexus finalis, also der Verbindung nach idealen oder durch reale Ursachen, ist keine weitere Form der Kausalität (Verbindung) möglich; und doch finden wir bei Kant in Bezug auf den Organismus als existierenden Naturzweck vielfach die Erwähnung, dies sei »eine besondere Art der Kausalität«76 . Ihre Besonderheit besteht darin, dass sie nur im Modus des ›Als-ob‹ gedacht werden kann und damit sowohl auf den nexus finalis bezogen, als auch zugleich von ihm unterschieden ist. Damit stellt sie eine »andere […] Art der Kausalität«77 dar, die zwar »nach der A n a l o g i e mit der Kausalität nach Zwecken«78 gebildet werde, aber gerade deshalb nicht mit dem nexus finalis identisch sei, sondern eine »eigene Kausalität«79 darstellen müsse, die lediglich »nach einer entfernten Analogie mit unserer Kausalität nach Zwecken«80 gebildet werde. Je weiter Kant diese Eigenheit der inneren Zweckmäßigkeit der organisierten Naturwesen in den Blick nimmt, im Gegensatz zu Kunstprodukten auf keine intelligible Ursache zurückzuführen zu sein, desto schwächer wird die Analogie zu letzteren und an ihrer Stelle tritt die wesentliche Verschiedenheit hervor:81 »Genau zu reden, hat also die Organisation der Natur nichts Analogisches mit irgendeiner Kausalität, die wir kennen«82 . Und hiermit ist Kant genau da, wo er nicht sein will: Beim Postulieren einer dritten Kausalform neben nexus effectivus und nexus finalis, die es – wie er zuvor gezeigt hat – nicht geben kann, weil mit der Verknüpfung von realen und von idealen Ursachen alle Möglichkeit von Kausalität vollständig benannt ist. »[A]ber innere Naturvollkommenheit, wie sie diejenigen Dinge besitzen, welche nur als Naturzwecke möglich sind und darum organisierte Wesen heißen, ist nach keiner Analogie irgendeines und bekannten physischen, d.i. Naturvermögens, ja, da wir selbst zur Natur im weitesten Verstande gehören, selbst nicht einmal durch eine genau angemessene Analogie mit menschlicher Kunst denkbar und erklärlich.«83 Weil sie nicht denkbar und nicht erklärlich ist, kann sie mit Kant im Gegensatz zu Toepfers oben dargestellter Hypothese auch kein konstitutiver Begriff sein. Die Kausalform des existierenden Naturzwecks hat, wie Kant zeigt, »nichts Analogisches mit irgendeiner Kausalität, die wir kennen«84 . Sie kann aber auch nicht eine Kausalität sein, die wir nicht kennen, da Kausalitäten Prinzipien der Erkenntnis und keine empirisch aufzusammelnden Erscheinungen sind. Daher ist das gesuchte Prinzip des Lebendigen 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84

Kant, KdU, S. 236 [291]. Ebd. Hervorhebung C.Z. Kant, KdU, S. 221 [268]. Kant, KdU, S. 274 [350]. Kant, KdU, S. 222 [269]. Kant, KdU, S. 236 [291]. Kant, KdU, S. 238 [295]. Vgl. Kapitel 2.5. Kant, KdU, S. 238 [294]. Herzvorhebung C.Z. Ebd. Ebd.

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nach Kant nicht einmal als zu sich selbst analog zu begreifen,85 da ein solches Prinzip dem Begriff der Materie widerstreitet und es so zugleich dem Begriff des Organismus als Naturgegenstand widerspräche, ihn nicht (vollständig) nach dem Prinzip des Mechanisms der Natur zu erklären. Diese »neue Kausalität«86 würde nämlich, wenn wir sie als konstitutiv annähmen, nicht unter die reflektierende, sondern unter die bestimmende Urteilskraft fallen (als Verstandesbegriff a priori), wogegen Kant aufgezeigt hat, dass wir diese Kausalität nach dem Analogon des nexus finalis »doch nur von uns selbst entlehnen und anderen Wesen beilegen«87 ohne diese hierdurch tatsächlich auf einen Existenzgrund in einer Vernunft zurückzuführen. Obwohl sie unmöglich ist, ist die Annahme einer solchen eigenen Kausalität des Organischen für eine Theorie des Lebendigen sehr attraktiv. Mit dieser ›dritten Kausalität‹ als einem Begriff, der nicht der Urteilskraft eigentümlich ist und der den nexus finalis nicht länger im Modus des ›Als-ob‹ gebraucht, sondern eine ›eigene‹, ›besondere‹, ›andere Art der Kausalität‹ darstellt, ließe sich die Objektivität der inneren Zweckmäßigkeit der Organismen festhalten und der Biologie wäre ein eigener Gegenstandsbereich positiv bestimmt. Nach Ina Goy hat die »Bildungskraft« bei Kant die Funktion einer solchen dritten Kausalform: »Die Bildungskraft lässt sich, so Kant, durch keine Analogie zu anderen, bekannten Formen der Kausalität erhellen. Zum einen entfällt die Analogie zur Zwecksetzung in der ›Kunst‹ (KU 5:374.29), da Zwecke in der Kunst durch den Künstler gesetzt werden, ein vernünftiges Wesen, das außerhalb seiner Produkte steht, während im Naturprodukt die Zwecksetzung von innen erfolgt. Es entfallen aber auch Analogien zu alternativen Theorien, die versuchen, das Phänomen des organischen Lebens verständlich zu machen. Sowohl die Theorie der belebten Materie (Hylozoismus) als auch die Theorie der Seele als belebendem Prinzip der Materie sind nicht hilfreich. Der Hylozoismus muss die ›Materie als bloße Materie‹ (KU 5:374.35) mit der Eigenschaft der Lebendigkeit versehen, die ihr widerspricht. Materie ist aus sich selbst leblose Materie (MAN 4:544.1-30; KU 5:394.26-8). Wird dagegen die Seele als das belebende Prinzip der Materie vorausgesetzt, gerät man in eine ähnliche Aporie wie im Falle künstlicher Zwecke. Wie für den Künstler und das Kunstwerk aus dem Künstler entstammt die Zweckintentionalität für die Seele und die Materie aus der Seele und bleibt der Materie selbst äußerlich. Will man diese Konstruktion vermeiden, muss die Materie schon als organisierte Materie vorausgesetzt werden und die Erklärung der organisierten Materie durch die organisierte Materie wäre zirkulär. Eine einzige, wenngleich auch nur ›entfernte […] Analogie‹ (KU 5:375.20) der bildenden Kraft zu bekannten Formen der Kausalität besteht in einer Analogie zum ›praktischen Vernunftvermögen […]‹ (KU 5:375.24), zur menschlichen ›Causalität nach Zwecken‹ (KU 5:375.20).«88

85 86 87 88

Vgl. Kant, KdU, S. 237 f [293 f]. Kant, KdU, S. 223 [270] Kant, KdU, S. 223 [270]. Ina Goy, Kants Theorie der Biologie, Berlin/Boston 2017, S. 79 f.

12. Vom regulativen Prinzip der reflektierenden Urteilskraft zum konstitutiven Prinzip des Lebendigen

Anders als oben dargestellt arbeitet Goy im Weiteren jedoch nicht den hierin sich entwickelnden Widerspruch in Bezug auf den Gegenstand – das Lebendige – heraus, sondern sucht nach einer glatten Lösung. Sie findet diese mit Bezug auf den hinteren Teil der teleologischen Urteilskraft in einer göttlichen Vernunft: »Das Problem […] ist, dass Kant Naturzwecke als Vernunftideen bestimmt, Ideen jedoch Vorstellungen des Menschen sind. Aus der Erfahrung ist aber klar, dass die Ideen des Menschen organisierte Wesen nicht hervorbringen, und Kant selbst insistiert in § 65 der KU (5.374.27-30) darauf, dass die Erzeugung organisierter Wesen darin eine Disanalogie zur Kunstproduktion besitze, dass organisierte Wesen nicht wie Kunstprodukte aus einer Idee im Denken eines menschlichen Künstlers entspringen. Wenn es zugleich so ist, dass organisierte Wesen selbst auch keine Vernunft haben und sich als Wesen, die keine Vernunft besitzen, nicht durch ihre eigenen Vernunftideen erzeugen können [wofür sie nebenbei auch vor ihrer eigenen Existenz existieren müssten, um sich selbst als Artefakte zu erschaffen] – wie muss man dann die Kausalität der Ideen von Naturzwecken verstehen? Die Antwort ist, dass das, was der Mensch in organisierten Wesen durch Ideen von Zwecken finalursächlich repräsentiert, die aus den schöpferischen Intuitionen Gottes folgenden Eigenschaften organisierter Wesen sind. Das heißt, was der Mensch durch Vernunftideen der Kausalität von Zwecken repräsentiert, sind die auf Ziele und Zwecke gerichteten Intentionen Gottes, die in den mechanischen Eigenschaften der organisierten Wesen sichtbar werden, wenn diese auf die Einheit eines natürlichen Zwecks gerichtet sind. Damit ergibt sich auch ein konsistenter Blick auf das, was Kant ›bildende Kräfte‹ nennt. […] Wenn der Mensch die intelligente, zweckgerichtete Form der Natur wahrnimmt, sind es die Intentionen Gottes, die er sieht, und weder jene der Natur selbst, noch seine eigenen, das heißt, die Intentionen des Menschen. Er nimmt jene bildenden Kräfte wahr, durch die die Natur die Zwecke Gottes zu erreichen strebt.«89 Diese Interpretation ist nicht nur für die moderne Biologie unfruchtbar, sondern wird auch Kants Ringen mit dieser Bildungskraft als teleologischem Prinzip des Lebendigen nicht gerecht. Im Resultat des Bemühens um Widerspruchsfreiheit verschwindet hier nämlich das zentrale (und problematische) ›Als-ob‹, das in der Analogie zum nexus finalis diesen zugleich negiert. Zweck ist das intelligibel Gesetzte, so dass der Grund der Wirklichkeit eines Objektes in seinem Begriff enthalten ist – als realisierter Zweck. Der Begriff des Stuhles enthält die Funktion, dass man darauf sitzen kann – wie auch immer der konkrete Stuhl aussehen mag: Grund seiner Wirklichkeit ist, dass er zu dieser Funktion des Darauf-Sitzen-Könnens erschaffen wurde. Zweckmäßigkeit geht auf die Beschaffenheit des empirischen Gegenstandes, dem man ›ansieht‹, dass er zu einer bestimmten Funktion gemacht wurde. Zweckmäßigkeit ist also der Begriff für die physische Form eines Dinges, die auf einen intelligiblen Zweck als Grund seiner Wirklichkeit verweist bzw. so vorgestellt wird, als ob sie darauf verweise.90

89 90

Ina Goy, Kants Theorie der Biologie, Berlin/Boston 2017, S. 226 f. Vgl. Kapitel 12.2.

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Die Zweckmäßigkeit von Organismen als organisierten Wesen verweist also auf einen intelligiblen Zweck, den wir allerdings zugleich nicht annehmen können, da die Natur weder als göttliches Artefakt noch als ein Artefakte hervorbringendes intelligentes Wesen hinreichend bewiesen werden kann. Also haben wir es hier mit einer Zweckmäßigkeit ohne Zweck zu tun, mit einem Widerspruch. Daher begreift Kant diese Zweckmäßigkeit bloß in Analogie zur Zweckmäßigkeit von Artefakten, die ihren Zweck in der Freiheit des menschlichen Willens haben, und schreibt sie der reflektierenden Urteilskraft zu – als negative Zweckmäßigkeit im Modus des ›Als-ob‹. Wir denken die Lebewesen so, als ob ein höheres Vernunftwesen aus Freiheit einen Zweck in ihnen realisiert habe (in Analogie zu unseren realisierten Zwecken in Artefakten), ohne hierdurch berechtigt zu werden, ein solches als ihren Existenzgrund anzunehmen.91 Die Differenz zwischen Artefakt und Organismus ist bei Kant durch das ›Als-ob‹ gezogen. Artefakte sind tatsächlich nach dem nexus finalis durch ein Intelligibles bestimmt, Organismen dagegen nur in Analogie hierzu zu denken, ohne dass diese Analogie im strengen Sinne zulässig wäre, da sie naturwissenschaftlich gerade nicht als Artefakte eines höheren Vernunftwesens angenommen werden können.92 Das Prinzip der Zweckmäßigkeit ist hier jedoch keine unbekannte Kraft in den Dingen wie im Vitalismus, sondern Regel unserer Erkenntnis des Lebendigen und erweist sich so als ihr widersprüchliches wie negatives Prinzip. Kant gewinnt dieses ›Als-ob‹ der zweckmäßigen Form des Organischen aus einer Differenz, an der er zu Recht festhält: der Differenz von Natur und Denken. Wenn man diese Differenz aufhebt, oder auch nur die Reflexion auf diese Differenz fehlt, dann ist die lebendige Natur entweder reflexiv, ein Subjekt, ein Selbst, das intelligible Zwecke setzen kann, oder es gibt in ihr nur die lineare Kausalität nach Ursachen, den nexus effectivus, womit sie rein mechanistisch hinreichend erklärbar wäre und die Differenz zwischen lebendig und unbelebt keine wesentliche wäre, sondern bestenfalls eine historisch hergestellte und zu überwindende. Wird dennoch die zweckmäßige Form der Organisation in den Lebewesen als ihnen selbst zugehörig gedacht, resultiert notwendig ein epistemologischer Widerspruch, wie ihn Monod aufgezeigt hat.93 Oder man brauchte neben dem nexus effectivus und dem nexus finalis noch eine dritte Kausalform, als welche Goy die Bildungskraft bei Kant ausweisen möchte. Historisch gab es mehrere Versuche, eine solche dritte Kausalität zu formulieren, wie etwa der ›nexus organicus‹94 , den Hartmann 1944 in seinem Werk Teleologisches Denken vorstellte.95

91 92 93 94 95

Vgl. Kant, KdU, S. 16 [XXVII]. Vgl. Kritik am Kreationismus, Kapitel 4.8. Vgl. Kapitel 2.3.1. Vgl. Kapitel 8.6. Einen solchen dritten Weg möchte zeitgenössisch auch bspw. Francesca Michelini erkunden: »Die Schwierigkeit, die entspringt, ist mit anderen Worten diejenige, die Möglichkeit eines ›dritten Weges‹ zu erkunden, auf dem die Natur ohne die metaphysische Annahme eines Designers [also Schöpfers] als etwas ausgewiesen werden kann, das ›mehr‹ ist als das bloße Resultat einiger Naturgesetze, wodurch dann insbesondere der Eigentümlichkeit des Lebendigen Rechnung getragen werden könnte.« Vgl.: Francesca Michelini, »Darwin und das Problem der Zweckmäßigkeit in der Natur«, in: Kurt Bayertz/Myriam Gerhard/Walter Jaeschke (Hg.), Weltanschauung, Philosophie

12. Vom regulativen Prinzip der reflektierenden Urteilskraft zum konstitutiven Prinzip des Lebendigen

Doch wenn die negative Bestimmung des ›Als-ob‹ positiv gefasst und zu einem eigenständigen Naturprinzip geadelt würde, dann würde der Begriff der Natur hierdurch der eines metaphysischen Subjekts, da sie ideelle Zwecke in sich verwirklichte. Ohne dritte Kausalität bleibt der Begriff des Lebendigen jedoch im Modus des ›Als-ob‹ stecken: eine Spielerei der Vernunft, die keine Objektivität zu begründen im Stande ist – allerdings eine Spielerei, die gleichwohl nicht ganz zufällig sein kann, weil bestimmte Gegenstände der Natur sie einfordern. Also muss das regulative Prinzip der inneren Zweckmäßigkeit der Organismen konstitutiv werden, was jedoch die reflektierende Urteilskraft übersteigt, und es muss eine dritte Kausalität angenommen werden, die es zugleich nicht geben kann. Jede positive Auflösung dieser Widersprüche fällt in der erkenntnistheoretischen Reflexion hinter Kant zurück. Doch kann die Reflexion auch nicht bei Kant stehen bleiben, der selbst verzweifelt konstatiert: »Aber die Möglichkeit einer lebenden Materie (deren Begriff einen Widerspruch enthält, weil Leblosigkeit, inertia, den wesentlichen Charakter derselben ausmacht) läßt sich nicht einmal denken«96 .

