Prinzipien in der Ethik 9783897858329, 9783897859951

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Prinzipien in der Ethik
 9783897858329, 9783897859951

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Gertken . Prinzipien in der Ethik

Jan Gertken

Prinzipien in der Ethik

. menUs MÜNSTER

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. D61

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Inhal tsverzeichnis

Danksagung ...................................... Vorwort ........................ '" . .. . .. . .. . .. . .

9 11

TEIL I

GRUNDLAGEN 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

PRINZIPIEN UND PRINZIPIEN KRITIK

.....•...•...•......

Moral ohne Prinzipien? ............................. Was ist ein Prinzip? Annäherung an einen Begriff ......... Spielarten von Partikularismus und Prinzipienethik ........ Partikularismus, normative Ethik und ethische Theorien .... Zusammenfassung und Ausblick ...................... TEIL

17 17 21 30 37 42

11

MORALISCH URTEILEN OHNE PRINZIPIEN 2

DER EPISTEMOLOGISCHE PARTIKULARISMUS UND DIE ROLLE MORALISCHER INTUITIONEN

2.1 2.2

....................

2.3 2.4 2.5

Einleitung................................ . ...... Prinzipien als Richtschnur für moralische Urteile: Die Subsumptionskonzeption ............................ Überlegungen zur dialektischen Lage ................... Eine konstruktive Rolle für Intuitionen ................. Ein Blick zurück und ein Blick nach vorn ...............

3

INTUITIONEN, ÜBERLEGUNGSGLEICHGEWICHT UND PRINZIPIEN

3.1 3.2 3.3 3.4

.......................................

Einwände gegen den Intuitionismus .................... Intuitionismus, Prinzipien und die Subsumptionskonzeption ............................ Regelfolgen, Konsistenz und moralische Prinzipien ........ Zusammenfassung .................................

47 47 48 59 63 75 77 77 91 100 105

6

Inhaltsverzeichnis TEIL III MORALISCH NEUTRALE ARGUMENTE FÜR UND GEGEN DEN PARTIKULARISMUS

4

GLEICHES GLEICH BEHANDELN: SUPERVENIENZ- UND UNIVERSALISIERBARKEITSARGUMENTE . . . . . • . . . • . . . . . . • .

4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

Moralisch neutrale Argumente gegen den Partikularismus .. . Supervenienz und Prinzipien ......................... Die Universalisierbarkeit moralischer Urteile ............ Relevante Ähnlichkeiten und Weil-Aussagen ............. Rückblick und Ausblick .......... ... ................

5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6

DAS MORALISCHE WEIL - DIE AUFGABE • . • . . . . . . • . . • • • . .

6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 7 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6

111 111 113 123 131 134

Moralische Weil-Sätze als Herausforderung .............. Merkmale moralischer Weil-Sätze ..................... Resultanz und Token-Identität ........................ Erklärungen ............................. .. .. .... . Urteils gründe und Schlussfolgerungen .................. Rückblick und Ausblick .............................

137 137 138 144 150 154 162

MORALISCHES WEIL UND MORALISCHE GRÜNDE

•.........

165

Ein neuer Ansatz: Moralisches Weil und moralische Handlungsgründe ................................. Eine Zwischenbilanz und weiterführende Fragen .......... Moralische Gründe und moralische Konflikte ............ Die inhaltliche Flexibilität der buck passing- Konzeption .... Rationalität, Gründe, Sollen .......................... Was folgt für die Diskussion des Partikularismus? ......... Ein Blick zurück und ein Blick nach vorn ...............

165 173 174 190 195 198 202

DER HOLISMUS DER GRÜNDE .•.•..••. •••. . • . . . • . . . . . .

205

Argumentieren für den Partikularismus: Die Rolle des Holismus ........................................ Was ist der Holismus der Gründe? ..................... Vom Holismus zum Partikularismus? .................. Starker Atomismus oder schwacher Holismus? .. ......... Kann jede Tatsache ein moralischer Grund sein? .......... Rückblick und Ausblick .............................

205 209 218 229 238 242

Inhaltsverzeichnis

7

TEIL IV DIE PARTIKULARISTISCHE HERAUSFORDERUNG UND WIE MAN MIT IHR UMGEHEN SOLLTE 8 8.1 8.2

ceteris paribus-GENERALISIERUNGEN .... ........ ............. PRINZIPIEN UND AUSNAHMEN - FAUSTREGELN UND

8.3 8.4 8.5 8.6

Prinzipien und die partikularistische Herausforderung ..... Zwei Strategien im Umgang mit der partikularistischen Herausforderung .................................. Was sind Ausnahmen? Begriffliche Vorüberlegungen ....... Moralische Prinzipien als Faustregeln .................. Prinzipien und Ausnahmen: Ceteris paribus-Prinzipien ..... Cetens paribus-Prinzipien: Eine Bilanz . .... . . ..........

9

NORMALITÄTSKLAUSELN, STATISTISCHE

247 247 249 252 256 265 279

GENERALISIERUNGEN UND ANNULLIERBARE SCHLUSSFOLGERUNGEN • . . . . . • . . . . . . . . • . . . . . . . . . • . . . .

9.1 9.2 9.3 9.4 9.5 9.6 10 10.1 10.2 10.3 10.4 10.5 10.6 10.7 10.8 10.9

Worum es geht .............. . . .. . .... . .. . ..... ... . Prinzipien und privilegierte Bedingungen: Der Ansatz von Lance und Little ................................... Normalitätsprinzipien und privilegierte Bedingungenkritisch betrachtet ..... .. ....... . . . ... ........... .. Lehren aus dem Scheitern der bisher betrachteten Normalitätsprinzipien .............................. Statistische Generalisierungen und die Orientierungsfunktion moralischer Prinzipien ............ Zusammenfassung und Ausblick ...................... DICKE BEGRIFFE UND INTRAMORALISCHE PRINZIPIEN

......

Die Ausgangsfrage ..... .. ....................... . .. Dicke Begriffe als philosophisches Werkzeug ............. Was sind dicke Begriffe? ............................. Lassen sich dicke Begriffe durch dünne und deskriptive Begriffe analysieren? .. . ....... . ....... . .. ..... . .. .. Das Williams/McDowell-Argument gegen die Analysierbarkeitsthese .............................. Die systematische Pointe des Williams/McDowellArguments ....................................... Die Grenzen des Williams/McDowell-Arguments ........ Intramoralische Prinzipien mit dicken Begriffen ......... . Rückblick und Ausblick . .. ............ . .. . ..........

281 281 281 287 291 295 308 309 309 311 314 316 319 322 330 337 342

8

Inhaltsverzeichnis TEIL V DIE REICHWEITE MORALISCHER PRINZIPIEN

11

PRINZIPIEN TROTZ PARTIKULARISTISCHER HERAUSFORDERUNG - MORALISCHE GRÜNDE . . • . . . . . . . . . .

11.1 11.2 11 .3 11.4 11.5

Einleitung ....................................... Moralisch unproblematische Tötungsakte . . . ............ Schmerzen zufügen ................................ Moralisch irrelevante Versprechen ..................... Ein Blick zurück und ein Blick nach vorn ...............

345 345 349 370 374 381

12 IST EIN VOLLSTÄNDIGER PRINZIPIENKANON MÖGLICH? •. . •.• 12.1 Ein kurzer Überblick ............................... 12.2 Entscheidungsprinzipien auf der Ebene moralischer Gründe... ........... ......... .......... . . . ...... 12.3 Prinzipienkanon und abschließende Prinzipien: Ein Wegweiser ....................................... 12.4 Moralische Unbestimmtheit .......................... 12.5 Unbestimmtheit und moralische Prinzipien ........... . .. 12.6 Die Reichweite moralischer Prinzipien: Abschließende Bemerkungen .............................. . .. .. ..

383 383

FAZIT . . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. . . . . . . . . . . . . .

413

Anhang zu Kapitel 1: Zur logischen Form moralischer Urteile ..........................................

416

Literaturverzeichnis ................................

421

Verzeichnis der für Thesen und Prinzipien verwendeten Abkürzungen ..................................... Personenregister .................................. . Sachregister ....... .... ... ... ...... .. .......... .. .

440 445 449

383 387 396 408 411

Danksagung

Dieses Buch ist eine überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die 2012 an der Humboldt-Universität zu Berlin angenommen wurde. Lang ist nicht nur der Text geworden, sondern auch die Liste der Menschen, die eine wichtige Rolle bei seiner Entstehung gespielt haben. Ganz besonders bedanken möchte ich mich allem voran bei meinem Doktorvater Thomas Schmidt, der mir von der ersten Ideenskizze bis zur Feinpolitur als wichtigster Diskussionspartner und als Ratgeber zur Seite gestanden hat. Mein Dank gilt ebenso meinen Eltern und Großeltern, die mich vom ersten Erstaunen über meine Studienfachwahl bis zur Begeisterung über das, was ich jetzt tue, ohne Einschränkung unterstützt haben. Teile der Arbeit konnte ich in den letzten Jahren in Berlin, Bremen, Essen, Göttingen, Hannover, Konstanz, Saarbrücken, Utrecht und Zürich vorstellen. Ergebnisse der jeweiligen Diskussionen sind an vielen Stellen in die Endfassung eingeflossen, und es ist unmöglich, alle Gesprächspartner und Kommentatoren zu erwähnen. Besonders danken für wertvolle Anmerkungen möchte ich Vuko Andric, Norbert Anwander, Mario Brandhorst, Philipp Brüllmann, Anne Burkard, Jonathan Dancy, Markus Düwell, Christoph Fehige, Brad Hooker, Benjamin Kiesewetter, Tim Kraft, Andreas Müller, Stephan Naguschewski, Christian Seidel, Maik Tändler, Jens Timmermann und Ulla WesseIs. Kirsten Meyer und Christoph Halbig danke ich für die Bereitschaft, als Zweit- und Drittgutachter an meinem Promotionsverfahren mitzuwirken und für die wertvollen Hinweise, die mir bei der Vorbereitung der Druckfassung sehr geholfen haben. Seit November 2007 habe ich das Glück, am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin und insbesondere am Lehrstuhl für Praktische Philosophie/Ethik in einem intellektuell anregenden Klima und mit tollen Kollegen zu arbeiten. Ich glaube nicht, dass ich in einem anderen Umfeld ähnlich produktiv hätte sein können. Die Überlegungen zu Intuitionen und Intuitionismus verdanken sich zu einem großen Teil einer intensiven und produktiven Zusammenarbeit mit meiner Kollegin Anne Burkard. Einige inhaltliche Überschneidungen zu ihrem Buch Intuitionen in der Ethik sind daher ebenso unvermeidlich wie beabsichtigt. Die enge und äußerst ertragreiche inhaltliche Zusammenarbeit mit Thomas Schmidt spiegelt sich auch darin wider, dass wir oft auf unterschiedlichen Wegen zu ähnlichen Thesen gelangt sind. Mein Dank gebührt weiterhin Michael Kienecker vom mentis Verlag für die freundliche Betreuung und Unterstützung bei der Vorbereitung

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Danksagung

der Druckfassung des Manuskripts, Stephan Naguschewski für das Lektorat, der VG Wort für die Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses und der Münsteraner Kolleg-Forschergruppe »Normenbegrundung in Medizinethik und Biopolitik« für die Einladung, das Sommersemester 2013/14 als Junior Fellow an der Universität Münster zu verbringen. In diese Zeit fiel auch die Vorbereitung der Druckfassung dieses Buchs. Abschließend danke ich allen Freunden und Freundinnen, die in den vergangenenJahren ihren Teil dazu beigetragen haben, dass mein Wunsch, diese Arbeit zu beenden, nicht ins Wanken geraten ist. Ganz besonders danke ich Anne Zahradnik für Ermunterung und Unterstützung in allen Lebenslagen.

Vorwort

Dies ist eine Arbeit über moralische Prinzipien. Genauer: eine Arbeit darüber, ob solche Prinzipien eine Rolle für unser Urteilen und Entscheiden spielen sollten, und wenn ja, auf welche Weise und mit welcher Reichweite. Das Begriffspaar Moral und Prinzipien mag wie eine notwendige Verbindung erscheinen, doch wie so vieles wird in der philosophischen Diskussion auch diese Überzeugung mit guten Gründen bestritten. Sog. Partikularisten verneinen, dass wir uns im moralischen Denken an Prinzipien orientieren müssen, und zumindest manche von ihnen argumentieren sogar, dass es sich bei der Verbindung von Moral und Prinzipien um eine Mesalliance handelt. Deshalb möchte ich zu klären versuchen, ob wir moralische Prinzipien brauchen, ob wir sie zufriedenstellend formulieren können, und, falls ja, wie weit der Bereich ist, der sich durch Prinzipien erfassen lässt. Besonders in Gesprächen und mündlichen Diskussionen bin ich während der Beschäftigung mit dem Thema häufig einer bestimmten Reaktion begegnet: Äußert man Sympathien für partikularistische Positionen, erntet man Kopfschütteln; zugleich wird jedoch ebenfalls mit dem Kopf geschüttelt, wenn man es unternimmt, die Anforderungen an die Formulierung von Prinzipien einmal klar zu formulieren. Mein Eindruck ist: Viele wollen zwar an der Idee festhalten, dass Prinzipien für Moral von fundamentaler Bedeutung sind, dabei aber zugleich mit einem maximal >entspannten< Verständnis dessen arbeiten, was der, der Moralprinzipien anzugeben bestrebt ist, leisten muss - ein Verständnis, das einen zu keinen allzu großen Anstrengungen zwingt. Ich hoffe, dass es mir im Weiteren gelingt, den Leser davon zu überzeugen, dass die soeben beschriebene Herangehensweise es sich zu einfach macht. Wer davon überzeugt ist, dass Prinzipien eine wichtige Rolle für das moralische Urteilen spielen, muss sich aus der philosophischen Deckung wagen, die Herausforderung durch den Partikularismus annehmen und zu kontrovers diskutierten philosophischen und moralischen Fragen auf subtilere Weise Stellung beziehen, als dies oft geschieht. Die Partikularismusdebatte ist maßgeblich von den Texten Jonathan Dancys geprägt. Diese spielen daher auch für die vorliegende Arbeit eine wichtige Rolle, und an vielen Stellen werden Fragen, Anregungen und Argumente Dancys aufgenommen und diskutiert. Sie stehen jedoch insofern nicht im Mittelpunkt meiner Ausführungen, als ich mich insgesamt nicht an bestimmten Philosophen orientiere, sondern an einer systematischen Klärung philosophischer Probleme interessiert bin. Gleichwohl werden an zahlreichen Stellen über Dancy hinaus weitere exemplarische Vertreter verschiedener

12

Vorwort

Ansätze aufgeführt, deren Positionen sich auf besonders erhellende Weise diskutieren lassen. An manchen Stellen entferne ich mich aber auch von der aktuellen Debattenentwicklung, wenn ich glaube, dass dort unwichtige Fragen zu ausführlich behandelt, wichtige jedoch vernachlässigt werden. In Teil I wird zunächst die elementare Frage geklärt, was Moralprinzipien eigentlich sind und warum wir uns für sie interessieren sollten. Im Anschluss werden die zentralen Begriffe und Thesen erläutert, die für den weiteren Verlauf der Arbeit von Bedeutung sind. Teil II fragt danach, wie wir allgemein über moralische Fragen nachdenken sollten und ob wir hierfür Prinzipien brauchen. Die Antwort auf die zweite Frage fällt negativ aus: Für das moralische Urteilen brauchen wir keine Prinzipien - was jedoch nicht impliziert, dass wir ganz auf sie verzichten sollten. In Teil III werden verschiedene Versuche diskutiert, Aussagen über die Existenz und Reichweite moralischer Prinzipien zu treffen, ohne auf konkrete Kandidaten für Prinzipien zu sprechen zu kommen. Diese Versuche werden skeptisch beurteilt: Wer über die Existenz und Reichweite moralischer Prinzipien nachdenken will, muss über konkrete moralische Prinzipien nachdenken - er muss sich auf das einlassen, was man »normative Ethik« nennt, und auf diesem Feld der partikularistischen Herausforderung begegnen, haltbare Prinzipien zu formulieren, die einer kritischen Überprüfung standhalten. Bevor diese Herausforderung angenommen wird, werde ich in Teil IV die Rahmenbedingungen für eine Diskussion konkreter Vorschläge für moralische Prinzipien erörtern: Geklärt wird, welche begrifflichen Ressourcen für die Formulierung konkreter Prinzipien zur Verfügung stehen und welche Verpflichtungen derjenige eingeht, der nachzuweisen bestrebt ist, dass es überzeugende Prinzipien gibt. Insbesondere wird hierbei geklärt, welche Rolle moralische Urteilskraft für die Anwendung moralischer Prinzipien spielen kann und ob Prinzipien ausnahmslos gültig sein müssen. In Teil V werden schließlich Vorschläge für einige konkrete moralische Prinzipien präsentiert, die gute Aussichten darauf haben, gegen partikularistische Einwände verteidigt werden zu können. Des Weiteren argumentiere ich, dass die Frage nach der Reichweite moralischer Prinzipien in gewisser Hinsicht aufgrund von moralischer Unbestimmtheit nicht entschieden werden kann. Abschließend noch einige Hinweise zu formalen Aspekten der Arbeit: Ich zitiere im laufenden Text nach dem Schema: Autorname Jahr: Seitenzahl (ggf. auch Paragraph oder Kapitel). Finden sich zwei durch Schrägstrich getrennte Jahreszahlen angegeben, so bezieht sich die erste auf die Erstveröffentlichung, die zweite auf die Version, nach der in diesem Fall zitiert wird (bzw. auf den Band, in welchem der Text wiederabgedruckt wurde).

Vorwort

13

Texte philosophischer Klassiker (Aristoteles, Kant, Mill, Wittgenstein) werden nach dem Schema Autorname, Akronym: Seitenzahl (bzw. Paragraph oder Kapitel) zitiert. Die jeweiligen Akronyme der Titel finden sich im Literaturverzeichnis zur leichteren Orientierung direkt nach dem Autornamen. Ich habe mich bemüht, die distanzierende Verwendung von Anführungsstrichen möglichst zu vermeiden. Dort, wo ich sie verwende, gebrauche ich einfache Anführungszeichen. Um Häufungen von Anführungsstrichen zu vermeiden, verwende ich teils auch Kursivsetzung, um deutlich zu machen, dass sprachliche Ausdrücke angeführt und nicht gebraucht werden. Fremdsprachliche Ausdrücke, die ich als Fachbegriffe im Text ohne Übersetzung verwende, sind ebenfalls kursiv gesetzt. Ausnahmen sind solche lateinischen Ausdrücke wie bspw. »per definitionem« oder »ad hoc«, die mit der gleichen Bedeutung auch außerhalb philosophischer Diskussionen im Sprachgebrauch etabliert sind. Dort, wo weitergehende Ausführungen als Fußnoten zu viel Platz eingenommen hätten, habe ich sie als eingeschobene Exkurse in den Haupttext integriert. Ein längerer Exkurs in Kapitel 1 zur logischen Form moralischer Urteile wurde als Anhang ausgelagert. Ein alphabetisches Verzeichnis aller im Text für Thesen, Prinzipien und Regeln verwendeten Abkürzungen findet sich im Anschluss an das Literaturverzeichnis. An vielen Stellen der Arbeit gebrauche ich schematische Buchstaben. Anstelle von Handlungsverben verwende ich dann »cp« und »c./I«. Satzbuchstaben »p, q und r« (ggf. mit Indizes) stehen anstelle von Sätzen. Als schematische Buchstaben für Personennamen nutze ich »S«, »A« und »B«. Als Platzhalter für Begriffe stehen meist »F« und »G«, im Fall moralischer Begriffe verwende ich »M«. Beschreibungen für Kontexte und Situationen werden durch »C« ersetzt.

TEIL I GRUNDLAGEN

1

Prinzipien und Prinzipienkritik

1.1 Moral ohne Prinzipien? Wer von Moral spricht, wird von Prinzipien auf Dauer kaum schweigen können. Prinzipien gelten, innerhalb der philosophischen Ethik wie im Alltagsdenken, vielen als ein wesentlicher Bestandteil eines jeden Versuchs, ernsthaft und respektabel über moralische Fragen und Probleme nachzudenken, um zu wohlbegründeten Entscheidungen zu gelangen. Es überrascht daher wenig, dass die Formulierung und die Verteidigung moralischer Prinzipien sowohl in bedeutenden ethischen Entwürfen der Tradition als auch in vielen gegenwärtigen Ethikkonzeptionen eine zentrale Rolle einnehmen. Die Geschichte der normativen Ethik als philosophischer Disziplin lässt sich über weite Strecken bis in die Gegenwart als Versuch der Begründung moralischer Prinzipien verstehen. 1 Die Zentralstellung von Prinzipien für moralische Praxis und ethische Reflexion ist jedoch keineswegs so unumstritten, wie es auf den ersten Blick vielleicht den Anschein haben mag. Ob Prinzipien überhaupt einen wichtigen Beitrag für das moralische Denken leisten können und wenn ja, in welcher Form, sind Fragen, die in jüngerer Zeit (d. h. seit ung. Ende der 1970er Jahre) in der philosophischen Debatte um den Partikularismus verhandelt werden. Auf die eine oder andere Weise sind Partikularisten der Ansicht, dass wir uns beim moralischen Nachdenken und Handeln nicht an Prinzipien orientieren sollten, und sie raten dazu, auf die Orientierung an moralischen Prinzipien zu verzichten. Die hiermit aufgeworfenen Fragen sind keineswegs grundlegend neu. Bereits dem Alltagsdenken ist die Sichtweise, dass man es mit der Orientierung an Prinzipien auch übertreiben kann, sicherlich nicht fremd. Die Verwendung von Ausdrücken wie »Prinzipienreiter«, die auf ein mangelndes Feingefühl im Umgang mit Prinzipien hinweisen, zeigt das deutlich. Auch in der Geschichte der Ethik lassen sich Beispiele für Positionen finden, in denen Prinzipien keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielen. So lässt sich etwa die Ethik des Aristoteles auf eine Weise deuten, die zumindest auf eine moderat prinzipien skeptische Haltung hinausläuft 1

Neben vielen theologisch begründeten Ethiken sind in diesem Zusammenhang v. a. verschiedene naturrechtliche und vertragstheoretische Konzeptionen, die praktische Philosophie Kants, der klassische Utilitarismus sowie deontologische und konsequentialistische (und auch zumindest einige tugendethische) Ethiktheorien der Gegenwart zu nennen.

18

1 Prinzipien und Prinzipienkritik

wenn Tugend und phronesis (praktische Weisheit) vom Wissen um Prinzipien unterschieden werden und korrektes Urteilen und Entscheiden nicht als Anwenden von Prinzipien, sondern als hiervon unabhängige Ausübung von Urteilskraft und Wahrnehmung verstanden werden. 2 Auch in der Tradition des britischen Intuitionismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der als zweite wichtige historische Wurzel der gegenwärtigen Partikularismusdebatte gelten kann, finden sich Wegbereiter partikularistischer Positionen. 3 Weitere Vorläufer ließen sich z. B. in der kasuistischen Tradition des Mittelalters und in Sartres frühen Schriften zum Existentialismus lokalisieren. 4 Das Novum der neueren gegenwärtigen Partikularismusdiskussion besteht daher nicht darin, dass prinzipienskeptische Positionen vertreten werden. Die Partikularismusdiskussion als philosophisch eigenständige Debatte ist vielmehr deshalb interessant, weil hier der Anspruch erhoben wird, die Rolle und Reichweite von Prinzipien auf einer grundsätzlichen Ebene als ein philosophisches Problem in den Blick zu nehmen und argumentativ auf eine Weise zu verhandeln, die sich von der inhaltlichen Diskussion einzelner moralischer Fragen weitgehend löst. Dass sich die Diskussion partikularistischer Positionen und Argumente dabei zeitlich in unmittelbarer Nachbarschaft zur Renaissance tugendethischer und intuitionistischer Positionen in der Ethik entfaltet, ist kein Zufall, jedoch wäre es verfehlt, die Partikularismusdiskussion lediglich als ein systematisches Anhängsel dieser Debatten zu beschreiben. Weder sind tugend ethische oder intuitionistische Ansätze 2

3

4

Vgl. Aristoteies, EN: 1103b 34-1104a 10; 1109b 18-23; 1137b 13-34; 1142a 23-30 & 1143a 25-35. Eine derartige Aristotelesinterpretation (exemplarisch: Broadie 1991: Kap. 1 & 4) ist allerdings nicht allgemeiner Konsens (kritisch z. B. Irwin 2000). - In dieser Arbeit verwende ich den Ausdruck »Urteil«, entgegen allen philosophischen Sorgfaltspflichten, als Ausdruck, der je nach Textkontext sowohl für Sätze, Satzäußerungen und Behauptungen stehen kann als auch für mentale Akte, Zustände oder Einstellungen, die durch die Äußerung von Sätzen zum Ausdruck gebracht werden können. Dies geschieht allein aus sprachökonomischen Gründen und sollte, da je nach Kontext die passende Bedeutung hinreichend klar sein dürfte, zu keinen Verständnisschwierigkeiten führen. So gilt zum einen Prichard manchen als Pionier partikularistischen Nachdenkens (insbesondere mit Blick auf Prichard 1912/2002, vgl. Dancy 2010a), Partikularisten wie Dancy und McNaughton entwickeln ihre Positionen ferner in kritischer Auseinandersetzung mit und als Weiterentwicklung der Konzeption von Ross, so dass sich deren prinzipienskeptische Ansätze philosophiehistorisch betrachtet als Schlusspunkt einer zunehmenden Erosion der Bedeutung von Prinzipien in der Tradition des britischen Intuitionismus verstehen lassen (vgl. Dancy 1983, 1991b, 1993: Kap. 4-6 und McNaughton 1988: Kap. 13). Eine eindeutige Einschätzung in diesen Fällen wird dadurch erschwert, dass in der kasuistischen Tradition Fragen der Prinzipienfindung, -anwendung, -interpretation und -kritik sowie der Didaktik eng miteinander verwoben sind (vgl. Stone 1998) und bei Sartre nicht leicht zu entscheiden ist, ob sich dessen Kritik gegen Prinzipien überhaupt oder eher gegen die Vorstellung von deren (objektiver) Gültigkeit, die als unabhängig von individuellen Entscheidungen begriffen wird, richtet (vgl. Sartre 1946/1994).

1.1 Moral ohne Prinzipien?

19

per se prinzipienskeptisch angelegt, noch verdankt sich, wie sich im Weiteren zeigen wird, die Plausibilität einer partikularistischen Sichtweise primär tugend ethischen oder intuitionistischen Motiven. Dessen ungeachtet lassen sich systematische Berührungspunkte zwischen der Frage nach Rolle und Reichweite von Prinzipien in der Ethik und solchen Fragen benennen, welche die Bedeutung von Tugendkonzeptionen und moralischen Intuitionen für das moralische Denken zum Gegenstand haben. 5 Zum einen liegt es nahe, im Rahmen prinzipienskeptischer Entwürfe auf Konzepte wie das der Urteilskraft zurückzugreifen, das unter dem Namen »phronesis« zugleich integraler Bestandteil solcher tugendethischen Entwürfe ist, die sich an der aristotelischen Ethik orientieren. Zum anderen steckt, wie sich ebenfalls noch zeigen wird, eine im weitesten Sinne intuitionistische Konzeption auch den Rahmen ab, innerhalb dessen partikularistische Positionen überhaupt nur sinnvollerweise vertreten und verteidigt werden können. Vorrangiges Ziel dieser Arbeit ist es, das systematische Potential partikularistischer Ansätze in der Ethik auszuloten und dabei zu überprüfen, inwiefern der Anspruch eingelöst werden kann, die Frage nach der Existenz und Reichweite von Prinzipien auf einer grundsätzlichen Ebene zu diskutieren. Neben einer Einschätzung der Tragfähigkeit verschiedener Argumente für und gegen partikularistische Positionen spielt dabei auch das Anliegen eine wichtige Rolle, zu einem besseren Verständnis des systematischen Orts der Diskussion über die Möglichkeit und die Rolle moralischer Prinzipien zu gelangen. Dies erfordert zunächst eine klare Bestimmung dessen, worum es in dieser Diskussion eigentlich geht. Hierbei handelt es sich um kein leichtes Unterfangen, denn obwohl die Partikularismusdebatte inzwischen seit knapp 30 Jahren mit zunehmender Intensität geführt wird, ist nicht immer transparent, wie gen au die diskutierten zentralen Thesen eigentlich lauten und aus welchen Gründen diese für wichtig und diskussionswürdig gehalten werden sollten. Es wird zwar in der Literatur gelegentlich von dem Partikularismus gesprochen, zugleich scheint es aber mindestens so viele Formulierungen dessen zu geben, was eine partikularistische Sichtweise auszeichnet, wie es Personen gibt, die von sich selbst oder anderen als Partikularisten bezeichnet werden. Hinzu kommt, dass Partikularisten wie Dancy und McNaughton, deren Beiträge für die Entwicklung der Debatte von besonderer Bedeutung sind, ihre Ansichten im Laufe der Zeit substantiell revidiert haben. Noch unübersichtlicher wird die Lage abschließend auch dadurch, dass es inzwischen eine Vielzahl von Versuchen gibt, den genannten Umstän5

Ich werde jedoch, insbesondere was das Verhältnis von Partikularismus und Tugendethik betrifft, nicht den Versuch unternehmen, systematische Verbindungen ausführlich im Detail nachzuweisen.

20

1 Prinzipien und Prinzipienkritik

den durch eine Taxonomie von verschiedenen Formen des Partikularismus Herr zu werden. 6 Die bislang vorgeschlagenen Gliederungen unterteilen das Spektrum der Positionen auf teils sehr unterschiedliche Weise, lassen mitunter offen, worin die systematisch aufschlussreichen Gemeinsamkeiten zwischen den als partikularistisch klassifizierten Positionen bestehen, und multiplizieren zudem die Anzahl postulierter Partikularismen oft jenseits des Notwendigen. 7 Jeder Versuch, einen Zugriff auf die relevanten Thesen und Argumente zu bekommen, steht vor der Herausforderung, eine Charakterisierung der zu diskutierenden Positionen zu finden, die diese als echte Alternativen zu Ansätzen ausweist, welche die Suche nach Prinzipien als wichtigen oder unverzichtbaren Bestandteil des Nachdenkens über moralische Fragen ansehen. Zugleich sollte gewährleistet sein, dass die als partikularistisch bestimmten Thesen sinnvoll diskutierbar sind, dass die Bestimmung eng an tatsächlich vertretene Positionen und Argumente angebunden ist und dass sie darüber hinaus auch deutlich macht, warum die partikularistischen Thesen wert sind, in ihrem eigenen Recht betrachtet zu werden. Um dies alles zu erreichen, werde ich im Folgenden als Erstes den für die Partikularismusdebatte zentralen Begriff des Prinzips explizieren und dabei den Standpunkt skizzieren, von dem aus die Frage nach der Rolle und Reichweite moralischer Prinzipien in dieser Arbeit betrachtet wird. Im Anschluss daran werden die für die weitere Diskussion wesentlichen Thesen vorgestellt. Anmerkungen zu den Konsequenzen der diskutierten Thesen für das Projekt normativer Ethik und ein kurzer Überblick über die folgenden Teile dieser Arbeit schließen dieses einleitende Kapitel ab.

6

7

Einschlägig in diesem Zusammenhang: Audi 2006, Holton 2002, McKeever und Ridge 2006: Kap. 1 sowie 5innott-Armstrong 1999. 50 kennt Audis Klassifikation z. B. Positionen, die er als »genetischen Partikularismus« und »begrifflichen Partikularismus bezeichnet« (vgl. Audi 2006: 292). Die erste These besagt nach Audi, dass Einzelurteile im moralischen Lernprozess bzw. im Meinungsbildungsprozess moralischen Prinzipien zeitlich vorausgehen. Die Annahme, dass man über den Begriff des moralischen Einzelurteils verfügen kann, ohne über den Begriff eines moralischen Prinzips zu verfügen, sei hingegen die zentrale These des begrifflichen Partikularismus. Begrifflicher und genetischer Partikularismus haben m. E. in der Literatur keinerlei Vertreter (auch Audi benennt niemanden) und spielen auch für die sonstigen von Audi »partikularistisch« genannten Thesen keine Rolle. Im Fall des begrifflichen Partikularismus lässt sich zudem mit einigem Recht bestreiten, dass dies wirklich eine sinnvolle These ist.