12.8

»ein Prinzip mehr«

Als reiner Verstandesbegriff wäre der Begriff der inneren Zweckmäßigkeit des Organischen eine Regel der Erkenntnis von Erscheinungen überhaupt, d.i. ein allgemeines Gesetz. Doch er ist als Begriff der reflektierenden Urteilskraft eine Regel der Erkenntnis von Belebtem – die Regel der Organismen, natürlicher Weise als teleologische Objekte zu sein. Damit ist der Zweckbegriff natürlicher Objekte kein notwendiger Begriff des Erkenntnisvermögens a priori, sondern lediglich »e i n P r i n z i p m e h r, die Erscheinungen derselben [der Natur] unter Regeln zu bringen, wo die Gesetze der Kausalität nach dem bloßen Mechanism derselben nicht zulangen.«97 Kant eng folgend, nach dem die bloß reflektierende Urteilskraft uns eine Beurteilungsart nach der Form der Zweckmäßigkeit gibt, ohne damit ein konstitutives Prinzip der Erkenntnis zu setzen, nach der wir Lebewesen so denken können, als ob sie in sich zweckmäßig wären, schreibt Toepfer im Historischen Wörterbuch der Biologie: »Über die teleologische Beurteilung ist uns demnach eine Gattung natürlicher Objekte erschlossen, von denen wir keinen Begriff hätten, wenn wir nicht den Zweckbegriff voraussetzen, d.h. die Idee der Wirkung nicht als Grund der Möglichkeit ihrer Ursache annehmen würden. Die Zwecke liegen damit allein als Idee auf der Seite des Beurteilenden vor. Über den Begriff der Zweckmäßigkeit erfolgt also keine Gegenstandsbestimmung, sondern sie liefert allein einen Leitfaden für die Erforschung bestimmter

96 97

und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert, Band 2: Der Darwinismus-Streit, Hamburg 2007, S. 222-244, S. 227. Kant, KdU, S. 258 f [327]. Kant, KdU, S. 222 [269].

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Objekte, die uns als definierte Gegenstände nicht gegeben wären, wenn wir sie nicht teleologisch beurteilen würden.«98 Die Zwecke liegen allein auf der Seite des beurteilenden Subjekts, als Idee. Das muss so sein, da Natur kein Subjekt ist und also keine intelligible Sphäre besitzt, in der sie Ideen setzen könnte. Damit ist das Prinzip der Zweckmäßigkeit bloß regulativ – man könnte sagen, es habe einen bloß heuristischen Wert99 für die Beurteilung von bestimmten natürlichen Gegenständen als in sich zweckmäßig organisiert, d.i. als lebendig. Diese spezifischen Gegenstände wären uns nicht gegeben, wenn wir sie nicht teleologisch beurteilten. Damit ist das Prinzip der Teleologie konstitutiv für den durch es gegebenen Gegenstandsbereich, das Lebendige. Die Beurteilung nach diesem Prinzip macht Lebendiges erst möglich, konstituiert diesen Gegenstand, doch zugleich sei dies bloß ein Leitfaden der reflektierenden Urteilskraft und die Zweckmäßigkeit läge nur auf der Seite des Erkennenden, nicht auf der des dadurch erst Erkennbaren. Wie kann das sein? Entweder das erkennende Subjekt irrt sich über den Gegenstand und beurteilt ihn fälschlich nach der Form der Zweckmäßigkeit – dann ist es keine Erkenntnis, die es gewinnt, sondern ein Irrtum aufgrund unangemessener Beurteilungsart. Oder es erkennt den Gegenstand mithilfe dieser Beurteilungsform als teleologischen – dann muss etwas dem Gegenstand Entsprechendes durch diese Beurteilung getroffen worden sein und im Resultat des erfolgreich richtig erkannten Objektes läge die Teleologie dann nicht länger allein als Idee im erkennenden Subjekt, sondern auch im nur als in sich teleologisch zu erkennenden Objekt. Dies scheint nach Kant und auch nach Toepfer der Fall und zugleich nicht der Fall zu sein. Im Historischen Wörterbuch der Biologie heißt es weiter: »Die Klasse von Gegenständen, für deren Erkenntnis die teleologische Beurteilungsart unvermeidlich ist, sind die Organismen.«100 Aber obgleich Organismen nicht anders, als über ein teleologisches Prinzip erkannt werden könnten, seien sie keinesfalls in sich teleologisch verfasst, sondern: »Die Zweckmäßigkeit ist damit der methodische Begriff, der die Erkenntnis eines Naturgegenstandes als Organismus möglich macht.«101 Wenn es bloß ein methodischer Begriff ist, um einen Gegenstand zu gewinnen, dann bleibt er dem Organismus äußerlich. Dies scheint intendiert zu sein, denn es löst die Antinomie der Biologie auf, indem es – immer noch eng an Kant – den Dualismus von intelligibler Welt und materieller Welt beschwört und jede Seite des Widerspruchs in seine ihm angemessene Sphäre bannt. Mit dieser Lösung läge die ganze Teleologie in der Biologie auf der Seite des erkennenden, denkenden Subjekts – also genau da, wo das Intelligible hingehört – und den Lebewesen bliebe ihre eigene innere Zweckmäßigkeit äußerlich. Doch hiermit gäbe es keine adaequatio rei et intellectus. Wir könnten das Lebendige nie erkennen, alles Organische wäre Teil der intelligiblen Sphäre, dem in der materiellen Welt nichts entspräche. Anders als bei den Kategorien wie Kausalität oder den reinen Formen der Anschauung Raum und Zeit, die allesamt objektive Realität haben, indem sie a priori konstitutiv für jedes reale Objekt sind, ist es mit Kant nicht zu begründen, wie ein bloß regulatives Prinzip durch das bloß einige Objekte mit ›einem 98 99 100 101

Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie, Artikel: Zweckmäßigkeit, S. 802. Vgl. Kapitel 7.4.2. Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie, Artikel: Zweckmäßigkeit, S. 802 f. Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie, Artikel: Zweckmäßigkeit, S. 803.

12. Vom regulativen Prinzip der reflektierenden Urteilskraft zum konstitutiven Prinzip des Lebendigen

Prinzip mehr‹ beurteilt werden können, jemals konstitutiv und damit objektiv real sein könnte. Da wir die Organismen aber dennoch über dieses regulative Prinzip erkennen und hierüber in der Geschichte wissenschaftlicher Erkenntnis a posteriori ein ganzer Gegenstandsbereich erfolgreich erschlossen wurde, dessen Erkenntnisse sich auch in der technischen Anwendbarkeit und experimentell empirisch beweisen lassen, führt Kants Konzeption einer transzendentalen Erkenntnistheorie hier offenbar in einen Widerspruch. Darum lässt sich die saubere Trennung zwischen intelligibler und empirischer Sphäre zur Lösung der Antinomie auch im sehr umfangreich recherchierten Historischen Wörterbuch der Biologie keine fünfzehn Zeilen hindurch aufrechterhalten: »Das Verhältnis von empirischem Gegenstand zum Vernunftbegriff ist ein transzendentales: Der Begriff des Zwecks ist die Ermöglichungsbedingung des Gegenstandes. Gleichwohl bleibt sein berechtigter empirischer Gebrauch an die Erfahrung geknüpft: Allein die kontingente Tatsache, dass es organisierte Wesen gibt, berechtigt zu einer Wissenschaft von ihnen.«102 Damit ist diese Darlegung deutlich klarer, als Kants in der Kritik der Urteilskraft: Nur, weil es teleologische Naturgegenstände gibt, sind wir berechtigt, sie teleologisch zu beurteilen. Und nur, indem wir sie teleologisch beurteilen, sind diese spezifischen Naturgegenstände, die Organismen, möglich. Wo bei Kant nur von einer ›gelegentlichen Veranlassung‹ die Rede war,103 zeigt Toepfer hier, was uns konkret veranlasst, ein teleologisches Prinzip zur Beurteilung von Naturgegenständen anzunehmen: Die Existenz von organisierten Wesen.104 »Zwischen dem Begriff des Zwecks und dem Organismus besteht damit eine wechselseitige Abhängigkeit. Einerseits bildet der Zweckbegriff die Voraussetzung für die Beurteilung eines Organismus, andererseits gibt das faktische Vorliegen von Organismen dem Zweckbegriff erst seine ›objective Realität und dadurch für die Naturwissenschaft den Grund zu einer Teleologie‹ (Kant).«105 Mit dieser hellsichtigen dialektischen Verknüpfung von Erkenntnisgrund und Existenzgrund, die wechselseitig konstitutiv aufeinander verweisen, hat man die Auseinandersetzung um einen heuristischen oder methodischen Wert, den der bloß vom Subjekt zu denkende Begriff der Zweckmäßigkeit leisten soll, allerdings weit hinter sich gelassen; denn nur der teleologische Gegenstand kann und darf adäquat mit der teleologischen Zweckform gedacht werden, um so als teleologischer gesetzt und erkannt zu sein. Als bloß heuristische Methode, die ganz auf der Seite des Subjekts verbliebe, wäre das hiermit Erkannte dagegen nur eine projektive Hilfsannahme. Dieses spezifische Verhältnis von regulativer und konstitutiver Funktion des teleologischen Prinzips führt so in eine Dialektik, die als unvermeidliche Widersprüchlichkeit schon bei Kant angelegt ist und sich spätestens seit Darwin und der Abgrenzung

102 103 104 105

Ebd. Vgl. Kapitel 12.3.1. Vgl. Kapitel 12.4. Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie, Artikel: Zweckmäßigkeit, S. 803.

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Dialektik des Lebendigen

von Schöpfungstheorien durch die theoretische Biologie zieht, die jedoch bislang kaum begrifflich in die Reflexion gehoben und ausgeführt wurde.

12.9

Das regulative Prinzip wird durch seine erfolgreiche Anwendung konstitutiv

Bei Kant ist der Begriff der inneren Zweckmäßigkeit natürlicher Objekte als bloß subjektiver Grund zur Beurteilung gedacht, als regulatives Prinzip der reflektierenden Urteilskraft, nicht als ein konstitutives Prinzip der bestimmenden Urteilskraft. Er muss jedoch zugleich objektiv sein, d.i. einen Grund im erkannten Objekt haben, für dessen Erkenntnis er die ermöglichende Bedingung ist. So scheint dieser Begriff im Resultat der Biologie sich als nachträglich konstitutiv für einen ganzen Gegenstandsbereich der Naturforschung zu erweisen. Wie jeder Gegenstand kausal als Wirkung und Ursache mit anderen notwendig verbunden ist zur Einheit der Natur, so ist jedes Lebewesen zudem notwendig in sich teleologisch verfasst. Ein Gegenstand, der außerhalb des nexus effectivus stünde und somit außerhalb der Natur ist ebenso unmöglich, wie ein nicht in sich zweckmäßig organisierter Organismus nicht lebendig wäre. Daraus ergibt sich folgendes Problem: Wenn die Naturerkenntnis über diese ›besondere‹ Kausalität objektiv ist und es tatsächlich eine Differenz zwischen belebter und unbelebter Materie gibt – und davon geht nicht nur Kant aus –, dann kann der Begriff des Naturzwecks (als Prinzip der reflektierenden Urteilskraft) nicht bloß regulativ sein. Aber wäre das Prinzip des Lebendigen kein regulatives, sondern ein konstitutives Prinzip für (bestimmte) Naturgegenstände (wie die Kausalität des nexus effectivus a priori alle Naturgegenstände bestimmt), dann würde es nicht der Urteilskraft angehören, sondern wäre ein reiner Verstandesbegriff a priori und würde »als Vernunftbegriff eine neue Kausalität in der Naturwissenschaft einführen, die wir doch nur von uns selbst entlehnen und anderen Wesen beilegen, ohne sie gleichwohl mit uns als gleichartig annehmen zu wollen.«106 Wenn man diese Spielerei der Vernunft also als objektiv gegeben annähme, dann installierte man einen Verstandesbegriff, der keine allgemeine Geltung hätte, da nur ein Teil der Naturgegenstände lebendig ist.107 Da mit der Biologie sich jedoch eine selbständige Wissenschaft über dieses regulative Prinzip der Urteilskraft begründet, stellt sich die Frage, ob nicht durch die mit dem Prinzip der inneren Zweckmäßigkeit bestimmter Naturgegenstände gewonnenen Erkenntnisse dieses Prinzip sich im historischen Resultat als ein konstitutives erweist. Hiermit würde sich dann historisch (durch Erfahrung, nicht als reiner Verstandesbegriff a priori) eine dritte Kausalität begründen. Kant hätte sich dagegen verwahrt, dass ein regulatives Prinzip konstitutiv werden könne, weil er das Erkenntnisvermögen als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis unmöglich zugleich als Resultat historischer Entwicklungen fassen konnte. Dennoch finden sich in der Kritik der Urteilskraft nicht nur Beweise für die Unmöglichkeit, sondern zugleich solche für die Notwendigkeit, das Prinzip des Lebendigen als eigenständige Kausalform zu fassen. 106 Kant, KdU, S. 223 [270]. 107 Vgl. Kapitel 12.8.