1.2 Was ist ein Prinzip? Annäherung an einen Begriff

21

1.2 Was ist ein Prinzip? Annäherung an einen Begriff Das Interesse, mit dem partikularistische Positionen und Argumente in dieser Arbeit in den Blick genommen werden, richtet sich auf die Frage, wie über moralische Fragen nachzudenken ist und welche Rolle hierfür allgemeine Handlungsrichtlinien und Orientierungspunkte in Form moralischer Prinzipien spielen können und sollten. Die im Rahmen dieser Arbeit diskutierten Thesen und Argumente werden vor dem Hintergrund dieses Interesses ausgewählt und beurteilt. Prinzipien werden hier daher hinsichtlich ihrer Rolle als Orientierungshilfen für Handlungen, Entscheidungen und Beurteilungen konkreter Einzelfälle betrachtet, die insofern handlungs anleitend genannt werden können, als man ihnen folgen kann und sie einem dabei behilflich sein können, einzuschätzen, was im Einzelfall getan werden soll oder im Einzelfall zu tun richtig, falsch und erlaubt ist. 8 Der Ausdruck »Prinzip« wird im Folgenden somit stets im Sinne von »handlungsanleitendes Prinzip« verstanden. Was aber ist ein solches Prinzip, oder eher: Was sollten wir unter diesem Begriff verstehen? Es ist erstaunlich, dass gerade im Rahmen der Partikularismusdebatte bislang nur wenig zur Klärung des Prinzipien begriffs beigetragen wurde. Wenn wir der weiteren Diskussion einen hinreichend klaren Bezugspunkt geben wollen, müssen wir dies nachholen und unserem intuitiven Vorverständnis des Begriffs eine möglichst scharfe Form geben. Es besteht natürlich keine Aussicht, allen alltags sprachlichen und philosophischen Verwendungen des Ausdrucks Rechnung zu tragen und all das zu 8

Man kann sich leicht andere Kontexte vor Augen führen, in denen etwas, das »Prinzip« genannt wird, eine zentrale Rolle zugewiesen bekommt, ohne dass es sich hierbei auch zwingend um ein handlungsanleitendes Prinzip handeln muss. In der deontischen Logik werden zahlreiche Axiome, Theoreme oder Schlussprinzipien für Ausdrücke wie bspw. »sollen«, »geboten«, »verboten« etc. als Prinzipien geführt (vgl. McNamara 2010 für Beispiele). In metaethischen Debattenkontexten, insbesondere solchen, die sich um die Existenz und Reduzierbarkeit moralischer Eigenschaften drehen, ist die Frage von Bedeurung, ob sich notwendige und hinreichende Bedingungen für das Zutreffen moralischer Begriffe in einem auf die eine oder andere Weise privilegierten Vokabular formulieren lassen (vgl. Miller 2003: Kap. 9), ohne dass es darauf ankommt, dass derartige Generalisierungen auch eine handlungs leitende Funktion ausüben können. - Prinzipien, die angeben, was zu tun wir moralisch verpflichtet sind, werden hier nicht eigenständig berücksichtigt. Ich halte den Pflichtbegriff für gleichermaßen interessant wie schwierig und bin nicht in der Lage, diesen von anderen normativen Begriffen hilfreich abzugrenzen (ausführlich zum Pflichtbegriff: Anwander 2013). Ich gehe aber davon aus, dass wir nur dann verpflichtet sein können, etwas zu run, wenn wir es auch tun sollen. Aus einer partikularistischen Position hinsichtlich Richtigkeits- und Sollensprinzipien folgt somit ebenfalls ein Partikularismus bezüglich Prinzipien, die moralische Pflichten zum Gegenstand haben. Umgekehrt gibt es zumindest theoretisch Spielraum, eine prinzipienethische Position allein auf Prinzipien, die moralische Pflichten zum Gegenstand haben, einzuschränken.

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1 Prinzipien und Prinzipienkritik

erfassen, was in irgendeinem Kontext korrekterweise als Prinzip bezeichnet werden kann. Wie bei jeder Begriffsexplikation ist ein gewisses Ausmaß an Stipulation erforderlich. Der oben skizzierte Standpunkt, von dem aus die Partikularismusdebatte betrachtet wird, gibt uns die erforderlichen Gesichtspunkte an die Hand, nach denen eine solche Explikation für die Zwecke dieser Arbeit vorzunehmen ist. Beginnen wir mit einer Reihe von Beispielen für handlungsleitende Prinzipien. Neben Prinzipien wie »Man soll nicht töten«, »Es ist falsch zu lügen« und »Es ist geboten, Personen in Not zu helfen«, die vermutlich ein Großteil derjenigen, die sich nie mit philosophischer Ethik befasst haben, als geeignete Kandidaten für inhaltlich überzeugende Prinzipien ansehen würde, bietet die normative Ethik einen reichhaltigen Fundus an Prinzipien, aus dem nachfolgend eine mehr oder weniger willkürliche Auswahl präsentiert wird. Das oberste Prinzip des klassischen Utilitarismus (in der Formulierung von Timmons): An action [ ... ] is right if and only if [it] would produce at least as high an overall balance of pleasure versus pain as would any other alternative action. (Timmons 2002: 107) Das oberste Prinzip des Regelutilitarismus (in der Fassung von Hooker): An act is wrong if it is forbidden by the code of rules whose internalization by the overwhelming majority of everyone everywhere in each new generation has maximum expected value in terms of well-being (with some priority for the worst off). (Hooker 2000a: 32) Das Prinzip der Doppelwirkung (in der Fassung von Ricken): Es ist sittlich erlaubt, ein außermoralisches Übel zu verursachen, wenn folgende vier Bedingungen erfüllt sind: (1) Die Handlung an sich, d. h. abgesehen von dem in Kauf genommenen Übel, muß sittlich gut oder sittlich indifferent sein. [ ... ] (2) Die handelnde Person beabsichtigt die gute Wirkung der Handlung; die schlechte Wirkung wird nur zugelassen. [ ... ] (3) Die schlechte Wirkung darf kein Mittel sein, um die gute Wirkung hervorzubringen. Die schlechte Wirkung darf deshalb nur entweder (3a) eine Folge der guten Wirkung sein [... ], oder (3 b) sie muß sich in gleicher Unmittelbarkeit wie die gute Folge ergeben. [ ... ] (4) Die Zulassung des Übels muß durch einen entsprechend schwerwiegenden Grund aufgewogen werden. (Ricken 2003: 289)

Das Principle 0/ Permissible Harm (in der Fassung von Kamm): The basic idea is that it is permissible (i) for greater good and (ii) means that have greater good as their noncausal flip side to cause lesser evil, but not permissible to (iii) intend lesser evil as a means to greater good or to (iv) intend

1.2 Was ist ein Prinzip? Annäherung an einen Begriff

23

means that cause lesser evil as a foreseen side effect and have greater good as a mere causal effect unmediated by (ii). (Kamm 2000: 213f.) Die Goldene Regel (in einer von vielen Formulierungen bei Parfit): We ought to treat others only in ways in which we would rationally be willing to be treated by others. (parfit 2011a: 323) Trotz aller inhaltlichen Unterschiede lassen sich auf dieser exemplarischen Grundlage einige allgemeine Charakteristika von Prinzipien herausarbeiten.

1.2.1

Prinzipien sind moralische Generalisierungen

Was für eine Art Entität ist ein Prinzip eigentlich? Prinzipien können formuliert werden, Prinzipien stehen in logischen Relationen, Prinzipien werden akzeptiert, Prinzipien kann man zustimmen, oder man kann sie ablehnen. Das sind gute, wenn auch nicht zwingende Gründe dafür, Prinzipien als Sätze, also als sprachliche Gebilde zu verstehen, und von dieser Sichtweise wird nachfolgend ausgegangen. 9 Weiter sind Prinzipien wie die oben angeführten Beispiele in dem Sinne generelle Aussagen oder Generalisierungen, dass sie, im Unterschied zu moralischen Einzelurteilen, nicht etwas über einen konkreten Einzelfall, sondern etwas über eine Klasse oder einen Typ von Fällen sagen. IC Mit »Man soll seine Versprechen halten« wird etwas über diejenigen Situationen gesagt, in denen irgendjemand irgendetwas versprochen hat. In dieser Hinsicht unterscheiden sich Prinzipien von Einzelurteilen bzw. partikularen Urteilen, die lediglich etwas über eine einzelne Situation oder über einen einzelnen Fall sagen und angeben, was eine einzelne Person in einem bestimmten Fall tun soll oder darf. Wird ein Prinzip auf einen Einzelfall angewendet, so ist das Ergebnis ein moralisches Einzelurteil. Prinzipien stehen zu Einzelurteilen daher in demselben oder zumindest einem 9

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Wer es vorzieht, Prinzipien eher als mentale Zustände, Propositionen, Sachverhalte oder Ähnliches zu verstehen, der kann stattdessen davon sprechen, dass Prinzipien in sprachlichen Formulierungen zum Ausdruck gebracht werden oder dass auf Prinzipien mittels solcher sprachlicher Formulierungen Bezug genommen wird. (Robinson 2008 versteht Prinzipien als dispositionale Eigenschaften von Akteuren, Harman 2005 versteht Prinzipien als Funktionen im mathematischen Sinn von Beschreibungen zu Bewertungen.) Für die weitere Diskussion wäre eine solche Unterscheidung nur insofern von Belang, als sie zu komplizierteren und umständlicheren Formulierungen führt. Den Ausdruck »Generalisierung« verwende ich im Rahmen dieser Arbeit synonym mit »generelles Urteil« bzw. »generelle Aussage« und nicht im Sinne von »Ergebnis eines Generalisierungsprozesses«. Hiermit weiche ich von der Bedeutung ab, die der Ausdruck »Generalisierung« in zahlreichen Kontexten hat. Es wird so durch die Wahl der Begrifflichkeit jedoch keine Vorentscheidung bezüglich der Frage getroffen, ob Prinzipien durch ihre Beziehungen zu Einzelurteilen gerechtfertigt werden können oder müssen.

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1 Prinzipien und Prinzipienkritik

ähnlichen Verhältnis wie bspw. »Menschen sind sterblich« zu »Sokrates ist sterblich« oder »In Deutschland ist es im Sommer wärmer als 0 Grad Celsius« zu »Es ist am 27.08.2013 in Berlin wärmer als 0 Grad Celsius«. 11 Die vorgenommene Gegenüberstellung von Prinzipien und Einzelurteilen wirft die Frage auf, was Gegenstand moralischer Einzelurteile und moralischer Prinzipien ist und wie die logische Form von Prinzipien und Einzelurteilen zu verstehen ist: Was wird mit einem moralischen Einzelurteil beurteilt, und in welchen Hinsichten sind Prinzipien als Generalisierungen im Vergleich zu Einzelurteilen von logisch anderer Form? Diese Fragen können vorab zwar nicht in voller Ausführlichkeit erörtert werden nicht zuletzt, da die genaue Form von Prinzipien gerade in der Partikularismusdiskussion ebenfalls Gegenstand von Kontroversen ist -, jedoch soll für die Zwecke der weiteren Diskussion zumindest der Rahmen einer angemessenen Sichtweise abgesteckt werden. Die zentralen Annahmen, von denen im Folgenden ausgegangen wird, sind diese: Partikulare moralische Sollensurteile schreiben nicht konkreten Einzelhandlungen eine bestimmte Eigenschaft zu, sondern sagen von einer einzelnen Person, dass diese in einer konkreten, einzelnen Situation eine Handlung eines bestimmten Typs ausführen oder unterlassen soll. Prinzipien hingegen sagen, dass man (sofern man bestimmte Eigenschaften hat) Handlungen eines bestimmten Typs (unter bestimmten Umständen) ausführen bzw. unterlassen soll. Dasselbe gilt, mit den entsprechenden Anpassungen, für Urteile darüber, was zu tun moralisch richtig, falsch oder erlaubt ist, und für solche Urteile, mit denen zum Ausdruck gebracht wird, was vom Standpunkt der Moral für oder gegen bestimmte Handlungen spricht. Der so umrissene Kontrast zwischen Einzelurteilen und Prinzipien dürfte hinreichend scharf sein, um Verwechslungen auszuschließen. Eine ausführlichere Erläuterung und Begründung des hier zugrunde gelegten Verständnisses moralischer Urteile findet sich, zusammen mit Hinweisen dazu, welchen Fragen eine umfangreichere Erörterung im Detail nachgehen müsste, im Anhang zu diesem Kapitel.

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Wer der Ansicht ist, dass Prinzipien für die Beurteilung von Einzelfällen keine Rolle zu spielen brauchen oder keine Rolle spielen sollten, der sagt zugleich etwas darüber, wie partikulare Moralurteile gefällt werden können oder gefällt werden sollten. Sehr unspezifisch formuliert betonen Partikularisten damit auf verschiedene Weise das Partikulare gegenüber dem Allgemeinen, und deshalb ist die Verwendung von »Partikularismus« zur Bezeichnung von Positionen, welche empfehlen, moralische Beurteilungen ohne Prinzipien vorzunehmen, auch nicht willkürlich.

1.2

Was ist ein Prinzip? Annäherung an einen Begriff

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1.2.2 Prinzipien sind substantiell und anwendbar Prinzipien sind insofern substantiell, als sie nicht bereits aufgrund ihrer Form wahr sind. 12 Den Unterschied zwischen substantiellen und nicht-substantiellen Generalisierungen können wir folgendermaßen präzisieren: Eine moralische Generalisierung ist genau dann nicht-substantiell wahr, wenn sie für beliebige Substitutionen der enthaltenen nicht-moralischen Begriffe mit Ausnahme der logischen Ausdrücke korrekt ist. 13 Beispiele für nicht-substantielle Aussagen in diesem Sinne wären etwa» Wenn es falsch ist, zu lügen, dann ist es nicht erlaubt, zu lügen« oder »Wenn es falsch ist, zu lügen, dann ist es falsch, zu lügen«. Im Fall von »Wenn es falsch ist, zu lügen, dann ist es nicht erlaubt, zu lügen« spielt es keine Rolle, ob wir den Ausdruck »lügen« durch »töten«, »sich ein Butterbrot schmieren« oder »Steuern hinterziehen« ersetzen. Das Ergebnis ist jedes Mal ein wahrer Satz. Derartige Generalisierungen fallen daher sicherlich nicht in den Bereich einer prinzipienskeptischen Position. Aufgrund der hier eingenommenen Perspektive auf Prinzipien werden diese als etwas verstanden, das uns im Handeln und Entscheiden als Orientierungspunkt dienen kann. Dies erfordert, dass wir Prinzipien konsultieren können, um durch ihre Anwendung im Einzelfall zu einer moralischen Einschätzung der vorliegenden Situation zu gelangen. 14 Wir können damit eine Anwendungsbedingung für Prinzipien formulieren: Nur solche Generalisierungen kommen als Prinzipien infrage, die sich hilfreich und informativ auf einzelne Fälle und Handlungssituationen anwenden lassen, durch deren Anwendung man also in die Lage versetzt wird, zu einer Einschätzung des

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Dies lässt die Möglichkeit offen, dass substantielle Generalisierungen analytisch wahr sein können. Dass es analytisch wahre Moralprinzipien geben kann, wird durch das hier vorausgesetzte Prinzipienverständnis also nicht begrifflich ausgeschlossen. Wer aus metaethischen Gründen selbst nicht-substantiellen moralischen Aussagen das Prädikat »wahr« oder »korrekt« verweigern will, könnte sich an dieser Stelle auf den Standpunkt zurückziehen, eine Disposition, alle entsprechenden Substituierungen zu akzeptieren, sei konstitutiv dafür, über die einschlägigen moralischen und logischen Begriffe zu verfügen. Hierbei braucht nicht auf die Frage eingegangen zu werden, wie das (kausale) Verhältnis zwischen moralischen Urteilen, Entscheidungen, Absichten und Handlungen genau zu verstehen ist. Auch wird nicht behauptet, dass wer ein Prinzip akzeptiert, in jedem konkreten Einzelfall, in dem er im Einklang mit diesem Prinzip handelt, eine bewusste Anwendung dieses Prinzips vornimmt. Eine moralische Einschätzung einer konkreten Situation kann ebenso dispositionaler Natur sein wie die Akzeptanz eines Prinzips. Wenig plausibel wäre es jedoch, davon auszugehen, dass man sich in seinem Handeln auch dann an bestimmten Prinzipien orientieren kann, wenn man nicht einmal dazu in der Lage ist, diese unter geeigneten Umständen zu formulieren und bewusst anzuwenden. Die Anwendungsbedingung ist daher mit einem dispositionalen Verständnis der Akzeptanz von Prinzipien vereinbar.

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1 Prinzipien und Prinzipienkritik

vorliegenden Falls zu gelangen. 15 Die Anwendung eines Prinzips beinhaltet im weitesten Sinne eine Schlussfolgerung vom Prinzip und von bestimmten Zusatzannahmen auf ein moralisches Einzelurteil. Welches die einschlägigen Zusatzannahmen sind, wird durch das Prinzip selbst bestimmt. Wenn ich nicht davon ausgehe, dass ich meinem Bruder versprochen habe, ihm bei seinem Umzug zu helfen, dann wird die Tatsache, dass ich das Prinzip »Wenn man etwas versprochen hat, dann soll man es tun« akzeptiere, auf mein Urteilen und Entscheiden bezüglich der Umzugshilfe in diesem Fall keinerlei Auswirkung haben. Und selbst wenn ich davon ausgehe, dass ich es versprochen habe, aber >eins und eins nicht zusammenzähle< und angesichts der mir zur Verfügung stehenden Informationen nicht zu dem Ergebnis komme, dass ich meinem Bruder helfen soll, wird die Akzeptanz des Prinzips keinerlei Auswirkungen auf mein Urteilen und Entscheiden haben. Eine Anwendung des Prinzips liegt daher nur vor, wenn ich vom Prinzip und den Zusatzannahmen zu einem moralischen Einzelurteil durch einen Prozess der Schlussfolgerung voranschreite. 16 Eine solche Anwendung eines Prinzips kann korrekt oder fehlerhaft vonstattengehen. Da Moralprinzipien uns dabei behilflich sein sollten, zu wohlbegründeten, respektablen oder gerechtfertigten moralischen Einschätzungen zu gelangen, ist die Anwendungsbedingung so zu verstehen, dass nur solche Generalisierungen sich als genuine Moralprinzipien qualifizieren, die auf gültige Weise zur Beurteilung eines Einzelfalls angewendet werden können. Wenn im Weiteren von der Anwendung eines Prinzips gesprochen wird, so ist dies daher, sofern nicht 15

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Dies umfasst auch Anwendungen, deren Ergebnis verrät, was andere Personen tun sollen, oder aus denen hervorgeht, dass andere Personen sich richtig oder falsch verhalten haben. Dass Prinzipien im Unterschied zu bloßen Generalisierungen durch ihre Anwendbarkeit als Orientierungspunkte im Urteilen dienen können, ist ein Verständnis von Prinzipien, das in der einen oder andere Form von vielen Partikularisten vorausgesetzt wird (vgl. erwa Dancy 2004: 87 & 11M., Lance und Little 2006b: 569-573, 587 & 591 sowie McNaughton 1988: 190f.). Die Diskussion um Existenz und Reichweite moralischer Prinzipien, wie sie de facto geführt wird, dreht sich um mehr als nur die Möglichkeit, sachlich angemessene substantielle moralische Generalisierungen zu formulieren. Diese Formulierung impliziert nicht, dass dieser Schluss ein im engeren Sinne logisch-deduktiver Schluss ist; auch wird nicht ausgeschlossen, dass für die Anwendung des Prinzips Zusatzinformationen mit explizit moralischem Gehalt erforderlich sein können oder dass die Anwendung des Prinzips allgemein das erfordern kann, was als »moralische Urteilskraft« bezeichnet wird (vgl. hierzu 2.2.1 & 2.2.2). Behauptet wird nur, dass die Anwendung eines Prinzips einen mentalen Übergang vom akzeptierten Prinzip und weiteren Informationen zur moralischen Einzelfallbeurteilung involviert. Der Ausdruck »Schlussfolgerung« ist für die weitere Diskussion zunächst in diesem schwachen Sinn zu verstehen. Wie die Anwendungsbedingung sinnvollerweise und im Einklang mit den Anforderungen verstanden werden kann, die an Prinzipien gestellt werden, wird im weiteren Verlauf der Arbeit an verschiedenen Stellen thematisiert werden.

1.2 Was ist ein Prinzip? Annäherung an einen Begriff

27

weiter qualifiziert, stets bedeutungs gleich mit »gültige Anwendung« zu verstehen. Damit Prinzipien in diesem Sinne angewendet werden können, müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Erstens muss es psychologisch möglich sein, das jeweilige Prinzip zu verstehen und festzustellen, dass die Bedingungen für seine Anwendung gegeben sind. Hiermit wird unweigerlich die Frage aufgeworfen, für wen dies möglich sein muss. Was dies betrifft, so werde ich in dieser Arbeit versuchen, allen möglichen Kontroversen aus dem Weg zu gehen, und eine maximal liberale Auslegung wählen: Eine Generalisierung gilt nur dann als nicht anwendbar, wenn sie von niemandem angewendet werden kann. Dort, wo diese Anforderung argumentativ etwas austragen wird, werden keinerlei Annahmen über kontingente Fähigkeiten eine Rolle spielen, die nur manche Personen aufweisen, anderen hingegen nicht. Es wird sich zeigen, dass mit der Anwendungsbedingung, dessen ungeachtet, eine Hürde benannt ist, an der Argumente zugunsten einer prinzipienethischen Herangehensweise scheitern können. Zweitens muss die epistemische Bedingung erfüllt sein, dass es möglich ist, durch die Anwendung des Prinzips etwas herauszubekommen, was man vorher noch nicht wusste. Insbesondere sollte das Prinzip derart sein, dass seine Anwendung nicht bereits dasjenige Wissen voraussetzt, das Ergebnis dieser Anwendung wäre. Betrachten wir ein Beispiel für eine Generalisierung, welche diese Bedingung nicht erfüllt: »Wenn eine Verteilung gerecht ist, dann erhält jeder so viel, wie ihm zusteht.« Diese Generalisierung hilft uns im Einzelfall deshalb nicht dabei, zu beurteilen, ob jemand so viel erhalten hat, wie ihm zusteht, weil auf begründete Weise zu beurteilen, ob eine Verteilung gerecht ist, wiederum voraussetzt, dass man sich darüber Klarheit verschafft, ob jeder der Betroffenen so viel erhalten hat, wie ihm zusteht. An späterer Stelle der Arbeit werden Probleme dieser Art ausführlicher diskutiert, und es wird detailliert gefragt, was die Anwendung eines Prinzips erfordert und auf welche Weisen die Anwendbarkeit von Prinzipien gefährdet werden kann.

1.2.3 Prinzipien sind keine Normen (und nicht in jedem Fall Regeln) Wir können die Begriffsbestimmung abschließen, indem wir den Begriff des Prinzips gegen zwei weitere Begriffe abgrenzen, die sich im alltäglichen und philosophischen Gebrauch oft in unmittelbarer Nachbarschaft zu diesem bewegen und deshalb häufig in denselben Diskussionskontexten zur Sprache kommen. Hierbei handelt es sich um den Begriff der Regel und den Begriff der Norm. Zwar gibt es für diese Begriffe ebenfalls keinen einheitlichen Gebrauch, zumindest zum Begriff der Norm liegt aber folgender Zugang nahe: Während Prinzipien formuliert werden können und damit sprachliche Gebilde sind, werden Normen etabliert. Normen sind, im Unterschied zu

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1 Prinzipien und Prinzipienkritik

Prinzipien, durch Sanktionen aufrechterhaltene Verhaltensregularitäten und damit keine sprachlichen, sondern soziale Phänomene. Dass in einer Gruppe von Personen G eine Norm besteht oder in Kraft ist,17 lässt sich so verstehen, dass folgende Bedingungen hierfür individuell notwendig und gemeinsam hinreichend sind: (i) Mitglieder einer Gruppe G ':' erwarten von Personen aus G, dass diese unter bestimmten Umständen Handlungen einer bestimmten Art ausführen. (ii) Das Nicht-Ausführen der genannten Handlungen wird in irgendeiner Form durch Mitglieder von sanktioniert. (iii) Infolge dieser Sanktions maßnahmen kommt es regelmäßig dazu, dass die entsprechenden Handlungen von Mitgliedern aus Gausgeführt werden. 18 Das Bestehen einer Norm ist somit ein soziales Faktum, das einer empirischen Überprüfung zugänglich ist, ohne dass man sich für diese Überprüfung selbst fragen müsste, was zu tun moralisch richtig oder falsch ist. Für die Frage, ob es Prinzipien gibt, gilt dies nicht, sofern hiermit nicht nur danach gefragt wird, ob irgendwelche moralischen Generalisierungen de

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Wir könnten auch sagen, dass in diesem Fall die entsprechende Norm »gilt«, wobei diese Formulierung jedoch zwischen der Behauptung, dass es eine soziale Norm gibt und der Behauptung, dass das Bestehen dieser Norm rechtfertig- oder begründ bar ist, oszilliert. Im Anschluss an Habermas könnte man bei gerechtfertigten Normen von der Gültigkeit einer Norm sprechen (vgl. Habermas 1983: 70ff., auch für Habermas' These, dass jede geltende Norm mit dem Anspruch auf Gültigkeit in diesem Sinne aufrechterhalten wird). Um Verwechslungen zu vermeiden, werde ich jedoch zwischen dem Bestehen einer Norm und ihrer Legitimität oder Rechtfertigbarkeit unterscheiden. Am Rande sei erwähnt, dass der Ausdruck »Norm« oftmals auch gleichbedeutend mit »Regel« und »Prinzip« verwendet wird. Hoerster versteht unter einer Norm bspw. jede sprachliche Formulierung, mit der ein direktiver Sprechakt des Forderns, Befehlens oder Aufforderns ausgeführt wird, und versteht Prinzipien als Normen in diesem Sinne (vgl. Hoerster 2003: 43). Für Normen, die das Unterlassen bestimmter Handlungen betreffen, gilt Entsprechendes. G und G* können identisch sein, ebenso kann G" im Extremfall aus nur einer einzigen Person bestehen. Dass sich der Ausdruck »normativ«, der heutzutage von vielen als Terminus technicus und Sammelbegriff für evaluative wie deontische Begriffe verschiedenster Art verwendet wird, etymologisch gerade von »Norm« ableitet, suggeriert, dass es einen analytischen Zusammenhang zwischen normativen Prinzipien und dem Bestehen von Normen gibt. Wenn wir Normen als sanktions basierte Regularitäten verstehen, ist dies jedoch nicht der Fall. Man kann es sinnvollerweise als richtig oder geboten ansehen, dort eine Norm einzurichten, wo keine besteht, oder es als falsch ansehen, dass eine Norm besteht. Will man stattdessen terminologisch festsetzen, dass nur solche Begriffe normativ sind, die das Bestehen einer Norm konstatieren oder voraussetzen, so wird fraglich, ob Ausdrücke wie »richtig«, »sollen«, »geboten« etc. tatsächlich normativ in dieser stipulierten Bedeutung sind.

1.2 Was

ist ein Prinzip? Annäherung an einen Begriff

29

facto akzeptiert werden, sondern stattdessen in Erfahrung gebracht werden soll, ob es begründete Prinzipien gibt, an denen man sich orientieren sollte. Skepsis gegenüber Prinzipien, die in der vorliegenden Arbeit thematisch ist, ist von der Skepsis gegenüber Normen zu unterscheiden. Zu Prinzipien im hier einschlägigen Sinne gehören natürlich auch Prinzipien, die angeben, unter welchen Bedingungen es gerechtfertigt oder legitim ist, Normen zu installieren und aufrechtzuerhalten. Normen sind aber nicht selbst Gegenstand dieser Arbeit. Gelegentlich wird zwischen Prinzipien und Regeln unterschieden, indem Regeln als solche Generalisierungen begriffen werden, die in ihren Formulierungen besonders allgemein oder einfach gehalten oder einfach anzuwenden sind. 19 Hiermit kann jedoch Verschiedenes gemeint sein, wie z. B.: Generalisierungen, welche die Richtigkeit, Erlaubtheit oder Falschheit einer Handlungsweise nicht an bestimmte Bedingungen knüpfen und insofern allgemein oder einfach sind (»Es ist falsch zu lügen«), im Unterschied zu solchen Generalisierungen, die dies tun (»Es ist falsch zu lügen, sofern dies nicht in Notwehr geschieht oder um ein Unglück zu verhindern oder weil der Belogene kein Recht auf die Wahrheit hat«) und insofern spezifischer sind. Generalisierungen, die höherstufige, allgemeinere Handlungsbeschreibungen verwenden (z. B. »täuschen«), im Unterschied zu solchen, die auf Ausdrücke für spezifischere oder niedrigstufigere Handlungsbeschreibungen (z. B. »lügen«) rekurrieren. 20 Generalisierungen, die aus anderen abgeleitet werden können (spezifisch), im Unterschied zu obersten oder höchsten Generalisierungen, welche die Grundlage für die Ableitung weiterer Generalisierungen bilden, aber selbst nicht auf solche zurückgeführt werden können (allgemein). Generalisierungen, deren Internalisierung, Anwendung und Befolgung an geringe kognitive oder motivationale Voraussetzungen gebunden ist, im Unterschied zu solchen Generalisierungen, für die das nicht der Fall ist. 21 Für derartige Bestimmungen von Regeln vgl. etwa Beauchamp und Childress 2001: 13 sowie Timmons 2002: 5. 20 Ein Handlungsbegriff

, wenn gilt: Man kann -t, das Umgekehrte ist jedoch nicht der Fall. Wie die angesprochene Indem-Relation zu verstehen ist, ist unter Handlungstheoretikern umstritten (für eine ausführliche Diskussion vgl. Stout 2005: Kap. 9). 21 Es ist daher wichtig, zwischen der Eigenschaft eines Prinzips, ein generelles Moralurteil zu sein, und der Eigenschaft, allgemein in einer der verschiedenen Interpretationen dieses Begriffs zu sein, zu unterscheiden (vgl. in diesem Sinne auch Hare 1972/1989). Während Ersteres die logische Form einer Generalisierung betrifft und Prinzipien von Einzelurteilen unterscheidet, betreffen die verschiedenen Versionen des allgemein / spezifisch-Kontrasts die für die Formu19

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1 Prinzipien und Prinzipienkritik

Eine Unterscheidung zwischen Prinzipien und Regeln ist für die folgende Diskussion in keiner der hiermit angesprochenen Formen von Bedeutung. Die partikularistischen Thesen, die im Weiteren diskutiert werden, richten sich allesamt gegen Prinzipien jeder Form und nicht nur gegen Prinzipien, die einige oder mehrere der genannten Bedingungen erfüllen. Fassen wir die bisherigen Überlegungen zusammen: Prinzipien sind substantielle, generelle moralische Urteile, die uns bei der Urteils- und Entscheidungsfindung in moralischen Fragen helfen können, wenn wir sie anwenden, die aber weder in ihren Formulierungen besonders allgemein oder einfach zu sein brauchen, noch an bestehende soziale Normen gebunden sind. Im Folgenden wird nun die partikularistische Kritik an moralischen Prinzipien, die Gegenstand dieser Arbeit ist, vorgestellt und erläutert.

1.3 Spielarten von Partikularismus und Prinzipienethik Im Rahmen dieser Arbeit werden die partikularistischen Thesen so verstanden, dass sie ausschließlich moralische Prinzipien betreffen. Diese Einschränkung basiert auf der Auffassung, dass sich moralische Urteile und Prinzipien bzw. die Einstellungen, die in ihnen zum Ausdruck kommen, von anderen Einstellungen sinnvoll abgrenzen lassen. Moral, moralisches Urteilen und moralische Einstellungen sind distinkte Phänomene unseres sozialen Miteinanders. Es ist nicht trivial, dass ein rationaler Akteur moralische Ansichten und Einstellungen aufweist, und nicht alle Überlegungen, die wir anstellen, wenn wir uns fragen, was wir tun sollen, lassen sich ohne Probleme auch als moralische bezeichnen. Dies wirft die Frage nach einer Abgrenzung des Bereichs des spezifisch Moralischen auf und damit eine Frage, die in der Literatur intensiv und mit keinem klaren Ergebnis diskutiert worden ist. 22 Ohne ausführliche Begründung und detaillierte Ausarbeitung wird hier davon ausgegangen, dass moralische Urteile solche Urteile sind, die eine enge Beziehung zu bestimmten Emotionen und reaktiven Einstellungen wie Schuld und Empörung und zu bestimmten Praktiken wie denen des Tadelns, Vorwerfens und Um-Verzeihung-Bittens aufweisen. Wenn wir jemandem einen moralischen Fehler unterstellen, dann reagieren wir hierauf zwar weder zwingend mit Empörung (bzw., falls wir selbst die entsprechende Person sind, nicht zwingend

lierung einer Generalisierung herangezogenen Begriffe oder die logischen Relationen, in denen diese Generalisierung zu anderen steht. 22 Für verschiedene Positionen zu dieser Frage vgl. Birnbacher 2003: Kap. 1, Gen 2011 sowie die in Walker und Wallace 1970 gesammelten Beiträge.

1.3 Spielarten von Partikularismus und Prinzipienethik

31

mit Schuldempfindungen), noch wäre dies stets angemessen. Die Frage, ob es angemessen wäre, wird jedoch unweigerlich aufgeworfen, und dies unterscheidet moralische Fehler von bspw. mathematischen Fehlern, einem Versagen in ästhetischer Hinsicht oder bestimmten Formen von Rationalitätsdefiziten. Nicht jeder moralische Fehler ist tadelnswert und verlangt nach den genannten charakteristischen Reaktionen, aber dort, wo dies nicht einmal zur Diskussion steht, kann kaum von einem moralischen Fehler gesprochen werden.

1.3.1

Radikaler und moderater Partikularismus

Wirft man einen Blick in die Fachliteratur, so kann einem kaum entgehen, dass weder bei Befürwortern noch bei Gegnern des Partikularismus Einigkeit darüber vorherrscht, worin genau eine partikularistische Position besteht. Selbst Dancys Texten, die zentrale Referenzpunkte der gegenwärtigen Debatte bilden und zum Großteil verantwortlich sind für die Richtung, welche die Partikularismusdiskussion seit den frühen 1980er Jahren eingeschlagen hat, lässt sich keine eindeutige und einheitliche Formulierung einer zentralen These entnehmen, um die sich seine verschiedenen Beiträge konsequent drehen und die als Kernbestand der von ihm vertretenen Form des Partikularismus gelten könnte. Ungeachtet dieser Unübersichtlichkeit ist es aber möglich, einen gemeinsamen Bezugspunkt der verschiedenen in der Debatte diskutierten Positionen und einen Grundgedanken auszumachen, der unterschiedliche Thesen und Positionen innerhalb des partikularistischen Lagers miteinander verklammert und zugleich der naheliegende Ansatzpunkt der Diskussion ist, wenn man sich für die Rolle und Reichweite moralischer Prinzipien interessiert. Ganz allgemein können wir als Charakteristikum einer partikularistischen Haltung den Ratschlag bzw. die Empfehlung verstehen, im Entscheiden und Handeln und beim Nachdenken über moralische Fragen auf die Orientierung an Prinzipien zu verzichten. Dies ist allem voran eine prinzipienkritische Position, die verschieden weitreichend formuliert werden kann. 23 Radikale Partikularisten empfehlen eine vollständige Prinzipienabstinenz. Ihnen zufolge sollte man sich im Handeln und im Urteilen an keinerlei Prinzipien orientieren. Anstatt den Ratschlag, auf Prinzipien konsequent zu verzichten, in den Mittelpunkt zu stellen, lässt sich auch davon sprechen, dass 23

Von daher lässt sich mit Recht sagen, dass allen partikularistischen Positionen eine im weitesten Sinne negative Einstellung zu Prinzipien gemeinsam ist (vgl. Strahovnik 2008: 1) bzw. dass alle partikularistischen Positionen eine negative These zu Prinzipien beinhalten und sich anhand der Art und Reichweite dieser negativen These unterscheiden lassen (vgl. McKeever und Ridge 2006: 5).