12. Vom regulativen Prinzip der reflektierenden Urteilskraft zum konstitutiven Prinzip des Lebendigen

Der bei Kant bloß regulative Begriff der Zweckmäßigkeit erweist sich im Resultat seiner Anwendung auf das Belebte als konstitutiv (nicht für den Reflexionsbegriff der Natur als systematische Einheit unter Gesetzen, sondern für einen Teilbereich empirischer Gegenstände), indem er einer ganzen Wissenschaft ihren Gegenstandsbereich erst eröffnet. Wie der teleologische Begriff innerer Zweckmäßigkeit es ermöglicht, Lebendiges im Unterschied zum Nichtbelebten zu erkennen, so erweist sich hierin zugleich seine Realität als die der Lebewesen. Das reale Vorliegen von Organismen, das erst durch den Zweckbegriff erkannt werden kann, gibt also umgekehrt erst dem Zweckbegriff seine objektive Realität. Was im ersten Kapitel als abstrakte erkenntnistheoretische Reflexion dargelegt wurde, erweist hier seine konkrete Bedeutung für die Biologie: Teleologie oder Zweckmäßigkeit allein kann uns den Begriff – und damit das Objekt – eines belebten Naturgegenstandes geben; darum kann die Biologie trotz aller sich hieraus ergebenden bekannten Probleme und Widersprüche auf teleologische Begriffe und Funktionsbeschreibungen nicht verzichten. Über die Biologie wurde, wie die Reflexionen in den vorherigen Kapiteln deutlich gezeigt haben, die Teleologie zum unverzichtbaren Teil einer naturwissenschaftlichen Disziplin. Lebendiges erscheint so im Resultat als ein teleologischer Naturgegenstand, bestimmt über die wechselseitige Funktionalität der Teile zur dynamischen Einheit des Organismus. Das ganze Problem, das dazu führte, statt von Teleologie von Teleonomie, statt von Zweckmäßigkeit von Zielstrebigkeit reden zu wollen etc., lässt sich auch als die Frage formulieren, ob der Begriff der Zweckmäßigkeit in der Beurteilung von Organismen regulativ oder konstitutiv sei. Und hier wiederholt sich dieselbe Schwierigkeit, diesmal unter den erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der Transzendentalphilosophie: Die Zweckmäßigkeit soll ein bloß regulativer Begriff sein, da sie nicht zu den reinen Verstandesbegriffen a priori (Kategorien) gehört, die allein konstitutiv für Erkenntnis sind, indem uns durch sie Gegenstände gegeben werden können. Aber in der Anwendung dieses regulativen Begriffs der bloß reflektierenden (nicht bestimmenden!) Urteilskraft auf die Lebewesen erweist sich, dass uns diese nur durch ihn gegeben werden können. So erscheint er im Resultat der gelungenen Erkenntnis des Lebendigen als konstitutiv. Was zunächst bloß regulatives Prinzip der Urteilskraft war, Naturgegenstände bei gelegentlicher Veranlassung als teleologisch organisiert zu denken, wird dadurch konstitutiv, dass allein unter diesem Prinzip ein ganzer Bereich der Natur – das Lebendige – wissenschaftlich erschlossen werden kann. Und genau mit dem Konstitutiv-Werden dieses als bloß regulativ anzunehmenden Prinzips gerät das Denken in einen Widerspruch. Der Grund für den Widerspruch, in den unser Denken hier gerät, liegt also nicht darin, dass wir fälschlich und unzulässiger Weise ein Prinzip für konstitutiv halten, das bloß regulativer Art ist, sondern vielmehr darin, dass dieses bloß regulative Prinzip sich am empirischen Material als konstitutiv für die Erkenntnis eines spezifischen Gegenstandes historisch erwiesen hat. Der Widerspruch ist noch nicht dadurch gesetzt, dass die reflektierende Urteilskraft das Prinzip der Zweckmäßigkeit auf Naturgegenstände wendet und Lebewesen so betrachtet, als ob sie in sich zweckmäßig seien. Er entsteht erst mit dem Wechsel vom regulativen Prinzip zu einem konstitutiven. Darum wird hier oft der Fehler in

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Dialektik des Lebendigen

der Erklärung des Lebendigen gesehen. So schreibt Köchy: »Mit der alternativen mechanischen Erklärung der gesamten Natur gerät diese teleologische Erklärung von Organismen […] nach Kant nur dann in einen Widerspruch, wenn man sie fälschlich als konstitutive Bedingung der Natur versteht.«108 Das Annehmen des teleologischen Prinzips als konstitutiv sei ein Fehler, weil hierdurch ein Widerspruch entsteht. Aber wäre das Prinzip nicht konstitutiv, würden wir kein reales Objekt als lebendig erkennen. Der Widerspruch entsteht also nicht durch die Anwendung dieses Prinzips, sondern durch seine erfolgreiche Anwendung. Denn allein unter diesem Prinzip der inneren Zweckmäßigkeit können wir Organismen als Organismen erkennen und als von der unbelebten Natur unterschieden beurteilen, allein über dieses Prinzip können wir Lebewesen und die in ihnen ablaufenden Prozesse als Einheit begreifen. Hieraus ergibt sich, dass das regulative Prinzip der Urteilskraft sich in der erfolgreichen Anwendung retrospektiv als konstitutiv erwiesen hat, da mit ihm ein eigener Gegenstandsbereich des Lebendigen erkannt wurde. Dieses im Resultat konstitutive Prinzip des Lebendigen bleibt dabei jedoch ein negativ-widersprüchliches: nexus finalis zu sein und nicht zu sein, im Modus des ›Alsob‹. Dies führt in die spezifische Dialektik der organischen Teleologie.

108 Kristian Köchy, Biophilosophie zur Einführung, Hamburg 2008, S. 40.

13. Die Dialektik des Lebendigen »Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.«1

Wir haben durch alle Kapitel ein Problem in verschiedenen Erscheinungsformen verfolgt, das schon im ersten Kapitel mit Bezug auf Kants Kritik der Urteilskraft abstrakt entwickelt wurde: Ein Lebewesen muss, wie jeder Naturgegenstand, nach dem allgemeinen Naturgesetz der Kausalität hinreichend erklärbar sein, aber es ist es nicht; denn Organismen sind nur über ein teleologisches Prinzip zu erkennen, das zugleich nicht angenommen werden darf. Die Materie in Organismen ist nur teleologisch zu begreifen, als zu einem Zweck geformt und organisiert ‒ mit dem Unterschied zum Artefakt, dass der Zweck hier kein heteronomer ist, sondern dass das Lebewesen für sich selbst in sich zweckmäßig organisiert ist. Der Zweck der Organismen kann nicht aus der Natur kommen, in der alles Geschehen durchgängig kausal nach Ursache und Wirkung verknüpft ist. Die innere Zweckmäßigkeit der Organismen kann auch keine bloß anthropomorphe Projektion sein, denn dann ließen sich keine objektiven Funktionszusammenhänge des Organischen erkennen. Ein Zweck ist nur bezogen auf eine Vernunft, die ihn setzt und will, begrifflich und logisch möglich. Ein Zweck ist kein möglicher physikalischer Gegenstand, sondern immer ein Intelligibles. Zum Begriff der Natur gehört ihre Einheit unter kausalen Gesetzen, was jede Teleologie ausschließt. Es führt darum zu einem Widerspruch, anzunehmen, die Natur brächte zweckmäßige oder funktionale Gegenstände hervor.2 Im ersten Kapitel wurde die These aufgestellt, dass diese spezifische Widersprüchlichkeit ihren Grund im Lebendigen selbst habe, so dass ein widerspruchsfreier Begriff des Organischen unmöglich zu entwickeln wäre. Diese These sollte durch eine naturphilosophische Reflexion auf biologische Theorien des Lebendigen geprüft werden. Die Untersuchung hat gezeigt, dass alle Definitionen und Begriffsbestimmungen des Lebendigen widersprüchlich bleiben, dass sogar wesentliche Begriffe wie der der biolo-

1 2

Samuel Beckett, »Worstward Ho«, in: Samuel Beckett, Nohow on: Three Novels, New York 1980, S. 89. Vgl. Kapitel 12.2.

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Dialektik des Lebendigen

gischen Art aporetisch sind. Den Grund, der sie von den Theorien zur Entstehung des Lebens bis zur molekularen Dechiffrierung des Erbguts in widersprüchliche Bestimmungen treibt, hat die Biologie schon lange identifiziert, ohne ihn jedoch beseitigen zu können: Die Biologie kann nicht auf das teleologische Prinzip verzichten – und kann somit auch den sich hieraus ergebenden Widerspruch nicht lösen. Alle Versuche, die Teleologie aus der Biologie zu verbannen, scheitern. Vielmehr hat die Untersuchung des Problems gezeigt, dass die Annahme eines teleologischen Prinzips den zu erkennenden Gegenstand erst als lebendigen ausweist. Gerade weil sie ein zu ihrer Erkenntnis notwendiges Prinzip ist, muss die teleologische Verfasstheit respektive die innere Zweckmäßigkeit der Organismen als objektiv gegeben angenommen werden.3 Und so gibt es mit dem Organischen tatsächlich einen epistemologischen Widerspruch im Naturbegriff.

13.1

Alle Versuche, das Lebendige widerspruchsfrei zu bestimmen, sind gescheitert

Es lassen sich im Rückblick auf die vorherigen Kapitel schematisch drei Varianten unterscheiden, wie die Lösung des Widerspruchs, dass es sich bei Organismen um teleologisch verfasste Naturgegenstände handelt, misslingt: 1. Der Rückfall in vorkritische Metaphysik, indem ein neues, eigenes Prinzip des Lebendigen positiv aufgestellt wird: »nexus organicus« (Hartmann)4 , »Entelechie« (Driesch)5 , »élan vital« (Bergson)6 »Autopoiesis« (Maturana/Varela)7 oder »actual entities« (Whitehead)8 sind verbreitete Varianten. Diese Prinzipien des Organischen sind am nexus finalis orientiert, behaupten dabei aber zugleich eine positive Eigenständigkeit gegen diesen. Da diese jedoch nicht stringent aufgezeigt werden kann, wird sie unerklärlich, unfasslich, dem menschlichen Geist entzogen als eine unergründliche, ordnend wirkende Kraft jenseits der physikalisch messbaren Kräfte konstatiert. Diese Versuche bestätigen Kant darin, dass neben der Verknüpfung von realen und idealen Ursachen, d.i. neben nexus effectivus und nexus finalis, keine weitere Kausalform begrifflich zu bestimmen ist. 2. Der Widerspruch wird als gelöst behauptet, ist aber lediglich verschoben worden – zumeist in einen in sich widersprüchlichen Begriff, der dann für die Lösung zentral sein soll. »Teleonomie« (Teleologie ohne Telos; Pittendrigh)9 , »Zielstrebigkeit in der Natur« (Zielgerichtetheit ohne Ziel; von Baer)10 oder »vollständige Kausalanalyse« (die als vollständige den nexus finalis als Teilbereich in den nexus effectivus integriert; Mayr)11 sind die bekanntesten Varianten in sich widersprüchlicher Begriffe zur ver3 4 5 6 7 8 9 10 11

Vgl. Kapitel 12.6. Vgl. Kapitel 8.6. Vgl. Kapitel 8.4.2. Vgl. Kapitel 8.3.1.6. Vgl. Kapitel 10.2.4.2. Vgl. Kapitel 10.2.10. Vgl. Kapitel 7.4.1. Vgl. Kapitel 7.4. Vgl. Kapitel 7.4.3.

13. Die Dialektik des Lebendigen

meintlichen Lösung des Widerspruchs, Organismen als teleologisch verfasste Naturgegenstände denken zu müssen. Hierzu gehört auch die Annahme, Zweckmäßigkeit sei gar kein Intelligibles, sondern bloße (materielle) Informationsübertragung wie in selbstorganisierenden Systemen.12 Da diese Begriffe keine Reflexion auf ihre immanente Widersprüchlichkeit enthalten, sondern im Gegenteil die Widerspruchsfreiheit der Theorie gewährleisten sollen, sind sie nicht dialektisch, sondern als falsch zu verwerfen. Die Vielzahl dieser Varianten in der modernen theoretischen Biologie bestätigt die Hypothese, dass der Widerspruch nicht aufzulösen ist. Denn hier wurde mit unterschiedlichen Ansätzen sehr viel redliche Mühe darauf verwandt, das teleologische Moment tatsächlich aus der Biologie zu verbannen, so dass das Scheitern dieser Versuche ein belastbares Indiz für die Unmöglichkeit dieses Unterfangens ist. 3. Das Kantische »Als-ob« wird nicht überwunden. Stattdessen wird der Annahme des teleologischen Prinzips beim Erkennen von Organismen und organischen Funktionszusammenhängen ein lediglich »heuristischer« (Engels) oder »methodischer Wert« (Mayr)13 unterstellt.14 Der erkenntnistheoretische Widerspruch, dass wir nach dieser Annahme etwas erkennen, als ob es nach einem Prinzip organisiert sei, nach dem es zugleich nicht organisiert sein soll, so dass es zugleich erkannt und nicht erkannt ist, wird zumeist pragmatisch mit dem Hinweis auf den Erfolg der Annahme dieses Prinzips in der Biologie ignoriert.15 Neben diesen drei geläufigen Varianten sind logisch noch zwei Extreme denkbar, die sich jeweils gänzlich auf die eine oder andere Seite des Widerspruchs schlagen. Diese sind aufgrund ihrer absurden Konsequenzen jedoch nicht oder kaum im wissenschaftlichen Diskurs vertreten. Man kann sich erstens auf die Seite des Begriffs der kausalen Natur stellen und zur Vermeidung des Widerspruchs fordern, dass auch sogenannte Organismen ohne teleologische Implikationen gedacht und beschrieben werden müssen.16 Konsequent müsste man sich so vom Begriff des Lebendigen verabschieden und die Biologie als Irrtum einer von metaphysischen Konzepten irregeleiteten Wissenschaft aufgeben; ihre Forschungen würden einem Teil der – dann nicht mehr organischen, sondern kohlenstoffbasierten – Chemie subsumiert werden. Was wir Organismus nennen, würde sich so ohne qualitative Differenz – ohne innere Zweckmäßigkeit, ohne Beschreibung von Funktionszusammenhängen – in die Reihe der Naturgegenstände einfügen, die wir in Abgrenzung zu den teleologisch verfassten ›unbelebte‹ nennen. Oder man kann zweitens die andere Seite des Widerspruchs stark machen, dass jeder Zweck auf eine ihn setzende Vernunft verweist und folglich die Existenz des Lebens als Beweis für die Existenz eines Gottes oder intelligenten Designers17 annehmen, womit man sich jedoch von der naturwissenschaftlichen Grundlage verabschiedet und

12 13 14 15 16 17

Vgl. Kapitel 9 und 10. Vgl. Kapitel 7.4.2. Zur historischen Entwicklung der Frage nach der methodischen Funktion der teleologischen Beurteilung von Organismen vgl. Toepfer, Zweckbegriff und Organismus. Vgl. Kapitel 12.5. Vgl. Kapitel 8.2. Vgl. Kapitel 4.7.