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1 Prinzipien und Prinzipienkritik

es nach Ansicht radikaler Partikularisten keine Prinzipien gibt, die sich als Orientierungspunkte eignen. 24 Dies wiederum lässt sich am besten so verstehen, dass es keine inhaltlich akzeptablen Prinzipien gibt, die einer kritischen Überprüfung standhalten und nicht mittels durchschlagender Einwände zu Fall gebracht werden können. Wenn im weiteren Verlauf der Arbeit davon die Rede ist, dass es Prinzipien gibt oder nicht gibt, dann ist dies stets als Kurzfassung dafür zu verstehen, dass es keine Prinzipien gibt, die akzeptabel im soeben erläuterten Sinne sind und die einen geeigneten Orientierungspunkt für moralische Urteile und Entscheidungen abgeben. Exkurs: Alternative Formulierungen radikal prinzipienkritischer Thesen

Indem bei der soeben gegebenen Erläuterung der radikal partikularistischen Position von akzeptablen Prinzipien gesprochen wurde, die Einwänden Stand halten, wurde eine Formulierung gewählt, die offen ist für verschiedene Annahmen darüber, worin solche Einwände bestehen können. Sie setzt bspw. nicht voraus, dass Prinzipien durch die Formulierung von Gegenbeispielen kritisiert werden können, und schließt auch nicht aus, dass Prinzipien trotz der Existenz von Gegenbeispielen oder Ausnahmen alles in allem ein akzeptabler Bezugspunkt im moralischen Denken sein können. So, wie sie hier verstanden werden, sind sowohl die These, dass es Prinzipien gibt, wie auch deren Negation zudem frei von potentiell kontroversen metaethischen Annahmen. Dies wäre nicht der Fall, wenn wir stattdessen davon sprechen würden, dass es radikalen Partikularisten zufolge keine wahren Prin24

McKeever und Ridge nennen diese These »principle abstinence particularism« (McKeever und Ridge 2006: 17). Ähnlich verstehen die partikularistische These Dancy 1983 sowie Schaber und Wolf 1998: 108. Dancy 2009 erwähnt dies ebenfalls als eine Form des Partikularismus. Dancy 1983 und 1993 lassen sich ohne Weiteres als Argumentationen zugunsten einer radikal partikularistischen Sichtweise in diesem Sinn verstehen (siehe insbesondere Dancy 1983: 530 und Dancy 1993: 56). Radikal partikularistisch in diesem Sinne erscheint auch McNaughtons These, Prinzipien seien bestenfalls überflüssig und schlimmstenfalls schädlich, wenn es darum geht, herauszufinden, was moralisch richtig ist (vgl. McNaughton 1988: 190). Hier bietet sich folgende Interpretation an: Prinzipien sind entweder zu nichts zu gebrauchen (d. h. sie erfüllen die Anwendungsbedingung nicht oder sind nicht substantiell), oder sie führen uns bei der Anwendung aufs falsche Gleis, d. h. zu falschen Entscheidungen, was genau dann der Fall ist, wenn sich zwingende Einwände gegen das Prinzip vorlegen lassen. So verstanden läuft McNaughtons Formulierung der partikularistischen These ebenfalls auf den radikalen Partikularismus hinaus. Auch McDowelis Behauptung, dass wir eine rationale moralische Sichtweise nicht als Suche nach Prinzipien ansehen können und dies auch nicht zu tun brauchen (vgl. McDowell1985/1998: 148f.) und seine Vermutung, dass das praktische Wissen tugendhafter Akteure nicht in Prinzipien erfasst werden könne (McDoweli 1979/1998: 66-69), ließen sich als radikal partikularistisch deuten (wobei eine schwächere Interpretation im Sinne dessen, was weiter unten als »moderater Partikularismus« bezeichnet wird, ebenfalls denkbar ist).

1.3 Spielarten von Partikularismus und Prinzipienethik

33

zipien gibt oder keine Prinzipien, die bestehende moralische Sachverhalte abbilden. McKeever und Ridge formulieren die von ihnen »principle eliminativism« genannte Position derart, dass sämtliche Theorien, welche die Wahrheitswertfähigkeit moralischer Aussagen verneinen, automatisch unter dieses Label fallen (vgl. McKeever und Ridge 2006: 15). Mit der Formulierung, dass es keine wahren Prinzipien gibt, wäre für die Diskussion der Rolle und Reichweite von moralischen Prinzipien auch nur dann etwas gewonnen, wenn wir davon ausgehen, dass die Wahrheit oder Falschheit moralischer Prinzipien uns grundsätzlich epistemisch unzugänglich sein könnte. Gerade diese Möglichkeit kann jedoch vor dem Hintergrund derjenigen Perspektive, die hier auf die Partikularismusdebatte eingenommen wird, zugleich ohne Weiteres vernachlässigt werden. Wahre Prinzipien, die wir nicht gerechtfertigt für wahr halten können, können kaum als Orientierungspunkte im moralischen Denken, Entscheiden und Handeln dienen, die uns zu gerechtfertigten moralischen Urteilen führen. Unter der Bezeichnung »prinzipienskeptischer Partikularismus« (engl. »principle skepticism particularism«) unterscheiden McKeever und Ridge vom radikalen Partikularismus, wie er hier eingeführt wurde, die These, dass es keine hinreichenden Gründe gibt, zu glauben, es gebe wahre - oder allgemein inhaltlich überzeugende - moralische Prinzipien (vgl. McKeever und Ridge 2006: 15; für eine korrespondierende Formulierung der Kerngedanken des Partikularismus vgl. Little 2000: 277). Auf eine solche Differenzierung kann verzichtet werden. Wenn mit der Behauptung, es gebe keine Gründe, an die Existenz von Prinzipien zu glauben, nicht nur der momentane Diskussionsstand wiedergegeben werden soll, sondern stattdessen die U nmöglichkeit angemessen begründeter Prinzipien behauptet wird, besteht angesichts des hier vorausgesetzten Prinzipien begriffs kein signifikanter U nterschied mehr zwischen der These des prinzipien skeptischen Partikularismus und der Behauptung, dass es keine akzeptablen Prinzipien gibt. Prinzipienskepsis und Prinzipienkritik laufen letztendlich auf dasselbe hinaus. Es wurde oben davon gesprochen, dass wir radikalen Partikularisten zufolge auf die Orientierung an Prinzipien verzichten sollen, und behauptet, die These, es gebe keine akzeptablen Prinzipien, sei hierzu äquivalent. Dass dies der Sache nach gerechtfertigt ist, wird bestritten. So unterscheiden z. B. McKeever und Ridge zwischen dem, was sie »principle abstinence particularism« nennen (These: Man soll sich nicht an Prinzipien orientieren) und dem principle eliminativism (These: Es gibt keine Prinzipien), und sie sehen hierin voneinander unabhängige Positionen (vgl. McKeever und Ridge 2006: 15ff.). Wie ich an späterer Stelle in 8.4 argumentieren werde, lässt sich letztendlich nicht auf sinnvolle und konsistente Weise ein Keil zwischen die inhaltliche Kritik an einem Prinzip und die Empfehlung, sich nicht an diesem zu orientieren, treiben, da man es genau dann vermeiden soll, sich an einem Prinzip

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1 Prinzipien und Prinzipienkritik

zu orientieren, wenn dieses Prinzip inhaltlich nicht akzeptabel ist. Trifft dies zu, dann entspricht der von Ridge und McKeever vorgeschlagenen begrifflichen Unterscheidung letztendlich kein Unterschied in der Sache. Als moderater Partikularismus soll die These gelten, dass es nicht genug oder keine ausreichend starken Prinzipien gibt, um den Bereich des moralisch Richtigen und Falschen vollständig in Prinzipien zu erfassen. 25 Hiermit ist gemeint, dass sich keine endliche Anzahl von akzeptablen Prinzipien angeben lässt, durch deren Anwendung für jede Situation entschieden werden kann, was jeweils getan werden soll oder zu tun erlaubt ist. Wenn wir eine solche Liste als vollständigen Kanon moralischer Prinzipien bezeichnen,26 können wir als Kern der moderat partikularistischen Position auch die These angeben, dass es keinen vollständigen Kanon an Prinzipien gibt und dass unsere Versuche, akzeptable Prinzipien zu finden, somit an irgend einer Stelle an ihre Grenzen gelangen. Radikale Partikularisten empfehlen also einen kompletten Verzicht auf Prinzipien und sind der Ansicht, dass es keinerlei vertretbare moralische Prinzipien gibt, moderate Partikularisten hingegen bestreiten lediglich, dass man sich in allen Entscheidungssituationen und bei der Beantwortung aller moralischen Fragen an Prinzipien orientieren kann. Als Ausdrücke für die dem Partikularismus entgegengesetzte Position sind in der Debatte sowohl »Universalismus« als auch »Generalismus« geläufig. Da beide ungünstige Konnotationen tragen oder auch in anderen Debattenkontexten eine Rolle spielen, werde ich, um Missverständnisse zu vermeiden, jeden, der den radikalen Partikularismus zurückweist, als Prinzipienethiker bezeichnen, der einen prinzipienethischen Ansatz vertritt, und davon sprechen, dass manche Prinzipienethiker auch an die Existenz eines vollständigen Prinzipienkanons glauben. So wie sie hier verstanden werden, sind sowohl moderater als auch radikaler Partikularismus Thesen, die sich auf den gesamten Bereich des moralisch Beurteilbaren richten. Es ist grundsätzlich möglich, beide Thesen auch auf einen bestimmten Bereich moralischer Urteile einzuschränken, der sich auf verschiedene Weise abgrenzen ließe. So könnte man z. B. dafür argumentieren, dass sich allein der Bereich negativer Pflichten oder der Bereich moralischer Verbote vollständig in Prinzipien erfassen lässt, dass es keinerlei Prinzipien zur Regelung der Verteilung gemeinschaftlich erwirtschafteter 25

26

McKeever und Ridge nennen diese These, im Anschluss an Holton 2002, principled particularism (vgl. McKeever und Ridge 2006: 16). Ein vollständiger Prinzipienkanon entspricht im Wesentlichen dem, was Dancy unter »principled ethics« versteht (vgl. Dancy 2004: 116f.). In diesem Zusammenhang wird auch von einem »Entscheidungsverfahren« gesprochen (vgl. Timmons 2002: 3). Zu beachten ist, dass nicht in allen relevanten Hinsichten interessante Analogien zu Entscheidungsverfahren im mathematischen Sinne vorliegen, weshalb ich auf die Verwendung des Ausdrucks verzichte.

1.3 Spielarten von Partikularismus und Prinzipienethik

35

Güter gibt oder dass die einzig plausiblen Prinzipien sich eines bestimmten Vokabulars bedienen müssen und bspw. die relevanten Handlungstypen nicht in rein naturalistisch akzeptablem Vokabular beschrieben werden können. Zwischen den Positionen des radikalen Partikularismus und der Vorstellung eines vollständigen Prinzipienkanons in ihrer allgemeinsten Fassung lassen sich somit zahlreiche bereichsspezifische Spielarten sowohl partikularistischer als auch prinzipienethischer Auffassungen formulieren, und es versteht sich, dass es nicht Anliegen dieser Arbeit sein kann, allen denkbaren Formen nachzuspüren. Nicht nur aus Platzgründen, sondern auch, weil das Gros der in dieser Untersuchung betrachteten Argumente nicht bereichsspezifisch ist, wird im Weiteren das Bemühen im Vordergrund stehen, eine Diskussion sowohl der radikalen als auch der moderaten partikularistischen These in ihrer stärksten Form vorzulegen. 1.3.2 Die Möglichkeit einer prinzipienjreien Moral und der epistemologische Partikularismus In prinzipienkritischer Absicht argumentieren Partikularisten zugunsten eines Verzichts auf Prinzipien oder raten an, die Orientierung an Prinzipien zumindest einzuschränken. Streng genommen lassen sich die prinzipienkritischen Thesen des radikalen und moderaten Partikularismus dabei so verstehen, dass sie nicht voraussetzen, dass man respektable moralische Urteile ohne Prinzipien fällen kann. Somit wären sie auch mit einer moralskeptischen Position vereinbar, der zufolge wir keinerlei gerechtfertigte moralische Urteile fällen können und uns in moralischen Fragen grundsätzlich enthalten sollten. Partikularisten verstehen sich jedoch in der Regel nicht zugleich als Skeptiker, die eine allgemeine oder teilweise Urteils enthaltung in moralischen Fragen anraten. Sie hängen stattdessen der Sichtweise an, dass Prinzipienskepsis nicht mit Kritik an Moral bzw. am moralischen Denken überhaupt gleichzusetzen ist, und dass moralisches Urteilen auch - oder gar: gerade - ohne Orientierung an Prinzipien angemessen vonstattengehen kann. 27 Argumente gegen die Orientierung an Prinzipien sind gemäß dieser Sichtweise nicht zugleich Argumente für Urteils enthaltung in dem Bereich, in dem sie vorgebracht werden. 27

Zumindest gilt dies für Dancy, McDowell, McNaughton und Nussbaum, deren Beiträge die Debatte wesentlich geprägt haben. Es liegt auch nahe, diese Annahme als etwas zu verstehen, das von einer Empfehlung, im moralischen Urteilen auf die Orientierung an Prinzipien zu verzichten, vorausgesetzt wird. Der partikularistische Ratschlag, auf Prinzipien zu verzichten, ist analog zu dem Ratschlag zu verstehen, beim Fahrradfahren auf zusätzliche Stützräder zu verzichten, nicht jedoch analog zu der Empfehlung, beim Skifahren ohne Skibretter auszukommen - was nur eine sehr verklausuliert formulierte Empfehlung wäre, das Skifahren ganz sein zu lassen.

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1 Prinzipien und Prinzipienkritik

Als Teil einer partikularistischen Position soll daher stets auch die These angesehen werden, dass es möglich ist, ohne Prinzipien moralisch zu urteilen. Dies beinhaltet, dass auch der Verzicht auf Prinzipien die Möglichkeit nicht ausschließt, zu zufriedenstelIenden und angemessen gerechtfertigten Einzelbeurteilungen zu gelangen. 28 Wir können diese Auffassung als positiven Bestandteil partikularistischer Positionen bezeichnen und die Begründungen dieser These als konstruktiven Teil der partikularistischen Argumentation ansehen. Um eine prinzipienkritische Sichtweise in nicht-skeptischer Absicht zu vertreten, ist es in jedem Fall erforderlich, sich darauf festzulegen, dass sich moralische Fragen auch ohne Rückgriff auf Prinzipien zufriedenstellend und gerechtfertigt beantworten lassen. Diese Sichtweise wird im Weiteren als epistemologischer Partikularismus bezeichnet. 29 Der positive Bestandteil partikularistischer Positionen enthält über den epistemologischen Partikularismus hinaus auch die Annahme, dass eine prinzipienkritische Haltung einen nicht aus anderen Gründen als dem, dass Prinzipien zur Beurteilung einzelner Fälle herangezogen werden müssen, auf eine Enthaltung in moralischen Fragen festlegt, für die es keine Prinzipien gibt. Dies ist eine gleichermaßen wichtige wie subtile Unterscheidung, deren Gehalt im weiteren Verlauf der Arbeit noch klarer werden wird. Im Moment genügt der Hinweis, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, nachzuweisen, dass eine konsequent zu Ende gedachte Prinzipienkritik in moralischer Enthaltung mündet, gegen die Partikularisten sich zur Wehr setzen müssen. Die Annahme, dass gerechtfertigte Einzelurteile allein mithilfe von Prinzipien möglich sind, ist nur eine davon. Im Sinne des positiven Bestandteils der partikularistischen Position lässt sich die von Dancy in Ethics Without Principles vertretene Position verstehen, nach der die Möglichkeit moralischer Urteile nicht davon abhängt, dass man in der Lage ist, eine angemessene Anzahl moralischer Prinzipien anzuführen. 30 Aus dieser Formulierung, die Dancy leider an keiner Stelle 28

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30

Es geht also nicht um die rein psychologisch verstandene Möglichkeit, ein moralisches Urteil auch ohne Prinzip zu fällen, sondern darum, dass auch der Verzicht auf Prinzipien das moralische Urteilen nicht zu einer grundsätzlich defizitären Angelegenheit werden lässt. Ähnlich Audi 2006, wobei Audis Bestimmung zudem die These umfasst, dass Prinzipien in ihrer Rechtfertigung von Einzelurteilen abhängen (vgl. Audi 2006: 292). Diese zusätzliche These wird sich für die weitere Diskussion im Rahmen dieser Arbeit jedoch als verzichtbar erweisen. Auch Harmans sog. schwacher Partikularismus (»weak particularism«, vgl. Harman 2005: 44) kann als äquivalent zum epistemologischen Partikularismus verstanden werden. Genau genommen handelt es sich beim epistemologischen Partikularismus, so wie er hier verstanden wird, nicht um eine eigenständige Form des Partikularismus, sondern um eine epistemologische Position, die allen betrachteten partikularistischen Positionen gemeinsam ist, die Namenswahl sollte aber dennoch keinen Anlass zu Missverständnissen geben. McKeever und Ridge bezeichnen diese Position als anti-transzendentalen Partikularismus (engl. »anti-transcendental particularism«, vgl. McKeever und Ridge 2006: 19). Dancys eigene

1.4 Partikularismus, normative Ethik und ethische Theorien

37

genauer erläutert, lässt sich herauslesen, dass moralisches Denken insofern ohne Prinzipien auskommen kann, als einen die prinzipienabstinente Haltung nicht darauf festlegt, sich moralischer Beurteilungen zu enthalten. Dancys Position in Ethics Without Principles wäre damit vorrangig Ausdruck der Auffassung, dass eine nicht moralskeptische Enthaltsamkeit in Prinzipienfragen möglich ist. 31 Die negativen Thesen, die Teil des radikalen und des moderaten Partikularismus sind, sowie deren gemeinsamer positiver Bestandteil sind logisch unabhängig voneinander und lassen sich auch separat diskutieren. Die logische Unabhängigkeit bedeutet allerdings nicht, dass es keine interessanten argumentativen Zusammenhänge zwischen ihnen gibt. Insbesondere gilt, dass der epistemologische Partikularismus Voraussetzung dafür ist, Prinzipien anhand ihrer Implikationen für Einzelfälle zu kritisieren, was, wie sich zeigen wird, eine besonders wirkungsvolle Art der Kritik einzelner Prinzipien und deshalb etwas ist, das zu verteidigen sowohl radikale wie auch moderate Partikularisten bestrebt sein sollten.

1.4 Partikularismus, normative Ethik und ethische Theorien Moralische Prinzipien, wie sie im Rahmen dieser Untersuchung verstanden werden, sind substantielle moralische Generalisierungen, die uns bei der Urteils- und Entscheidungsfindung in moralischen Fragen helfen können. Dieses Verständnis von Prinzipien dürfte auf die Mehrzahl derjenigen Generalisierungen zutreffen, die im moralischen Alltagsdenken eine Rolle spielen. Wenn wir die Frage nach Existenz und Reichweite von Prinzipien so verstehen, dass sie auf Prinzipien in diesem Sinne ausgerichtet ist, werden

31

Formulierung lautet im Original: »[T]he possibility of moral thought and judgement does not depend on the provision of a suitable supply of moral principles.« (Dancy 2004: 7). Hierzu passt auch eine andere Formulierung Dancys aus demselben Kontext: »Particularists think that moral judgement can get along perfecdy weil without any appeal to principles, indeed that there is no essential link between being a full moral agent and having principles.« (Dancy 2004: 1). Damit scheint Dancy, nachdem er in Dancy 1981, Dancy 1983 und Dancy 1993v.a. den kritischen Strang partikularistischen Denkens verfolgt hat, in Dancy 2004, zumindest was die offizielle Formulierung seiner Position betrifft, den positiven Bestandteil der partikularistischen Position in den Mittelpunkt zu stellen, auch wenn dessen ungeachtet weiterhin der Versuch eine Rolle spielt, explizit gegen die Möglichkeit, zufriedenstellende Prinzipien zu formulieren, zu argumentieren. Genauer wird hierauf in Kapitel 7 eingegangen, wo der Versuch betrachtet wird, ausgehend vom sog. Holismus der Gründe zugunsten einer partikularistischen Position zu argumentieren.

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1 Prinzipien und Prinzipienkritik

auch die Anliegen der normativen Ethik auf grundlegende Weise berührt. Ich gehe davon aus, dass dem philosophischen Projekt einer Suche nach zufriedenstelIenden Prinzipien zu verschiedenen Problembereichen oder nach sog. obersten oder ersten Prinzipien nicht nur ein rein theoretisches Interesse an bestimmten Gesetzmäßigkeiten im Bereich des Moralischen zugrunde liegt. Vielmehr wird hierbei auch der Anspruch erhoben, Ergebnisse bereitzustellen, auf die zumindest grundsätzlich rekurriert werden kann, um begründet zu entscheiden, was im Einzelfall zu tun richtig, falsch und erlaubt ist. Zwar lässt sich die oben für Prinzipien formulierte Anwendungsbedingung für manche der moralischen Generalisierungen, die in der normativen Ethik diskutiert werden, ablehnen. Insbesondere für oberste Prinzipien in der Moral ließe sich womöglich die Sichtweise verteidigen, dass deren Rolle sich in der Vereinheitlichung und Systematisierung unabhängiger Beurteilungen erschöpfen kann oder dass diese allein das Kriterium für die Auswahl geeigneter Prinzipien bereitstellen, ohne selbst als handlungs leitende Generalisierungen infrage zu kommen. Derartige Funktionen für oberste moralische Generalisierungen zu reklamieren, verträgt sich jedoch ohne Weiteres gut mit der Annahme, dass hieraus genuine Prinzipien abgeleitet werden können, die sehr wohl dazu geeignet sind, als Orientierungspunkte im Denken und Handeln zu dienen. Wäre die radikal partikularistische Prinzipienkritik erfolgreich, so hätte dies folglich auch unmittelbare Konsequenzen für jeden Versuch, eine Moralkonzeption zu begründen, aus deren obersten Kriterien moralischer Richtigkeit und Falschheit genuine Prinzipien folgen, die bei der Beurteilung moralischer Einzelfälle angewendet werden können. Normative Ethik könnte dann lediglich als rein theoretisches Projekt verfolgt werden, ohne dass deren Ergebnisse auch auf die eine oder andere Weise zur Beantwortung konkreter moralischer Fragen herangezogen werden könnten. Aus einer moderat partikularistischen Sichtweise würde zumindest folgen, dass das Projekt einer normativen Ethik nur in Grenzen auf eine Weise durchgeführt werden kann, die zu Ergebnissen führt, welche für Einzelfälle anwendbar sind.

1.4.1

Partikularismus, Relativismus und Antitheorie

Vielen gelten partikularistische Ansätze als Musterbeispiel für Positionen, welche die Möglichkeit ethischer Theorien ablehnen. 32 Die Beziehung zwischen Partikularismus und theorieskeptischen oder antitheoretischen Haltungen in der Ethik ist jedoch komplex und hängt davon ab, was unter einer ethischen Theorie überhaupt verstanden wird. Wenn zu den Ansprüchen einer ethischen Theorie notwendigerweise zählt, moralische Prinzipien 32

Vgl. Lance und Little 2006b: 567 ff.

1.4 Partikularismus, normative Ethik und ethische Theorien

39

zu formulieren, dann liegt ein anti theoretischer Impetus partikularistischer Überlegungen auf der Hand. Je nachdem, was man als Anliegen ethischer Theorien betrachtet, ist dies jedoch keine selbstverständliche Sichtweise. Zahlreiche dem Selbstverständnis nach antitheoretisch ausgerichtete Argumente richten sich zudem primär gegen solche Aspekte ethischer Reflexion, die auch von Partikularisten für sich in Anspruch genommen werden können (und teils auch in Anspruch genommen werden sollten). Zu nennen ist v. a. der Anspruch, von einem Standpunkt, der einer konkreten moralischen Praxis extern ist, Kritik an dieser Praxis vornehmen zu können, wobei eine Praxis durch für sie distinkte Normen, Verhaltensweisen und Erwartungen bestimmt ist. 33 Sofern dieser Anspruch bereits als charakteristisch für einen theoretischen Zugang zu Fragen der Moral angesehen wird, hat dies zur Folge, dass auch Partikularisten als Theoretiker gelten, wenn sie ihren Positionen ein gewisses Ausmaß an Objektivität und Traditionsunabhängigkeit zutrauen und mit ihrer Kritik an Prinzipien auch eine Kritik an regelorientierten moralischen Praktiken verbinden. 34 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Ausdruck »Partikularismus« in der Literatur oftmals auch zur Bezeichnung relativistischer Positionen angeführt wird. Gegenstand der Partikularismus IV niversalismus-Debatte ist dann die Frage nach der Objektivität der Moral in dem Sinne, dass es um die Möglichkeit universell begründ barer moralischer Prinzipien geht. 35 In gewisser Hinsicht verneint der radikale Partikularismus, so wie er hier verstanden wird, zwar trivialerweise, dass sich univer33

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35

Kritisch hiergegen z. B. Baier 1985, Clarke und Simpson 1989, Maclntyre 1981 und Williams 1985. Für detaillierte Ausführungen zu prominenten antitheoretischen Konzeptionen und Argumenten vgl. Clarke und Simpson 1989, Louden 1992 sowie Sorelll999. Zahlreiche Partikularisten vertreten dezidiert antirelativistische und in verschiedener Hinsicht objektivistische Positionen (vgl. bspw. Dancy 1993: Kap. 9, McNaughton 1988 und Nussbaum 2001), auch wenn dies nicht notwendig auf einen Universalismus der Begründung hinausläuft und die Objektivität der Moral in diesem Zusammenhang teils anders verstanden wird. Bakhurst argumentiert, dass ein prinzipienkritischer Partikularismus im Sinne Dancys gut mit der Art von Relativismus harmoniert, der in den Schriften Maclntyres entfaltet wird (vgl. Bakhurst 2000, insbesondere 157f. & 168-175). Für diese Verwendung von »Partikularismus« vgl. Clarke und Simpson 1989: 15 sowie O'Neill 1996: 96. In diesem Zusammenhang steht auch die Bezeichnung von Geltungsansprüchen als »universell« bzw. »universal« und »partikular« im Kontext von Diskussionen der Reichweite von Menschenrechten (z. B. in Forst 1999/2007). Der Ausdruck "Partikularismus« findet gelegentlich auch Verwendung zur Kennzeichnung von Positionen, welche auf die eine oder andere Art die Annahme infrage stellen, dass die Ansprüche und Interessen aller Menschen in sämtlichen Entscheidungskontexten gleich viel zählen oder in gleichem Ausmaß relevant sind. Unter dem Namen »Interessenpartikularismus« diskutiert Gesang Spielarten antikonsequentialistischer Positionen, nach denen der Akteur die eigenen Interessen oder die Interessen von Personen, die zu ihm in bestimmten sozialen Beziehungen stehen, stärker gewichten darf als die anderer Menschen (vgl. Gesang 2000: 13-18). Tugendhat bezeichnet mit dem Ausdruck »Parti-

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1 Prinzipien und Prinzipienkritik

selle Begründungen für moralische Prinzipien anführen lassen, die von keiner rationalen Person abgelehnt werden können. Dies zwingt Partikularisten jedoch ebenso wenig zu relativistischen Zugeständnissen, wie die Verneinung der Möglichkeit universell begründ barer Gesetze der Astrologie einen zu einem Relativismus bezüglich Astrologie zwingt. Ein konsequent partikularistisches Eintreten für Prinzipienaskese wird vielmehr der Vorstellung einer relativen Gültigkeit von Prinzipien, die deshalb der partikularistischen Prinzipienskepsis entzogen sind, in derselben Weise skeptisch gegenüberstehen wie der Annahme universell begründeter Prinzipien. Aus diesem Grund wird der Partikularismus IU niversalismus-Kontrast, insofern er zur Abgrenzung relativistischer von nicht-relativistischen Positionen verwendet wird, im weiteren Verlauf der Arbeit auch keine Rolle spielen. 36 1.4.2 Partikularismusdebatte und Metaethik Die Partikularismusdebatte überschneidet sich an verschiedenen Stellen mit metaethischen Fragestellungen zum Status moralischer Urteile. Die von McDowell artikulierte Form der Prinzipienskepsis steht im Kontext einer Kritik nonkognitivistischer Positionen, und sowohl bei Dancy wie auch bei McNaughton dienen partikularistische Überlegungen u. a. der Verteidigung und Ausarbeitung einer nicht-naturalistischen Spielart des moralischen Realismus. 37 Darüber hinaus drängt sich die Frage auf, was aus einer partikularistischen Sichtweise auf Moral für die Möglichkeit solcher Formen des naturalistischen Realismus folgt, welche die Reduzierbarkeit moralischer Eigenschaften auf nicht-moralische Eigenschaften postulieren. Welche Implikationen verschiedene Formen des Partikularismus für verschiedene metaethische Positionen aufweisen, werde ich im Weiteren v. a. aus pragmatischen Grün-

36

37

kularismus« u. a. Moralvorstellungen, denen zufolge allein Personen, die zu bestimmten sozialen Gruppen gehören, überhaupt als Mitglieder der moralischen Gemeinschaft gelten, deren Interessen es in irgendeiner Form zu berücksichtigen gilt (vgl. Tugendhat 199612001). Keine dieser als »partikularistisch« bezeichneten Positionen wird im Weiteren eine Rolle spielen, da es keinen erkennbaren systematischen Zusammenhang zwischen ihnen und den in dieser Arbeit diskutierten Formen der Prinzipienkritik gibt. Dass sowohl Partikularisten wie auch Relativisten die Kontextabhängigkeit moralischen Urteilens und Denkens betonen, ist eher geeignet, Unterschiede zu verdecken als Gemeinsamkeiten aufzuzeigen, da der jeweils einschlägige Kontextbegriff in beiden Fällen ein anderer ist. Während im Fall der Ablehnung des Universalismus der Kontext des Urteilenden von Bedeutung ist, der dann oft als kultureller oder sozialer Kontext gedeutet wird, zählt für den prinzipienkritischen Partikularismus der Kontext des Handelnden bzw. der Handlungs- und Entscheidungssituation. Vgl. Clarke und Simpson 1989: 3 für ein Verständnis von Kontextualismus, das beide genannten Aspekte beinhaltet und sowohl relativistische wie auch prinzipienkritische Positionen umfasst. Vgl. Dancy 1993: 55-58, Dancy 2004: 53-70 und McNaughton 1988: 55-62, 157ff. & 188f.

1.4 Partikularismus, normative Ethik und ethische Theorien

41

den so weit es geht ausklammern und allenfalls am Rande anreißen. Betont zu werden verdient jedoch, dass eine partikularistische Sichtweise keinerlei Form des moralischen Realismus voraussetzt oder impliziert. Der gegenteilige Eindruck kann leicht dadurch entstehen, dass zahlreiche Partikularisten im Lager der moralischen Realisten zu verorten sind, so dass zentrale Fragen und Positionen der Partikularismus debatte oft in einer für viele sicherlich interpretations- und gewöhnungsbedürftigen Terminologie formuliert werden. Partikularisten reden auf eine Weise über Moral, die auf manchen eher irritierend wirken dürfte. 38 Wenn vom Sehen moralischer Tatsachen oder von der Wahrnehmung und gedanklichen Rekonstruktion der normativen Gestalt einer Situation gesprochen wird, wenn gefragt wird, ob bestimmte, metaphysisch basale Relationen zwischen moralischen und nicht-moralischen Eigenschaften generalisierbar sind oder auf welche Weise wir die Wahrheit von Prinzipien erkennen können, dann dürfte für einige bereits die Begrifflichkeit, in der zentrale Fragen gestellt und Positionen verhandelt werden, von kontroversen Voraussetzungen durchtränkt sein, die eine detaillierte inhaltliche Auseinandersetzung wenig aussichtsreich erscheinen lassen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass dies einer offenen Diskussion eher im Weg steht, weshalb im Rahmen dieser Arbeit stets versucht wird, die partikularismusrelevanten Fragen, Gesichtspunkte und Argumente möglichst frei von kontroversen metaethischen Annahmen zu formulieren. Gelegentlich wird in der Diskussion partikularistischer Thesen die Frage aufgeworfen, ob der Partikularismus als epistemologische oder als metaphysische Position verstanden und diskutiert werden sollte. 39 Die korrekte Antwort hierauf scheint mir zu sein, dass keins von beidem den Kern der Sache trifft. Im Mittelpunkt steht die metaphysikfrei diskutierbare Frage nach der Rolle, die Prinzipien für unser Urteilen, Entscheiden und Handeln spielen sollen. Wie sich im weiteren Verlauf dieser Arbeit zeigen wird, ist ein Teil der hierfür relevanten Überlegungen im weitesten Sinne epistemologischer Natur, ein anderer semantischer, für wieder andere Überlegungen gilt, dass sie sich, je nach bevorzugter metaphysischer Theorie der Moral, auf verschiedene Weise formulieren lassen, und auch inhaltliche moralische Überlegungen spielen eine wichtige Rolle. Alle diese Überlegungen eint dabei der Versuch, etwas zu der Antwort auf die Frage beizutragen, ob - und wenn ja, inwieweit - wir uns an Prinzipien orientierten sollten. Dies wiederum ist eine Frage, die unabhängig von allen Klassifikationsversuchen und unabhängig davon, wie wir eine positive oder eine negative Antwort begründen, 38

39

Zum Folgenden vgl. Daney 1993: 111-116, Daney 2004: 3ff., MeDoweIl1979/1998: 70-73, MeNaughton 1988: 55ff., Nussbaum 1990: 74f. sowie die Diskussion von Daneys Resultanzkonzeption in 5.3. Vgl. Daney 2004: 140, Garfield 2000: 179 sowie Sinnott-Armstrong 1999: 2f. & 9.

42

1 Prinzipien und Prinzipienkritik

inhaltliche moralische Konsequenzen aufweist und gerade deshalb für jeden von Interesse ist, der sich auf systematische Weise damit auseinanderzusetzen gedenkt, was zu tun richtig, falsch und erlaubt ist.

1.5 Zusammenfassung und Ausblick In diesem Kapitel wurden, aus der Perspektive des Interesses an handlungsund urteilsanleitenden Prinzipien, diejenigen Thesen vorgestellt, die im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen werden. Prinzipienethiker sind der Ansicht, dass es Prinzipien (oder sogar einen vollständigen Kanon davon) gibt, radikale und moderate Partikularisten verneinen dies und nehmen darüber hinaus an, dass es möglich ist, auch ohne Prinzipien gerechtfertigte moralische Urteile zu fällen. Die beiden Spielarten des Partikularismus können demnach auf zwei Weisen scheitern. Erstens, weil moralisches Urteilen ohne Prinzipien nicht möglich ist, und zweitens, weil sich (hinreichend weitreichende) moralische Generalisierungen formulieren lassen, für die gilt: Sie sind substantiell, anwendbar und inhaltlich überzeugend. Für Partikularisten bedeutet dies entsprechend, dass sie zum einen plausibel machen müssen, dass moralisches Urteilen nicht auf Prinzipien angewiesen ist, und zum anderen, dass sämtliche (oder hinreichend viele) Kandidaten für moralische Prinzipien entweder trivial oder offen für gravierende Einwände sind oder aber keinen Beitrag zur Beurteilung moralischer Einzelfälle leisten können. Wie könnten Prinzipienethiker und prinzipienskeptische Partikularisten diese Aufgaben jeweils erfüllen? Was die Existenz von Prinzipien betrifft, lässt sich in erster Annäherung sagen: Prinzipienethiker können Kandidaten für Prinzipien formulieren und diese gegen Einwände verteidigen, oder sie können versuchen, nachzuweisen, dass sich derartige Prinzipien formulieren lassen, ohne jedoch selbst konkrete Vorschläge vorzubringen. Ebenso gilt für Partikularisten, dass sie entweder versuchen können, sich an einzelnen Vorschlägen für Prinzipien systematisch abzuarbeiten, oder aber versuchen können, allgemeine Überlegungen zu präsentieren, die nachweisen oder zumindest einen deutlichen Hinweis darauf geben, dass Versuche, (hinreichend viele) brauchbare Prinzipien zu formulieren, zum Scheitern verurteilt sind. Wir werden im weiteren Verlauf der Arbeit beide Varianten pro- und antipartikularistischer Argumentation kennenlernen. Wer gegen den positiven Bestandteil der partikularistischen Sichtweise argumentieren will, der muss nachweisen, dass ohne Prinzipien moralisches Denken nicht mehr auf akzeptable Weise funktionieren kann oder aber fundamental defizitär ist. Die Beweislast dürfte hier bei den Partikularismuskritikern liegen. Wenn es keine Gründe gibt, davon auszugehen, dass moralisches Denken nur mit Prinzipien auf respektable Weise funktionieren kann,

1.5 Zusammenfassung und Ausblick

43

dann können wir davon ausgehen, dass es auch ohne Prinzipien möglich ist. Es bietet sich an, die Diskussion der partikularistischen Thesen mit der Diskussion des epistemologischen Partikularismus zu beginnen, da dieser nicht nur zentraler Bestandteil beider im Rahmen dieser Arbeit diskutierten Formen des Partikularismus ist, sondern auch von jeder Form des Argumentierens für oder gegen Prinzipien vorausgesetzt wird, die Prinzipien anhand ihrer Implikationen für Einzelfälle zu kritisieren oder zu begründen versucht. Dieser Position widmen sich die folgenden beiden Kapitel in Teil 11 dieser Arbeit. Im Anschluss hieran wird in Teil 111 und den Kapiteln 4-7 ausführlich der Frage nachgegangen, wie es um die Möglichkeit bestellt ist, ohne Rückgriff auf inhaltliche moralische Überlegungen für oder gegen partikularistische Positionen zu argumentieren. In Teil IV (Kapitel 8-10) werden dann die Rahmenbedingungen für eine Diskussion konkreter Vorschläge für moralische Prinzipien formuliert, bevor Teil V sich in den Kapiteln 11 und 12 konkreten Vorschlägen für eine prinzipienethische Minimalposition widmet und die Grenzen des prinzipienethischen Projekts auslotet.

TEIL 11 MORALISCH URTEILEN OHNE PRINZIPIEN

2 Der epistemologische Partikularismus und die Rolle moralischer Intuitionen

2.1 Einleitung Wie im vorherigen Kapitel gesehen, ist es sinnvoll, zwei Elemente partikularistischer Positionen voneinander zu unterscheiden: den prinzipienkritischen Teil einerseits und die These, dass moralische Einzelurteile für ihre Rechtfertigung nicht auf Prinzipien angewiesen sind andererseits. Diese zweite These wurde »epistemologischer Partikularismus« genannt. Ein Prinzip zu akzeptieren, das auf den betrachteten Fall anwendbar ist, ist gemäß dieser Auffassung nicht erforderlich, um in der fraglichen Situation ein gerechtfertigtes Urteil fällen zu können. Ziel des zweiten Teils dieser Untersuchung ist es, die argumentativen Ressourcen auszuloten, die zur U nterstützung des epistemologischen Partikularismus vorgebracht werden können, soweit dies in einer Arbeit möglich ist, die sich nicht der Ausarbeitung einer detaillierten Konzeption der Rechtfertigung moralischer Urteile widmet. Der Anspruch ist daher an vielen Stellen nur der, Überlegungen zu skizzieren, die für den epistemologischen Partikularismus sprechen, ohne sie durch die ausführliche Diskussion aller relevanten Gesichtspunkte zwingend begründen zu können. Im Unterschied zu den folgenden Teilen der Arbeit wird in Kapitel 2 und Kapitel 3 daher mit einem breiteren Pinsel gezeichnet, da viele grundlegende Fragen zur Sprache kommen werden, die jeweils für sich eine eigene ausführliche Untersuchung verdienten. Für die folgende Diskussion wird die Opposition zwischen dem epistemologischen Partikularismus und derjenigen Position eine Rolle spielen, die hier im Anschluss an Dancy als »Subsumptionskonzeption« bezeichnet wird und der zufolge jedes moralische Urteil die Anwendung eines Prinzips erfordert. 1 In diesem Kapitel werden zunächst epistemologischer Partikularismus und Subsumptionskonzeption als die systematisch zentralen Positionen ausführlich vorgestellt und hinsichtlich ihrer Implikationen voneinander abgegrenzt. Im Anschluss wird gezeigt, wie die Diskussion von epistemologischem Partikularismus und Subsumptionskonzeption vor dem Hintergrund der allgemeineren Frage nach der grundsätzlichen Stoßrichtung in der mora-

1

Vgl. Daney 2004: 3. Daney selbst spricht von der »subsumptive option«.

48

2 Der epistemologische Partikularismus und moralische Intuitionen

lischen Epistemologie zu verorten ist, und dargelegt, welche argumentativen Ressourcen zu ihrer Diskussion zur Verfügung stehen. Ziel der Argumentation ist dann der Nachweis, dass der epistemologische Partikularismus alles in allem die besser begründete Auffassung des Zusammenhangs von Prinzipien und Einzelurteilen ist. Hierfür wird in diesem Kapitel mit einer im weitesten Sinne intuitionistischen Position diejenige Perspektive auf die Rechtfertigung moralischer Urteile vorgestellt, vor deren Hintergrund die Frage nach der Notwendigkeit von Prinzipien für gerechtfertigte moralische Urteile diskutiert wird. Die intuitionistische Herangehensweise an die Rechtfertigungsfrage wird in Kapitel 3 ausführlich gegen Einwände verteidigt und in den für die Diskussion einschlägigen Hinsichten weiter ausformuliert. Dort wird dann auch dargelegt, warum der epistemologische Partikularismus besser mit dieser Konzeption der Rechtfertigung moralischer Urteile harmoniert, und es wird diskutiert, inwiefern sich unabhängige Gründe zugunsten der Subsumptionskonzeption vorbringen lassen.

2.2 Prinzipien als Richtschnur für moralische Urteile: Die Subsumptionskonzeption Der zentrale Gedanke des epistemologischen Partikularismus, dass sich einzelne Fälle ohne Rückgriff auf Prinzipien angemessen moralisch beurteilen lassen, ist sicherlich keine Selbstverständlichkeit. Benötigen wir nicht Kriterien, anhand derer wir beurteilen können, was richtig und was falsch ist? Woher soll man wissen, was im Einzelfall zu tun richtig oder falsch ist, wenn einem hierfür nicht Prinzipien zur Verfügung stehen? Sind Einzelurteile, die sich nicht an Prinzipien orientieren, nicht Ausdruck rein subjektiver Willkür? Wer so fragt, der hegt den Verdacht, dass wir uns in unserem Urteilen an Prinzipien nicht nur orientieren können, sondern dass wir es müssen, wenn wir uns nicht dem Vorwurf aussetzen wollen, in unseren moralischen Einschätzungen beliebig zu verfahren. Wenn wir diesem noch vage formulierten Verdacht die Form einer präzisen These zum epistemischen Zusammenhang von Prinzipien und Einzelurteilen geben, gelangen wir zur Subsumptionskonzeption moralischen Urteilens. Der Subsumptionskonzeption zufolge erfordert die gerechtfertigte Beurteilung von Einzelfällen stets eine Subsumption des vorliegenden Falls unter ein akzeptiertes Prinzip. Eine Einzelfallbeurteilung kann demnach nur dann als gerechtfertigt gelten, wenn man ein hierzu passendes Prinzip akzeptiert, das in seiner Anwendung auf den vorliegenden Fall zu der entsprechenden Beurteilung führt. Die Akzeptanz eines passenden Prinzips gilt in dieser Betrachtungsweise als Angemessenheitsbedingung, der moralische Einzelfallbeurteilungen genügen müssen. Gemäß der Subsumptionskonzeption sind Prinzipien nicht nur potentiell

2.2 Prinzipien als Richtschnur für moralische Urteile

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behilflich dabei, zu beurteilen, was zu tun ist, sondern in einem strengen Sinne Richtschnur für Beurteilungen und Entscheidungen: Ohne Prinzipien sind wir laut dieser Konzeption in moralischen Fragen orientierungslos. Die Subsumptionskonzeption kann somit attraktiv erscheinen, weil sie eine Antwort auf die Frage bereitzuhalten verspricht, wie man zu gerechtfertigten moralischen Einzelfallbeurteilungen gelangen kann. Wer sich ihr verbunden fühlt, kann zudem auf prominente philosophische Unterstützung hoffen. Was die Rolle von Prinzipien als Richtschnur allen moralischen Urteilens betrifft, sind sich sogar Moralphilosophen so unterschiedlicher Ausrichtungen wie Kant und Mill einig. So schreibt Mill: [T]hough in science the particular truths precede the general theory, the contrary might be expected to be the case with a practical art, such as morals or legislation. [ ... ] A test of right and wrong must be the means [ ... ] of ascertaining what is right or wrong, and not a consequence of having already ascertained it. (Mill, Util.: 50) Und Kant führt zur Rolle von Beispielen in der Ethik an: Man könnte auch der Sittlichkeit nicht übler rathen, als wenn man sie von Beispielen entlehnen wollte. Denn jedes Beispiel, was mir davon vorgestellt wird, muß selbst zuvor nach Principien der Moralität beurtheilt werden, ob es auch würdig sei, zum ursprünglichen Beispiele, d. i. zum Muster, zu dienen, keineswegs aber kann es den Begriff derselben zu oberst an die Hand geben. (Kant, GMS: 40W

2.2.1

Subsumptionskonzeption, epistemologischer Partikularismus und Urteilskraft

So wie Subsumptionskonzeption und epistemologischer Partikularismus hier eingeführt worden sind, bilden diese eine Dichotomie: Wer die Subsumptionskonzeption verneint, der muss den epistemologischen Partikularismus akzeptieren, und umgekehrt. Bevor mit der eigentlichen Diskussion der Positionen begonnen wird, soll nun gezeigt werden, wie sich einige weitere zentrale Begriffe und Thesen, die im Umkreis der Frage nach der 2

Tugendhat schließt sich der Subsumtionskonzeption ebenfalls an, wenn er schreibt: »Moralische Urteile [ ... ] können, wenn sie überhaupt gerechtfertigt werden können - und sie geben zumindest vor, einer Rechtfertigung fähig zu sein -, nur durch Grundsätze gerechtfertigt werden.« (Tugendhat 1984a: 16, ähnlich Tugendhat 1993: 23 f. und Tugendhat 1997: 15). Auch die Behauptung von McKeever und Ridge, die Fähigkeit kompetenter moralischer Akteure, auf verlässliche Weise moralische Urteile zu fällen, sei am besten dadurch zu erklären, dass kompetente Akteure Prinzipien akzeptieren und Hares Anmerkung, etwas als moralisch relevant anzusehen, heiße, ein Prinzip zur Anwendung zu bringen, weisen in diese Richtung (vgl. Hare 1981: 3.9 sowie McKeever und Ridge 2006: 139ff.).

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2 Der epistemologische Partikularismus und moralische Intuitionen

Rolle von Prinzipien bedeutsam sind, hilfreich zu diesen beiden Positionen in Beziehung setzen lassen. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse dieser Betrachtungen werden sich epistemologischer Partikularismus und Subsumptionskonzeption mit Blick auf ihren Gehalt und ihre Erfolgsaussichten besser einschätzen lassen. Sowohl von Partikularisten wie auch von Prinzipienethikern wird gelegentlich die besondere Bedeutung der sog. Urteilskraft (engl. »judgement«) für die angemessene Beurteilung von Einzelfällen betont. 3 Während Partikularisten im Allgemeinen geneigt sind, Urteilskraft als Fähigkeit ins Spiel zu bringen, die vor dem Hintergrund des Verzichts auf Prinzipien für die angemessene Beurteilung von Einzelfällen verantwortlich ist, verweisen Prinzipienethiker häufig darauf, dass die angemessene Anwendung moralischer Prinzipien selbst Urteilskraft erfordert. Wie sich zeigen lässt, stellt die Annahme, dass es moralische Urteilskraft gibt, in einer Lesart nichts anderes dar als eine zum epistemologischen Partikularismus äquivalente und damit mit der Subsumptionskonzeption unvereinbare Formulierung, während sie unter einer anderen Interpretation eine nahezu triviale Selbstverständlichkeit ist, die für die Diskussion der Reichweite und Rolle von Prinzipien nicht weiter von Belang ist. Gerade weil sowohl Prinzipienethiker als auch Partikularisten dem Rekurs auf Urteilskraft besonderes Gewicht beizumessen scheinen, gilt es, genau zu erfassen, was gemeint sein kann, wenn von moralischer U rteilskraft und deren Aufgaben und Leistungen gesprochen wird. Nur so können echte Gemeinsamkeiten von vermeintlichen getrennt werden, und nur so kann entschieden werden, wie weit der Verweis auf die Urteilskraft eine konstruktive Rolle innerhalb prinzipienethischer Ansätze spielen kann. Als Ausgangspunkt der Bestimmung eines im Kontext moralischer U rteilsfindung relevanten Begriffs von Urteilskraft kann dabei der Gedanke dienen, dass Urteilskraft eine Fähigkeit ist, die für die angemessene moralische Beurteilung von Einzelfällen von Bedeutung ist und deren Ausübung selbst nicht auf die Anwendung von Prinzipien oder Regeln reduziert werden kann. Es lassen sich dann drei verschiedene Kompetenzen unterscheiden, welche diese allgemeine Charakterisierung erfüllen: erstens eine all3

Dass Urteilskraft für die angemessene moralische Beurteilung konkreter Fälle und die angemessene Anwendung moralischer Prinzipien unverzichtbar ist, ist eine weitverbreitete Annahme (vgl. etwa Beauchamp und Childress 2001: 406, Blackburn 1998: 44, Crisp 2000: 29ff., Dancy 2004: 143f., Garfield 2000: 187-190, Hooker 2000a: 88, 106f., 128 & 132-136, Hursthouse 1999: 59-62, Lance und Little 2006a: 306ff., Larmore 1987: 5-14, McNaughton 1988: 190 & 199, McNaughton und Rawling 2006: 453, Ross 1930/2002: 41 f., Scanlon 1998: 198ff., Timmons 2002: 268f., Vieth 2004: Kap. 5, Williams 1988/1995: 189f. und Wood 2011: 59-65, um nur eine Auswahl zu nennen). Da unter den Begriff der Urteilskraft sehr unterschiedliche Fähigkeiten gefasst werden, ist zu vermuten, dass es sich hierbei nur um einen vermeintlichen oder bestenfalls recht oberflächlichen Konsens handelt.

2.2 Prinzipien als Richtschnur für moralische Urteile

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gemeine inferentielle Kompetenz, zweitens die Fähigkeit zur Anwendung moralisch relevanter Begriffe und drittens die Fähigkeit, nicht-prinzipiengestützte moralische Einzelurteile gerechtfertigt zu fällen. ALLGEMEINE INFERENTIELLE KOMPETENZ. Unter allgemeiner inferentieller Kompetenz soll hier die Fähigkeit verstanden werden, von bestimmten Aussagen im Einklang mit einschlägigen Schlussregeln auf andere Aussagen schließen zu können. Diese Kompetenz manifestiert sich z. B., wenn jemand auf Grundlage seiner Überzeugungen, dass alle Menschen sterblich sind und dass J oseph Ratzinger ein Mensch ist, zu der Überzeugung gelangt, dass Joseph Ratzinger sterblich ist, oder auch, wenn er von »Man soll Menschen in Not stets helfen« und »Klaus ist ein Mensch und in Not« auf »Ich sollte Klaus helfen« schließt und somit ein Prinzip auf einen Einzelfall anwendet. Die Fähigkeit des logischen Schließens ist insofern allgemein, als sie nicht an bestimmte Inhalte gebunden ist. Sie ist nicht nur zur Anwendung moralischer Prinzipien erforderlich, sondern z. B. auch, um aus wissenschaftlichen Theorien Prognosen abzuleiten oder um einen mathematischen Beweis zu führen. 4 Diese Fähigkeit zum korrekten Schließen lässt sich, da andernfalls ein unendlicher Regress resultiert, nicht selbst als etwas verstehen, das die Anwendung weiterer, höherstufiger Regeln involviert, die angeben, wie in Übereinstimmung mit Schlussregeln zu schließen ist. Die Fähigkeit, eine Regel korrekt anzuwenden, kann nicht selbst nach dem Modell der Anwendung einer Regel aufgefasst werden. 5 Eine allgemeine Fähigkeit zum gültigen Schlussfolgern muss für die korrekte Anwendung moralischer Generalisierungen natürlich vorausgesetzt werden, es handelt sich hierbei aber per definitionem - nicht um eine moralspezifische Kompetenz. Es lässt sich daher zwar nachweisen, dass die Anwendung moralischer Prinzipien etwas erfordert, das sich nicht selbst auf die Anwendung von Prinzipien oder Regeln reduzieren lässt. Hiermit wird aber nichts zum Ausdruck gebracht, das in irgend einer Form spezifisch für die Anwendung moralischer Prinzipien ist und nicht mit allen der für diese Arbeit wichtigen Positionen problemlos vereinbart werden kann.

4

5

Es wird hier nicht vorausgesetzt, dass bei der Anwendung moralischer Prinzipien allein die Fähigkeit zum korrekten deduktiv-logischen Schließen von Bedeutung ist. In 9.5 werde ich den Vorschlag diskutieren, die Anwendung moralischer Prinzipien als Akt nicht-deduktiven Schließens zu verstehen. Dies ist die Pointe eines Regressarguments, das sich in ähnlicher Fassung jeweils bei Kant, Wittgenstein und McDowell findet (vgl. Kant, Kr.d.r.V.: B 171, Wittgenstein, PU: §§ 185-202 und McDowe1l1979/1998: 57-65).

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2 Der epistemologische Partikularismus und moralische Intuitionen

MORALRELEVANTE URTEILSKRAFT. Dasselbe gilt für den Gedanken, dass die Anwendung moralischer Prinzipien Kompetenzen im Umgang mit denjenigen nicht-moralischen Begriffen verlangt, die zur Formulierung der jeweiligen Prinzipien herangezogen werden, auch dann, wenn diese Kompetenzen ebenfalls nicht auf die Fähigkeit zur Anwendung bestimmter Regeln reduziert werden können. Solche Fähigkeiten können wir unter der Bezeichnung »moralrelevante Urteilskraft« zusammenfassen. Zu diesen Fähigkeiten dürften z. B. psychologische Vermögen wie die Fähigkeit zu Empathie und zur Übernahme anderer Perspektiven gehören sowie natürlich auch die Fähigkeit, sich mit seinen fünf Sinnen über den Zustand der Welt zu informieren. Um Prinzipien wie bspw. »Man soll anderen Menschen keine Schmerzen zufügen« oder »Man soll nicht lügen« zur Anwendung bringen zu können, muss man wissen, dass man mit einer bestimmten Handlung jemanden belügen oder ihm Schmerzen zufügen würde, und dies korrekt einzuschätzen erfordert sicherlich kognitive und emotionale Fähigkeiten der oben genannten Art. Unter der Annahme, dass es unter bestimmten Bedingungen moralisch problematisch ist, zu lügen oder anderen Schmerzen zuzufügen, sind die Begriffe »Schmerzen« und »Lüge« moralisch relevante Begriffe, d. h. Begriffe für moralisch relevante Eigenschaften. Dass die Anwendung moralischer Prinzipien eine nicht-inferentielle Kompetenz im Umgang mit moralisch relevanten Begriffen erfordert, kann ebenfalls von allen Parteien der Partikularismusdebatte und Anhängern verschiedener Prinzipienethiken ohne Einschränkung akzeptiert werden. GENUIN MORALISCHE URTEILSKRAFT. In Abgrenzung zu den beiden bisher beschriebenen Fähigkeiten soll unter genuin moralischer Urteilskraft hier die Fähigkeit verstanden werden, moralische Einzelfalleinschätzungen ohne Rückgriff auf Prinzipien treffen zu können. Genuin moralische Urteilskraft ist damit als die Fähigkeit zur Bildung von gerechtfertigten, nicht prinzipiengestützten moralischen Einzelurteilen zu verstehen. Davon auszugehen, dass irgendjemand über diese Fähigkeit verfügen kann, ist mit der Subsumptionskonzeption unvereinbar und in den relevanten Hinsichten äquivalent zum Grundgedanken des epistemologischen Partikularismus. 6 Genuin moralische Urteilskraft ist dort erforderlich, wo von Prinzipien keinerlei Hilfestel6

Es spielt dabei letztendlich keine Rolle, ob man bei dieser Kompetenz von einem Urteilsvermögen im engeren Sinne, von einem Gespür für das Richtige und Angemessene oder von der Fähigkeit, moralisch relevante Gesichtspunkte als solche wahrzunehmen, sprechen möchte, solange es sich um eine Fähigkeit zur nicht-prinzipiengestützten Einschätzung einzelner Fälle handelt. Von Wahrnehmung sprechen in diesem Zusammenhang etwa Dancy 1993: 111-116, McDowell 1979/1998: 68-73, McNaughton 1988: 55ff., Nussbaum 1990: 55 & 66-69 sowie Wiggins 1976/1998: 237. Im Weiteren wird durchgängig der Ausdruck »Urteilskraft« als Terminus technicus verwendet.

2.2 Prinzipien als Richtschnur für moralische Urteile

53

lung für die Beantwortung bestimmter moralischer Fragen erwartet werden kann. So wird z. B. die Auflösung moralischer Konflikte zwischen verschiedenen Prinzipien, Werten oder moralisch relevanten Gesichtspunkten oft als etwas angesehen, das Urteilskraft erfordert. 7 Von Partikularisten, die einen Verzicht auf moralische Prinzipien empfehlen, wird daher zu Recht sämtliches moralisches Urteilen der Urteilskraft überantwortet. 8 Doch auch bestimmte Prinzipien lassen sich als solche verstehen, deren Anwendung genuin moralische Urteilskraft verlangen kann, nämlich solche, aus denen nur unter Zuhilfenahme explizit moralischer Zusatzannahmen ein moralisches Urteil gefolgert werden kann. Beispiele wären Formulierungen wie »Man soll nicht lügen, es sei denn, es liegen in moralischer Hinsicht außergewöhnliche Umstände vor«, »Wenn man etwas zu tun versprochen hat und keine weiteren moralisch relevanten Faktoren vorliegen, dann soll man es tun« oder auch »Es ist falsch zu töten, es sei denn, dies geschieht, um gravierendes Unrecht zu verhindern«. Ob Prinzipien wie die genannten zu ihrer Anwendung tatsächlich moralische Urteilskraft erfordern, hängt davon ab, ob sich weitere Prinzipien formulieren lassen, die z. B. angeben, wann in moralischer Hinsicht außergewöhnliche Umstände vorliegen, oder angeben, was als gravierendes Unrecht zählt, und aus denen ohne weitere moralische Zusatz annahmen moralische Einzelurteile gefolgert werden können. Wer demnach behauptet, ein bestimmtes Prinzip erfordere moralische Urteilskraft, der legt sich damit zugleich auf die Nicht-Existenz solcher Hilfsprinzipien fest, dank derer man ohne weitere, nicht-prinzipiengestützte moralische Einzelurteile den Übergang vom Prinzip zum Einzelurteil bewältigen könnte. Halten wir fest: Ausnahmslos jedes Prinzip verlangt für seine Anwendung allgemeine inferentielle Kompetenz oder Kompetenz im Umgang mit moralisch relevanten Begriffen, aber nicht alle Prinzipien erfordern für ihre Anwendung auch genuin moralische Urteilskraft. Prinzipien, die sich allein auf der Grundlage von Zusatzannahmen ohne moralischen Gehalt anwenden lassen, erfordern diese Art der Urteilskraft zu ihrer Anwendung nicht. Zu behaupten, dass die Anwendung moralischer Prinzipien Urteilskraft 7

8

Paradigmatisch: Hooker 2000a: 128, Ross 1930/2002: Kap. 2, Timmons 2002: 268 f. und Williams 1988/1995: 189f. Herman zufolge ist Urteilskraft für die Identifikation derjenigen moralisch relevanten Faktoren zuständig, die für die Anwendung des Kategorischen Imperativs erforderlich sind (vgl. Herman 1985). Während bei Ross Urteilskraft ins Spiel kommt, um Konflikte zwischen Prinzipien zu lösen, ist nach Herman moralische Urteilskraft erforderlich, um die Art von moralischen Problemstellungen und Konflikten zu formulieren, auf die der Kategorische Imperativ eine Antwort bereitstellt. Vgl. Dancy 1993: 82, Dancy 2004: Kap. 8.1-8.2, Lance und Little 2006a: 306, McDowe1l1979/1998: 57ff. sowie McNaughton 1988: 199.

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2 Der epistemologische Partikularismus und moralische Intuitionen

verlangt oder dass Urteilskraft für gerechtfertigte moralische Beurteilungen unverzichtbar ist, bringt somit etwas Offenkundiges zum Ausdruck, das für die Diskussion der Reichweite und Rolle moralischer Prinzipien keinerlei Bedeutung hat, wenn hiermit allgemeine inferentielle Kompetenz oder Kompetenz im Umgang mit moralisch relevanten Begriffen gemeint ist. Von systematischem Interesse sind Thesen zur Urteilskraft im Kontext der Diskussion partikularistischer Thesen dann und nur dann, wenn sie sich auf genuin moralische Urteilskraft beziehen. Jeder konstruktive Verweis auf genuin moralische Urteilskraft bedeutet dabei eine Verpflichtung auf den epistemologischen Partikularismus. Zumindest Prinzipienethiker, die der Subsumptionskonzeption anhängen, können daher Urteilskraft dieses Typs nicht in ihre Theorien integrieren. Ob und inwieweit dies für prinzipienethische Herangehensweisen auf andere Weise möglich ist, wird uns an späterer Stelle dieser Untersuchung in KapitellO ausführlicher beschäftigen. 2.2.2

Einige Fallstricke im Kontext der Diskussion moralischer Urteilskraft

Auch eine Reihe weiterer Behauptungen, die gelegentlich im Umkreis von Thesen zur Urteilskraft formuliert werden, lassen verschiedene Lesarten zu, die für die Diskussion der Reichweite und Rolle moralischer Prinzipien entweder keinerlei Rolle spielen oder aber kontroverse Positionen zum Ausdruck bringen, die im engen Zusammenhang mit dem epistemologischen Partikularismus stehen. So wird z. B. gelegentlich behauptet, dass es mehr für die angemessene Beurteilung einzelner Fälle bedarf, als nur, über bestimmte Prinzipien zu verfügen, dass Prinzipien sich also >nicht selbst anwendenmechanisch< anwenden lassen und dass es in der Moral kein >mechanisches Entscheidungsverfahren< gebe. Derlei Bemer9

Vgl. Lance und Little 2006b: 567 sowie McNaughton und Rawling 2000: 256.

2.2 Prinzipien als Richtschnur für moralische Urteile

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kungen zielen auf den Gedanken ab, dass Prinzipien nicht rein deduktiv anwendbar sind. 10 Wenn wir davon ausgehen, dass dies nicht schon deshalb der Fall ist, weil die Anwendung von Prinzipien im Einklang mit den Regeln der deduktiven Logik jenseits einer Schlussfolgerung auch erfordert, den Wahrheitsgehalt weiterer Zusatzprämissen zu überprüfen (was wiederum mehr als nur inferentielle Kompetenz erfordert), dann dürfte mit der These von der Nichtexistenz eines mechanischen Entscheidungsverfahrens gemeint sein, dass selbst dann, wenn alle für die Anwendung des Prinzips relevanten Informationen vorliegen, der Übergang von den Prämissen zur Konklusion nicht als Schlussfolgerungsprozess in Übereinstimmung mit formalen Schluss regeln der deduktiven Logik verstanden werden kann. Dies kann nun eine Möglichkeit sein, auf genuin moralische Urteilskraft Bezug zu nehmen, nämlich dann, wenn hiermit nicht nur andere Arten von nicht moralspezifischen Schlussregeln ins Spiel gebracht werden, sondern stattdessen der Gedanke zum Ausdruck gebracht wird, der gültige Übergang von den Prämissen zur Konklusion selbst erfordere eine weitere moralische Beurteilung. Obwohl es recht einfach ist, diesen strukturellen Punkt in abstracto zu formulieren, sind konkrete Beispiele für Schlussfolgerungen, die selbst moralische Urteile involvieren, eher schwer zu finden. 11 Ein bestimmter Versuch, diesem Gedanken einen Sinn abzugewinnen, kann jedoch ausgeräumt werden. Dieser baut auf der Vorstellung auf, dass Urteilskraft für die Anwendung solcher Prinzipien erforderlich ist, die Ausnahmen haben, und läuft darauf hinaus, dass die Anwendung eines Prinzips insofern unter 10

11

In diesem Sinne etwa Hursthouse 2012: § 3, Lance und Little 2006b: 573ff., McDowell 1979/1998: 58 sowie McKeever und Ridge 2006: 11. Dass diese Verwendung von »mechanisch« und »Entscheidungsverfahren« leicht auf eine falsche Fährte lenkt, zeigt sich bereits daran, dass schon für die Frage, ob ein Satz aus einem anderen gemäß den Regeln der Prädikatenlogik folgt, kein rein formales Entscheidungsverfahren formuliert werden kann, das es erlaubt, diese Frage in jedem Fall anhand von syntaktisch definierten Operationen in endlich vielen Schritten zu beantworten. Die in 9.5 diskutierten Regeln nicht-monotonen Schließens für moralische Prinzipien eines bestimmten Typs, die das beste Beispiel für eine dezidiert nicht-deduktiv gültige Anwendung von moralischen Generalisierungen liefern, fallen nicht unter diese Beschreibung, und allgemein liegt es im Falle einer vermeintlich >moralischen SchlussfolgerungPrinzips< die Fähigkeit erfordert, die Angemessenheit der Anwendung zu beurteilen, ist daher, sofern es im zweiten hier unterschiedenen Sinn aufgefasst wird, nur eine sehr indirekte und unnötig komplizierte Art und Weise, zum Ausdruck zu bringen, dass dieses >Prinzip< kein echter Vertreter seiner Zunft ist. Durch seine Anwendung kann schließlich kein Beitrag zur moralischen Beurteilung konkreter Einzelfälle geleistet werden. Zwischen dem nicht-prinzipien gestützten Wissen darum, wann man q>-en soll, und dem nicht-prinzipien gestützten Wissen darum, wann man ein Prinzip der Form »Man soll q>-en« im Lichte der Möglichkeit von Ausnahmen anwenden soll, besteht kein relevanter Unterschied. Gerade weil sich hinter dem Etikett »Urteilskraft« recht unterschiedliche Fähigkeiten verbergen und weil Thesen zur moralischen Urteilskraft sowie darüber, was die angemessene Anwendung von Prinzipien erfordert, oft verschiedene Lesarten zulassen, könnte der Eindruck entstehen, es handle sich hierbei um gleichermaßen unkontroverse wie für die Diskussion des Partikularismus relevante Positionen. So könnte es zum einen den Anschein haben, dass bereits die Anwendung eines jeden beliebigen Prinzips Kompetenzen erfordert, die mit einer Privilegierung von Prinzipien im Urteilsprozess, wie die Subsumptionskonzeption sie vorsieht, unvereinbar sind 213, Kr.d.U.: B XXVI & B 347ff. sowie Kr.d.r.V.: B 169- 177). Hiermit ist jedoch noch nichts darüber gesagt, welche Begriffe man ohne Zuhilfenahme von Prinzipien anzuwenden in der Lage sein muss. Wenn Kant von der praktischen Urteilskraft spricht, dann ist damit die Fähigkeit gemeint, den Kategorischen Imperativ im Einzelfall anzuwenden (vgl. Kant, Kr.d.p.V.: 67-71). Was die »Aufsuchung und Festsetzung des obersten Princips der Moralität« (Kant, GMS: 392) betrifft, so ist dies Aufgabe der reinen praktischen Vernunft. Eine genuin moralische Urteilskraft im oben beschriebenen Sinn kommt in Kants Ethik nicht vor. Deshalb lässt sich Kants Theorie auch nicht, wie es etwa O'Neill versucht, unter Hinweis darauf gegen den Vorwurf einer zu unflexiblen Konzeption moralischer Entscheidungen verteidigen, dass auch nach Kant die Anwendung moralischer Prinzipien Urteilskraft erfordert (vgl. O'N eil! 1987). Aus demselben Grunde führt auch Woods Vorschlag in die Irre, Kants Theorie als positiven Gegenentwurf zu Prinzipienethiken zu verstehen, die nach deduktiv anwendbaren, ausnahmslos gültigen Prinzipien suchen (vgl. Wood 2011: 59ff.).