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Dialektik des Lebendigen

sie durch einen Glaubenssatz ersetzt. Auch diese beiden Varianten scheitern also daran, das Organische als eine spezifische Naturerscheinung zu erklären. Das Scheitern liegt gleichermaßen im Denken wie im Gegenstand: Lebendiges kann nur als zweckmäßig ohne Zweck – und damit nur als in sich widersprüchlich – begriffen werden, weil es in seinen sinnvoll aufeinander bezogenen Funktionszusammenhängen als teleologisch verfasst erscheint. Es muss also gedacht werden, als ob es teleologisch bestimmt wäre, in dem gleichzeitigen Wissen darum, dass es nicht teleologisch bestimmt sein kann, da die Natur keine intelligiblen Zwecke in ihre Produkte setzen kann, sondern diese rein kausal als Wirkungen ihrer Ursachen hervorbringt. Die im ersten Kapitel aufgestellte These, dass das Lebendige nur widersprüchlich zu begreifen sei, hat sich über die Perpetuierung widersprüchlicher Theoreme und Begriffe in der Biologie bestätigt. Eine widerspruchsfreie Theorie des Lebendigen zu formulieren, erweist sich nicht nur als bislang nicht geleistet, sondern als prinzipiell unmöglich.

13.2

Die Antinomie des Lebendigen

All die gescheiterten Versuche, den Widerspruch im Lebensbegriff zu lösen, verweisen implizit auf die Lösung des Problems: Der Widerspruch lässt sich nicht auflösen. Er ist im Gegenteil konstitutiv für das Lebendige. Die Fehler der widersprüchlichen Theoreme und Begriffe des Lebendigen liegen darin, ihre Widersprüchlichkeit nicht zu reflektieren, sondern sie im Gegenteil zu leugnen. Entgegen ihrer Intention erscheint gerade im Misslingen der Widerspruchsfreiheit ein wahres Moment, welches das Lebendige adäquat fasst.

13.2.1

Die Antinomie der Teleologie als konstitutives Prinzip des Lebendigen

Bei Kant finden sich in § 70 der Kritik der teleologischen Urteilskraft zwei Formen der Antinomie des Lebendigen; die erste, die den Widerstreit zweier Maximen als regulativer Grundsätze der reflektierenden Urteilskraft beschreibt, wurde in Kapitel 12.3.1. dargelegt und ihre Kantische Auflösung als bloß dialektischer Schein mit Hegel kritisiert. Im vorigen Kapitel zeigte sich, wie das regulative Prinzip der teleologischen Urteilskraft durch seine erfolgreiche Anwendung den Gegenstandsbereich des Lebendigen erst konstituiert und somit selbst zu einem konstitutiven Prinzip wird. Somit stehen wir nun vor der zweiten Form der Antinomie des Lebendigen, welche Kant verwarf, da sie nicht nur den Anschein von Widersprüchlichkeit erweckt, sondern tatsächlich einen unauflöslichen Widerspruch enthält: »Wenn man diese regulativen Grundsätze für die Nachforschung nun in konstitutive der Möglichkeit der Objekte selbst verwandelte, so würde sie [die Antinomie] so lauten: S a t z: Alle Erzeugung materieller Dinge ist nach bloß mechanischen Gesetzen möglich. G e g e n s a t z: Einige Erzeugung derselben ist nach bloß mechanischen Gesetzen nicht möglich.

13. Die Dialektik des Lebendigen

In dieser letzteren Qualität, als objektive Prinzipien für die bestimmende Urteilskraft, würden sie einander widersprechen, mithin einer von beiden Sätzen notwendig falsch sein«18 . Wenn der erste Satz falsch wäre, dann müssten wir den Begriff der Natur als ein System unter Gesetzen und damit die Möglichkeit der Naturwissenschaft überhaupt aufgeben. Da dies schlechterdings nicht möglich ist, versucht die Biologie19 , den Gegensatz zu widerlegen. Doch dass auch die Entstehung des Lebens nicht ohne einen Wechsel vom kausalen zum teleologischen Prinzip zu erklären ist, hat sich im fünften Kapitel gezeigt. Mehr noch: jeder Versuch, den Gegensatz als falsch zu verwerfen, fällt explizit oder implizit in einen Reduktionismus, der keinen eigenständigen Gegenstandsbereich der Biologie begründen kann. Wie der alte Mechanismus in seiner Abgrenzung gegen den Vitalismus eine Reduktion der Biologie auf Physik und Chemie nahelegte, so finden sich heute Reduktionismen insbesondere in der Verbindung mit der Kybernetik und der Mathematisierbarkeit selbstorganisierender Systeme, die Artefakte, Organismen oder Sonnensysteme nicht über ein Prinzip voneinander unterscheiden können.20 Da viele Teilbereiche der modernen Biologie sich nicht mit ganzen Organismen beschäftigen, sondern Ausschnitte behandeln, die sich rein chemisch darstellen lassen, kann hier punktuell tatsächlich auf die teleologische Frage nach der Funktion verzichtet werden. So werden z.B. katabole und anabole Reaktionen rein kausal nach dem nexus effectivus beschrieben. Doch sobald sie als Teil des organischen Stoffwechsels begriffen werden, der der Aufrechterhaltung des Organismus dient, wird notwendig auf die teleologische Erklärungsform nach dem nexus finalis zurückgegriffen. Ohne das mit dem Begriff des Lebendigen gesetzte teleologische Prinzip wären also biologische Erkenntnisse über organische Funktionszusammenhänge, wie sie sich erfolgreich z.B. in der Medizin zur Analyse und Behebung von organischen Dysfunktionen anwenden lassen, gar nicht möglich. Daher kann auch der Gegensatz nicht als falsch verworfen werden.

13.2.2

Die Antinomie lässt sich nicht auflösen

Die obige Antinomie gegensätzlicher objektiver Prinzipien der Urteilskraft verwarf Kant, da sie nicht als ein ›dialektischer Schein‹ zu begreifen und somit nicht aufzulösen ist. Doch auch die von ihm in der Kritik der Urteilskraft präsentierte Lösung des Widerstreits zweier Maximen, von denen eine »bei gelegentlicher Veranlassung«21 angewandt wird, da »die Urteilskraft also als (aus einem subjektiven Grunde) r e f l e k t i e r e n d e, nicht als (einem objektiven Prinzip der Möglichkeit der Dinge an sich zufolge) bestimmende Urteilskraft, genötigt ist, für gewisse Formen in der Natur ein anderes Prinzip als das des Naturmechanismus zum Grunde ihrer Möglichkeit

18 19

20 21

Kant, KdU, S. 250 f [314 f]. Da dieses epistemologische Problem im Kern die gesamte Naturwissenschaft betrifft, haben sich auch Chemiker und Physiker die Frage gestellt, was Leben sei, und versucht, einen teleologiefreien Lebensbegriff zu entwickeln. Vgl. Kapitel 9. Vgl. Kapitel 10. Kant, KdU, S. 251 [316].

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420

Dialektik des Lebendigen

zu denken«22 , wobei der Begriff des teleologisch organisierten Naturgegenstands »eine bloße Idee ist, der man keineswegs Realität zuzugestehen unternimmt, sondern sie nur zum Leitfaden der Reflexion braucht«23 , überzeugt unter seinen eigenen epistemologischen Prämissen nicht. Im Begriff der Realität selbst sind bei Kant durch die kopernikanische Wende intelligible und empirische Welt notwendig miteinander vermittelt und beide nur in dieser Vermittlung möglich. Empirische Realität ohne ihre intelligible Form, gegeben durch die reinen Formen der Sinnlichkeit sowie die Kategorien als reine Verstandesbegriffe von Gegenständen überhaupt, wäre ein bloßes Noumenon im negativen Verstande. Das Ding an sich, welches nur durch Reflexion auf die Grenzen der Erkenntnis erschlossen werden kann als unerkennbares Zugrundeliegendes der Erscheinungen, fällt als Reflexionsbegriff ganz ins Denken. So haben schon in der transzendentalen Ästhetik die reinen Formen der Anschauung, Raum und Zeit, notwendig beides: sowohl transzendentale Idealität wie empirische Realität24 . D.h. sie sind nicht als empirische Gegenstände real, aber als deren notwendig a priori vorauszusetzende Form sind alle Gegenstände nur durch sie real.25 Analog sind Organismen nur durch ihr negativ-teleologisches Prinzip lebendig, das in ihnen denkend vorausgesetzt werden muss, um sie als lebendig zu erkennen. Mit Kants idealistischer Lösung der Antinomie der teleologischen Urteilskraft, den Widerspruch ganz als einen Widerspruch im menschlichen Erkenntnisvermögen zu betrachten, der bezogen auf die ›Dinge an sich‹ ›keineswegs Realität‹ habe, fällt er hinter seine eigene transzendentalphilosophische Erkenntnistheorie zurück. Wie in den sich hier auf Kant stützenden Annahmen, die teleologische Beurteilung der Organismen sei eine erfolgreiche heuristische Methode, habe einen großen methodischen Wert oder sei lediglich eine besondere Form des sprachlichen Ausdrucks etc.,26 bleibt die belebte Natur hierdurch zwar als widerspruchsfrei gesetzt – aber zugleich wird damit unerklärlich, warum wir etwas in sich Widerspruchsfreies nur widersprüchlich erkennen können und warum gerade diese Gegenstände, die wir als lebendig erkennen, uns nötigen, sie in dieser Weise zu denken. Wäre diese Widersprüchlichkeit der Antinomie des Lebendigen eine bloße Projektion des Geistes auf die Natur, dann würde mit den teleologischen Begrifflichkeiten in der Biologie tatsächlich nichts adäquat erkannt werden. So, wie die Natur in jeder gegebenen Erscheinung jederzeit bedingt ist und also nicht als »unbedingtes Ganzes«27 existiert, außer in dem notwendigen und antinomischen Begriff von ihr als der Zeit und dem Raum nach vollständig bestimmt (also endlich als Gesamtheit) und in jedem veränderlichen Zustand bestimmbar (also in vollendetem unendlichem Regress der Reihe), so hat nicht der einzelne empirische Organis22 23 24 25

26 27

Kant, KdU, 252 [316]. Kant, KdU, 253 [318]. Vgl. Kant, KrV, B44 und B52. Die ›absolute Realität‹ (vgl. Kant, KrV, B52), welche Kant bisweilen der empirischen Realität der Erscheinungen entgegensetzt, hat dagegen keine physikalische Realität, da ihre Gegenstände außerhalb von Raum und Zeit und damit jenseits des Gegenstandsbereichs der Naturwissenschaften gesetzt sind. Vgl. Kapitel 7. Kant, KrV, B 533.

13. Die Dialektik des Lebendigen

mus selbst, sondern bloß der Begriff des Lebendigen mit dem Widerspruch des kausal und teleologisch verfassten Naturstoffs zu kämpfen. Dies wäre nach Kant, wie bei den kosmologischen Weltbegriffen, »bloß dialektisch und ein Widerstreit eines Scheins«28 . Dieser Schein rührte daher, dass die Idee der Zweckmäßigkeit, eine Bedingung von Gegenständen mit intelligibler Ursache, auf Naturerscheinungen angewandt wurde. Kant verweist bei seiner Auflösung der Antinomien der kosmologischen Ideen auf die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich, nicht, um dem Skeptizismus das Wort zu reden, sondern um die kritische Methode zur »Entdeckung der wahren Beschaffenheit der Dinge, als Gegenstände der Sinne«29 zu demonstrieren. Die Gleichzeitigkeit von transzendentaler Idealität und objektiver Realität der Erscheinungen – »daß Erscheinungen überhaupt außer unseren Vorstellungen nichts sind«30 , also keine Dinge an sich selbst sind, sondern sinnliche Anschauungen in Raum und Zeit, »weil uns auf andere Weise kein Gegenstand gegeben werden kann«31 , und dass Realität folglich dasjenige ist, »was einer Empfindung überhaupt korrespondiert«32 –, bleibt gleichwohl dialektisch; ihr ›Schein‹ erweist sich mit Hegel als das notwendige Scheinen der Erscheinung.33 Dass die Organismen unserer Erkenntnis teleologisch erscheinen, ist folglich kein aufzulösender Schein, hinter dem sich eine zu entdeckende Wahrheit über die Beschaffenheit der Lebewesen an sich verberge, sondern Ausdruck, nämlich Erscheinung, ihrer wesentlichen Form. Die Gleichzeitigkeit von kausaler und teleologischer Erklärung bestimmt den Organismus. Zwar bleibt die Einheit der Natur unter kausalen Gesetzen gewahrt, da auf der unmittelbar empirischen (physikalischen) Ebene nichts geschieht, das nicht vollständig kausal erklärbar wäre (wie bei Artefakten). Doch hierüber lässt sich, wie wir vielfach gesehen haben, kein Begriff des Lebens (oder des Artefakts) bilden. Als lebendiger muss der Organismus zugleich als in sich zweckmäßig beurteilt werden, ohne hierbei tatsächlich als teleologisch verursacht angenommen zu werden. Diese besondere teleologische Form als bestimmendes Prinzip des Lebendigen lässt sich lediglich negativ mit der kritischen Methode Kants aufzeigen, weshalb der Begriff des Lebendigen auch in der Biologie nicht widerspruchsfrei in Form einer positiven Realdefinition zu entwickeln ist;34 weil das Leben, d.i. die ›Als-ob‹-Teleologie, nicht selbst unmittelbar als physikalische Eigenschaft erscheint, sondern im Organismus (an)erkannt werden muss35 , muss eine positive Realdefinition über seine sinnlichen Eigenschaften an ihm vorbei gehen. Aber ohne ein teleologisches Prinzip des Lebens, welches sich als widersprüchlich erweist, ist kein einzelner empirischer Organismus als lebendig zu erkennen.

28 29 30 31 32 33 34 35

Kant, KrV, B 534. Kant, KrV, B 535. Kant, KrV, B 535. Kant, KrV, B 33. Kant, KrV, B182. Vgl. hierzu Kapitel 1. Vgl. Hegel, Enzyklopädie I, § 131. Vgl. Kapitel 6. Vgl. Kapitel 7.

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Dialektik des Lebendigen

13.3

Die Einheit des Organismus: Leben als zweckförmiger Prozess unter kausalen Gesetzen

Der Widerspruch, Organismen als in sich zweckmäßig zu beurteilen und diese Teleologie zugleich zu negieren, verlangt – da er nicht schlicht aufgelöst werden kann, indem eine Seite des Widerspruches als falsch verworfen wird – nach seiner Aufhebung. Diese zu leisten beanspruchte zuerst Hegel. In der Phänomenologie des Geistes findet sich zunächst eine klare Analyse des Problems der Widersprüchlichkeit, in die das Lebendige die Erkenntnistätigkeit treibt. Hegel zeigt, wie in der ›beobachtenden Vernunft‹ – worunter die empirische Naturforschung subsumiert werden kann – das lebendige Ding und sein Begriff auseinanderfallen, wodurch der Begriff des Lebens rätselhaft erscheinen muss: »So ist das organische Ding für sie [die beobachtende Vernunft] nur so Zweck an ihm selbst, daß die Notwendigkeit, welche in seinem Tun als verborgen sich darstellt, indem das Tuende darin als ein gleichgültiges Fürsichseiendes sich verhält, außer dem Organischen selbst fällt. – Da aber das Organische als Zweck an ihm selbst sich nicht anders verhalten kann denn als ein solches, so ist auch dies erscheinend und sinnlich gegenwärtig, daß es Zweck an ihm selbst ist, und es wird so beobachtet. Das Organische zeigt sich als ein sich selbst Erhaltendes und in sich Zurückgekehrtes. Aber in diesem Sein erkennt dies beobachtende Bewußtsein den Zweckbegriff nicht oder dies nicht, daß der Zweckbegriff nicht sonst irgendwo in einem Verstande, sondern eben hier existiert und als ein Ding ist. Es macht einen Unterschied zwischen dem Zweckbegriffe und dem Fürsichseienden und Selbsterhaltenden, welcher keiner ist. Daß er keiner ist, ist nicht für es, sondern ein Tun, das zufällig und gleichgültig gegen das, was durch dasselbe zustande kommt, erscheint; und die Einheit, welche doch beides zusammenknüpft, – jenes Tun und dieser Zweck fällt ihm auseinander.«36 Das Zweckmäßige, nach Kant ein rein Intelligibles, existiert nach Hegel als Organisches in sinnlicher Form. So kann es einerseits beobachtet werden, andererseits ist dasjenige, was beobachtet wird, immer kausaler Prozess und damit die Gleichgültigkeit gegen den Zweck, was als bloßer Mechanismus erscheint. »Da aber das Organische als Zweck an ihm selbst sich nicht anders verhalten kann denn als ein solches, so ist auch dies erscheinend und sinnlich gegenwärtig, daß es Zweck an ihm selbst ist« heißt: Organismen werden uns als in sich zweckmäßige sinnlich gegeben.37 Nur dies rechtfertigt den eigenständigen Gegenstandsbereich der Biologie, das Lebendige erscheint als besonders verfasster Naturgegenstand, als existierende Einheit von Teleologie und Kausalprinzip. Doch diese Einheit, da die Teleologie ihr inneres, die Kausalität aber ihr äußeres Prinzip ist, fällt in äußere Beobachtung des Dinges und innere, also gedachte oder ›methodische‹ Annahme des Begriffs, auseinander. Eben dieses Auseinanderfallen von Zweck als intelligiblem Begriff und zweckförmigem Prozess als Dasein des Organismus unter kausalen Gesetzen ist es, was der Biologie einen erkenntnistheoretischen Widerspruch aufzwingt. In den vorigen Kapiteln spiegelt sich dieses Auseinanderfallen in widersprüchlichen Begriffen wie 36 37

Hegel, Phänomenologie, S. 200 f. Vgl. Kapitel 2.4.1. und 12.4.

13. Die Dialektik des Lebendigen

z.B. der Teleonomie, die eine kausal sich herstellende, nicht intelligible Zweckmäßigkeit bezeichnet. Wegen dieses Auseinanderfallens erscheint die im Organischen gegebene Einheit zugleich nicht als Einheit, sondern als epistemologischer Widerspruch: »Diese Einheit der Allgemeinheit und der Tätigkeit ist aber darum nicht für dies beobachtende Bewußtsein, weil jene Einheit wesentlich die innere Bewegung des Organischen ist und nur als Begriff aufgefaßt werden kann; das Beobachten aber sucht die Momente in der Form des Seins und Bleibens; und weil das organische Ganze wesentlich dies ist, so die Momente nicht an ihm zu haben und nicht an ihm finden zu lassen, verwandelt das Bewußtsein in seiner Ansicht den Gegensatz in einen solchen, als er ihr gemäß ist. Es entsteht ihm auf diese Weise das organische Wesen als eine Beziehung zweier seiender und fester Momente, – eines Gegensatzes, dessen beide Seiten ihm also einesteils in der Beobachtung gegeben zu sein scheinen, andernteils ihrem Inhalte nach den Gegensatz des organischen Zweckbegriffs und der Wirklichkeit ausdrücken;«38 Dieser Gegensatz von kausal verfasster Wirklichkeit aller Naturerscheinungen und teleologischem Prinzip der inneren Organisation wird dann in widersprüchlichen Begriffen gefasst, als Teleologie ohne Telos, Selbstbezüglichkeit ohne Selbst, Zweckmäßigkeit ohne Zweck etc. Diese unreflektiert widersprüchlichen Begriffe der Teleomatie, Teleonomie, Autopoiesis39 u.s.w. oder auch der ›vollständigen Kausalanalyse‹40 erscheinen bei Hegel als zwei Momente, Inneres und Äußeres, deren Verhältnis gefasst werden muss als Einheit des Organismus. In der Logik fällt bei Hegel die am Organismus wahrgenommene Zweckmäßigkeit mit der Forderung einer »eigenen, freien Existenz des Begriffs«41 zusammen; zunächst als ein Verstand, der als Urheber dieser Zweckmäßigkeit angenommen wird. Soweit folgt Hegel Kants These, Organismen seien so zu denken, als ob sie in einem (nichtmenschlichen) Verstand ihren Ursprung hätten. Doch zugleich unterscheidet sich sein Zweckbegriff von demjenigen Kants: Hegel hebt das ›Als-ob‹ auf im konkreten Allgemeinen. Während in der bestimmenden Urteilskraft bei Kant das Besondere unter das Allgemeine subsumiert und das Allgemeine also erst in dem Besonderen konkret wird, ist bei Hegel beides im Zweckbegriff zusammengenommen. Der Zweck umgreift als auf den Inhalt des lebendigen Objektes bezogen immer das Moment der Äußerlichkeit und Besonderheit als dessen inneres Prinzip mit; zugleich ist er als Form der Zweckmäßigkeit Allgemeines. Darum kann es so etwas wie ein ›Als-ob‹ – eine bloß reflektierende Urteilskraft, eine Naturerkenntnis, der die Zweckmäßigkeit bloß heuristische Methode ist, ohne das An-Sich des erkannten Objektes zu begreifen – mit Hegels dialektischem Zweckbegriff nicht geben: »Aber die Zweckbeziehung ist darum nicht ein reflektierendes Urteilen, das die äußerlichen Objekte nur nach einer Einheit betrachtet, als ob ein Verstand sie zum Behufe 38 39 40 41

Hegel, Phänomenologie, S. 202. Vgl. 9.2.3.3. Vgl. Kapitel 4.4.3. Vgl. Hegel, Logik II, S. 436.

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Dialektik des Lebendigen

unseres Erkenntnisvermögens gegeben hätte, sondern sie ist das anundfürsich seiende Wahre, das objektiv urteilt und die äußerliche Objektivität absolut bestimmt.«42 Weil die äußerliche Objektivität und ihre Besonderheit nur und erst als Zweckbeziehung (und eben nicht bereits im Mechanismus oder Chemismus) erfasst ist, darum ist die Zweckbeziehung bei Hegel notwendig mehr als eine subjektive Form des Urteilens, nämlich objektives Urteilen, d.i. Bestimmung der äußeren, uns sinnlich gegebenen Lebewesen als innerlich teleologisch verfasst. In diesem Bezug des Zweckbegriffs auf Naturdinge erscheint nach Hegel die mechanische Kausalität als ein in dieser Zweckbeziehung aufgehobenes Moment. Denn als Zweck ist das sinnliche Objekt nicht nur als bestimmtes und bestimmbares gegen dieses äußere Bestimmt-Sein gleichgültig, sondern hat eine Selbstbestimmung. Die Bestimmtheit des zweckmäßigen Objektes manifestiert sich teleologisch als Selbstbestimmung, wohingegen im Mechanismus »an dem Objekte gesetzte Bestimmtheit wesentlich als äußerliche eine solche ist, an der sich keine Selbstbestimmung manifestiert.«43 Das lebendige Objekt erweist sich so als Selbstbestimmung ohne Selbst. Indem es sich als solches erweist, ist dieser Begriff von den unreflektierten Formen, welche bloß in sich widersprüchlich sind, wesentlich unterschieden: Der Widerspruch ist hier als die dem Objekt gemäße Beziehung auf die Idee der Selbstbestimmung und deren Negation gefasst. Damit ergibt sich ein inhaltlich bestimmter Begriff, der kein bloßes ›Als-ob‹ ist, das in wesentlicher Bestimmungslosigkeit verharren muss – im Rätsel. »Er [der Zweck] manifestiert darum Vernünftigkeit, weil er der konkrete Begriff ist, der den objektiven Unterschied in seiner absoluten Einheit hält«44 . Weil der Zweck Einheit von Ursache und Wirkung ist, oder Ursache, welche Ursache ihrer selbst ist, ist er die Einheit des objektiven Unterschieds – d.i. die Einheit von äußerer kausaler Bestimmtheit und (reflexionsloser) Selbstbestimmung. Der Zweck tritt im entwickelten Organismus in Erscheinung und ist ihm zugleich vorausgesetzt als Bedingung der Entwicklung zum Organismus. Darum ist nach Hegel die Idee (als Zweckmäßigkeit) im Leben zur unmittelbaren Existenz gekommen. »Der Zweck als immanente Form des Lebendigen ist nicht nur das Ziel seiner Entwicklung, sondern zugleich auch das Bewegende in diesem Prozess.«45 Insbesondere den tätigen tierischen Organismus fasst Hegel in der Enzyklopädie als Selbstzweck: »Das tierische Leben ist, als sein eigenes Produkt, als Selbstzweck, Zweck und Mittel zugleich.«46 Der Prozess seiner Realisierung ist zugleich das Zurückgehen in sich, also der Form nach reflexiv. Der Begriff bleibt in jedem Stadium des Prozesses derselbe. In der Idee, die bei Hegel die Einheit von Begriff und Realität bezeichnet, ist somit die »unbestimmte Vielheit von Lebendigen […] ein Leben, ein organisches System«47 . Es gibt viele lebendige Organismen, aber es gibt nur ein Leben, d.i. eine Idee des Lebendigen. 42 43 44 45 46 47

Hegel, Logik II, S. 444. Hegel, Logik II, S. 436. Hegel, Logik II, S. S. 446. Karl-Heinz Ilting, »Hegels Philosophie des Organischen«, in: Michael John Petry (Hg.), Hegel und die Naturwissenschaften, Stuttgart/Bad Cannstatt 1987, S. 349-376, S. 356. Hegel, Enzyklopädie II, S. 436. Hegel, Enzyklopädie II, S. 337.