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2 Der epistemologische Partikularismus und moralische Intuitionen

(womit sich diese Konzeption als inkohärentes Modell erweisen würde). Zum anderen könnte es so wirken, als könne man trotz Subsumptionskonzeption daran festhalten, dass die Anwendung moralischer Prinzipien ein genuin moralisches Beurteilungsvermögen erfordere und dadurch partikularistische Intuitionen aufnehmen, ohne der Sache nach damit bereits einen deutlichen Schritt in Richtung Partikularismus zu gehen. In beiden Fällen trügt der Anschein. Wie weit die Zugeständnisse an die partikularistische Prinzipienskepsis sind, die man macht, sofern man moralische Urteilskraft für möglich und unverzichtbar hält, wird im Verlauf der Arbeit noch genauer zu prüfen sein. Von der Subsumptionskonzeption hat man sich hiermit auch als Prinzipienethiker - aber in jedem Fall verabschiedet.

2.2.3 Subsumptionskonzeption und Brückenprinzipien Aus den bisherigen Überlegungen ergibt sich unmittelbar, dass die Subsumptionskonzeption Prinzipien eines bestimmten Typs erfordert, da nur hinsichtlich ganz bestimmter Prinzipien überhaupt sinnvoll behauptet werden kann, dass sie im einschlägigen Sinne unverzichtbar für das moralische Urteilen sind. Prinzipien derjenigen Art, die der Subsumptionskonzeption zufolge erforderlich für das gerechtfertigte moralische Urteilen sind, setzen zu ihrer Anwendung keine moralischen Einzelfallurteile als Zusatzprämissen voraus und erfordern damit für ihre Anwendung keine genuin moralische Urteilskraft. 13 Dies zu verneinen liefe auf die Behauptung hinaus, dass gerechtfertigte moralische Einzelurteile Prinzipien erfordern, deren Anwendung wiederum Einzelfallbeurteilungen ohne Prinzipien erfordern kann, und diese Aussagen passen nicht zusammen. Nennen wir Prinzipien, die unter Zuhilfenahme von rein nicht-moralischen Zusatzinformationen anwendbar sind, Brückenprinzipien. Brückenprinzipien führen uns von rein nicht-moralischen Annahmen zu moralischen Beurteilungen. Die Subsumptionskonzeption moralischen Urteilens kann nur von Brückenprinzipien kohärenterweise behaupten, dass diese unverzichtbare Voraussetzung einer jeden gerechtfertigten Einzelfallbeurteilung sind.

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Die Subsumptionskonzeption kann hingegen Prinzipien erlauben, die moralische Zusatzprämissen verlangen, sofern diese Teil eines Prinzipiensystems sind, das es einem erlaubt, bei der Anwendung der Prinzipien auf nicht-prinzipiengestützte moralische Urteile letztendlich zu verzichten. Vor dem Hintergrund eines solchen Prinzipiensystems lassen sich dann weitere Prinzipien ableiten, die ohne moralische Zusatzprämissen auskommen.

2.3 Überlegungen zur dialektischen Lage

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2.3 Überlegungen zur dialektischen Lage Die bisherigen Überlegungen zeigen: Wenn Prinzipien unverzichtbarer Bestandteil moralischen Urteilens sind, dann muss es sich hierbei um Brückenprinzipien handeln, und dann gibt es keine genuin moralische Urteilskraft, die in der Anwendung von Prinzipien oder unabhängig hiervon zur Ausübung kommen kann. Der epistemologische Partikularismus, die Annahme der Existenz moralischer Urteilskraft und die Vorstellung, dass es andere Prinzipien als Brückenprinzipien gibt, sind daher gleichermaßen auf die Zurückweisung der Subsumptionskonzeption festgelegt. Nachdem die für diesen Teil der Arbeit zentralen Thesen und Positionen ausführlich vorgestellt worden sind, steigen wir nun in die eigentliche Sachdiskussion ein. Um die Überzeugungskraft von epistemologischem Partikularismus und Subsumptionskonzeption einzuschätzen, bietet es sich an, weiter auszugreifen und die Diskussion der Frage, ob Prinzipien essentiell für die Rechtfertigung moralischer Urteile sind, in den allgemeineren Kontext der Frage einzubetten, wie wir grundsätzlich vorgehen können, um zu gerechtfertigten Antworten auf moralische Fragen zu gelangen. Dieser Ansatz liegt auch deshalb als Fokus der Diskussion nahe, weil sowohl Vertreter der Subsumptionskonzeption als auch Anhänger des epistemologischen Partikularismus darauf festgelegt sind, eine Konzeption der Rechtfertigung moralischer Urteile zu umreißen. Im Hinblick auf den epistemologischen Partikularismus mag dies unstrittig sein. Dass Anhänger der Subsumptionskonzeption jedoch derselben theoretischen Verpflichtung unterliegen wie diejenigen, die respektables moralisches Urteilen ohne Prinzipien für möglich halten, zeigt nachfolgende Überlegung.

2.3.1

Die Rechtfertigung von Prinzipien als Herausforderung für die Subsumptionskonzeption

Auf den ersten Blick scheint mit der Aussage, dass moralische Urteile für ihre Rechtfertigung Prinzipien erfordern, durchaus etwas Substantielles und Informatives zu der Frage gesagt zu werden, woher partikulare Urteile ihre Rechtfertigung beziehen und auf welche Weise man zu gerechtfertigten moralischen Einzelurteilen gelangen kann. Bereits der zweite Blick zeigt jedoch, dass die Subsumptionskonzeption mehr Fragen aufwirft, als sie zu beantworten hilft, allem voran die, wie sich entscheiden lässt, welche Prinzipien bei der Beurteilung einzelner Fälle zur Anwendung gebracht werden sollten. Wenn Prinzipien unverzichtbarer Bezugspunkt aller partikularen Urteile sind, welche Ressourcen stehen einem dann zur Verfügung, um eine nicht-willkürliche und gerechtfertigte Auswahl aus der Vielzahl an

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2 Der epistemologische Partikularismus und moralische Intuitionen

Kandidaten zu treffen, die sich bei der Beurteilung einzelner Fälle heranziehen ließen? Sicherlich ist man nicht, wann immer man irgendein Prinzip zur Anwendung bringt, bereits in der moralischen Einschätzung eines Einzelfalls gerechtfertigt, denn ansonsten würden beim moralischen Urteilen ebenfalls vollkommene Beliebigkeit und Willkür herrschen. Solange sich nicht zeigen lässt, dass und wie eine gerechtfertigte Auswahl aus der Vielfalt denkbarer Prinzipien möglich ist, bleibt vollkommen unklar, weshalb partikulare Urteile, die das Ergebnis der Anwendung von Prinzipien sind, in irgend einer Weise weniger willkürlich oder arbiträr sein sollten als solche, die ohne Prinzipien gefällt wurden. Die vermeintliche Nichtbeliebigkeit in der Beurteilung, die durch das Hinzuziehen von Prinzipien scheinbar gewährleistet wird, droht damit, sich als trügerisch zu erweisen. Wenn in der Auswahl der Prinzipien beliebig verfahren wird, dann kann die Anwendung von Prinzipien Einzelfallbeurteilungen nicht die erwünschte Respektabilität verleihen. Wie also ließe sich auf begründete Weise zwischen verschiedenen Kandidaten für Prinzipien, die bei der Urteils- und Entscheidungsfindung zugrunde gelegt werden, auswählen? Dies ist nicht die Frage nach einer konkreten Begründung dieses oder jenes Prinzips, sondern allgemeiner die Frage danach, welche Form eine solche Begründung oder Rechtfertigung überhaupt annehmen kann, wenn moralische Einzelurteile lediglich als Ergebnis der Anwendung von Prinzipien zugelassen werden. Fest steht, dass es in diesem Fall nicht möglich ist, sich auf Relationen zu stützen, die zwischen Prinzipien und unabhängig gerechtfertigten Einzelurteilen bestehen (seien sie induktiver oder explanatorischer Art) und kraft derer Prinzipien als gerechtfertigt gelten können. 14 Eine derartige Überprüfung und Rechtfertigung von Prinzipien >von untenvon oben< kommen schließlich erneut nur gerechtfertigte höherstufige Prinzi14

15

Ebenso können Prinzipien dann nicht aufgrund ihrer Relationen zu solchen Einzelurteilen kritisiert werden. Hierfür spielt es keine Rolle, ob wir diese Ableitung als deduktive Schlussfolgerung verstehen oder davon ausgehen, dass moralische Prinzipien auch vermittels weiterer Beziehungen aus anderen Prinzipien abgeleitet bzw. durch diese begründet werden können.

2.3 Überlegungen zur dialektischen Lage

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pien infrage, und wenn diese ihre Rechtfertigung ebenfalls aus höherstufigen Prinzipien beziehen sollen, geraten wir in einen unendlichen Regress. An irgend einer Stelle müssen daher gerechtfertigte Prinzipien ins Spiel kommen, die nicht durch andere Moralprinzipien gerechtfertigt sind. Wenn wir diejenigen Prinzipien, die am obersten Ende der Begründungskette stehen und nicht durch weitere moralische Prinzipien gerechtfertigt werden, als oberste Prinzipien bezeichnen, können wir die entscheidende Frage, welche die Idee einer Rechtfertigung moralischer Prinzipien >von oben< aufwirft, auch folgendermaßen formulieren: Wie sind die obersten Prinzipien (bzw. das oberste Prinzip) gerechtfertigt? 2.3.2

Drei Optionen in der Rechtfertigungsfrage

Nicht alle moralischen Urteile lassen sich also durch den Verweis auf Prinzipien rechtfertigen, und selbst Anhänger der Subsumptionskonzeption müssen auf andere Faktoren als Prinzipien verweisen, um verständlich zu machen, wie moralische Urteile überhaupt gerechtfertigt werden können. Anhänger der Subsumptionskonzeption und epistemologische Partikularisten stehen daher vor derselben Herausforderung (oder zumindest vor einer ähnlichen), die darin besteht, etwas Erhellendes zu der Frage zu sagen, wie wir zu gerechtfertigten moralischen Urteilen gelangen können - eine Frage, die sich somit aus mehreren Gründen als Hintergrundfolie für die zu diskutierenden Thesen anbietet. Die hier und im nächsten Kapitel entwickelte Argumentation zielt insgesamt auf den Nachweis ab, dass eine alles in allem plausible Konzeption der Rechtfertigung moralischer Urteile keine Asymmetrie zwischen Moralprinzipien und moralischen Einzelurteilen der Art vorsieht, wie sie die Subsumptionskonzeption postuliert, und dass die Subsumptionskonzeption innerhalb dieser Konzeption der Rechtfertigung moralischer Urteile ein schwer zu integrierender Fremdkörper bleibt. 16 Versucht man, das Spektrum möglicher Herangehensweisen an die Rechtfertigungsfrage allgemein zu beschreiben, so gibt es drei Optionen. Erstens kann man sich einer radikal skeptischen Sichtweise anschließen, der zufolge es unmöglich ist, zu gerechtfertigten moralischen Urteilen zu gelangen, weswegen man sich in allen moralischen Fragen enthalten solle. Zweitens kann man auf die Möglichkeit moralfreier Begründungen verweisen, und drittens

16

Eine ähnliche Kritik äußert auch Dancy (vgl. Dancy 1993: 68 und Dancy 2004: 3 ff.), der diese Beobachtung jedoch nicht ausführlich ausarbeitet, sondern es bei dem kurzen Hinweis belässt, dass nicht zu sehen sei, wie Prinzipien anders als durch ihre Überprüfung an Einzelfällen gerechtfertigt werden können.

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gilt es, eine im weitesten Sinne intuitionistische Herangehensweise an die Rechtfertigungsfrage zu betrachten. Unter einer moralfreien Begründung sind Versuche zu verstehen, die Begründung moralischer Urteile ausschließlich auf nicht-moralische Annahmen zurückzuführen. Ausgangspunkt einer moralfreien Begründung sind moralisch neutrale Überlegungen. Hinzu kommt, dass an keiner Stelle der Begründung implizit oder explizit moralische Annahmen in den Prozess der Rechtfertigung eingehen dürfen. Auch die Gültigkeit jedes einzelnen Begründungsschritts einzuschätzen darf keine Sache moralischer Beurteilung sein oder substantielle moralische Überlegungen erfordern. 17 So, wie der Begriff hier eingeführt wurde, ist es jedoch keine Anforderung an moralfreie Begründungen, dass sie nur um den Preis der Irrationalität oder U nvernünftigkeit abgelehnt werden können. Eine moralfreie Begründung kann somit nicht-moralische Prämissen enthalten, die sich rationalerweise bestreiten lassen. 18 Moralfreie Begründungen sind in der philosophischen Diskussion äußerst umstritten. Während manchen ein derartiges Projekt, das oftmals als Suche nach einem sog. Archimedischen Standpunkt der Begründung bezeichnet wird, von vornherein als hoffnungslos, überflüssig oder beides zugleich gilt, gibt es einen nicht zu vernachlässigenden Kreis von Philosophen, die hierin den einzig gangbaren Weg in der Ethik sehen, sofern diese sich als begründende Disziplin verstehen will. 19 Was dies betrifft, haben wir m. E. beste Gründe, uns bei den Kritikern einzuordnen: Versuche, moralische Urteile moralfrei zu begründen, scheinen mir ein hoffnungsloses Unterfangen. Diese Behauptung muss hier jedoch ein bloßes Bekenntnis bleiben, denn im Rahmen der vorliegenden Arbeit kann diese weitreichende These nicht begründet werden. 20 Für die folgende Diskussion werde ich vielmehr offenlassen, ob es möglich ist, überzeugende 17

18

19

20

Ein Ansatz, der diese Bedingung nicht erfüllt, ist der von Toulmin (siehe hierzu Fn. 11). Moralfreie Begründungen müssen also nicht Letztbegründungen sein, die den Anspruch erheben, zwingende Gründe zu benennen, die von jeder rationalen Person als solche akzeptiert werden. Zum Begriff einer Letztbegründung in diesem Sinne vgl. Wittwer 2010: 223-227. Auf mögliche Gründe für diese Ansicht wird in 3.1.5 eingegangen. - Zum Begriff des Archimedischen Standpunkts vgl. Williams 1985: Kap. 2. Das zentrale Problem mit moralfreien Begründungsversuchen, wie ich es sehe, besteht darin, dass wir letztendlich keinen plausiblen Kandidaten für eine Relation haben, kraft derer moralische Urteile vollständig durch nicht-moralische Annahmen gerechtfertigt werden könnten. Die Sein-Sollen-Schranke schließt alle deduktiven Begründungen von moralischen durch nicht-moralische Annahmen aus, inklusive solcher, deren Prämissen zum Gegenstand haben, was zu tun oder zu intendieren rational oder vernünftig wäre (für eine tragfähige wie einschlägige Formulierung der Sein-Sollen-Schranke vgl. Pigden 1989). Da das Ziel einer moralfreien Begründung von einer Antwort auf die» Warum moralisch sein?«-Frage zu unterscheiden ist, wird es nicht durch den Nachweis erreicht, dass bestimmte Handlungen auszuführen (bzw. zu

2.4

Eine konstruktive Rolle für Intuitionen

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moralfreie Begründungen für moralische Prinzipien oder moralische Einzelurteile vorzulegen und lediglich dafür argumentieren, dass es auch möglich ist, ohne derartige Begründungen zu gerechtfertigten moralischen Urteilen zu gelangen. Bereits diese These, die äquivalent zu der Annahme ist, dass Intuitionen ein legitimer Bezugspunkt bei der Rechtfertigung moralischer Urteile sind, kann argumentativ einiges zugunsten des epistemologischen Partikularismus austragen, weshalb sie nun ausführlich vorgestellt wird.

2.4 Eine konstruktive Rolle für Intuitionen Wenn wir bei der Suche nach gerechtfertigten Antworten auf moralische Fragen nicht alle Hoffnungen auf moralfreie Begründungen setzen wollen, so müssen wir uns darauf einlassen, im Bereich moralischer Urteile zu verbleiben und uns daher mit den Grundgedanken einer im weitesten Sinne intuitionistischen Herangehensweise an die Rechtfertigungsfrage anfreunden. Dies ist, auch wenn der Name für viele vielleicht Anlass zur Sorge gibt, keine Schande, denn ein intuitionistischer Zugang zu Fragen der Rechtfertigung moralischer Urteile ist eine Option, die sich gegen Einwände gut verteidigen lässt und einiges für sich verbuchen kann. Um dies nachzuweisen, werde ich im Weiteren zunächst die Grundgedanken einer intuitionistischen Position darstellen und andeuten, welche deren plausibelste Ausgestaltung ist. Eine Verteidigung gegen die bekanntesten Einwände und die weitere Ausarbeitung des Intuitionismus folgen dann in Kapitel 3. 2.4.1

Der kleinste gemeinsame Nenner intuitionistischer Positionen

Dass die Suche nach einer nicht-skeptischen Alternative zu moralfreien Begründungen zu einer intuitionistischen Herangehensweise an Fragen der Rechtfertigung moralischer Urteile führt, mag auf den ersten Blick weit hergeholt erscheinen, ergibt sich bei einer liberalen Verwendung des Begriffs »Intuitionismus« aber recht zwanglos. Mit den Ausdrücken »Intuition« und unterlassen) rational oder interessendienlich ist. Auch lautet das Ziel nicht, aufzuzeigen, dass bestimmte Prinzipien zu internalisieren im eigenen Interesse ist, da hiermit keine Gründe für die Akzeptanz der Prinzipien ausgewiesen werden, sondern lediglich praktische Gründe, die dafür sprechen, einen Kausalprozess in Gang zu setzen, an dessen Ende man die fraglichen Prinzipien akzeptiert (und vergessen hat, dass man sie auf dieser Grundlage erworben hat). Am ehesten würden sich transzendentale Argumente oder Schlüsse auf die beste Erklärung für moralfreie Begründungen eignen. Was dies betrifft, fällt es mir jedoch schwer, plausible Kandidaten für nicht-moralische Sachverhalte zu finden, zu deren Bedingungen der Möglichkeit ein durch moralische Prinzipien beschriebener Sachverhalt gehört oder die im Rekurs auf solche Sachverhalte am besten erklärt werden könnten.

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2 Der epistemologische Partikularismus und moralische Intuitionen

»Intuitionismus« werden in der philosophischen Ethik zahlreiche unterschiedlicher Phänomene und Positionen bezeichnet.21 Positionen, die unter dem Namen »Intuitionismus« diskutiert werden, haben teils in der Literatur einen schlechten Ruf, der jedoch überwiegend durch optionale Annahmen begründet ist, die Teil von nur manchen der tatsächlich vertretenen oder imaginierten intuitionistischen Positionen sind. Begrifflicher Ausgangspunkt des hier zu beschreibenden Ansatzes sind moralische Intuitionen, die als moralische Urteile verstanden werden sollen, deren Inhalt plausibel erscheint, die aber insofern psychologisch basal sind, als man sie nicht auf inferentieller Grundlage erworben hat oder aufrechterhält. 22 Die Auszeichnung einer Überzeugung als Intuition ist für sich genommen aber noch epistemisch neutral. Intuitionen sind, so aufgefasst, nicht per definitionem gerechtfertigte Urteile, folglich sind sie auch nicht per definitionem nichtinferentiell gerechtfertigte Urteile, für die der Ausdruck »Intuition« ebenfalls oft verwendet wird. 23 Unter einer intuitionistischen Position wird im Weiteren die These verstanden, dass Intuitionen im soeben erläuterten Sinn angemessene Bezugspunkte im moralischen Denken sind und eine konstruktive Rolle bei der Suche nach gerechtfertigten Antworten auf morali21

22

23

Zu verschiedenen Verwendungsweisen des Ausdrucks "Intuition« in philosophischen Diskussionen vgl. Burkard 2012: 15ff. Es erscheint mir trotz der uneinheitlichen Verwendungsweise sinnvoll, den Ausdruck »Intuitionismus« weiterhin zu gebrauchen, da hiermit eine systematisch zentrale Position und der kleinste gemeinsame Nenner (fast) all derjenigen Positionen benannt werden kann, die unter diesem Namen im Kontext der Ethik diskutiert werden. Für ein ähnliches Verständnis von Intuitionen vgl. Burkard 2012: 36ff., Daniels 2011, DePaul 2006, McMahan 2000 und Nelson 1999. Daniels spricht, wie viele im Anschluss an Rawls, eher von »wohlüberlegten Urteilen« (eng!. »considered moral judgements«, vg!. Rawls 1971: 18 & 42f., Daniels 1979: 258 und Nida-Rümelin 2006: 47). Wohlüberlegte Urteile können als solche Intuitionen begriffen werden, die bestimmten Anforderungen genügen, welche die Abwesenheit verzerrender Faktoren betreffen (vg!. hierzu 3.1.2). So wie der Ausdruck »Intuition« hier verwendet wird, müssen Intuitionen nicht zwischen mehreren Personen geteilt und weit verbreitet sein. Es kann also sein, dass eine Überzeugung mit einem bestimmten Inhalt bei einer Person den Status einer Intuition aufweist, bei einer anderen hingegen nicht. Des Weiteren ist nicht erforderlich, dass Intuitionen spontane Reaktionen sind. Intuitionen können sich auch erst nach einer längeren Überlegungsphase einstellen, was den hier einschlägigen Gebrauch von »Intuition« von der Verwendung abgrenzt, die in sozialpsychologischen Untersuchungen oft eine wichtige Rolle spielt (so etwa bei Haidt 2001, wo das einflussreiche »social intuitionist model« vorgestellt wird). Dass es nicht-inferentiell gerechtfertigte Urteile gibt, ist einer der Kerngedanken sog. fundamentalistischer Theorien der Rechtfertigung, auf die in 3.2 weiter eingegangen wird. In einer älteren philosophischen Terminologie wurde »Intuition« v. a. für Propositionen eines bestimmten Typs verwendet, nämlich für solche, welche die Eigenschaft aufweisen, selbstevident zu sein. Entsprechend wird auch der Ausdruck »Intuitionismus« gelegentlich für die These verwendet, es gebe selbstevidente moralische Propositionen (für einen Überblick über einschlägige Positionen dieser Art vg!. Crisp 2002 und Stratton-Lake 2002a).

2.4

Eine konstruktive Rolle für Intuitionen

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sche Fragen spielen können. Diese Charakterisierung ist bewusst allgemein und recht unspezifisch gehalten. Somit ist sie mit einer Vielzahl verschiedener Ausprägungen und Konzeptionen dessen, worin diese konstruktive Rolle besteht, kompatibel. Sie ist jedoch weder inhaltsleer noch banal: Wer moralfreie Begründungen für unverzichtbar hält, kann kein Intuitionist sein. Der Intuitionismus lässt sich als eine im weitesten Sinne methodologische These charakterisieren, die sich der Frage widmet, wie wir vorgehen können, um zu gerechtfertigten Antworten auf moralische Fragen zu gelangen. 24 Diese These ist jedoch, wie sich ebenfalls zeigen wird, mit recht verschiedenen Auffassungen davon vereinbar, unter welchen Umständen und aufgrund welcher Faktoren moralische Urteile gerechtfertigt sind. Der konstruktive Gebrauch von Intuitionen ist in der normativen Ethik weit verbreitet. Zahlreiche Gedankenexperimente und hypothetische Szenarien verdanken ihre intensive Diskussion der Tatsache, dass sie Gegenstand moralischer Intuitionen sind und auf diese Weise zur Überprüfung oder Widerlegung moralischer Prinzipien oder als Referenzpunkte für aufschlussreiche Analogien herangezogen werden. 25 Die Art von intuitionistischer These, die im Mittelpunkt der nachstehenden Diskussion stehen wird, ist der hier verfolgten Absicht nach genau diejenige Annahme, auf die jeder festgelegt ist, der diesen Einsatz moralischer Intuitionen für respektabel und hilfreich hält. Worin könnte nun eine konstruktive Rolle für Intuitionen bei der Rechtfertigung moralischer Urteile bestehen? Dies wird zunächst genauer erörtert, um den intuitionistischen Ansatz in seiner bestmöglichen Fassung diskutieren zu können.

24

25

Für eine ähnliche Bestimmung der intuitionistischen Position vgl. Burkard 2012: 17f., DePaul 2006, McMahan 2000 und Nelson 1999. Nelson bringt den Kerngedanken besonders klar auf den Punkt: »1 characterize moral intuitionism as the methodological claim that one may legitimately appeal to moral judgments in the course of moral reasoning even when those judgments are not supported by inference from other judgments.« (Nelson 1999: 54). Man denke z. B. an das im Rahmen der Konsequentialismusdebatte intensiv diskutierte Beispiel des Arztes, der fünf Patienten dadurch retten könnte, dass er einen gesunden Patienten tötet und dessen Organe entnimmt (vgl. Foot 1967/1978), an das im Rahmen der Diskussion über den moralischen Status von Abtreibung diskutierte Geigerszenario Thomsons (vgl. Thomson 1971), an verschiedene hypothetische levelling down-Szenarien (u. a. in Parfit 1997), die in der Diskussion egalitaristischer Gerechtigkeitstheorien betrachtet werden, und nicht zuletzt an die Vielzahl unterschiedlicher Trolleyszenarien (exemplarisch: Foot 1967/1978, Kamm 1996: 143-171 und Thomson 1985).

66

2.4.2

2 Der epistemologische Partikularismus und moralische Intuitionen

Unrevidierbare Intuitionen?

Eine Möglichkeit besteht darin, Intuitionen als unverrückbare und unrevidierbare Fixpunkte anzusehen, an denen sich alle weiteren moralischen Urteile zu orientieren haben - sei es, weil es sich um Prinzipien handelt, welche die inferentielle Basis für alle weiteren Beurteilungen bereitstellen, sei es, weil es sich um Einzelurteile handelt, die zur Überprüfung von Prinzipien herangezogen werden und durch deren Systematisierung und Vereinheitlichung Prinzipien Rechtfertigung erhalten. Dieser Ansatz trägt jedoch nicht weit. Um Intuitionen zu Recht als unrevidierbare Bezugspunkte ansehen zu können, müsste es einen Grund geben, davon auszugehen, dass diese unfehlbar sind und uns nicht in die Irre führen können. Tatsächlich sprechen jedoch bedeutend stärkere Gründe dafür, das Gegenteil zu glauben. Wären Intuitionen unfehlbar, dann könnten sie nicht miteinander in Widerspruch geraten. Dass sie es tun, wird durch die Erfahrung jedoch hinlänglich bestätigt. Sowohl die Intuitionen individueller Personen als auch die Intuitionen verschiedener Personen geraten, synchron und über die Zeit hinweg betrachtet, häufig in Widerspruch zueinander und können daher nicht allesamt unrevidierbare Fixpunkte des moralischen Denkens darstellen. 26 Darüber hinaus können Intuitionen verzerrenden Einflüssen verschiedenster Art unterliegen, die bisweilen ihren Status als geeignete Referenzpunkte im moralischen Denken unterminieren (auf Beispiele hierfür werden wir in Kürze zu sprechen kommen). Nicht nur Inkonsistenzen, sondern auch Informationen über die Genese unserer moralischen Urteile können Gründe dafür liefern, diese einer Revision zu unterziehen. 2.4.3

Intuitionen und selbstevidente Propositionen

Auch ohne Intuitionen als unrevidierbar oder unfehlbar auszuzeichnen, ließe sich davon ausgehen, dass es selbstevidente moralische Propositionen gibt, deren Korrektheit allein auf der Grundlage ihres Verständnisses transparent ist. Hierbei handelt es sich um einen philosophischen Ladenhüter, der wesentlich für den schlechten Ruf intuitionistischer Ansätze verantwortlich war und den erst in jüngster Zeit Audi wiederzubeleben versucht hat. Aufgrund der Tatsache, dass moralische Einzelurteile stets im Lichte empirischer Informationen gefällt werden, kommen als selbstevidente moralische Propositionen von vornherein bestenfalls Prinzipien (bzw. deren Inhalt) infrage. Wenn sich also die Legitimität des Bezugs auf moralische Intuitionen der 26

Dies scheint mir eine derart vertraute Eigenschaft unserer moralischen Alltagserfahrung zu sein, dass ich sie nicht für weiter rechtfertigungsbedürftig halte. So gut wie jede Debatte in der normativen Ethik bietet zudem ausreichend Anschauungsmaterial.

2.4

Eine konstruktive Rolle für Intuitionen

67

Tatsache verdankt, dass manche moralischen Propositionen selbstevident sind und Intuitionen, insofern sie ein legitimer Bezugspunkt im moralischen Denken sind, sich auf selbstevidente Propositionen richten, dann ergibt sich innerhalb des intuitionistischen Ansatzes automatisch eine Zentralstellung von Prinzipien genau derjenigen Art, wie sie die Subsumptionskonzeption vorsieht. Alle nicht selbstevidenten Urteile verdanken dann ihre Rechtfertigung nämlich der Tatsache, dass sie zu denjenigen Urteilen, die sich auf selbstevidente Prinzipien richten, in geeigneten Relationen stehen. Dass es selbstevidente Prinzipien gibt, die das Fundament moralischer Erkenntnis bilden, war eine unter Intuitionisten zu bestimmten Zeiten weithin geteilte Annahme, so dass die überwiegende Mehrzahl intuitionistischer Ansätze von Sidgwicks The Methods 0/ Ethics bis zu Ross' Foundation 0/ Ethics auf die eine oder andere Weise diese Sichtweise beinhalten. Der Selbstevidenzgedanke geriet im Anschluss hieran jedoch in Misskredit. 27 Insbesondere zwei Gründe spielten hierfür eine Rolle: Der erste betrifft die Fragwürdigkeit des Konzepts der Selbstevidenz, das oft nicht hinreichend konkret entwickelt wurde, um einsichtig zu machen, dass und wie selbstevidente Propositionen den moralischen Urteilen, die sich auf sie richten, Rechtfertigung verleihen. Der zweite Grund ist schlichtweg der, dass es an überzeugenden Beispielen für selbstevidente Prinzipien mangelt. Da Audi in jüngster Zeit den Versuch unternommen hat, den Selbstevidenzbegriff und die Vorstellung, dass es selbstevidente Prinzipien gibt, philosophisch zu rehabilitieren, lohnt es sich an dieser Stelle, seine Position etwas genauer in den Blick zu nehmen.28 Audi bestimmt selbstevidente Propositionen allgemein über 27

28

Vgl. Moore 1912: 99f. & 112, Ross 1930/2002: 20, 29, 33 & 146, Ross 1939: 32 sowie Sidgwick 1907/1981 : Buch III, Kap. 11 & 13 für Charakterisierungen bestimmter Moralprinzipien als selbstevident; vgl. ferner Stratton-Lake 2002a für einen kurzen historischen Überblick über Einwände gegen das Selbstevidenzverständnis der genannten Autoren. Zumindest im Fall von Ross ist es nicht leicht zu bestimmen, inwiefern seine Konzeption wirklich dem Begriff der Selbstevidenz eine Zentralstellung zuweist, da Ross ebenfalls an verschiedenen Stellen die Annahme formuliert, dass die Wahrheit moralischer Prinzipien durch einen Schritt der sog. intuitiven Induktion, ausgehend von Einzelfallbeurteilungen, erkannt wird (vgl. Ross 193012002: 29-33 und Ross 1939: 170f.). Verschiedene Darstellungen und Rekonstruktionen der Ross'schen Position betonen unterschiedliche Aspekte, eine einheitliche Deutung erscheint schwierig. Vgl. Stratton-Lake 2002b für eine Darstellung, die den Fokus auf das Konzept der Selbstevidenz legt und Dancy 1991a sowie Dancy 1991b für eine Darstellung, die den Schwerpunkt ausschließlich auf Ross' These legt, dass moralische Prinzipien aus Einzelfallbeobachtungen gewonnen werden. Audi geht nicht nur davon aus, dass manche moralischen Urteile sich auf selbstevidente Propositionen richten, sondern erkennt darüber hinaus weitere rechtfertigungsrelevante Faktoren an und hält auch moralische Einzelfallwahrnehmungen für möglich. Diese hängen gemäß Audis Sichtweise jedoch zugleich von der Existenz und Akzeptanz selbstevidenter Prinzipien ab (vgl. Audi 2010; für eine kritische Diskussion vgl. Dancy 2010b).