13. Die Dialektik des Lebendigen

Das Lebendige ist nur, indem es sich erhält, ist nicht statisch als Seiendes, sondern Prozess als sich Reproduzierendes: »[E]s ist nur, indem es sich zu dem macht, was es ist; es ist vorausgehender Zweck, der selbst nur das Resultat ist.«48 Damit ist zugleich gesagt, dass der Organismus nicht über sich hinaus geht, er kann – anders als der Geist – keinen Zweck außer sich haben. Indem er nicht über sich hinausgeht, kann er sich auch nicht auf sich zurück beziehen.49 Er ist keines Begriffs fähig; sein Begriff hat in ihm Existenz, ohne von ihm begriffen zu sein: »Das Lebendige ist zwar die höchste Weise der Existenz des Begriffs in der Natur, aber auch hier ist der Begriff nur an sich, weil die Idee in der Natur nur als Einzelnes existiert.«50 Der Organismus ist im Prozess seiner Realisierung und Erhaltung der Form nach reflexiv, aber zugleich ohne Reflexionsvermögen, unbegriffener Begriff. Erst im Denken, dem für sich selbst seienden Allgemeinen, ist der Begriff für sich, als Geist. Im Leben ist nach Hegel die Idee zur unmittelbaren Existenz gekommen.51 Das organische Leben unterwirft sich die chemischen Elemente (hebt sie auf), indem es sie in seine Gestalt verarbeitet (Stoffwechsel). Es setzt damit die Gesetze der Physik und Chemie nicht außer Kraft, aber der Prozess der Formierung des Materials als belebter Körper hat als Prinzip eine Zweckmäßigkeit, die nicht von naturkausalen Gesetzen bestimmt, sondern lediglich durch sie verwirklicht wird. Auch dies ist ein natürlicher Prozess, aber dieser ist zugleich ideell gerichtet und reflexiv. Dieser Widerspruch muss in den Begriff des Lebens eingehen. Bei Hegel tut er dies, indem das Leben als Vorform des Bewusstseins fungiert. In den Gestaltungen des Organischen will Hegel die ›Idee‹ (das Ideelle des Zwecks als Realisiertes) wiedererkennen, und dies heißt, die begriffliche Struktur dieser Gestalten freizulegen und sie dadurch denkend zu erkennen – die Lebewesen nicht bloß als empirische Gegenstände zu beschreiben in der Aufzählung ihrer Kennzeichen, sondern die Verwirklichung des Zweckbegriffs in ihnen zu erkennen, d.i. die Idee. Indem Organismus Idee ist, realisierter Begriff, ist in ihm ein Moment denkender Subjektivität – allerdings ist das Subjekt, das ihn begreift, nicht er selbst; die einzige bekannte Ausnahme ist der Mensch. Daher ist die Subjektivität und Selbstbezüglichkeit des nicht-menschlichen Organismus eine ohne Selbstbewusstsein. »Die Subjektivität eines tierischen Organismus ist nur als die Vorform der Subjektivität des Selbstbewusstseins zu betrachten.«52 Mit der Degradierung zur Vorform ist bei Hegel immer das entwickelte Selbstbewusstsein als Telos der Begriffs- und damit auch der Naturentwicklung unterstellt. Die organische, sogar die weit entwickelte tierische Existenz hat kein eigenständiges Prinzip, sondern ist nur in Negation zum Selbstbewusstsein zu denken – als Subjektivität ohne Subjekt. So verbleibt das Lebendige auch bei Hegel in seiner spezifischen Widersprüchlichkeit, an welcher sein adäquater Begriff festhalten muss, da

48 49 50 51 52

Hegel, Enzyklopädie II, S. 435. Darum sind nichtmenschliche Lebewesen, obgleich formal Selbstzweck, keine moralischen Subjekte. Hegel, Enzyklopädie II, S. 537 f. Vgl. Hegel, Enzyklopädie II, S. 337. Karl-Heinz Ilting, »Hegels Philosophie des Organischen«, in: Michael John Petry (Hg.), Hegel und die Naturwissenschaften, Stuttgart/Bad Cannstatt 1987, S. 349-376, S. 368.

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Dialektik des Lebendigen

die Aufhebung dieses Widerspruchs erst in einem anderen Gegenstand, dem Selbstbewusstsein, Wirklichkeit hat.

13.3.1

Der Hegelsche Lebensbegriff ist kein biologischer Begriff

Natur ist nach Hegel die Idee in ihrer Äußerlichkeit, die Idee ist sich selbst äußerlich als Natur. Es handelt sich beim Verhältnis von Idee und Natur nicht um eine bloße Relation (Idee als das Innen/Natur als das Außen), sondern die Äußerlichkeit ist die Bestimmung der Idee als Natur. Somit ist Natur nur in Bezug auf die Idee begrifflich bestimmt, negativ als Form des Andersseins. Dies ist eine Bestimmung der Totalität der Natur in Beziehung zur Totalität der Idee und keine Bestimmung der besonderen Naturgegenstände. Entsprechend kann die Aufgabe der Naturphilosophie auch nicht das Erkennen der besonderen Naturgegenstände sein. Vielmehr soll nach Hegel mithilfe der Resultate der Naturwissenschaften der der Äußerlichkeit geschuldete Schein der Natur als Vereinzeltes und gegeneinander gleichgültig Bestehendes aufgehoben und zur Einheit der Idee gebracht werden, die mit dem Begriff von der Natur immer schon als Einheit (voraus)gesetzt ist. Aufgabe der Naturphilosophie ist nach Hegel also das Erkennen des Geistes selbst im Prozess der Rückführung der Natur auf die Idee: d.i. Selbstbewusstsein. Im Leben, das die erste Form der Subjektivität, das Gegenteil des bloßen Außereinander, nämlich konstitutive Bezogenheit der Glieder aufeinander zur Einheit ist, kommt der Begriff zur Existenz; aber nur im Geist ist er sich gemäß oder, in Hegels Terminologie, gänzlich lebendig. An sich ist die Natur nach Hegel ein »lebendiges Ganzes«53 , was nichts anderes heißt, als dass sie eine Form der Idee ist; denn Leben bedeutet nach Hegel, dass der Begriff zur Existenz kommt. Darum sei die Hervorbringung des Geistes »Wahrheit und Endzweck der Natur und die wahre Wirklichkeit der Idee«54 . Hegel hat also einen anderen Lebensbegriff als den biologischen. Er versteht das organische Leben als ein Moment in der Bewegungsform des Begriffs von der Materie zum Selbstbewusstsein. Damit lässt sich die Frage nach dem biologischen Begriff des Lebendigen als eigenständigem Gegenstandsbereich der Naturwissenschaft jedoch nicht beantworten. Mit dem Hegelschen Lebensbegriff ist organisches Leben seinem Prinzip nach immer bloß negativ auf das entwickelte Selbstbewusstsein bezogen und hat diesem gegenüber keine Eigenständigkeit. Ein naturwissenschaftlicher Begriff bezieht sich auf die immanente Bestimmtheit des erkannten Gegenstandes. So, wie diese immanente Bestimmtheit des Organismus nicht durch einen religiös bestimmten Begriff des Lebens gegeben wird,55 so wenig wird sie durch einen Lebensbegriff gefasst,

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Hegel, Enzyklopädie II, S. 36. Ebd. Dies macht auch Hegel deutlich: »Je mehr das teleologische Prinzip mit dem Begriffe eines außerweltlichen Verstandes zusammenhängt und insofern von der Frömmigkeit begünstigt wurde, desto mehr schien es sich von der wahren Naturforschung zu entfernen, welche die Eigenschaften der Natur nicht als fremdartige [nicht heteronom durch einen außerweltlichen Verstand bestimmt], sondern als immanente Bestimmtheit erkennen will, nur solches Erkennen als ein Begreifen gelten lässt.« Hegel, Logik II, S. 438.

13. Die Dialektik des Lebendigen

der das Organische als Vorform des Geistes nur bezogen auf dieses heteronome Telos begreift. Für einen biologischen Begriff des Lebewesens als Naturgegenstand muss dieses entgegen Hegels idealistischer Auffassung als immanente Bestimmtheit der Natur gedacht werden können. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist die Entwicklung des Begriffs des organischen Lebens, und nicht wie bei Hegel die des Geistes als organologische Konzeption des Absoluten. Was wir hierfür bei Hegel finden, ist die begrifflich entwickelte Selbstaufhebung der Teleologie in die innere Zweckmäßigkeit des Organischen: »Hegel kann die Reflexion nur an den Rand der Sphäre führen, indem er zeigt, daß die Teleologie eigentlich schon die Aufhebung des Unterschieds von Zweck und Mittel oder von Ursache und Wirkung enthält.«56 Mit dem Setzen der Identität von Ursache und Wirkung, Zweck und Mittel, wird die eigentliche Sphäre der Teleologie des nexus finalis durch die bestimmte Negation verlassen. Der Organismus enthält diese Aufhebung der Teleologie in der materiellen Realisierung der Einheit ihrer Momente. »[I]n der Ausgeführtheit des Zwecks liegt die Aufhebung des Unterschieds des Zwecks als bloß subjektive Absicht, als Sollen, vom vorgefundenen äußeren, objektiven Material.«57 Das Lebendige, seine Existenz als Naturzweck, ist gerade nicht auf ein intelligibles Sollen verwiesen. Im Gegensatz zum Artefakt ist seine Verwirklichung im Material keine auszuführende Aufgabe, sondern es existiert immer schon und nur als Ausgeführtheit seiner immanenten Zweckform. Lebewesen sind in diesem Sinne niemals ›unfertig‹, weder im Prozess ihrer Entwicklung, noch als eine bloße Vorform des entwickelten Selbstbewusstseins. Organismen sind hierin nicht Analogbildungen zu Artefakten, sondern geradezu ihr teleologisches Gegenteil.58 Sie enthalten die äußere Zweckmäßigkeit der Artefakte in negativer Weise, als innere Zweckmäßigkeit und damit ›ohne Zweck‹, d.i. ohne intelligiblen Grund; dabei bleiben sie jedoch stets auf die teleologische Form verwiesen, die nur als Intelligibles zu denken ist. Diese spezifische organische Teleologie ist damit wesentlich widersprüchlich und erfordert eine Dialektik des Lebendigen.

13.4

Die Dialektik des Lebendigen

Wie oben gezeigt, geraten wir bei der Erkenntnis des Lebendigen in eine Antinomie, d.h. wir haben es mit zwei kontradiktorischen Annahmen zu tun, so dass nach dem logischen Grundsatz der Widerspruchsfreiheit eine von beiden falsch sein muss. Zugleich haben wir gesehen, dass keine dieser Annahmen als falsch verworfen werden kann, ohne zugleich die Möglichkeit der Erkenntnis einer Klasse real gegebener Naturgegenstände aufzugeben. Dies begründet die Dialektik des Lebendigen.

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Thomas Kalenberg, Die Befreiung der Natur, Hamburg 1997, S. 297. Ebd. An dieser Stelle ist der artifizielle Anteil von Haus- und Nutztieren sowie -pflanzen zu vernachlässigen, da ihre Lebendigkeit dem Eingriff durch Bearbeitung immer schon vorausgesetzt werden muss.

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Dialektik des Lebendigen

Dialektik ist »der Versuch, objektive Widersprüchlichkeiten, die in der Realität liegen, nachzuvollziehen.«59 Es geht bei der Dialektik keinesfalls darum, den logischen Grundsatz der Widerspruchsfreiheit außer Acht zu lassen. Im Gegenteil. Solche objektiven Widersprüchlichkeiten finden wir nur, indem die wissenschaftliche Theoriebildung sich um Widerspruchsfreiheit bemüht, aber hierbei an dem zu erkennenden Gegenstand scheitert. Dann ist es der Gegenstand der Erkenntnis selbst, der sich der widerspruchsfreien Begriffsbildung versagt. »Auf der einen Seite ist logische Begriffsbildung zu fordern, aber sie darf nicht gewaltsam, nach einem Schema vollzogen werden, sondern die Begriffe müssen so gebildet werden, daß sie der Sache angemessen sind.«60 Die logische Begriffsbildung ist gefordert, aber das Primat in der Erkenntnis liegt traditionell in der adaequatio rei et intellectus. Und wenn das Lebendige sich nicht mit dem Schema der Kausalität allein adäquat begreifen lässt, dann ist ein Begriff des Lebendigen, der es in dieses Schema pressen will, ihm nicht angemessen.61 Wenn der zu erkennende Gegenstand in sich logisch widersprüchlich verfasst ist, dann ist Dialektik die »Möglichkeit, noch den Widerspruch als notwendig zu begreifen und damit die Rationalität auf ihn auszudehnen.«62 Dialektik als rationales Erfassen antinomischer Realität rettet die Erkenntnis, »[w]enn wir merken, daß die einzelnen Begriffe sich in Schwierigkeiten verstricken; dann müssen wir auf Grund solcher Mängel zu einer besseren Begriffsbildung übergehen. Das ist die Grunderfahrung der Dialektik, das Weitertreiben der Begriffe durch Konfrontation mit dem, was von ihnen ausgedrückt wird.«63 Wir müssen also den Begriff des Lebendigen mit den Widersprüchen konfrontieren, in die das Denken bei der Erkenntnis des Organischen sich verstrickt. Genau dies ist in den vorherigen Kapiteln geschehen und führte immer wieder auf den objektiven Widerspruch, dass wir organische Naturgegenstände nur über ein teleologisches Prinzip begreifen können, obgleich wir sie als rein kausal verfasst denken müssen. Dabei wurde vielfach deutlich, dass es kein Mangel des Erkenntnisstands ist, der diesen Widerspruch provoziert, so dass er sich nicht im Fortschreiten der Wissenschaft wird auflösen lassen. Vielmehr ist es die Verfasstheit des Organischen selbst, die diesen Widerspruch in jedem neuen Erkenntnisstand der Biologie reproduziert.64 Dies stört die begriffliche Ordnung im System der Biologie, das wissenschaftlich an Widerspruchsfreiheit orientiert ist, die es jedoch nicht erreichen kann, da sein Gegenstand sich dem widerspruchsfreien Begriff verweigert. »Die Dialektik ist ein Denken, das […]

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Adorno, Einführung in die Dialektik, S. 23. Adorno, Einführung in die Dialektik, S. 10. Vgl. Kapitel 12.6. Theodor W. Adorno, »Zur Logik der Sozialwissenschaften«, in: Theodor W. Adorno u.a. (Hg.), Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied/Berlin 1972, S. 125-144, S. 130. Adorno, Einführung in die Dialektik, S. 10. Ob es frühe Theorien der Entstehung des Lebens aus dem Urschlamm sind (die Pasteur wiederlegte), die Darstellung der Funktion der DNA als ›Code‹ mit der ›Blaupause‹ des Organismus oder ein Verständnis des Lebendigen als selbstorganisierendes System – der in den vorigen Kapiteln historisch und systematisch aufgezeigte Widerspruch in den Theorien des Lebendigen ist im Kern identisch.

13. Die Dialektik des Lebendigen

die Kunst vollbringt, die begriffliche Ordnung durch das Sein der Gegenstände zu korrigieren.«65 Dialektik bezeichnet als idealistische einen notwendig entstehenden Widerspruch im Begriff66 , als materialistische einen Widerspruch im Gegenstand des Denkens67 . Negative Dialektik bei Adorno geht in der Kritik an idealistischer und materialistischer Dialektik davon aus, dass dialektische Widersprüche sowohl für das Denken des Gegenstandes wie auch für den erkannten Gegenstand konstitutiv sind. Nach Adorno ist »Dialektik der Versuch […], Objektivität, die Sache selbst zu retten dadurch, daß das […] negative Element in die Sache selbst hineingenommen wird«68 . Dialektische Erkenntnis ist somit ein Doppeltes: bezogen sowohl auf den Gedanken als auch auf den gedachten Gegenstand – auf das Denken des Gegenstandes wie auf den Gegenstand des Denkens. Sie ist »der Versuch, […] die Spannung zwischen dem Gedanken und dem, was unter ihm liegt, auf jeder Stufe auszutragen.«69 D.h. die Methode der Erkenntnis kann nicht von der tatsächlichen Erscheinungsform getrennt werden, welche diese Methode erfordert. »Die Dialektik ist sich dessen bewußt, daß es auf der einen Seite den Gedanken gibt und auf der anderen Seite das, woran er sich abarbeitet.«70 Somit ist sie ein Erkenntnisprozess, der »darin besteht, einen Gegenstand in der notwendigen Bewegung seiner Widersprüche zu entfalten.«71 Eben diese Entfaltung der inneren Widersprüche des Lebensbegriffs in der Biologie war das Thema der vorherigen Kapitel. Dabei zeigte sich, dass ein statischer, widerspruchsfreier Begriff des Lebendigen in Form einer ›sauberen Definition‹ nicht zu haben ist. Was also an Kritik des Lebensbegriffs in dieser Arbeit geleistet wurde, war von Beginn an seine Überführung in eine Dialektik: »[…] den Begriff mit dem von ihm Gemeinten so lange zu konfrontieren, bis sich zeigt, daß sich zwischen einem solchen Begriff und der von ihm gemeinten Sache gewisse Schwierigkeiten herstellen, die dann dazu nötigen, den Begriff mit dem Fortgang des Denkens in einer gewissen Weise zu verändern, […] [so] daß der Begriff in seiner ständigen Konfrontation mit der Sache, also in seiner immanenten Kritik, […] seiner eigenen Unzulänglichkeit überführt wird«72 .

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Adorno, Einführung in die Dialektik, S. 10. Bsp: Der abstrakte Begriff des Seins ist leer, bezeichnet keinen daseienden Gegenstand, ist also ein Begriff von Nichts. Der Begriff von Nichts hingegen begreift das Nichts als etwas, nämlich Nichts als Daseiendes. Bei Hegel wird dieser Widerspruch aufgehoben im Begriff des Werdens. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. I, Frankfurt a.M. 1996, S. 82 f. So verweist der Widerspruch der kapitalistischen Ökonomie, die gesellschaftlichen Reichtum und dabei zugleich notwendig Armut produziert, laut Marx auf das Falsche der kapitalistischen Ökonomie, das in einer anderen ökonomischen Ordnung, in welcher der Zweck der Produktion die Befriedigung von Bedürfnissen statt der Herstellung von verwertbarem Mehrwert wäre, zu überwinden ist. Vgl. Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1-3, MEW 23-25. Zur Kritik des ›dialektischen Materialismus‹ von Engels ›Dialektik der Natur‹ vgl. Kapitel 5.3.4. Theodor W. Adorno, Fragen der Dialektik (1963/64), Berlin 2021, S. 16. Adorno, Einführung in die Dialektik, S. 11. Ebd. Ebd. Adorno, Einführung in die Dialektik, S. 18 f.

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Dialektik des Lebendigen

Die Unzulänglichkeiten der Begriffe und Theoreme des Organischen zeigen sich darin, dass sie an ihrem Anspruch der Widerspruchsfreiheit scheitern. Monod konstatierte 1970: »Das zentrale Problem der Biologie ist eben dieser Widerspruch, der als ein nur scheinbarer aufzulösen oder, wenn es sich wirklich so verhält [dass ein »tiefer erkenntnistheoretischer Widerspruch«73 besteht], als grundsätzlich unlösbar zu beweisen ist.«74 50 Jahre später kann man festhalten, dass alle Anstrengungen, den Widerspruch als scheinbaren zu entlarven und ihn aufzulösen, gescheitert sind. Dies ist nur ein Indiz seiner Unauflösbarkeit. Dass er grundsätzlich unlösbar ist, beweist sich durch die Reflexion darauf, woran die Versuche seiner Auflösung scheitern: Wird das teleologische Moment eliminiert, verschwindet das Spezifische des Organischen – und damit dieses selbst. Die Differenz von Organismus und Artefakt, belebt und unbelebt lässt sich ohne den zugleich angenommenen wie negierten Bezug auf den nexus finalis nicht begrifflich fassen. Ein Organismus bestimmt sich aus innerer Zweckmäßigkeit selbst zu seiner bestimmten Form, die wechselseitige Funktion seiner Glieder als Zwecke und Mittel füreinander ist. Zweck und Mittel sind hier nicht länger auseinander, sondern als unmittelbar aufeinander bezogene und einander hervorbringende identisch. Die Einheit von Zweck und Mittel ist hier nicht erst gedachte, sondern unmittelbares Dasein des Organismus. Die äußere Zweckmäßigkeit führt an dieses Verhältnis heran, doch indem die Vermittlung, die bei Artefakten der Prozess ihrer Produktion leistet, entfällt, ist die Teleologie im Organismus selbst aufgehoben. Das Leben setzt sich seine Zwecke nicht, es ist sein Zweck. Im Lebendigen ist Unterschiedenes nicht bloß kausal aufeinander bezogen, sondern teleologisch vereint. Diese teleologische Einheit hat im Organismus reale Existenz, aber keinen positiven Begriff. »Ein Naturkörper, der an sich und seiner inneren Möglichkeit nach als Naturzweck beurteilt werden soll, muß zwei Voraussetzungen erfüllen. Zum einen müssen sich seine Teile einander insgesamt (ihrer Form und Verbindung nach) wechselseitig und so ein Ganzes aus eigener Kausalität hervorbringen, und zum anderen muß die Verknüpfung der wirkenden Ursachen zugleich als Wirkung durch Endursachen gedacht werden können. Ist beides gewährleistet, dann rutschen im Blick auf das einzelne Naturding kausales und teleologisches Beschreibungsmuster ineinander.«75 Dieses Ineinander-Rutschen von kausalem und teleologischem Erklärungsmuster ist unvermeidlich, andernfalls wäre der erkannte Gegenstand kein lebendiger. Doch dass dies so ist, kann nicht einfach hingenommen werden. Auch wenn Organismen offenbar als Vereinigung dieser beiden Prinzipien existieren, so muss zu ihrer Erklärung aufgezeigt werden, wie dies gedacht werden kann. Und gedacht werden kann es offensichtlich nur widersprüchlich. Daher haben wir nur Theorien und Begriffe des Lebendigen, die diesen Widerspruch auf die eine oder andere Weise in sich enthalten. »Sind

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Monod, Zufall und Notwendigkeit, S. 30. Monod, Zufall und Notwendigkeit, S. 31. Gerald Hartung, »Teleologie und Leben. Kants Kritik teleologischen Denkens«, in: Petra Bahr/ Stephan Schaede (Hg.), Das Leben. Historisch-systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs, Bd. 1, Tübingen 2009, S. 365-384, S. 374 f.

13. Die Dialektik des Lebendigen

Theoreme widerspruchsvoll, so müssen […] nicht immer die Theoreme daran schuld sein.«76 Der Grund für die Widersprüchlichkeit kann auch im zu begreifenden Gegenstand selbst liegen. In einem solchen Falle ist dann eine widerspruchsfreie Theorie notwendig falsch, da sie den in sich widersprüchlich bestimmten Gegenstand nicht adäquat darstellen kann. Doch auch unreflektiert widersprüchliche Theorien oder Begriffsbestimmungen stellen keine wahre Erkenntnis dar, sondern liefern allenfalls Indizien dafür, dass es sich um einen antinomisch verfassten Gegenstand handeln könnte, der sich nur dialektisch, in der Reflexion auf den Grund der Notwendigkeit seiner Widersprüchlichkeit, begreifen lässt. Die Beurteilung des Organischen in Analogie mit dem nexus finalis bezeichnet Kant als eine »Nothilfe«77 , da sie keine absichtliche Technik (technica intentionalis78 ), sondern eine unabsichtliche (technica naturalis79 ) bezeichne – und damit eine nichttechnische Technik. Dies ist wieder ein selbstwidersprüchlicher Begriff, wie die Zweckmäßigkeit ohne Zweck, Teleologie ohne Telos, Selbstbestimmung ohne Selbst etc. Was sich in den vorigen Kapiteln als widersprüchliche Theoreme und Begriffe des Lebendigen erwiesen hat – Teleologie ohne Telos, Selbstorganisation, Selbstregulation, Selbsttätigkeit, Autopoiesis oder Autoergie ohne Selbst, Projekt ohne Planung, Programm ohne Programmierung usw. – gilt es ernst zu nehmen. Die widersprüchlichen Begriffsbestimmungen erweisen sich nun in der Reflexion als die dialektische Wahrheit des Lebensbegriffs, der nur über ein widersprüchliches Prinzip zu erkennen ist. Dieses spezifisch widersprüchliche Prinzip, nach dem das Lebendige organisiert ist und über welches wir es denkend begreifen, nenne ich organische Teleologie.

13.5

Organische Teleologie als negative Dialektik

Die organische Teleologie gibt den Organismus, jeden Einzelnen sowie eine Klasse von natürlichen Gegenständen, die das Reich der Biologie als eigenständiges begründen. Hier ist das teleologische Prinzip der Urteilskraft nicht bloß regulativ, sondern wird in der gelungenen Konstituierung eines Gegenstandsbereiches selbst konstitutiv.80 Das konstitutive Prinzip bleibt hierbei jedoch ein negatives, das sich nur in der Entfaltung seiner Dialektik begreifen lässt. Dieser Widerspruch musste explizit gemacht werden, um seine Notwendigkeit zu begreifen und eine Dialektik des Lebendigen theoretisch zu entfalten. Die organische Teleologie ist keine eigenständige Form der Verknüpfung neben dem nexus effectivus und dem nexus finalis, kein positiv bestimmter oder bestimmbarer ›nexus organicus‹81 . Sie ist vielmehr die Annahme des nexus finalis bei gleichzeitiger

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Theodor W. Adorno, »Einleitung zum ›Positivismusstreit in der deutschen Soziologie‹«, in: Theodor W. Adorno, Soziologische Schriften I, Gesammelte Schriften Bd. 8, Frankfurt a.M. 1997, S. 308. Kant, KdU, S. 254 [320]. Kant, KdU, S. 254 [321]. Ebd. Vgl. Kapitel 12. Vgl. Kapitel 8.6.

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Dialektik des Lebendigen

Negation desselben – ein Widerspruch. Die organische Teleologie ist eben diese Widersprüchlichkeit, aufgenommen in die Reflexion als negative Dialektik des Lebendigen.82 Die immanente Bestimmtheit des Lebendigen liegt also nicht in positiver Form vor, sondern ist nur im angenommenen und zugleich negierten Bezug auf die Teleologie des nexus finalis die eigentümliche Weise, in der wir Organismen denken. Damit haben wir ein nur dem Lebendigen vorbehaltenes und den Gegenstandsbereich der Biologie bestimmendes Prinzip, das aber zugleich keine positive Eigenständigkeit hat, wie frühere Versuche eines nexus organicus, élan vital83 oder von actual entities84 es postulierten. Organische Teleologie ist ein negativer dialektischer Begriff, dessen Widerspruch als notwendig begriffen, aber hierdurch nicht aufgelöst oder aufgehoben ist. Die bestimmte Negation hat einen Inhalt, der durch die Abwesenheit des Negierten gegeben ist und es insofern in negativer Form enthält; so stellt sie einen neuen Begriff dar. Die bestimmte Negation wird von Hegel folgerichtig auch als Positivität begriffen. Doch das Leben lässt sich nicht in Form einer bestimmten Negation als Positivität bestimmen: Nicht die bestimmte Negation von nexus finalis, von Zweckmäßigkeit und Teleologie bestimmen als Prinzip das Organische, sondern ihre Anwesenheit bei gleichzeitiger Abwesenheit. Die Negation, die stattfinden muss, um die Differenz des in sich zweckmäßigen Naturgegenstandes zum intelligiblen Zweck der Artefakte zu setzen, muss zugleich an dem Inhalt des Negierten in positiver Form festhalten. Das Resultat ist die negative Dialektik der organischen Teleologie. Beim Lebendigen haben wir es also mit einer negativen Dialektik zu tun, bei der die Struktur des Gegenstandes das Denken in Bewegung zwischen zwei sich widersprechenden Annahmen versetzt: Das Leben muss teleologisch organisiert sein und kann es zugleich nicht sein. Diesen Widerspruch als das wesentliche Prinzip des Lebendigen zu begreifen, heißt, die Notwendigkeit dieser Denkbewegung als adäquaten Begriff des Lebendigen zu erkennen. Jede begriffliche Aufhebung des Widerspruches geht in einer idealistischen Dialektik am wesentlichen des Lebendigen vorbei.85 Wie die Reduktion auf den nexus effectivus kein Lebendiges mehr erkennen kann, so ist es bei Hegel begrifflich aufgehoben erst im entwickelten Selbstbewusstsein. Aufgehoben ist dieser Widerspruch des Lebendigen nicht im Begriff, sondern im existierenden Organismus. Der Widerspruch

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83 84 85

Wie oben gezeigt, ist das Prinzip einer negativen Dialektik von Adorno entlehnt, der es im Rahmen einer Kritischen Theorie der Gesellschaft entwickelte. Die analoge Anwendung auf einen Naturgegenstand verändert zugleich den Charakter des Prinzips: Wo in der Kritischen Theorie die realen gesellschaftlichen Widersprüche dialektisch in ihrer wechselweise konstitutiven Notwendigkeit gefasst werden, sind sie Hinweis auf die Falschheit gesellschaftlicher Totalität und fordern ihre Aufhebung in einer anderen Gesellschaftsform. Bezogen auf das Lebendige muss das Denken jedoch in der widersprüchlichen Negativität verbleiben, was ein eigenständiges Prinzip organischer Teleologie begründet. Vgl. Kapitel 8.3.1.6. Vgl. Kapitel 10.2.10. Auch eine praktische Aufhebung des Widerspruches, wie eine materialistische Dialektik es in Bezug auf die notwendig durch die kapitalistische Ökonomie produzierten Widersprüche bürgerlicher Gesellschaft fordert, ist selbstredend nicht möglich, da Lebewesen Naturgegenstände sind.