68

2 Der epistemologische Partikularismus und moralische Intuitionen

die Möglichkeit des epistemischen Zugangs zu ihnen. Selbst evident sind ihm zufolge genau solche Propositionen, die aufgrund eines angemessenen Verständnisses gewusst oder gerechtfertigt für wahr gehalten werden können: [A] proposition is self-evident provided an adequate understanding of it is sufficient both for being justified in believing it and for knowing it if one believes it on the basis of that understanding. (Audi 2004: 49) Audi spricht auch davon, dass für selbstevidente Propositionen Reflexion über sie die Methode sei, durch die man in der Akzeptanz der Proposition gerechtfertigt wird. 29 Da hiermit weder impliziert sei, dass selbstevidente Propositionen offensichtlich sind, noch, dass jeder, der sie versteht, sie de facto für wahr hält oder dass sie gewiss, unrevidierbar oder unbezweifelbar sind, gehen nach Audi die kanonischen Einwände gegen die Annahme selbstevidenter moralischer Prinzipien ins Leere. 3o Es gelingt Audi somit, dem Begriff der Selbstevidenz konkreten Gehalt zu geben und ihn von einer ganzen Reihe weiterer Begriffe zu unterscheiden, so dass sich zahlreiche bekannte Einwände gegen die Annahme selbstevidenter Prinzipien auf diese Weise ausräumen lassen. Dennoch hat auch Audis Konzeption selbstevidenter Prinzipien keinerlei Anwendungsfälle. Trotz der Vielzahl von Unterscheidungen, die er vornimmt, um den Begriff der Selbstevidenz von verwandten Begriffen abzugrenzen, bleibt unklar, wie sich selbstevidente Prinzipien von analytisch wahren Prinzipien oder begrifflichen Wahrheiten unterscheiden sollen, und Audi spricht an zahlreichen Stellen auch offen davon, dass dann, wenn wir durch unser Fürwahrhalten selbstevidenter Prinzipien Wissen erlangen, es sich hierbei um begriffliches Wissen handle. 31 Dass es selbstevidente 29

30

31

Vgl. Audi 2004: 78. Ergebnisse eines solchen Reflexionsprozesses nennt Audi »conclusions of reflection«. Diese seien von »conclusions of inference«, d. h. von Schlussfolgerungen im eigentlichen Sinne, zu unterscheiden (vgl. Audi 2004: 45). Vgl. Audi 1999 und Audi 2004: 53. Die Rechtfertigung, die man durch das angemessene Verständnis selbstevidenter Prinzipien gewinnen kann, ist nach Audi sowohl verstärkbar als auch unterminierbar (vgl. Audi 2004: 53, 81 H. & 141-151). Auf diese Weise ist es Audi möglich, sowohl zu behaupten, dass bestimmte Prinzipien selbstevident sind, als auch, dass diese Prinzipien zusätzliche Stützung erfahren durch ihre Integration in eine Moralkonzeption, die den Kategorischen Imperativ enthält und durch eine kantisch inspirierte Werttheorie vereinheitlicht wird (vgl. Audi 2004: Kap. 3 & 4). Vgl. etwa Audi 1993: 305 und Audi 2004: 53, 59 & 69. Zu einem angemessenen Verständnis gehöre ebenfalls, dass man in der Lage ist, Sätze, welche die fragliche Proposition zum Ausdruck bringen, korrekt zu verwenden und inferentielle Beziehungen, in denen die Proposition zu anderen steht, korrekt zu erfassen (vgl. Audi 1999: 207ff. und Audi 2004: 49-53). Audi betont an anderer Stelle explizit, dass selbstevidente Propositionen nicht mit analytischen Urteilen gleichgesetzt werden dürfen, und er deutet an, dass nicht alle begrifflichen Wahrheiten analytisch seien (vgl. Audi 2008: 479). Wie diese Abgrenzung zu verstehen ist, wird von

2.4

Eine konstruktive Rolle für Intuitionen

69

Prinzipien in Audis Sinn gibt, ist daher letztendlich nicht plausibler als die Annahme, dass es analytisch wahre Moralprinzipien gibt - und diese Annahme ist recht unplausibel. 32 Auch wenn an dieser Stelle nicht das Argument der offenen Frage bemüht werden soll,33 spricht nichts dafür, an die Existenz analytischer Moralprinzipien zu glauben, und mindestens zwei gewichtige Überlegungen dagegen. Erstens ist es bislang noch niemandem gelungen, einen plausiblen Kandidaten für ein analytisch wahres Moralprinzip vorzulegen, obwohl von philosophischer Seite mindestens seit Moores Principia Ethica darüber nachgedacht wird. Der Gedanke, es gäbe trotz alledem bislang übersehene Begriffe, mithilfe derer analytisch wahre Prinzipien formuliert werden können, wirkt recht abwegig. Grundsätzlich spricht zwar nichts gegen die Vorstellung, dass es analytisch wahre Sätze geben kann, die einem kompetenten Sprecher entgehen können und die ein ausführliches Maß an Reflexion erfordern. Auch diese Idee gelangt jedoch früher oder später an ihre Grenzen. Alles in allem scheint die Tatsache, dass es bislang noch nicht gelungen ist, einen überzeugenden Vorschlag für ein analytisch wahres Moralprinzip zu formulieren, recht gut dadurch erklärt werden zu können, dass es solche Prinzipien nicht gibt. Zweitens vermittelt die Annahme, Moralprinzipien seien analytisch wahr, ein verzerrtes Bild grundlegender moralischer Kontroversen. Solche Dissense beruhen nach dieser Vorstellung auf einem unzureichenden Begriffsverständnis mindestens einer der beiden Parteien und ließen sich am besten durch Reflexionen über die Semantik der relevanten Ausdrücke und For-

32

33

Audi jedoch nicht thematisiert, so dass der Verdacht mehr als begründet ist, dass die Obskurität der angedeuteten Unterscheidung ihren Ursprung in einem fehlenden Unterschied in der Sache selbst hat. Zwar führt Audi explizit an, dass es für ein angemessenes Verständnis moralischer Prinzipien nicht hinreiche, diese in grammatikalisch korrekten Sätzen zu verwenden und synonyme Formulierungen zu kennen - diese Anmerkungen grenzen die Art des Verstehens, um die es Audi geht, aber sicherlich nicht hinreichend von einem Verstehen der Bedeutung des jeweiligen Prinzips ab. Für ähnliche Kritik vgl. etwa Bedke 2010, McCann 2007 und Shafer-Landau 2007. Will man selbstevidente Prinzipien nicht als begriffliche Wahrheiten verstehen, so droht Audis Konzeption leerzulaufen, da der Begriff der angemessenen Reflexion in "Man ist in der Akzeptanz eines Prinzips gerechtfertigt, sofern man angemessen darüber reflektiert hat« dann zum bloßen Platzhalter für dasjenige verkommt (was immer es ist), das moralischen Urteilen Rechtfertigung verleiht. - Für eine ausführliche Diskussion von Audis Position vgl. Burkard 2012: 3.2. Dies deshalb nicht, weil die Diskussion dieses Arguments überzeugend nachgewiesen hat, dass es zirkulär ist und auch nicht auf eine Weise verbessert werden kann, die der Grundidee Rechnung trägt und von diesem Fehler frei ist. Der locus classicus des Arguments ist Moore 1903: Kap. 1, §§5-15, neuere Diskussionen finden sich in Miller 2003: 18-23, Ridge 2008: §2 und Rosati 1995.

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2 Der epistemologische Partikularismus und moralische Intuitionen

mulierungen beilegen. Verhielte es sich so, dann sollten wir die Neigung verspüren, Personen, die mit uns nicht übereinstimmen und bei denen wir diese fehlende Übereinstimmung nicht auf abweichende nicht-moralische Annahmen zurückführen können, umzuinterpretieren und davon auszugehen, dass sie die sprachlichen Ausdrücke, mit denen sie ihre moralischen Einstellungen zum Ausdruck bringen, anders verwenden als wir. Dies ist aber in der Regel nicht der Fall. Wenn ich merke, dass jemand, im Unterschied zu mir, Notwehrsituationen nicht als Ausnahmen zum Tötungsverbot ansieht, und ich auch nicht glaube, dass er und ich uns in nicht-moralischen Überzeugungen unterscheiden, auf die unser Dissens zurückgeführt werden könnte, dann versuche ich deshalb nicht, meinen Gesprächspartner umzuinterpretieren und ihn so zu verstehen, dass er über etwas anderes als ich spricht. 2.4.4

Intuitionen und das Ziel ethischer Reflexion

Wenn Intuitionen weder unrevidierbar noch unfehlbar sind und auch kein Grund besteht, manchen Intuitionen aufgrund der Propositionen, auf die sie sich richten, eine besondere Dignität zuzusprechen - nach Maßgabe welcher Überlegungen können Anpassungen von Intuitionen dann im Fall konfligierender Intuitionen und drohender Widersprüche vorgenommen werden? Was lässt sich im Rahmen der intuitionistischen Herangehensweise über das Ziel ethischer Reflexion sagen, dem solche Anpassungen und Modifikationen verpflichtet sein sollten? Es ist schwer, diese Frage auf eine gleichermaßen substantielle, informative und hilfreiche Weise zu beantworten. Zu sagen, dass das Ziel ethischer Reflexion in der Erkenntnis moralischer Wahrheit oder in der Repräsentation moralischer Tatsachen besteht und dass wir unsere Einstellungen so anpassen sollen, dass sie diesem Ziel zuträglich sind, ist als allgemeine Charakterisierung genau so wenig hilfreich, wie zu sagen, dass das Ziel darin besteht, herauszufinden, was moralisch richtig und was moralisch falsch ist. Das Problem ist hier nicht, dass diese Beschreibungen falsch sind (auch wenn sie natürlich kontroverse Annahmen voraussetzen), sondern vielmehr die Tatsache, dass wir darauf, ob unsere moralischen Urteile und Einstellungen die genannten Bedingungen erfüllen, keinerlei Zugriff haben, der unabhängig von unserer Einschätzung dessen ist, welche unserer Urteile insgesamt besonders gut gerechtfertigt oder begründet sind. Welche unserer moralischen Urteile wahr sind oder korrekterweise wiedergeben, was richtig und falsch ist, ist uns nicht unmittelbar zugänglich oder transparent. Auch auf dem Weg zur moralischen Wahrheit muss der Umweg über gerechtfertigte Urteile genommen werden. Der Versuch, etwas Informatives über das Ziel ethischer Reflexion zu sagen, dem Anpassungen und Änderungen unserer moralischen Einstellungen verpflichtet sind, muss dies berücksichtigen.

2.4

2.4.5

Eine konstruktive Rolle für Intuitionen

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Das Überlegungsgleichgewichtsverfahren

Der Grundgedanke einer intuitionistischen Herangehensweise kann jedoch im Lichte der bislang genannten Einschränkungen weiterentwickelt werden. Als wichtige Konsequenz des Verzichts auf die Annahme, dass es unrevidierbare Intuitionen oder solche Intuitionen gibt, die sich auf selbstevidente Propositionen richten, erscheint es vernünftig, davon auszugehen, dass Anpassungen bei Konflikten grundsätzlich in alle Richtungen möglich sind. Dies bedeutet, dass keine Intuition aufgrund ihres Gehalts grundsätzlich davor geschützt ist, zugunsten anderer Urteile aufgegeben zu werden. Entscheidend bei Konflikten zwischen moralischen Intuitionen oder zwischen Intuitionen und anderen Urteilen sollte vielmehr sein, welche der Überzeugungen für uns einen höheren Grad an Plausibilität aufweist und auf welche Weise wir dafür sorgen können, dass unsere moralischen Urteile insgesamt besser zueinanderpassen, miteinander harmonieren oder, um einen in diesem Kontext verbreiteten Fachterminus ins Spiel zu bringen: dass sie miteinander kohärent sind. 34 Der Gedanke lautet also, dass ein Zustand, in dem unsere moralischen Urteile gut zueinanderpassen bzw. miteinander kohärent sind, das Ziel ethischer Reflexion ist und dass unser Nachdenken über einzelne, konkrete moralische Fragen stets auch von dem Bemühen getragen werden sollte, einen solchen Zustand zu erreichen. Wenn es uns gelingt, unsere moralischen Einschätzungen so miteinander in Einklang zu bringen, können diese Einschätzungen als angemessen gerechtfertigt gelten. 35 Ein Zustand, in dem unsere Überzeugungen oder Einstellungen auf diese Weise insgesamt gut zueinanderpassen, wird im Anschluss an Rawls bekanntlich als ein Zustand bezeichnet, in dem ein Überlegungsgleichge34

35

Die Vorstellung, dass es darauf ankommt, dass unsere Urteile miteinander harmonieren, kommt an dieser Stelle zugegebenermaßen etwas unvermittelt ins Spiel, es ist aber schwer zu sehen, welche Alternative es geben sollte, wenn wir einen externen Standard zur Evaluierung moralischer Urteile ausschließen und keinerlei moralischen Urteilen den Status als unverrückbare Prüfsteine für alle weiteren Urteile zuweisen wollen. Gerade in seiner Allgemeinheit und inhaltlichen Offenheit dürfte der Vorschlag, moralische Urteile dahin gehend zu entwickeln, dass diese möglichst gut zusammenpassen, dann der überaus naheliegende Kandidat sein. Dies ist nicht so zu verstehen, dass entweder alle oder keine Überzeugung gerechtfertigt sind, je nachdem, ob alle zusammen ein harmonisches Gebilde abgeben oder nicht. Umständlicher, aber genauer, wäre es, zu sagen, dass eine Überzeugung in dem Ausmaß gerechtfertigt ist, in dem sie dazu beiträgt, dass die verschiedenen Elemente des Meinungssystems gut zueinanderpassen. Auch ist es eine starke Vereinfachung, von einem Zustand zu sprechen, in dem unsere Einstellungen miteinander harmonieren, da die einschlägigen Begriffe graduelle Abstufungen zulassen. Überzeugungen können mehr oder weniger miteinander harmonieren und besser oder schlechter zueinanderpassen. Auch Rechtfertigung ist ein graduelles Phänomen. Wenn wir ohne weitere Qualifikation sagen, eine Überzeugung sei gerechtfertigt, dann meinen wir, dass sie in ausreichendem Maße gerechtfertigt ist.

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2 Der epistemologische Partikularismus und moralische Intuitionen

wicht (engl. »reflective equilibrium«) besteht. Die Position, die bislang skizziert wurde, und die neben der intuitionistischen Grundorientierung durch den Gedanken einer grundsätzlichen Revidierbarkeit aller Überzeugungen sowie durch die Auszeichnung eines möglichst harmonischen Ganzen als Ziel ethischer Reflexion charakterisiert wurde, ist daher nichts anderes als derjenige Ansatz, der für gewöhnlich mit dem Ausdruck »Überlegungsgleichgewichtsverfahren« bezeichnet wird. Dieses Verfahren des Überlegungsgleichgewichts ist heute ein von vielen akzeptierter Standard in der Ethik, was dadurch erklärt werden kann, dass es sich vor dem Hintergrund einer Ablehnung moralfreier Begründungen als konstruktiver Ansatz anbietet, sofern man die Annahme unbezweifelbarer oder unrevidierbarer Intuitionen zurückweist. 36 Eben diese Überlegungen zeigen auch, dass es, ein hinreichend weites Verständnis von »Intuition« und »Intuitionismus« vorausgesetzt, verfehlt wäre, das Überlegungsgleichgewichtsverfahren und den konstruktiven Rekurs auf Intuitionen als einander entgegengesetzt zu verstehen. Hebt man v. a. die methodologische Pointe der intuitionistischen Herangehensweise hervor, dann ist dieses Verfahren selbst eine bestimmte Form von intuitionistischer Theorie. 37 Die Überlegungsgleichgewichtskonzeption ist offen für unterschiedliche Vorstellungen davon, was genau dafür sorgt, dass Einstellungen gut zueinanderpassen. Dass als Ziel ethischer Reflexion die Harmonie oder Kohärenz moralischer Einstellungen benannt wird, darf auch in einer wichtigen Hinsicht nicht missverstanden werden. Wir müssen unser Überzeugungssystem kontinuierlich modifizieren und ergänzen, da wir bisherige Einschätzungen im Lichte neuer Informationen revidieren oder Antworten auf neue moralische Fragen finden müssen. Unter einem harmonischen Ganzen sollte man sich daher nicht einen stabilen, ein für alle Mal erreichba36

37

Hinweise darauf, wie weit verbreitet die Grundannahmen dieser Position sind, finden sich in Beauchamp 2003, DePau12006, Hooker 2000a: 9-19 und Tersman 1993: Kap. 1. Auch wenn es keine kanonische Definition des Verfahrens des Überlegungsgleichgewichts gibt, dürften die genannten drei Merkmale von allen, die das Überlegungsgleichgewichtsverfahren in der einen oder anderen Form akzeptieren, zu dessen Bestandteilen gezählt werden. Verschiedene Darstellungen der Grundgedanken des Verfahrens finden sich u. a. in Boyd 1988, Daniels 2011: § 1, Nida-Rümelin 2002, Patzig 1994 und Sayre-McCord 1996, die allesamt auf die wirkungsmächtige Darstellung in Rawls 1971 (vgl. insb.: 46-53) zurückgehen. Dass bei Formulierungen der Grundgedanken des Überlegungsgleichgewichtsverfahrens oftmals nicht von »Intuitionen«, sondern von »wohlüberlegten Urteilen« gesprochen wird (vgl. Fn. 22), markiert einen rein terminologischen Unterschied und keinen in der Sache selbst. Wohlüberlegt sind Urteile genau dann, wenn auch nach ausführlicher Reflexion und Ausschluss verschiedener Fehlerquellen eine stabile Disposition besteht, sie aufrechtzuerhalten. Dies schließt nicht aus, dass es sich dabei um Intuitionen handelt, da nicht vorausgesetzt wird, dass in diesem Sinne wohlüberlegte Urteile inferentiell erworben oder aufrechterhalten werden.

2.4 Eine konstruktive Rolle für Intuitionen

73

ren Zustand vorstellen. Ein kohärentes Überzeugungssystem ist vielmehr etwas, an dem wir kontinuierlich arbeiten müssen und das stets nur näherungsweise erreicht werden kann. Harmonie zwischen unseren moralischen Überzeugungen ist eher analog zu dem Ziel zu verstehen, einen aufgeräumten Schreibtisch zu haben (etwas, an dem man kontinuierlich arbeiten muss), als mit dem Ziel vergleichbar, einen philosophischen Text zu einem bestimmten Thema zu schreiben (etwas, das zu einem bestimmten Zeitpunkt wohl oder übel als abgeschlossen gilt).38 Wie oben erwähnt, wird im Rahmen dieser Untersuchung offen gelassen, ob es auch möglich ist, erfolgreiche moralfreie Begründungen für moralische Urteile zu geben, und lediglich auf den Nachweis abgezielt, dass moralfreie Begründungen nicht das ganze Feld der Möglichkeiten ausschöpfen, zu gerechtfertigten moralischen Urteile zu gelangen. Hieraus folgt, dass Begründungen für moralische Positionen, die auf rein moralfreier Grundlage erfolgen - sollte es sie geben -, als weiterer Input für das Überlegungsgleichgewichtsverfahren anzusehen sind und damit potentiell mit solchen Annahmen konkurrieren, die moralintern gerechtfertigt sind. Moralfreie Argumente für moralische Positionen, die mit nicht-moralfrei gerechtfertigten Annahmen kollidieren, lassen sich damit ebenso als reductio ad absurdum ihrer Prämissen verstehen und können keinen Sonderstatus beanspruchen, sofern zugelassen wird, dass moralische Urteile auch auf andere Weise gerechtfertigt werden können.

2.4.6 Vorteile des Intuitionismus Die bisherigen Ergebnisse zeigen, dass jeder, der bei der Rechtfertigung moralischer Urteile nicht alle Hoffnungen auf moralfreie Begründungen setzen will, sich auf die intuitionistische Sichtweise einlassen sollte. Darüber hinaus gibt es jedoch auch der Sache nach gute Gründe, dies zu tun. Erstens bietet der moderate Intuitionismus eine in sich stimmige Perspektive auf die Rechtfertigung moralischer Urteile, die, wie ich im nächsten Kapitel ausführlicher argumentieren werde, gut gegen Einwände verteidigt werden kann. Angesichts der Tatsache, dass die hier verhandelten epistemologischen Fragen derart grundlegend sind, dass zwingende Argumente für oder gegen die relevanten Optionen kaum zu erwarten sind und es somit

38

Dass das Ziel ethischer Reflexion als kohärentes Meinungs- und Einstellungssystem bestimmt wurde, impliziert nicht, dass Kohärenz der einzige für die Rechtfertigung moralischer Urteile relevante Faktor ist und man sich mit dieser Beschreibung also auf eine kohärentistische Theorie der Rechtfertigung moralischer Urteile festgelegt hat. Wie später dargelegt wird (vgl. hierzu 3.2), kann die bisherige Charakterisierung des Verfahrens auch mit einer moderat fundamentalistischen Sichtweise kombiniert werden.

74

2 Der epistemologische Partikularismus und moralische Intuitionen

eher darauf ankommt, eine insgesamt plausible Sichtweise zu entwerfen, sehe ich hierin bereits einen Vorteil- wenn auch keinen allein ausschlaggebenden. Zweitens lässt sich die intuitionistische Herangehensweise im Fall der Moral auch als Ausdruck der folgenden allgemeinen Maxime verstehen: Wenn einem etwas intuitiv plausibel erscheint und man keinen Grund hat, es für falsch zu halten oder Plausibilitätsurteilen zu misstrauen, dann ist es vernünftiger, an dieser Meinung festzuhalten, als sie aufzugeben. 39 Sofern es nicht gute Gründe gibt, moralische Urteile in dieser Hinsicht anders zu behandeln als psychologisch basale nicht-moralische Überzeugungen, deren Inhalt uns plausibel erscheint, wirkt eine moderat intuitionistische Herangehensweise auch im Fall moralischer Urteile wie ein vernünftiger Ausgangspunkt. 40 Drittens erscheint es mir als weiterer Vorteil des Intuitionismus, dass diese Position skeptische Konklusionen vermeidet. 41 Hiermit setze ich nicht voraus, dass die Vermeidung des Skeptizismus beim Nachdenken über Moral ein eigenständiges Desiderat ist - eine Annahme, die sich den Vorwurf Gefallen lassen müsste, den Wunsch zum Vater des Gedankens zu machen. Der Verweis auf skeptische Konsequenzen kann jedoch auch dann argumentativ etwas austragen, wenn wir die folgende, deutlich schwächere Annahme machen: Wenn eine skeptische Sichtweise nicht aus unabhängigen Gründen zu bevorzugen ist, dann spricht es für eine Konzeption der Rechtfertigung moralischer Urteile, dass ihr zufolge gerechtfertigte moralische Urteile möglich sind. 42 Mit unabhängigen Gründen für eine skeptische Sichtweise sind hierbei solche Gründe gemeint, die vorliegen, wenn die moralische Praxis 39

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42

Dies entspricht in etwa dem von Harman propagierten allgemeinen methodologischem Konservatismus, dem zufolge es sinnvoll ist, an Überzeugungen, die man hat, festzuhalten, sofern keine Gründe gegen das Haben dieser Überzeugungen sprechen (vg!. Harman 1986, Kap. 4 & 5 sowie Harman 1995/1999). Ähnlich DePau12006: 617f. Huemer spricht in diesem Zusammenhang von phänomenalem Konservatismus (eng!. »phenomenal conservatism«), da er davon ausgeht, dass Intuitionen eigenständige mentale Zustände des Erscheinens (eng!. '.seemings«) beinhalten. Eine Intuition zu haben, dass p der Fall ist, wird hierbei als Zustand aufgefasst, in dem es einem so scheint, als ob p der Fall sei, und dies ist nach Huemer als eigenständiger mentaler Zustand zu konzipieren (vgl. Huemer 2005: 102 und Huemer 2006: 148). Eine kritische Diskussion von Huemers phänomenalem Konservatismus und Intuitionismus bietet Burkard 2012: 3.4. Sollten sich moralfreie Begründungen tatsächlich als unmöglich erweisen, wäre der Intuitionismus zudem die einzig nicht-skeptische Option. Ich halte dies für einen Ansatz, der durch die Maxime, gestützt wird, bei der Interpretation einer sozialen Praxis derart zu verfahren, dass wir diese, sofern möglich, auf eine Weise verstehen, die mit dem Selbstverständnis ihrer Teilnehmer im Einklang steht und es zugleich erlaubt, Manöver innerhalb dieser Praxis als sinnvoll auszuweisen. Dies lässt sich als eine allgemeine Fassung des sog. Prinzips des Wohlwollens verstehen. Zu Begriff und Rolle dieser Maxime bei der Interpretation sprachlicher Äußerungen vgl. allgemt!in Gauker 1986. - Ein Einwand gegen

2.5 Ein Blick zurück und ein Blick nach vorn

75

aufgrund von Faktoren tiefgreifend defizitär ist, die nichts mit der Frage zu tun haben, wie wir über moralische Fragen nachdenken sollten.43 Sollten derartige Gründe aufzeigen, dass die moralische Praxis einen grundlegenden Fehler involviert und folglich abgeschafft gehört, dann wäre es paradox, davon auszugehen, dass wir dennoch eine plausible Konzeption der Rechtfertigung moralischer Urteile entwickeln können, gemäß der gerechtfertigte moralische Urteile möglich sind. Es ließe sich dann eher das Desiderat benennen, dass gerade erklärt werden muss, warum eine Rechtfertigung moralischer Urteile unmöglich ist. Ich gehe für die weitere Diskussion davon aus, dass dies nicht der Fall ist. Die Argumentation in diesem und dem folgenden Kapitel unterliegt daher der folgenden Einschränkung: Wenn die moralische Praxis nicht aus Gründen fundamental defizitär ist, die nichts mit der Möglichkeit zu tun haben, eine überzeugende Konzeption der Rechtfertigung moralischer Urteile zu entwickeln, dann haben wir alles in allem gute Gründe, uns der hier verteidigten intuitionistischen Position anzuschließen. 44

2.5 Ein Blick zurück und ein Blick nach vorn Ziel dieses Kapitels war es, die Dichotomie von epistemologischem Partikularismus und Subsumptionskonzeption sowie die wesentlichen Ressourcen vorzustellen, die uns zur Verfügung stehen, um uns mit guten Gründen für eine der beiden Positionen zu entscheiden. Mit einer moderaten Form des Intuitionismus und dem Überlegungsgleichgewichtsverfahren wurde derjenige Rahmen vorgestellt, innerhalb dessen die Diskussion der Frage, ob Prinzipien für die Rechtfertigung moralischer Urteile notwendig sind, im Weiteren erfolgen wird. Während in diesem Kapitel angedeutet wurde, welche

43

44

den Intuitionismus, der darauf abzielt, dass moralische Urteile in besonderer Weise rechtfertigungsbedürftig sind, wird in 3.1.5 diskutiert. Beispiele hierfür wären etwa fragwürdige metaphysische Voraussetzungen wie die Existenz bestimmter Arten moralischer Eigenschaften (vgl. Mackie 1977: Kap. 1), die Präsupposition einer transzendenten Autorität als Quelle moralischer Gebote (vgl. Anscombe 1958) und fragwürdige Voraussetzungen, welche die möglichen Motive menschlichen Handelns oder das Verhältnis moralischer Überlegungen zu rationaler Deliberation betreffen (vgl. Williams 1985: Kap. 10). Unabhängig vom Wahrheitsgehalt dieser Annahme ist dieses Vorgehen für die Zwecke dieser Arbeit auch aus pragmatischen Gründen sinnvoll. Falls eine unabhängige, fundamentale Moralkritik gerechtfertigt ist, dann sind partikularistische wie prinzipienethische Positionen gleichermaßen hinfällig und die in dieser Arbeit erfolgte Diskussion müßig. Somit gilt: Entweder sind die zentralen, in diesem Buch diskutierten Thesen allesamt falsch, oder aber der Intuitionismus (und mit ihm, wie im Weiteren argumentiert wird, auch der epistemologische Partikularismus) hat insgesamt die besseren Karten.

76

2 Der epistemologische

Partikularismus und moralische Intuitionen

Aspekte eine solche Herangehensweise an die Rechtfertigungsfrage in der Moral attraktiv machen, wird sich das nächste Kapitel in einem ersten Schritt der Verteidigung der intuitionistischen Position gegen zentrale Einwände widmen. Im Anschluss wird dann gezeigt, wie der Intuitionismus dem epistemologischen Partikularismus in die Hände spielt.

3 Intuitionen, Überlegungs gleichgewicht und Prinzipien

Die intuitionistische Herangehensweise wird in diesem Kapitel zunächst gegen Einwände verteidigt, bevor die Diskussion dann wieder auf die Subsumtionskonzeption und den epistemologischen Partikularismus fokussiert wird. Es wird sich hierbei zeigen, dass der epistemologische Partikularismus gegenüber der Subsumptionskonzeption den zentralen Vorteil aufweist, besser in die intuitionistische Sichtweise der Rechtfertigung moralischer Urteile eingebettet werden zu können. Abschließend wird gefragt, weshalb die Subsumptionskonzeption trotz aller Schwierigkeiten attraktiv erscheinen könnte.

3.1 Einwände gegen den Intuitionismus Gegen die Annahme, dass Intuitionen im moralischen Denken eine konstruktive Rolle spielen können, wurde eine Vielzahl von Einwänden formuliert, von denen die wichtigsten nun in der gebotenen Kürze betrachtet werden. Die Betrachtung und Ausräumung der Einwände wird uns zugleich die Gelegenheit geben, die in Kapitel 2 bislang nur grob konturierte Position in mancherlei Hinsicht genauer auszufüllen, da die intuitionistische Herangehensweise flexibel genug ist, um die manchen der Einwänden zugrunde liegenden Anliegen und Vorstellungen konstruktiv aufzunehmen. 3.1.1

Metaphysische und epistemologische Extravaganz

Im Kern besagt der Einwand der metaphysischen und epistemologischen Extravaganz, dass intuitionistische Theorien mit theoretisch fragwürdigen Postulaten in Metaphysik und Epistemologie einhergehen, da sie auf die Annahme nicht-natürlicher moralischer Tatsachen, das Postulat eines eigenständigen moralischen Erkenntnisvermögens oder die Idee moralischer Wahrnehmung festgelegt seien. 1 Mit dieser Sorge brauchen wir uns aber 1

Dieser Vorwurf wurde von verschiedener Seite gegen Positionen erhoben, die in der einen oder anderen Form als intuitionistisch gelten. Exemplarisch für diese Kritik sind Frankena 1963: 8588, Mackie 1977: Kap. 1 und Miller 2003: 33ff.

78

3

Intuitionen, Überlegungs gleichgewicht und Prinzipien

nicht weiter zu beschäftigen. Denn auch wenn viele der klassischen Intuitionisten wie bspw. Moore, Prichard oder Ross nicht-naturalistische moralische Realisten waren und eine solche Haltung oftmals mit einer intuitionistischen Sichtweise jenseits der Behauptung der Legitimität von Intuitionsrekursen einhergeht, können verschiedene Spielarten des metaethischen Antirealismus sich ebenso auf die Vorschläge einlassen, die Intuitionisten anzubieten haben. Auch unter der Voraussetzung, dass moralische Einstellungen letztendlich nonkognitiver Natur sind und bspw. als Emotionen, Wünsche oder Absichten begriffen werden müssen, lässt sich vom Standpunkt des Intuitionismus etwas dazu sagen, wie auf respektable Weise über moralische Fragen nachgedacht werden kann und welche Rolle hierbei solche Einstellungen spielen können, die nicht aufgrund inferentieller Beziehungen zu anderen Einstellungen aufrechterhalten werden. 2

3.1.2 Der Einfluss verzerrender Faktoren In einer oft zitierten Textpassage kritisiert Brandt den Einsatz von Intuitionen in der Ethik mit folgenden Worten grundlegend: Various facts about the genesis of our moral beliefs militate against mere appeal to intuitions in ethics. Our normative beliefs are strongly affected by the particular cultural tradition which nurtured us, and would be different if we had been in a learning situation with different parents, teachers, or peers. [... ] What we should aim to do is step outside our own tradition somehow, see it from the outside, and evaluate it, separating what is only the vestige of a possibly once useful moral tradition from what is justifiable at present. The method of intuitions in principle prohibits our doing this. It is only an internal test of coherence, what may be no more than a reshuffling of moral prejudices. (Brandt 1979: 21 f.? Brandt macht zu Recht darauf aufmerksam, dass die kausale Genese moralischer Intuitionen diese in einem unerfreulichen Licht erscheinen lassen kann, wenn sie aufzeigt, dass unsere Intuitionen dem Einfluss verzerrender Fak2

3

So vertritt bspw. Prinz, dessen anti-realistische Theorie moralische Urteile als emotionale Zustände versteht, einen Intuitionismus im Sinne dieses Kapitels (vgl. Prinz 2006). Blackburns nonkognitivistischer Quasi-Realismus lässt sich ebenfalls problemlos in diesem Sinne deuten (so etwa die Anmerkungen zu moralischen Urteilen und deren Begründung in Blackburn 1998: Kap. 7 & 9). Auch die von Wright konzipierte Form des moralischen Anti-Realismus, der zufolge moralische Urteile unter idealen Bedingungen moralische Eigenschaften nicht reflektieren, sondern vielmehr festlegen (vgl. Wright 1992 und Wright 1995), ist ohne Weiteres mit einer intuitionistischen Methodologie vereinbar. Rawls hat in späteren Publikationen klargestellt, dass mit dem Überlegungsgleichgewichtsverfahren kein Wahrheits- oder Erkenntnisanspruch für moralische Urteile erhoben werden muss (vgl. Rawls 1980: insb. 554f.). Ähnlich äußert sich Hare in Hare 1973.