13. Die Dialektik des Lebendigen

existiert als aufgehobener in der Einheit des lebendigen Organismus, aber er ist unaufhebbar im Begriff. Der Organismus ist positiv als empirischer Gegenstand der Anschauung; als Erkanntes ist er negativer widersprüchlicher Begriff. Leben ist folglich das negativ dialektische Prinzip des Lebendigen, es teleologisch ohne den hierfür notwendigen intelligiblen Bezug auf ein Telos zu denken. So, wie ein empirisches Naturgesetz die spezifische Regelhaftigkeit gegebener Erscheinungen als Prinzip fasst, so muss der Begriff des Lebens als das Allgemeine des Lebendigen (d.i. als dessen Prinzip) seine spezifische teleologische Verfasstheit ohne Telos enthalten, die sich als eben jene spezifische Widersprüchlichkeit organischer Teleologie erweist, welche der Biologie seit jeher die bekannten Schwierigkeiten beschert. Dies zu denken erfordert eine Dialektik, die nicht den Anspruch haben kann, »daß durchs Denkmittel der Negation ein Positives sich herstelle«86 , sondern in Orientierung auf den empirisch gegebenen Gegenstand diesen in seiner ihm gemäßen Selbstwidersprüchlichkeit durch ein negativ dialektisches Prinzip erfasst. Diese Denkungsart enthält so das Kantische ›Als-ob‹ organischer Teleologie als begriffene Antinomie: Lebewesen sind in sich zweckmäßig, bei gleichzeitiger Negation des intelligiblen Zwecks. Der Begriff des Lebendigen bewegt sich in der Widersprüchlichkeit des zugleich angenommenen wie negierten teleologischen Prinzips – oder er begreift kein Lebendiges. Der avancierte Begriff des Lebendigen liegt in der Reflexion auf die Notwendigkeit dieser spezifischen Widersprüchlichkeit organischer Teleologie, nicht in seiner Aufhebung oder Überwindung. Erst über die Reflexion darauf, dass der Lebensbegriff nur als antinomischer vollständig zu entwickeln und dialektisch zu denken ist, erweist sich die Wahrheit in den widersprüchlichen Konzepten und Theoremen biologischer Forschung als adaequatio rei et intellectus, als dasjenige, was auf die An-Sich-Bestimmtheit organisierter Naturgegenstände verweist. Solange dieses Verhältnis nicht begriffen ist, bleibt eine solche selbstwidersprüchliche Theorie mangelhaft und droht, im Versuch der Aufhebung dieses Mangels, ihren Gegenstand zu verfehlen. Wird aber das Leben als antinomisch verfasst über das negativ dialektische Prinzip der organischen Teleologie begriffen, erweisen sich eben jene Widersprüche, die diesem Prinzip folgen, nicht als Mangel der biologischen Theorie, sondern als ihr wahres Moment.

13.6

Ausblick: avancierte Biologie und Ideologiekritik

Das Prinzip der organischen Teleologie des Lebendigen ist nur über diese negative Dialektik als in sich widersprüchlich zu denken. Dies ins Bewusstsein zu heben ist die Grundbedingung einer avancierten Biologie. Die Biologie darf und muss teleologische Annahmen machen, da sie nur so ihren Gegenstand adäquat begreifen kann – und sie muss diese teleologischen Annahmen zugleich negieren, da sie es mit Naturgegenständen und nicht mit Artefakten zu tun hat. Der Sache nach tut sie genau dies, wie gezeigt wurde, schon lange. Aber was bislang 86

Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1994, S. 9.

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Ausdruck eines Mangels war, wird nun mit einem entwickelten dialektischen Begriff des Lebendigen in einer avancierten Biologie und Naturphilosophie zum begründeten Paradigma. Die Biologie hat es im Kern nicht mit Naturkausalität, sondern mit einer besonderen Form der Teleologie zu tun, mit der subjektlosen und darum in der Reflexion notwendig antinomischen Form zweckmäßiger Naturgegenstände. Darum kann die Biologie keine eigenen kausalen empirischen Naturgesetze enthalten und zu dem Ganzen eines Systems der Natur zusammenschließen, wie es Kerngeschäft der Physik und Chemie ist. Als Wissenschaft vom Lebendigen muss ihr empirischer Anteil erzählend bleiben, weil ihr Gegenstand als empirische Einheit nicht bloß allgemeines Verhältnis ist (Einheit der Natur), sondern in dieser Einheit zugleich losgelöst von ihr in konkreten Einheiten existiert. Die Systematik des Lebendigen ist eine teleologische, wie beispielsweise die Systematik der Evolution darlegt.87 Erst eine begrifflich avancierte Biologie und Naturphilosophie kann erkennen, warum ihr Gegenstand sie der Möglichkeit kausaler Gesetzförmigkeit enthebt und teleologische Erklärungen in zugleich affirmierter wie negierter Form erfordert. Die Reflexion auf die Notwendigkeit widersprüchlicher Bestimmungen und das negativ dialektische Prinzip organischer Teleologie im Unterschied zur positiven Teleologie des nexus finalis in den Produkten und Resultaten menschlicher Handlungen begründet nicht nur eine avancierte Biologie, die selbstbewusst mit den immanenten Widersprüchen ihrer Begriffs- und Theoriebildung umgehen kann, sondern zieht zugleich eine scharfe Grenze zur Naturalisierung sozialer Verhältnisse und der Ideologie des Biologismus. Die Untersuchung hat gezeigt, dass die Prinzipien und funktionellen Mechanismen, mit denen die Biologie das Lebendige erfolgreich systematisch erforscht, sich in ihrer Grundlegung Projektionen aus gesellschaftlichen und sozialen oder technischen Bereichen auf die organische Natur verdanken: Die Analogisierung von Artefakten und Organismen ist wohl die älteste Form, in der Lebewesen nach dem nexus finalis beurteilt werden. Organische Funktionszusammenhänge werden nach dem Vorbild technischer Funktionszusammenhänge erklärt.88 So könnte ohne die Begriffe von Organisation und Informationsübertragung, ohne Metaphern von Schrift, Code, Bauplan etc. keine Theorie über die Funktion der DNA entwickelt werden.89 Auch organische Prozesse der Selbstregulierung werden im Rückgriff auf die Kybernetik begriffen.90 Ohne die Parallelführung mit Prinzipen aus den Schriften von Malthus, Smith und Ricardo hätte die Evolutionstheorie nicht formuliert werden können.91 »Charles Darwin kam zur Theorie der natürlichen Selektion (Zuchtwahl) mehr durch die Frage, wie er das ökonomische Laisser-Faire-Prinzip von Adam Smith

87 88 89 90 91

Vgl. Kapitel 10. Vgl. Kapitel 2. Vgl. Kapitel 9.3. Vgl. Kapitel 10. Vgl. Kapitel 3.

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auf die Natur übertragen könnte, als durch die Beobachtung der Schildkröten auf den Galapagos-Inseln.«92 Der Grund für all diese in der biologischen Theoriebildung zentralen Analogien ist nun klar: Die innere Zweckmäßigkeit in der Organisation, den Verhaltensweisen und organischen Leistungen von Lebewesen erfordert eine Beurteilung nach dem nexus finalis. Da die Zweckmäßigkeit als intelligible nicht selbst unmittelbar erscheint, sondern erst über den Zusammenhang im Kontext der funktionalen Einheit sich erschließt,93 geben technisch oder sozial hergestellte funktionale Einheiten die Modelle vor, über die teleologische Zusammenhänge des Lebendigen erkannt werden können. Dass diese Projektionen hergestellter Funktionalität auf lebendige Naturgegenstände tatsächlich erfolgreich sind und einen Erkenntnisfortschritt darstellen, ist der Beweis für die teleologische Verfasstheit des Lebendigen. Wenn die Differenz zwischen der positiven Teleologie des nexus finalis, nach dem Menschen handeln und Artefakte produzieren, und seiner negativ dialektischen Form in der organischen Teleologie nicht reflektiert wird, dann scheinen Lebewesen und Artefakte, tierisches Verhalten und menschliche Handlungen demselben Prinzip zu folgen. Denn ohne diese Differenz im bestimmenden Prinzip wird aus der Analogie eine Identität.94 Hierüber entsteht dann die Ideologie der Naturalisierung von Gesellschaftsorganisation und menschlichem Handeln. Biologismus ist die unreflektierte Rückprojektion der Prinzipien und Mechanismen, die im Resultat als natürliche biologische erscheinen, auf den Menschen. Wenn also Darwin über das ökonomische Modell, dass in der kapitalistischen Konkurrenz nur die wettbewerbsfähigen Unternehmen am Markt bestehen, ein analoges Prinzip des survival of the fittest für die Evolution beschreiben konnte, dann erscheint ohne Reflexion auf die gleichzeitige Differenz im bestimmenden Prinzip umgekehrt die kapitalistische Ökonomie als ein natürlicher Mechanismus der Marktregulation, nicht als ein gesellschaftlich und politisch hergestellter. Im Biologismus oder Naturalismus werden gesellschaftliche Phänomene über biologische Erklärungsmuster gedeutet. Da diese Erklärungsmuster ursprünglich aus der gesellschaftlichen Sphäre entlehnt wurden, um sie für die Biologie fruchtbar zu machen, erscheint die Rückprojektion oft als überraschend passend und plausibel. Da jedoch für ihre erfolgreiche Verwendung in der Biologie der intelligible Gehalt des nexus finalis, der diese Erklärungsmuster für die Biologie allererst brauchbar machte, durch die Biologie geleugnet, verdeckt, verschoben und damit unsichtbar gemacht wurde, ohne begriffen und reflektiert zu werden, werden über den Prozess der Rückprojektion gesellschaftliche und soziale Phänomene zu bewusstlosen Naturvorgängen erklärt.

92 93

94

Stephen Jay Gould, »Der Vergangenheit auf der Spur – Original und Fälschung«, in: Stephen Jay Gould (Hg.), Das Buch des Lebens, Köln 1993, S. 6-21, S. 7. Die regelmäßige Kontraktion des Herzmuskels ergibt Sinn nur durch die Funktion, das Blut durch den Körper zu transportieren. Dass das Bismarckhuhn seine Eier nicht ausbrütet, sondern in der Erde vergräbt, begreifen wir nur dann als funktional, wenn die Geothermik des vulkanischen Bodens diesen auf konstant 33 Grad erwärmt, so dass Küken aus den Eiern schlüpfen etc. Vgl. Kapitel 2.2.

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Das Ergebnis ist ein breit durchgesetzter Biologismus, nach dem Egoismus und Konkurrenzverhalten in den Genen liegen, nicht das Interesse der Schülerin am Thema geweckt, sondern ihr Gehirn motiviert wird, moralischer Altruismus kein gesellschaftlicher Wertmaßstab ist, sondern als Vorteil zur Arterhaltung evolutionär entstand etc. Da das intelligible Moment des nexus finalis nicht sinnlich erscheint, gibt es keine empirisch messbare Differenz zwischen den zweckmäßigen Verhaltensweisen eines Tieres und den intentionalen Handlungen eines Menschen. Nur die Reflexion darauf, dass der Mensch als Vernunftwesen sich die Zwecke seines Handelns nach dem Prinzip des nexus finalis selbst aus Freiheit setzt und seine Zwecke in Artefakten realisiert, während das Tier aus bloß innerer Zweckmäßigkeit organischer Teleologie sich verhält, kann die wesentliche Differenz zwischen sozialem Wohnungsbau und Termitenhügel erfassen. Ohne diese Differenz verschwindet das emanzipative Moment des nexus finalis, Autonomie und Selbstbestimmung werden entweder dem Menschen unmöglich oder umgekehrt auch vernunftlosen Organismen zugesprochen. Nur mit dem dialektisch entwickelten Prinzip des Lebendigen der organischen Teleologie im Unterschied zum nexus finalis ist eine systematische Kritik des Biologismus möglich, der sich insbesondere seit Anfang des 19. Jahrhunderts als Sozialdarwinismus und Evolutionismus, später dann auch als Soziobiologie oder evolutionäre Psychologie wissenschaftlich etabliert hat. Die Biologismuskritik der 1970/80er Jahre ging davon aus, dass die Biologie als objektive Naturwissenschaft missbraucht würde, indem ihre Forschungsresultate unzulässigerweise für ideologische Zwecke auf die menschliche Gesellschaft und ihre sozialen Phänomene angewendet würden. Dabei wurde und wird übersehen, dass die Biologie bis dato gar kein eigenständiges Prinzip des Lebendigen formulieren kann, das ihren Gegenstandsbereich bestimmt und eingrenzt. Hieraus ist zu erklären, dass es gar keines Missbrauchs, gar keiner Instrumentalisierung der Biologie bedarf, um sie zur Ideologieproduktion tauglich zu machen. Denn die Biologie in ihrer heutigen Form ist in sich selbst strukturell ideologisch, weil sie lebendige Organisationsformen bestenfalls intuitiv von gesellschaftlichen oder sozialen unterscheiden, aber die Differenz nicht über unterschiedene Prinzipien der Organisation bestimmen kann. In Ermangelung eines prinzipiellen Unterschieds erklärt z.B. Dawkins die Differenz von Organismus und Artefakt für unerheblich: »Lassen wir es dahingestellt, ob Autos und Computer ›wirklich‹ biologische Objekte sind.«95 Ohne einen avancierten Begriff vom Lebendigen durch das dialektische Verständnis von organischer Teleologie lässt sich tatsächlich keine prinzipielle Differenz zwischen den teleologisch organisierten Strukturen im Belebten und in der Gesellschaft begründen. Es ist der Anspruch dieser Untersuchung, das Prinzip des Lebendigen, wie es in den Theorien der Biologie erscheint, aber nicht begriffen wird, herausgearbeitet zu haben. Hierüber könnte eine avancierte Biologie ihren Gegenstandsbereich erkennen und sich so zugleich auch klar vom Gegenstand der Sozial- und Gesellschaftswissenschaft abgrenzen – et vice versa. Dass die Biologie respektive die Lebenswissenschaften seit Beginn des neuen Jahrtausends als Leitwissenschaft des 21. Jahrhunderts gelten dürfen, verweist auf eine zunehmende Orientierung der Sozial- und Geisteswissenschaften an

95

Dawkins, Uhrmacher, S. 14.

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biologischen, insbesondere auch neurophysiologischen Erkenntnissen. Ein mangelhafter Begriff des Lebendigen fällt hier mit einem falschen Begriff von Gesellschaft zusammen. Auf Grundlage der entwickelten Dialektik des Lebendigen ist es nun möglich und nötig, eine avancierte Kritik des Biologismus zu leisten.

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Philosophie Die konvivialistische Internationale

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