3.1 Einwände gegen den Intuitionismus

79

toren unterliegen. Dieser Hinweis ist ebenso berechtigt wie Brandts Forderung, die fraglichen Einflüsse zu berücksichtigen, da die wechselseitige Anpassung und Systematisierung moralischer Intuitionen ansonsten nicht viel austrägt, um den Status unser moralischen Urteile zu verbessern. Bildhaft gesprochen: Es hilft wenig, ein Beet mit Blumen zu bepflanzen, die hübsch zusammen aussehen und gut miteinander auskommen, wenn der überwiegende Teil davon mit Wurzelfäule befallen ist. In jüngerer Zeit hat sich insbesondere die empirische Moralforschung der Frage angenommen, welchen problematischen Einflüssen moralische Intuitionen (und moralische Urteile ganz allgemein) unterliegen können, womit die aktuell intensiv geführte Debatte über den Status moralischer Intuitionen neu entfacht wurde. Empirische Untersuchungen haben zu teilweise überraschenden Resultaten geführt, wie etwa dem Nachweis des verbreiteten Einflusses sog. Framing Effekte, bei denen die Reihenfolge beurteilter Szenarien oder unterschiedliche, aber logisch äquivalente Beschreibungen die Beurteilung einer Situation beeinflussen. 4 Ebenfalls konnte ein Einfluss von Reinlichkeits- und Ekelgefühlen auf die Beurteilung hypothetischer Szenarien aufgezeigt werden, welche durch die Umgebung, in der man sich befindet, ausgelöst wurden. 5 Auch ohne ausgefeilte empirische Untersuchungen dürfte es schließlich nicht schwerfallen, weitgehend unkontroverse Beispiele dafür anzuführen, auf welch vielfältige Weise moralische Urteile durch Störfaktoren verzerrt werden können. Es sind z. B. solche Faktoren zu nennen, die allgemein die Konzentrations- und Denkfähigkeit negativ beeinflussen (Schlafmangel, die Auswirkungen von Drogen, Flüssigkeits- und Nahrungsmangel, Stress). Auch Wunschdenken ist hier zu verorten, ebenso wie Fälle, in denen moralische Urteile Ausdruck einer nur oberflächlichen, unvollständigen und vorschnellen Beschäftigung mit dem zu beurteilenden Gegenstand sind oder sich dem Einfluss persönlicher Ressentiments verdanken. Dass Intuitionen verzerrenden Einflüssen unterliegen können, wird gelegentlich als Kritikpunkt angesehen, der grundsätzlich dagegen spricht, Intuitionen irgendeine konstruktive Rolle im moralischen Denken zuzuweisen. Wie gesehen, ist Brandt der Ansicht, allein die vollständige Suspendierung unserer Dispositionen zu moralischen Urteilen bei der Rechtfertigung moralischer Überzeugungen könne sicherstellen, dass unsere moralischen Urteile

Für einen Überblick vgl. Nadelhoffer und Feltz 2008, Singer 2005, Sinnott-Armstrong 2006a, Sinnott-Armstrong 2008 sowie Wiegmann et al. 2010. Die Erhebungen der empirischen Befunde sind dabei keineswegs unumstritten (vgl. etwa Berker 2009 und Huemer 2009 für eine methodische Kritik an den verschiedenen empirischen Studien zur Verzerrung moralischer Urteile und deren Auswertung für die philosophischen Sachfragen). 5 Vgl. Schnall, Benton und Harvey 2008 sowie Schnall et al. 2008.

4

80

3 Intuitionen, Überlegungs gleichgewicht und Prinzipien

keinerlei Verzerrungen unterliegen. 6 Ein solch radikaler Schritt ist aber nicht notwendig, um das aufgezeigte Problem in den Griff zu bekommen, denn wir können in vielen Fällen prinzipiell zwischen den Intuitionen, die problematischen Faktoren unterworfen sind, und solchen, für die das nicht gilt, unterscheiden und nur letztere als Referenzpunkte im moralischen Denken zulassen. Auch die Tatsache, dass Sinneswahrnehmungen allerlei Arten von Verzerrungen unterliegen können, spricht schließlich nicht dafür, sich bei seinen Überzeugungen über die Außenwelt nicht auf Sinneswahrnehmungen zu verlassen, sondern zeigt lediglich, dass Wahrnehmungen nur unter bestimmten Bedingungen verlässlich sind. Untersuchungen dazu, unter welchen Umständen Sinneswahrnehmungen Verzerrungen welcher Art unterliegen, halten daher zugleich einen Hinweis darauf bereit, unter welchen Umständen unser Wahrnehmungsapparat zuverlässig funktioniert. In direkter Analogie hierzu können wir sagen, dass die Tatsache, dass Intuitionen verzerrenden Faktoren unterliegen können, nicht dafür spricht, dass sich keinerlei Intuitionen als Bezugspunkte im moralischen Denken eignen, und auch hier hält das Nachdenken über verzerrende Faktoren zugleich einen Hinweis darauf bereit, unter welchen Umständen Intuitionen als Referenzpunkte infrage kommen. Die Unterscheidung von verzerrten und nicht verzerrten Intuitionen kann bei der Entwicklung einer intuitionistischen Position konstruktiv ausgenutzt werden, denn wir können und müssen die intuitionistische Herangehensweise an die Rechtfertigungsfrage generell durch die Konzeption eines Filters anreichern, mit dessen Hilfe geeignete von ungeeigneten Intuitionen unterschieden werden und in dessen Konstruktion Überlegungen zu verzerrenden Faktoren eingehen. 7 Ein Teil des ethischen Reflexionsprozesses ist es, Intuitionen zu filtern und diejenigen moralischen Beurteilungen aufzugeben, von denen man weiß, dass sie nicht unter geeigneten Bedingungen gefällt wurden. Hinweise auf urteilsverzerrende Einflüsse gleich welcher Art können als Beitrag zu der Frage gesehen werden, welche Bedingungen Intuitionen zu erfüllen haben, um als Referenzpunkte des moralischen Denkens gelten zu können - zumindest solange nicht ausnahmslos alle Intuitionen

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Allgemein intuitionsskeptische Schlussfolgerungen ziehen auch Nadelhoffer und Feltz 2008, Sinnott-Armstrong 2006a und Sinnott-Armstrong 2008. Daniels formuliert den Kerngedanken einer solchen Filterung folgendermaßen: »We collect the person's initial moral judgements, which may be particular or general, and filter them to include only those of which he is relatively confident and which have been made under conditions generally conductive to avoiding errors of judgement.« (Daniels 1996: 82). Für ähnliche Vorschläge vgl. Burkard 2012: 2.3.3, DePau12006, Huemer 2008, Nelson 1999, Rawls 1951 und Tersman 2008.

3.1 Einwände gegen den Intuitionismus

81

hiervon betroffen sind. 8 Dieses Einfallstor für eine radikale Intuitionskritik kann allein aus dem Lehnstuhl nicht apriori geschlossen werden, es deutet aber nach meinem Eindruck wenig darauf hin, dass die von Kritikern angeführten problematischen Effekte tatsächlich Intuitionen in ihrer Gesamtheit erfassen und man sich folglich von den verschiedenen verzerrenden Faktoren nicht freimachen kann. Einige empirische Untersuchungen weisen sogar auf das Gegenteil hin. 9 Grundsätzlich stehen Kritiker wie Befürworter moralischer Intuitionen vor der Herausforderung, anzugeben, wie sich Faktoren als urteilsverzerrend identifizieren lassen. Wenn dies erfordern würde, als Erstes eine Konzeption des moralisch Richtigen und moralischen Falschen zu entwickeln, um dann im Lichte dieser Konzeption zu untersuchen, welche Faktoren Intuitionen davon abhalten, zu angemessenen Ergebnissen zu gelangen, dann könnte das Konzept eines Intuitionsfilters weder für die Ausgestaltung des intuitionistischen Ansatzes noch für deren Kritik etwas Konstruktives leisten. Auch ohne eine konkrete Vorstellung des moralisch Richtigen und Falschen bereits als korrekt vorauszusetzen, lässt sich jedoch etwas zur Identifikation verzerrender Faktoren sagen. Die zuvor betrachteten Beispiele deuten bereits darauf hin, dass eine Einschätzung von Faktoren als verzerrend nicht zwingend von substantiellen inhaltlichen Annahmen abhängen muss, da es sich hierbei um Einflussfaktoren handeln kann, die bereichsunspezifisch problematisch sind, weil sie z. B. allgemein die Konzentrations- und Denkfähigkeit negativ beeinflussen. Zusätzlich führen Hinweise darauf, dass wir in unseren moralischen Urteilen nicht von denjenigen Faktoren beeinflusst werden oder nicht auf diejenigen Eigenschaften reagieren, von denen wir glauben, dass sich unsere Intuitionen auf sie richten, zu einer internen Dissonanz zwischen moralischen Urteilen und epistemischen Überzeugun-

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Diese Konklusion ist unvermeidbar, wenn man, wie Brandt im obigen Zitat, bereits den bloßen Einfluss der einen umgebenden Kultur pauschal als problematisch auffasst. Dies ist jedoch keine sonderlich überzeugende Sichtweise, da es solche und solche Formen kulturellen Einflusses gibt und diese nicht allein moralische Überzeugungen betreffen. Eine Bedingung dafür, dass ich die Grundlagen der Evolutionstheorie lernen konnte, besteht etwa darin, dass ich nicht in einer religiös-fundamentalistischen Gesellschaft aufgewachsen bin. Möglichkeiten, Framing-Effekten entgegenzuwirken, werden z. B. in Druckman 2001 untersucht. Laut Zamzow und Nichols 2009 treten bestimmte Framing-Effekte nicht auf, wenn die Versuchspersonen sich in ihren Beurteilungen recht sicher sind. Schnall et al. berichten, dass Versuchspersonen sich dann nicht durch arbiträre Einflüsse der Umgebung beeinflussen ließen, wenn der Versuch der Beeinflussung zu offensichtlich war, und schlussfolgern daraus, dass eine Bewusstmachung potentieller irrelevanter Faktoren die Wahrscheinlichkeit von deren Einflussnahme verringert (vgl. Schnall et al. 2008: 1106, auch für weitere Studien, die nach Ansicht der Autoren Belege für diese Hypothese liefern).

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3 Intuitionen, Überlegungsgleichgewicht und Prinzipien

gen über diese Urteile und deren Genese, die sich negativ auf den Rechtfertigungsstatus der moralischen Urteile auswirkt. Wenn ich glaube, zwischen verschiedenen Typen von Fällen besonders feingliedrige moralische Differenzierungen zu treffen, sich aber die Hinweise darauf verdichten, dass meine moralischen Beurteilungen davon abhängen, wie sehr mein Eigeninteresse im jeweils betrachteten Fall tangiert ist, dann untergräbt dies den positiven Status meiner Intuitionen. Die von uns als relevant angesehenen Faktoren und die uns tatsächlich beeinflussenden Faktoren sollten nicht auf diese Weise auseinanderfallen. In potenzierter Form tritt dieses Problem auf, wenn diejenigen Faktoren, die uns tatsächlich beeinflussen, von uns nicht nur nicht für relevant, sondern dezidiert für irrelevant gehalten werden oder durch diese Faktoren beeinflusst zu werden sogar von unserem Standpunkt aus als Zeichen einer fragwürdigen Einstellung angesehen wird. Sollte ich herausfinden, dass bspw. die Hautfarbe der Betroffenen einen kausalen Einfluss auf meine moralischen Beurteilungen aufweist, würde dies mein Vertrauen in meine Intuitionen zu Recht massiv erschüttern, denn davon, dass die Hautfarbe von Menschen ein moralisch gänzlich irrelevanter Faktor ist, bin ich fest überzeugt. 10 Die Identifikation problematischer Faktoren hängt schlussendlich auch in zentraler Weise von metaethischen Annahmen zu Wesen und Status moralischer Urteile ab. Welche Faktoren wir als verzerrend für moralische Urteile und Einstellungen ansehen sollten, muss sicherlich auch davon abhängen, was moralische Urteile überhaupt sind. Wer einer sentimentalistischen Theorie moralischer Urteile anhängt, welche die Rolle bestimmter Emotionen und emotionaler Kapazitäten für moralisches Denken in den Mittelpunkt stellt, wird andere Bedingungen als wichtig erachten als jemand, der moralische Urteile rein kognitiv versteht und damit z. B. den Einfluss von Emotionen sämtlicher Art als verzerrend ansieht, oder wiederum als derjenige, der eine substantielle Analogie zu Sinneswahrnehmungen ausnutzen möchte. 11 Wie genau wir vorgehen sollten und können, um zu angemessenen mora10

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Dies ist auch eine Möglichkeit, wie genealogische Überlegungen zur Entstehung von Einstellungen für die Kritik moralischer Intuitionen fruchtbar gemacht werden können. Insofern wir gezwungen sind, die kausalen Ursprünge unserer basalen moralischen Urteile vom Standpunkt dieser Urteile selbst negativ zu bewerten, ist dies ein Faktor, welcher der Rechtfertigung dieser Urteile abträglich ist. Vgl. D'Arms und Jacobson 2006, Döring 2007, Prinz 2006 und Tersman 2008 für Konzeptionen moralischer Urteile, denen zufolge Emotionen konstitutiver Bestandteil moralischer Urteile sind. Tersman 2008 kritisiert entsprechend die Annahme, ein emotionaler Einfluss auf moralische Urteile sei stets als verzerrend zu brandmarken. In McDowe1l1979/1998 und McNaughton 1988 wird zwar versucht, der Auffassung, dass es moralische Wahrnehmung gibt, einen Sinn abzugewinnen, beide Autoren legen sich aber nicht darauf fest, dass moralische Urteile keinerlei emotionale Aspekte aufweisen und rein kognitiv zu verstehen sind.

3.1 Einwände gegen den Intuitionismus

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lischen Einschätzungen zu gelangen, ist somit theorieabhängig, auch wenn nicht im engeren Sinne moralische Theorien des Richtigen und Falschen eine Rolle spielen. Aus diesem Grund kann die intuitionistische Herangehensweise an die Rechtfertigungsfrage hier auch nur grob im Umriss skizziert werden. Für eine grundsätzliche Verteidigung des intuitionistischen Ansatzes ist es aber auch nicht notwendig, eine in jeder Hinsicht spezifische, ausgestaltete Position vorzulegen. Um plausibel zu machen, dass es sich bei der intuitionistischen Herangehensweise um ein grundsätzlich tragfähiges Projekt handelt, das den richtigen Ansatz verfolgt, reicht ein Ausblick darauf, wie wir der Theorie durch weitere Untersuchungen mehr Gehalt geben und damit auf Einwände reagieren können.

3.1.3 Dogmatismus Intuitionistische Positionen rufen bei vielen das Unbehagen hervor, letztendlich einem Dogmatismus das Wort zu reden und über kein kritisches Potential zu verfügen. t2 Unkritisch wäre eine intuitionistische Position sicherlich dann, wenn sie Intuitionen einfach als gegebene Daten hinnehmen würde, die unrevidierbar oder unhinterfragbar sind und stets als endgültige Entscheidungsinstanz oder Autorität in moralischen Fragen zu gelten haben. Auch wenn es Formen des Intuitionismus gibt, die derlei Annahmen beinhalten, trifft das auf die hier vorgestellte Sichtweise gewiss nicht zu. Diese versteht Intuitionen, so wie alle moralischen Überzeugungen, unabhängig vom zwischenzeitlichen Stand ihrer Rechtfertigung als grundsätzlich revidierbar und einer kontinuierlichen Prüfung unterliegend. Zum einen betrifft dies die Tatsache, dass Intuitionen nicht dem Einfluss verzerrender Faktoren unterliegen dürfen. Des Weiteren stellen der Abgleich mit anderen moralischen Urteilen und die Frage, inwieweit sich eine Überzeugung gut in ein kohärentes Ganzes moralischer Urteile integrieren lässt, kritisches Potential bereit. Für die kritische und offene Haltung einer intuitionistischen Position ist auch entscheidend, dass es uns jederzeit möglich ist, neue moralische Urteile als Intuitionen in unser Überzeugungssystem >einzuspeisenumgedrehten< Schemas (W':·) gibt, sofern wir die Bedeutung von »weil« konstant halten: S hat Eigenschaft F, weil S cp-en soll. >Umgedrehte< Weil-Sätze, die Schema (W':·) instantiieren, scheinen nicht nur falsch, sondern auch semantisch auffällig zu sein. »Die Regierung sollte den Ausstieg aus der Atomenergie nicht rückgängig machen, weil das Risiko einer Katastrophe zu hoch ist« ist ein Satz, der, auch wenn man ihn inhaltlich ablehnt, verständlich ist. »Das Risiko einer Katastrophe ist zu hoch, weil die Regierung den Ausstieg aus der Atomenergie nicht rückgängig machen sollte« hingegen ist bizarr. WEIL-GARANTIE UND WEIL-ANFORDERUNG. Ein zentraler Aspekt moralischer Weil-Sätze ist eingangs bereits zur Sprache gebracht worden: Wenn 3

Besonders deutlich wird dies, wenn in Weil-Sätzen z. B. auf voraussichtliche oder wahrscheinliche Konsequenzen von Handlungen rekurriert wird. Dass ich mit einer Handlung voraussichtlich jemandem schaden würde, kann nicht als Relatum einer Kausalrelation dienen, es kann aber ein Faktor dafür sein, dass ich es unterlassen soll, die Handlung auszuführen.

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5 Das moralische Weil- Die Aufgabe

man etwas tun soll, dann lässt sich auch sagen, warum. Zumindest ist dies der Anspruch, den wir mit moralischen Urteilen erheben. Dies bedeutet nicht, dass die Antwort in jedem Fall offensichtlich ist oder dass es keinen Raum für kontroverse Diskussionen gibt, aber es bedeutet, dass die Frage danach, warum man im Einzelfall etwas tun soll, stets angemessen ist und der Anspruch erhoben wird, dass es hierauf auch eine informative Antwort gibt. Nennen wir dies die Weil-Garantie für moralische Urteile. Mit ihr ist die Rolle, die Weil-Sätze im moralischen Denken spielen, aber noch nicht ausreichend erfasst, denn wir können, was zu tun in einem bestimmten Kontext richtig oder falsch wäre, nicht unabhängig davon klären, warum es zu tun richtig oder falsch wäre. Wer im Einzelfall nicht in der Lage ist, anzugeben, warum einer von ihm als richtig oder falsch beurteilten Handlung der zugesprochene moralische Status zukommt, dessen Beurteilung kann nicht als gerechtfertigt angesehen werden. Wer nicht sagen kann, warum eine Handlung auszuführen falsch ist, der weiß auch nicht, dass sie falsch ist. Nennen wir dies die Weil-Anforderung an moralische Einzelurteile. 4 Die Weil-Anforderung formuliert eine notwendige Bedingung für gerechtfertigte Sollensurteile, sie lässt aber für sich genommen noch offen, welche Rolle Weil-Sätze und deren Teilsätze für die Rechtfertigung solcher Urteile spielen. MORALISCHES WEIL, SUPERVENIENZ UND UNIVERSALISIERBARKEIT.

Mit

Weil-Garantie und Weil-Anforderung wird eine bestimmte Form der Abhängigkeit moralischer Eigenschaften (bzw. moralischer Urteile) von anderen Eigenschaften (bzw. Urteilen) beschrieben. Auch über die Universalisierbarkeit moralischer Urteile und die Supervenienzrelation lässt sich in 4

Für eine ähnliche Formulierung dieses Gedankens vg!. Zangwill2006: 270f. (ich übernehme Zangwills treffende Bezeichnung »because constraint«). Die obige Formulierung der WeilAnforderung ist vielleicht etwas zu stark, nämlich dann, wenn sich die These verteidigen lässt, dass es auch in der Moral Wissen (oder Rechtfertigung) vom Hörensagen (eng!. »testimony«) und Rechtfertigung durch Erinnerung geben kann, man also in einer Meinung, dass jemand etwas tun soll, gerechtfertigt sein kann, weil man sich daran erinnert oder diese Meinung von einer Person übernommen hat, auf die man sich in moralischen Fragen verlassen kann. Unterscheiden wir, um dieser Komplikation Herr zu werden, zwischen direkt und indirekt gerechtfertigten Urteilen. Sagen wir, ein Urteil mit dem Inhalt p sei zu Zeitpunkt t für Person S genau dann indirekt gerechtfertigt, wenn die Rechtfertigung davon abhängt, dass eine Person S* (S selbst oder jemand anderes) zu einem von t verschiedenen Zeitpunkt t* darin gerechtfertigt war, zu glauben, dass p, und das Urteil von Saufgrund einer geeigneten Beziehung zu dem Urteil von S" gerechtfertigt ist. Wir können dann sagen, dass jedes direkt gerechtfertigte Urteil der Weil-Anforderung unterliegt (ähnlich Zangwi1l2006: 271). Der Einfachheit halber werde ich auf den Zusatz »direkt« im weiteren Verlauf der Diskussion überwiegend verzichten, die Aussagen zum Zusammenhang von Rechtfertigung und Weil-Aussagen sind jedoch stets entsprechend abgeschwächt zu verstehen.

5.2 Merkmale moralischer Weil-Sätze

141

gewisser Weise sagen, dass sie Präzisierungen der Annahme darstellen, dass moralische Eigenschaften und Urteile abhängig von anderen Eigenschaften und Urteilen sind. Es bestehen jedoch zwischen diesen verschiedenen Formen der Abhängigkeit wichtige strukturelle Unterschiede, aufgrund derer es verfehlt wäre, sie gleichzusetzen oder als verschiedene Aspekte ein und derselben Sache anzusehen. 5 Supervenienz und Universalisierbarkeit sind jeweils Relationen zwischen Familien von Eigenschaften, während in moralischen Weil-Sätzen stets nur eine begrenzte Menge von Eigenschaften aus der Menge der moralisch relevanten Eigenschaften (bzw. aus der Supervenienzbasis moralischer Eigenschaften) herausgegriffen wird. 6 »Ich soll meinem Bruder helfen, weil ich es ihm versprochen habe« impliziert nicht, dass die Eigenschaft, ein Versprechen gegeben zu haben, die Supervenienzbasis moralischer Eigenschaften ist (die Supervenienzbasis umfasst alle nicht-moralischen Eigenschaften) oder dass diese Eigenschaft die Gesamtheit aller moralisch relevanten Eigenschaften ausmacht.7 Aus der Supervenienz und Universalisierbarkeit moralischer Eigenschaften folgt lediglich, dass zwei unterschiedlich beurteilte Fälle sich in mindestens einer weiteren (moralisch relevanten) Hinsicht unterscheiden müssen. Dies lässt für sich genommen noch vollkommen offen, ob immer dann, wenn jemand eine Handlung ausführen soll, ein Weil-Zusammenhang zwischen einer moralischen und einer nicht-moralischen Eigenschaft besteht. Es schließt lediglich aus, dass dieser Zusammenhang in verschiedenen Fällen zwischen unterschiedlichen Eigenschaften bestehen kann, ohne dass es einen weiteren (moralisch relevanten) Unterschied zwischen diesen Fällen gibt. Eben deshalb folgt auch keiner der hier im Zusammenhang 5

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Hierauf hat gerade Dancyan verschiedenen Stellen mit Nachdruck hingewiesen (vgl. insbesondere Dancy 1981, Dancy 1993: 73-79 und Dancy 2004: 85-89, an denen sich der folgende Abschnitt orientiert). Dancy formuliert die fraglichen Punkte stets unter Voraussetzung einer gewissen Konzeption moralischer Weil-Sätze (die sog. Resultanzkonzeption, auf die im Anschluss als Erstes ausführlicher eingegangen wird). Ich formuliere die folgenden Punkte jeweils anhand der ontologischen Fassung der Supervenienz- und Universalisierbarkeitsthese, da dies alles in allem weniger umständlich ist. Wenn man sagt, dass die Eigenschaft, helfen zu sollen, in diesem konkreten Fall über der Eigenschaft superveniert, ein Versprechen gegeben zu haben, dann gebraucht man den Supervenienzbegriff abweichend von seiner gewöhnlichen Verwendung und sagt entweder etwas, das gleichbedeutend ist mit einer Weil-Aussage, oder aber stellt die Behauptung auf, dass jeder, der die Eigenschaft teilt, ein Versprechen gegeben zu haben, ebenfalls helfen soll - was nichts anderes ist als eine sehr umständliche Formulierung eines moralischen Prinzips. Zu sagen, dass jede moralische Eigenschaft im Einzelfall über einer konkreten nicht-moralischen Eigenschaft in diesem speziellen Sinne superveniert, wäre damit lediglich eine Möglichkeit, den Grundgedanken einer bestimmten Form von Prinzipienethik zu formulieren, und nichts, was in der Diskussion partikularistischer Thesen selbst als Ausgangspunkt einer Argumentation dienen könnte.

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5 Das moralische Weil- Die Aufgabe

mit Weil-Sätzen genannten Sachverhalte daraus, dass moralische Eigenschaften über nicht-moralischen Eigenschaften supervenieren oder daraus, dass moralische Urteile universalisierbar sind. 8 BEGRIFFSKONSTITUTIVER CHARAKTER MORALISCHER WEIL-SÄTZE. Die Weil-Garantie ist tief im Gebrauch moralischer Begriffe verankert. Die Annahme, dass jemand etwas tun soll, sich aber grundsätzlich nicht angeben lässt, warum er es tun soll, ergibt keinen Sinn. Angenommen, jemand teilt uns mit, dass es falsch von Klaus war, vor einer Woche zu Emmas Geburtstagsparty zu gehen. Wir fragen, warum, und als Antwort erhalten wir lediglich ein Schulterzucken. Es sei einfach so falsch, mehr lasse sich dazu grundsätzlich nicht sagen. Eine solche Zurückweisung unserer Frage düdte Unverständnis und Verwirrung hervorrufen, und man wäre geneigt, die bisherige Interpretation der Aussage unseres Gesprächspartners noch einmal zu überdenken. Anzuerkennen, dass Handlungen nicht >einfach so< richtig oder falsch sind oder man im Einzelfall nicht >einfach so< etwas tun soll, stellt eine minimale Anforderung an eine akzeptable Verwendung dieser Begriffe dar und ist mit konstitutiv dafür, dass jemand über diese Begriffe verfügt. NICHT ANALYTISCH. Dessen ungeachtet setzen moralische Weil-Sätze der Form »p, weil q« aber nicht voraus, dass zwischen p und q ein begrifflicher Zusammenhang besteht. Grundsätzlich können wir Weil-Formulierungen gebrauchen, um begriffliche Relationen oder analytische Äquivalenz zum Ausdruck zu bringen, etwa indem wir sagen, jemand sei Junggeselle, weil er ein unverheirateter Mann im heiratsfähigen Alter sei, oder jemand sei blind, weil er nicht sehen könne. Moralische Weil-Sätze sind aber nicht von dieser Art. Wenn ich sage, dass ich etwas tun solle, weil ich es versprochen habe, dann setze ich nicht voraus, dass es zwischen beiden Sätzen einen begrifflichen Zusammenhang gibt. MORALISCHER GEHALT VON WEIL-AUSSAGEN. Aussagen der Form »S soll cp-en, weil p« bringen auch jenseits der Behauptung, dass S cp -en soll, eine 8

In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass die bislang genannten Merkmale moralischer Weil-Sätze weder die Universalisierbarkeit moralischer Eigenschaften noch deren Supervenienz über nicht-moralischen Eigenschaften implizieren (das Gegenteil betreffend Supervenienz behauptet Dancy in Dancy 1993: 79 und Dancy 2004: 89; ähnlich Zangwill 2006: 272f.). Weil-Garantie und Weil-Anforderung lassen bspw. die Möglichkeit offen, dass Person S etwas tun soll, weil sie es versprochen hat, und Person S" dieselbe Handlung ausführen soll, weil es ein Akt der Wiedergutmachung wäre, ohne dass zwischen beiden Personen darüber hinaus irgendein moralisch relevanter Unterschied besteht. Ausgeschlossen wird dies dadurch, dass moralische Weil-Aussagen, als Aussagen mit moralischem Gehalt, ebenfalls der U niversalisierbarkeitsforderung unterliegen.

5.2 Merkmale moralischer Weil-Sätze

143

substantielle moralische Ansicht zum Ausdruck, indem sie p als moralisch relevante Tatsache benennen. Wenn ich glaube, dass ich meinem Bruder helfen soll, weil ich es ihm versprochen habe, und mein Gesprächspartner glaubt, dass ich meinem Bruder helfen solle, weil ihm zu helfen von allen mir offenstehenden Optionen die Handlung mit der besten Bilanz von aggregierter Freude und aggregiertem Leid aller Betroffenen ist, dann artikulieren wir hiermit unterschiedliche moralische Ansichten, auch wenn dieser Dissens im betrachteten Fall nicht von Belang sein muss, da Einigkeit darüber besteht, was alles in allem zu tun ist. Bei unterschiedlichen Annahmen darüber, warum etwas getan werden soll, liegt selbst dann ein moralischer Dissens vor, wenn Einigkeit darüber herrscht, dass es getan werden soll. DER SONDERSTATUS VON ERLAUBTHEITSURTEILEN. Eine wichtige Ausnahme, die sowohl Weil-Garantie als auch Weil-Anforderung und den begriffskonstitutiven Charakter von Weil-Sätzen betrifft, bilden Urteile über die Erlaubtheit von Handlungen. Man muss nicht in der Lage sein, anzugeben, warum eine bestimmte Handlung auszuführen erlaubt ist, um in der Ansicht gerechtfertigt zu sein, dass sie erlaubt ist, und es ist auch nicht sichergestellt, dass es auf die Frage, warum sie erlaubt ist, stets eine informative Antwort gibt. 9 Wenn es Klaus erlaubt ist, mit Dieter Skat zu spielen, dann ist es ihm nicht aufgrund einer bestimmten Tatsache erlaubt, dies zu tun. Wir können natürlich sagen, dass mit Dieter Skat zu spielen deshalb erlaubt ist, weil es nicht verboten ist oder weil es keine moralisch problematischen Eigenschaften aufweist. In diesem Fall werden aber Weil-Sätze formuliert, die in zahlreichen Hinsichten von denen abweichen, die bislang thematisiert wurden. Erstens sind z. B. »Klaus darf mit Dieter Skat spielen, weil es nicht der Fall ist, dass er es unterlassen soll« und »Klaus darf mit Dieter Skat spielen, weil dies zu tun keinerlei moralisch problematische Aspekte aufweist« analytisch wahr, zweitens bringt der rechte Teilsatz jeweils keinen moralisch relevanten Gesichtspunkt zum Ausdruck, und drittens lassen sich Weil-Sätze dieser Art problemlos umdrehen. Dies sind Hinweise darauf, dass wir es hier mit dem

9

Die These ist an dieser Stelle aus Gründen der Einfachheit etwas stärker formuliert als sachlich angemessen ist. Wir können zwischen harmlos erlaubten Handlungen und nicht-harmlos erlaubten Handlungen unterscheiden. Harmlos erlaubte Handlungen sind solche, die moralisch vollkommen unbedenklich sind, nicht-harmlos erlaubte hingegen solche, die zwar problematische Aspekte aufweisen, die auszuführen aber im Lichte weiterer Faktoren alles in allem gerechtfertigt und erlaubt ist. Für nicht-harmlos erlaubte Handlungen spielen Weil-Sätze vermutlich dieselbe Rolle wie für gesollte Handlungen, auch wenn die Intuitionen hier weniger eindeutig zu sein scheinen. Für die weitere Diskussion genügt es, harmlos erlaubte Handlungen zu betrachten, so dass Aussagen zu Erlaubtheit ohne weitere Qualifikation von hier an stets so zu verstehen sind.

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5 Das moralische Weil- Die Aufgabe

Weil der semantischen Implikation zu tun haben und nicht mit Weil-Sätzen der Art, auf welche die bisher genannten Merkmale zutreffen. Lassen wir die Reihe der betrachteten Merkmale moralischer Weil-Sätze noch einmal Revue passieren: Moralische Weil-Sätze sind (i) faktiv, (ii) nichtkausal, (iii) stark asymmetrisch und nehmen (iv) Bezug auf moralisch relevante Tatsachen, wodurch sie eine moralische Einschätzung der beurteilten Situation artikulieren. Des Weiteren gilt, dass (v) für moralische Einzelurteile eine Weil-Garantie besteht und diese (vi) der Weil-Anforderung unterliegen, auch wenn (vii) Erlaubtheitsurteile hiervon ausgeschlossen sind. Weil-Sätze haben (viii) zudem begriffskonstitutiven Charakter, obwohl sie (ix) nicht analytisch wahr sind. Im Lichte dieser Merkmale können wir als Anforderung an eine zufriedenstellende Konzeption moralischer Weil-Sätze formulieren, dass diese mit den genannten Merkmalen zumindest vereinbar sein und sie idealerweise verständlich machen sollte. Im Folgenden werde ich zunächst einen Blick auf in der Literatur vertretene Vorschläge für solche Konzeptionen werfen, bevor ich dann im nächsten Kapitel eigenen Versuch vorstelle und verteidige.

5.3 Resultanz und Token-Identität Dancy ist einer der wenigen, die sich explizit zu der Frage äußern, wie das moralische Weil zu verstehen ist. 10 Er geht davon aus, dass Weil-Sätze auf eine Relation zwischen Eigenschaften Bezug nehmen, die er Resultanz (engl. »resultance«) nennt. Was einen einzelnen Weil-Satz wahr macht, ist demnach das Vorliegen eben dieser Relation. Nach Dancy ist diese Resultanzrelation nicht auf den Bereich moralischer Eigenschaften eingeschränkt, sondern besteht immer dann, wenn ein Objekt eine Eigenschaft aufgrund anderer Eigenschaften hat bzw. weil es bestimmte andere Eigenschaften hat, und es sich hierbei weder um eine kausale Relation handelt noch gilt, dass das Vorliegen der einen Eigenschaft aus dem Vorliegen der anderen logisch folgt. 11 Moralische Eigenschaften sind für Dancy durchgängig resultante 10

11

Für die folgende Darstellung einschlägig sind insbesondere Dancy 1993: 73-77 und Dancy 2004: 79f. & 85-93. Die im Folgenden dargestellte Konzeption findet sich bei Dancy nicht in der hier präsentierten Form als Vorschlag zum Verständnis von Weil-Sätzen. Um eine solche aus Dancys Texten herauslesen zu können, ist aber nicht mehr erforderlich als die Zusatzannahme, dass moralische Weil-Sätze wahrheitswertfähig sind - eine Auffassung, die man Dancy angesichts des von ihm vertretenen moralischen Realismus bedenkenlos unterstellen kann. Das Vorbild für Dancys Theorie ist die Konzeption von Ross. Auf Ross geht die Unterscheidung von Parti- und Toti-Resultanz zurück (zum Folgenden vgl. Ross 1930/2002: 28 & 122f.). Parti-resultante Eigenschaften sind nach Ross solche, die aus einer begrenzten Menge nicht-

5.3 Resultanz und Token-Identität

145

Eigenschaften, d. h. solche, die aus anderen Eigenschaften resultieren. Das bedeutet: Wann immer etwas eine moralische Eigenschaft M hat, steht M in der Resultanzrelation zu einer möglicherweise komplexen Eigenschaft F (der sog. Resultanzbasis von M). Dies entspricht, unter der Voraussetzung, dass mit Weil-Sätzen auf die Dancy'sche Resultanzrelation Bezug genommen wird, dem weiter oben »Weil-Garantie« genannten Sachverhalt. Die Eigenschaften, aus denen moralische Eigenschaften resultieren, machen die jeweilige Handlung nach Dancy richtig oder falsch. 12 Auf die Frage, wie die Resultanzrelation zu verstehen ist, lassen sich Dancys Texten zwei unterschiedliche Antworten entnehmen: Die erste lautet, dass es sich bei der Resultanzrelation um eine metaphysisch basale, nichtanalysierbare Relation handelt, von der sich lediglich sagen lässt, dass auf sie durch den Ausdruck »weil« in einer bestimmten Verwendung Bezug genommen wird, und die anhand von Beispielen herausgegriffen und auf diese Weise von anderen Relationen, auf die ebenfalls mit dem Ausdruck »weil« Bezug genommen wird, abgegrenzt werden kann. Die zweite besteht in dem Vorschlag, Resultanz als eine Form von Token-Identität, nämlich als Identität von instantiierten Eigenschaften zu verstehen. 13

12

13

moralischer Eigenschaften resultieren, während toti-resultante Eigenschaften aus allen nichtmoralischen Eigenschaften, die deren Träger hat, resultieren. Ross ist der Ansicht, dass Richtigkeit, Falschheit, Sollen etc. toti-resultante Phänomene sind. Dies steht im Widerspruch dazu, dass wir in Weil-Sätzen nur auf eine begrenzte Auswahl an Eigenschaften oder Tatsachen Bezug nehmen. Wenn wir also mit Dancy davon ausgehen, dass Weil-Sätzen die Resultanzrelation entspricht, sollten wir zugleich annehmen, dass die zugehörigen moralischen Eigenschaften parti-resultant sind. Für eine ausführliche Kritik an Ross' Position, die auch auf die Gründe für Ross' Unterscheidung und Ross' Argumentation für die These, Richtigkeit und Falschheit seien toti-resultante Eigenschaften, ausführlich eingeht, vgl. Dancy 2004: 31 H. & 89-93. Vgl. Dancy 1993: 73 und Dancy 2004: 86. Dancy formuliert seine zentralen Punkte häufig auch, indem er von Relationen des Richtigmachens und Falschmachens spricht. Deren Relata sind nicht instantiierte Eigenschaften, sondern partikulare Tatsachen (das, was richtig oder falsch macht) und Handlungen (das, was richtig oder falsch gemacht wird). Hier liegt lediglich ein Unterschied in der Formulierung, aber keiner in der Sache selbst vor, denn wir können sagen, dass nach Dancy eine Handlung cp durch die Tatsache, dass cp Eigenschaft F aufweist, genau dann richtig gemacht wird, wenn gilt, dass zwischen der instantiierten Eigenschaft F und Richtigkeit die Relation der Resultanz besteht. Vgl. Dancy 1993: 73ff. Diese beiden Vorschläge zum Verständnis des moralischen Weils wirken, zumindest auf den ersten Blick, unvereinbar, da der zweite Vorschlag genau die Art von Analyse bereitzustellen scheint, die Dancy selbst als unmöglich ausschließt. Beide Positionen werden im Weiteren daher unabhängig voneinander diskutiert. Da aus dem Kontext heraus nicht vollständig zu erschließen ist, welches Verständnis von Analyse Dancy voraussetzt, und da Dancy von der Token-Identitätskonzeption zudem lediglich behauptet, dass es naheliegt, sich diese zu eigen zu machen, ist die Zuschreibung beider Positionen zu Dancy so zu verstehen, dass sie sich beide in Dancys Texten angedeutet finden.

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5 Das moralische Weil- Die Aufgabe

Dancys Reflexionen zur Resultanzrelation ermöglichen es ihm, die für die Partikularismusdiskussion zentrale Frage nach dem Verhältnis von moralischem Weil und Prinzipien als Frage nach einem notwendigen Zusammenhang zwischen dem Vorliegen der Resultanzrelation und Prinzipien zu formulieren. Dancy beschränkt sich in seiner Argumentation gegen die Annahme eines solchen Zusammenhangs in der Regel auf den Einsatz verschiedener Beispiele. 14 Der von Dancy für die Diskussion geschaffene theoretische Rahmen verschafft ihm dabei einen nicht zu unterschätzenden dialektischen Vorteil. Wer glaubt, dass aus moralischen Weil-Aussagen Prinzipien folgen, der kann diese These, nimmt er Dancys Beschreibung an, nicht mehr durch Überlegungen dazu, was es mit der Weil-Relation auf sich hat, begründen, sondern sieht sich gezwungen, weitreichende Behauptungen zu einer metaphysisch basalen Relation oder zur Metaphysik von Eigenschaftsidentität aufzustellen. In jedem Fall wird dem Gegner hiermit auf subtile Weise die Beweislast zugeschoben und die Hemmschwelle, die von Dancy präsentierten Beispiele zu akzeptieren, gesenkt. 5.3.1

Resultanz als metaphysisch basale Relation

Eine offene Auseinandersetzung mit Dancys Vorschlägen mag vielen schon aufgrund der kompromisslos ontologischen Stoß richtung dieser Konzeption schwerfallen. Dancys Vorschläge setzen einen metaethischen Realismus voraus, der sich nicht scheut, moralische Eigenschaften und Tatsachen als ontologische Korrelate moralischer Begriffe und moralischer Urteile anzunehmen. Der Bezug auf moralische Eigenschaften, moralische Tatsachen und ontologisch basale Relationen kann in diesem Fall auch nicht deflationär verstanden werden, da gerade versucht wird, durch die Bezugnahme auf diese postulierten ontologischen Korrelate einen Fortschritt in der Erkenntnis der Sache zu erreichen. Das mag demjenigen, der die Annahme von moralischen Eigenschaften und von Relationen zwischen diesen Eigenschaften philosophisch extravagant findet, bereits als schlagender Einwand gelten, jedoch lässt sich Dancys Vorschlag auch unabhängig von meta ethischen Überlegungen zur Realismusproblematik erfolgreich kritisieren. Die Sichtweise, dass moralische Weil-Sätze auf eine metaphysisch basale Relation Bezug nehmen, ist zwar mit allen genannten Merkmalen konsistent, erklärt jedoch nichts und macht dafür manches unverständlich. Konsistenz wird durch ein relativ triviales Manöver gewährleistet, denn die genannten Merkmale moralischer Weil-Sätze können in jedem Fall einfach zu Merkmalen der Resultanzrelation und moralischer Eigenschaften erklärt werden. So

14

Exemplarisch: Dancy 1981: 375-380 und Dancy 2009: § 3.

5.3 Resultanz und Token-Identität

147

lässt sich bspw. sagen, dass die Resultanzrelation stark asymmetrisch ist, dass sie keine Kausalrelation ist, dass sie in dem Sinne eine substantielle Relation in der Welt ist, als Aussagen über ihr Vorliegen nicht begrifflich wahr sind, dass Eigenschaften, die in der Resultanzrelation stehen, moralisch relevant sind, und dass moralische Eigenschaften (mit Ausnahme von Erlaubtheit) resultante Eigenschaften sind. Dies garantiert Konsistenz, macht aber nichts verständlich, sondern fügt der These, dass die Resultanzrelation metaphysisch basal ist, lediglich eine Reihe weiterer basaler Annahmen hinzu. Eine solche Herangehensweise ist grundsätzlich weder unzulässig noch obskur. Nicht alles lässt sich erklären, und oft ist viel erreicht, wenn einem klar vor Augen steht, wo die Grenzen dessen liegen, was sich für einen bestimmten Diskursbereich philosophisch erhellen lässt. Auch ist Dancys Position nicht vollkommen uninformativ. Die Resultanzrelation ist Dancy zufolge zwar unanalysierbar und irreduzibel, aber deshalb nicht unbeschreibbar, und die gerade aufgelisteten Merkmale lassen sich alle als Eigenschaften der Resultanzrelation verstehen, die uns dabei helfen, diese Relation mit anderen Phänomenen in Beziehung zu setzen und ihren Platz in unserem Begriffsnetz zu verorten. 15 Eine solche Sichtweise des moralischen Weils kommt aber nur als philosophische Rückzugsposition in Betracht, die ihre Attraktivität dem Scheitern alternativer Konzeptionen verdankt. Wenn es also einen alternativen Vorschlag gibt, der in der Lage ist, dort etwas Erhellendes zu sagen, wo Dancys Konzeption schweigen muss, und der dies nicht an anderer Stelle durch gravierende Nachteile erkauft, dann ist dieser Vorschlag insgesamt überlegen - und einen solchen Vorschlag werden wir im weiteren Verlauf der Diskussion auch kennenlernen. Hinzu kommt, dass die Strategie, Eigenschaften moralischer Weil-Sätze als Merkmale der Resultanzrelation zu verstehen, in mindestens drei Fällen auch an ihre Grenzen stößt. Sie kann nämlich nicht nur nicht verständlich machen, wieso moralische Einzelurteile der WeilAnforderung unterliegen, warum Weil-Sätze begriffskonstitutiven Charak-

15

In dieser Hinsicht ist der Vergleich mit der Kausalrelation aufschlussreich. Bei der Sichtweise, dass Kausalität ein nicht-reduzierbares Phänomen ist, das sich einer philosophischen Analyse (man denke z. B. an kontrafaktische Analysen oder Regularitätsanalysen) entzieht, und dass die Kausalrelation eine metaphysisch primitive Relation zwischen einzelnen Ereignissen oder Tatsachen ist, handelt es sich um eine respektable philosophische Position, die nicht schon allein aufgrund dessen, was sie verneint, zurückgewiesen werden kann. Und auch für eine solche Sichtweise gilt nicht, dass sich ihr zufolge gar nichts Informatives über die Kausalrelation sagen ließe. Wir könnten z. B. immer noch angeben, dass diese Relation asymmetrisch ist, dass sie für Erklärungen relevant ist, nur zwischen raumzeitlich lokalisierbaren Entitäten besteht und bestimmte Formen kontrafaktischer Erwägungen stützt. Ebenso ließe sich die logische Form von Aussagen über kausale Zusammenhänge darstellen.

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5 Das moralische Weil- Die Aufgabe

ter haben und wieso diese Aussagen mit zusätzlichem moralischem Gehalt sind, sondern es wird noch dazu auf besonders drastische Weise unverständlich, warum dies so sein sollte. Natürlich lässt sich auch der Kerngedanke hinter der Weil-Anforderung in Resultanzterminologie umformulieren. Wir könnten z. B. postulieren, dass es unmöglich ist, zu erkennen, dass etwas eine moralische Eigenschaft hat, ohne zugleich zu erkennen, dass zwischen dieser und einer weiteren Eigenschaft die Resultanzrelation besteht. Wir könnten ebenfalls postulieren, dass den basalen metaphysischen Zusammenhang zwischen moralischen Eigenschaften und anderen Eigenschaften zu akzeptieren eine zentrale Anforderung an ein angemessenes Verständnis der betrachteten moralischen Begriffe ist. Hiermit wird nun aber ein Mysterium an die Stelle des Vertrauten gesetzt. Warum kann ich nur dann in meiner Einschätzung, dass ich dieser Person helfen soll, gerechtfertigt sein, wenn ich in der Lage bin, zu beurteilen, ob die Eigenschaft, helfen zu sollen, in einer metaphysisch basalen Relation zu einer anderen Eigenschaft steht? Dieser Sachverhalt schreit förmlich nach einer Erklärung - nicht zuletzt deshalb, weil auch kein analoges nicht-moralisches Beispiel für ein derartiges Phänomen in Sicht ist, das als Modell dienen könnte. Die Tatsache, dass Dancy sich durch seine Annahmen den Weg zu einer solchen Erklärung von vornherein verbaut hat, hinterlässt daher einen schalen Beigeschmack. Ein ähnliches Problem stellt sich auch angesichts der Tatsache ein, dass nicht klar ist, wieso zu behaupten, dass eine metaphysisch primitive Relation zwischen einer moralischen Eigenschaft und einer weiteren Eigenschaften vorliegt, eine Behauptung mit zusätzlichem moralischen Gehalt sein sollte. Angenommen, ich glaube, dass ich helfen soll und dass die Eigenschaft, helfen zu sollen, in der Resultanzrelation zu der Eigenschaft steht, ein Versprechen gegeben zu haben. Warum sollte jemand, der mit mir darin übereinstimmt, dass ich helfen soll, aber glaubt, dass eine andere Eigenschaft in der Resultanzrelation steht, eine moralische Einschätzung zum Ausdruck bringen, die von meiner zumindest in Teilen abweicht? Der nicht explizierbare Charakter der Resultanzrelation verhindert auch hier, dass eine vernünftige Antwort gegeben werden kann. 5.3.2

Resultanz als Taken-Identität

Dancys zweiter Vorschlag zum Verständnis der Resultanzrelation lautet, Resultanz als eine Form von Token-Identität zwischen Instantiierungen von Eigenschaften zu verstehen. Diesem Ansatz zufolge gilt, dass die Eigenschaft F genau dann aus G resultiert, wenn die Instantiierung von Fund die Instantiierung von G (die beide demselben Objekt zukommen) identisch sind. Da eine Identität von Eigenschaftsinstantiierungen Dancy zufolge nicht erfordert, dass die instantiierten Eigenschaften miteinander identisch

5.3 Resultanz und Token-Identität

149

sind, ist diese Konzeption nach Dancy mit einer partikularistischen Herangehensweise vereinbar. 16 Verstehen wir Resultanz als Identitätsrelation zwischen Eigenschaftsinstantiierungen, so lässt sich erklären, wieso moralische Weil-Sätze faktiv, nicht-kausal und nicht-analytisch wahr sind, die weiteren Merkmale moralischer Weil-Sätze können so jedoch nicht verständlich gemacht werden. Zwar könnte man meinen, dass es ausreichende Ressourcen dafür gibt, die Weil-Anforderung zu erklären, denn wenn Instantiierungen von moralischen Eigenschaften stets mit Instantiierungen von nicht-moralischen Eigenschaften identisch sind, liegt es durchaus nahe, zu vermuten, dass niemand die einen zur Kenntnis nehmen kann, ohne auch die anderen zu bemerken. Dass dies zu einfach gedacht ist, lässt sich jedoch anhand des Lehrbuchbeispiels für Eigenschaftsidentität, nämlich anhand der Identität von Wasser und H 20, leicht verdeutlichen. 17 Dass Wasser mit H 2 0 identisch ist, impliziert nicht, dass nur derjenige wissen kann, dass etwas Wasser ist, der es als Substanz mit der molekularen Struktur H 2 0 identifizieren kann. Wäre dem so, dann wäre es nie möglich gewesen, zu entdecken, dass Wasser H 2 0 ist. Dass zwei Eigenschaften miteinander identisch sind, impliziert keinerlei epistemische Zusammenhänge der Art, wie sie in der Weil-Anforderung zur Sprache kommen. Das Wasser/H 20-Beispiel zeigt darüber hinaus, dass der begriffskonstitutive Charakter moralischer Weil-Sätze allein auf der Grundlage der Token-Identitätstheorie nicht erklärt werden kann. Auch ergibt sich eine ähnliche Schwierigkeit wie im Fall der zuerst betrachteten Resultanzkonzeption: Warum sind Aussagen darüber, mit welchen Instantiierungen anderer Eigenschaften instantiierte moralische Eigenschaften im Einzelfall identisch sind, Aussagen mit moralischem Gehalt, die über die Zu schreibung der moralischen Eigenschaft selbst hinausgehen? Der schlagende Einwand gegen die Token-Identitätstheorie lautet jedoch, dass sie mit der Asymmetrie moralischer Weil-Sätze unvereinbar ist. Die Identitätsrelation ist symmetrisch, und wenn mit moralischen Weil-Sätzen 16

17

Vg!. Dancy 1993: 74. Wenn die Identität der Instantiierungen von Eigenschaften die Identität der instantiierten Eigenschaften impliziert, dann gilt: Wenn irgendwelche Instantiierungen der Eigenschaften Fund G identisch sind, dann sind alle Instantiierungen von Fund G identisch. Zusammen mit Dancys Resultanzkonzeption des moralischen Weils impliziert dies die starke Generalisierbarkeitsthese. In der Ontologie werden Eigenschaftsinstantiierungen auch als »Tropen« (eng!. »tropes«) bezeichnet (vg!. hierzu Bacon 2008 und Robb 1997). Vg!. Little 2000: 299 sowie Ridge 2007: 344f. für eine Kritik der ontologischen Voraussetzungen von Dancys Resultanzkonzeption, die sich spezifisch auf die Präsupposition von Tropen als eigenständige Entitäten richtet. Hierbei handelt es sich zwar um ein Beispiel für Eigenschaftsidentität, die über bloße Tokenidentität hinausgeht, was für den zentralen Punkt aber nicht von Belang ist, da die Identität von Eigenschaften (verstanden als Universalien) die Identität ihrer Instantiierungen impliziert.

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5 Das moralische Weil- Die Aufgabe

die Identität von Eigenschaftsinstantiierungen zum Ausdruck gebracht wird, dann ist nicht zu sehen, warum, wenn ein Satz der Form »S soll cp-en, weil S Eigenschaft F hat« wahr ist, nicht zugleich auch dessen Umkehrung mit der Form »S hat Eigenschaft F, weil S cp-en soll« wahr ist. Eigenschaft F resultiert aus Eigenschaft G nach Dancy genau dann, wenn die Instantiierungen von Fund G identisch sind. Je nachdem, was wir für »F« und »G« als Eigenschaftsausdrücke einsetzen, erhalten wir Wahrheitsbedingungen sowohl für Weil-Sätze wie auch für deren Umkehrungen. Deren Wahrheitsbedingungen sind trivialerweise dieselben. Der Token-Identitätsansatz scheitert somit. 18

5.4 Erklärungen Wo mit »warum« gefragt und mit »weil« geantwortet wird, geht es oftmals um das Fragen nach und das Geben von Erklärungen, und so liegt es sicherlich nahe, den Ansatz zu verfolgen, dass auch moralische Weil-Sätze als Vehikel zur Formulierung von Erklärungen moralischer Sachverhalte dienen. 19

5.4.1

Konsequenzen für die Diskussion des Partikularismus

Spinnt man diesen Gedanken fort, so erhalten Überlegungen dazu, was eine gute, nicht-kausale Erklärung im Fall moralischer Gegebenheiten auszeichnen könnte, Eingang in die Partikularismus diskussion. So lässt sich vielleicht auch erklären, wieso Autoren wie Lance und Little sogar anregen, die Frage danach, was eine gute moralische Erklärung auszeichnet, als die systematisch zentrale Frage der Partikularismusdiskussion anzusehen. 20 Aus der WeilGarantie folgt unter Voraussetzung der Erklärungslesart des moralischen Weils, dass jedem moralischen Einzelurteil eine Erklärung entspricht. Wenn

18

19

20

Eine von den hier erwähnten Punkten unabhängige Kritik von Dancys Vorschlag liefern Lance und Little, die Dancys Vorschlag jedoch als Vorschlag zum Verständnis moralischer Erklärungen auffassen und dahin gehend beanstanden, dass dieser bestimmte allgemeine Anforderungen an Erklärungen nicht erfüllt. 50 schreiben sie über Dancys Position: »This is certainly a view that willleave some uneasy. For many, explanation is neither something to be stipulated as a brute metaphysical fact nor something that could be, as Dancy puts it at one point, >stubbornly particular< [ ... J. It has something to do with generalization, even if not a deductive one.« (Lance und Little 2006b: 586). Da sich in 5.4 zeigen wird, dass moralische WeilSätze nicht als Ausdruck von Erklärungen verstanden werden sollten, kann diese Kritik hier ignoriert werden. Explizit findet sich diese Sichtweise u. a. in Broome 2004, Lance und Little 2006a, Lance und Little 2006b, Litde 2000, Parfit 2011a: 190 & 414f., Raz 2000, 5hafer-Landau 2012: 65-70, Timmons 2002: 3-7 und Zangwill2006. Vgl. Lance und Litde 2006a: 304f. sowie Lance und Litde 2006b: 569.

5.4

Erklärungen

151

solche Erklärungen nun nicht ohne moralische Prinzipien auskommen, dann sind angesichts der zentralen Rolle, die Weil-Sätze im moralischen Denken spielen, die Aussichten für partikularistische Positionen düster, denn in diesem Fall wäre der Nachweis erbracht, dass einen jedes Einzelurteil auf die Annahme eines moralischen Prinzips festlegt. 21 Ein derart enger Zusammenhang zwischen moralischen Erklärungen und Prinzipien ergibt sich, wenn wir ein aus wissenschaftstheoretischen Diskussionen vertrautes, allgemeines Erklärungsmodell, das als DN-Modell (für »deduktiv-nomologisch«) oder Hempel-Oppenheim-Modell bekannt ist, auch für moralische Sachverhalte ins Spiel bringen. Dem DN-Modell zufolge besteht die Erklärung eines Sachverhalts darin, einen Satz, der diesen Sachverhalt beschreibt, aus einer Menge von Gesetzen und nicht-gesetzesartigen Zusatzprämissen (den Antezedenzbedingungen) logisch abzuleiten. 22 Lässt man nun ein moralisches Prinzip an die Stelle des Naturgesetzes treten und sieht als Explanandum partikulare moralische Beurteilungen an, so gelangt man zu folgender Konzeption moralischer Erklärungen: Zu erklären, warum jemand im Einzelfall etwas tun soll, verlangt, ein Moralprinzip anzuführen, aus dem (zusammen mit weiteren Zusatzprämissen) das entsprechende moralische Einzelurteil logisch folgt. Moralische WeilSätze lassen sich dann als Kurzformen solcher DN-Erklärungen verstehen, die im linken Teilsatz das Explanandum und im rechten Teilsatz einen Teil des Explanans (die nicht-moralische Zusatzbedingung) formulieren, das einschlägige Moralprinzip aber nicht explizit mitnennen. Partikularismusfreundlich gesonnene Philosophen, die sich der Erklärungslesart des moralischen Weils anschließen möchten, stehen vor der Herausforderung, eine alternative Konzeption moralischer Erklärungen zu entwerfen und nachzuweisen, dass diese dem DN-Modell überlegen ist. Angenommen wurde diese Herausforderung bislang von Lance und Little, und in gewisser Hinsicht auch von Dancy. Lance und Little argumentieren dafür, dass es ebenso wie in den empirischen Wissenschaften auch in der Moral legitim sei, solche Generalisierungen zu Erklärungszwecken heranzuziehen, die angeben, welche Handlungen man normalerweise ausführen und unterlassen solJ.23 Sie entwickeln hierfür eine Typologie von Normalitätsbedin21

22 23

Klar herausgearbeitet findet sich dieser Gedankengang bei Brown: »There is a very simple argument from three premises to the existence of moral principles. [ ... ] The first premise is that there are some panicular moral truths. [ . .. ] The second premise is that particular moral truths must be explicable. [... ] The third premise is that the explanation of a particular moral truth requires that there be a moral principle. [ ... ] From these three premises, it clearly follows that there are moral principles.« (Brown, unveröffentlichtes Manuskript: § 3). Eine übersichtliche und kritische Diskussion des DN-Modells bietet Iorio 1998: Kap. I. Lance und Little gehen davon aus, dass die partikularistische Prinzipienkritik sich nicht gegen derartige Prinzipien richtet, weshalb sie sich auch selbst als Panikularisten verstehen (vgl.

152

5 Das moralische Weil- Die Aufgabe

gungen und bemühen sich, aufzuzeigen, wie diese bei der Erklärung nichtmoralischer und moralischer Sachverhalte fruchtbar gemacht werden können. Dancy hingegen sympathisiert mit der Sichtweise, dass eine moralische Erklärung anzugeben gerade darin besteht, die Resultanzbasis des zu erklärenden Sachverhalts zu benennen. 24

5.4.2

Vorteile und Nachteile der Erklärungslesart

Die Erklärungslesart steht mit einer Reihe von Eigenschaften moralischer Weil-Sätze im Einklang und kann manche auch verständlich machen. Sowohl die Faktivität als auch der nicht-analytische Charakter scheinen allgemeine Merkmale des erklärenden Weils zu sein. Dass das moralische Weil nicht kausal zu verstehen ist, ist mit der Erklärungslesart vereinbar und wird verständlich gemacht, wenn es gelingt, etwas Informatives dazu sagen, auf welche Weise mit moralischen Weil-Sätzen etwas erklärt wird bzw. um was für eine Art von Erklärung es sich hierbei handelt. Die Erklärungslesart kann ebenfalls verständlich machen, wieso moralische Weil-Sätze moralische Ansichten artikulieren, die über die unmittelbare Beurteilung dessen hinausgehen, was im vorliegenden Fall richtig und falsch ist. Zumindest gilt dies, sofern die einschlägige Art der Erklärung Generalisierungen ins Spiel bringt, denn unter dieser Voraussetzung wird mit jeder Erklärung eines partikularen Sachverhalts zugleich eine Aussage über eine ganze Reihe vergleichbarer Sachverhalte getroffen. Zahlreiche Erklärungen sind auch insofern asymmetrisch, als gilt, dass p nicht zugleich q erklären und durch q erklärt werden kann. 25 Die spezifische starke Asymmetrie moralischer Weil-Sätze ist hiermit aber noch nicht angemessen erfasst, da es oftmals möglich ist, Ereignisse oder Sachverhalte eines Typs A durch Ereignisse oder Sachverhalte eines Typs B und Sachverhalte eines Typs B durch solche des Typs A zu erklären. 26 Die Achillesferse der Erklärungslesart ist jedoch die Weil-Anforde-

24

25

26

Lance und Little 2006b: 588). Ihr Ansatz wird in Kapitel 9 jedoch als prinzipienethische Konzeption diskutiert. Vgl. hierzu Dancy 1993: 106, Lance und Little 2006a: 309-319 sowie Lance und Little 2006b: 588-591. Dancy ist somit nicht der Ansicht, dass moralische Weil-Sätze nur das Vorliegen einer Resultanzrelation konstatieren, »Resultanz« ist nach Dancy für das Verständnis des moralischen Weils jedoch der basale Begriff. Eine Ausnahme dürften Erklärungen sein, die auf funktionale Zusammenhänge rekurrieren, ohne dabei Aussagen über Kausalverhältnisse zu machen. Es lassen sich z. B. sowohl nicht-mentale Ereignisse und Zustände durch mentale erklären (der Herd ist angeschaltet, weil Klaus sich etwas zu Essen machen will) als auch mentale Ereignisse und Zustände durch nicht-mentale (Klaus hat einen roten Sinneseindruck, weil etwas Rotes in seinem Sichtbereich ist). Es steht zu erwarten, dass jede Konzeption moralischer Erklärungen,

5.4

Erklärungen

153

rung. Wenn mit moralischen Weil-Sätzen Erklärungen formuliert werden, dann ist rätselhaft, warum partikulare moralische Urteile in der aufgezeigten Weise der Weil-Anforderung unterliegen sollten. Verbinden wir Weil-Anforderung und Erklärungskonzeption, so ergibt sich folgendes Bild: Es kann nur derjenige in seiner Einschätzung, dass jemand etwas tun soll, gerechtfertigt sein, der in der Lage ist, hierfür eine Erklärung zu formulieren. Dies ist eine recht verwunderliche Annahme, denn allgemein gilt gerade nicht, dass nur derjenige zu Recht der Ansicht sein kann, p sei der Fall, der über eine Erklärung dafür verfügt, warum p der Fall ist. In der Überzeugung, dass p der Fall ist, gerechtfertigt zu sein, und eine Erklärung für p zu haben, sind zweierlei Dinge, die in keinem notwendigen Zusammenhang stehen. 27 Von vielen Dingen weiß ich, dass sie der Fall sind, ohne sie erklären zu können: Ich weiß, dass ich vergesslich bin, dass ich keine Rote Bete mag, dass wir 2009 eine globale Finanzkrise hatten, dass es die erste Lautverschiebung gegeben hat, aus der die germanischen Sprachen hervorgingen, dass die Schweiz Spanien im Vorrundenspiel der WM 2010 besiegt hat und dass das Glas meiner Fensterscheibe lichtdurchlässig ist. Für keinen dieser Sachverhalte könnte ich aber irgendetwas anführen, was einer zufriedenstelIenden Erklärung nahekäme. Hinzu kommt, dass, obwohl wir nach hypothetischen Erklärungen fragen können (»Angenommen, p wäre der Fall. Wie wäre das zu erklären?«), sich die Frage nach einer Erklärung von p in der Regel überhaupt erst dann stellt, wenn wir uns hinreichend sicher sind, dass p der Fall ist. Wenn wir nach einer nicht-hypothetischen Erklärung für p fragen, setzen wir voraus, dass p der Fall ist, und versuchen nicht erst, diese Überzeugung durch eine Erklärung von p zu rechtfertigen. Dies wiederum spricht dagegen, davon auszugehen, dass moralische Weil-Sätze dazu verwendet werden, Erklärungen zu formulieren. Auch wenn es also generell naheliegen mag,

27

der zufolge Erklärungen auf die eine oder andere Weise darin bestehen, den zu erklärenden Sachverhalt unter Prinzipien zu bringen, Probleme mit der starken Asymmetrie des moralischen Weils bekommt. Denn sofern es sich bei diesen Prinzipien nicht nur um allquantifizierte Konditionale, sondern um allquantifizierte Bikonditionale handelt, lassen diese sich sowohl bei moralischen wie auch bei nicht-moralischen Sachverhalten in der von der Theorie favorisierten Weise zu Erklärungen heranziehen. Hiermit soll nicht gesagt werden, dass explanatorische Zusammenhänge unter Rechtfertigungsgesichtspunkten irrelevant sind. Dies widerspräche der Tatsache, dass sich Theorien und Hypothesen durch Schlüsse auf die beste Erklärung rechtfertigen lassen. Ein Schluss auf die beste Erklärung ist jedoch ein Schluss auf das Explanans, nicht ein Schluss auf das Explanandum. Wenn oben gesagt wurde, p erklären zu können und in seiner Überzeugung, dass p der Fall ist, gerechtfertigt zu sein, seien zwei unterschiedliche Dinge, so war damit gemeint, dass die Rechtfertigung der Meinung mit dem Inhalt p nicht davon abhängt, dass es eine Erklärung für p gibt. Gemeint war nicht, dass die Rechtfertigung nicht davon abhängen kann, dass p selbst etwas anderes erklärt.

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5 Das moralische Weil- Die Aufgabe

jedes Weil als ein erklärendes Weil zu verstehen, ist dieser Ansatz im Fall des moralischen Weils mit spürbaren Schwierigkeiten behaftet. 28

5.5 Urteils gründe und Schlussfolgerungen Einer recht verbreiteten Interpretation zufolge dienen Weil-Sätze der Formulierungen von Begründungen für diejenigen moralischen Urteile, die durch den linken Teilsatz ausgedrückt werden. Anzugeben, warum man bspw. im Einzelfall jemandem helfen soll, heißt demnach, einen Grund zu benennen, der dafür spricht, zu glauben, dass man helfen soll. Nennen wir dies die epistemische Lesart des moralischen Weils. 29 Dieser Ansatz ist auf den ersten Blick sicherlich alles andere als abwegig. Wer der Ansicht ist, ich solle meinem Bruder helfen, weil ich es ihm versprochen habe, der kann auf die Frage »Warum sollten wir davon ausgehen, dass Jan seinem Bruder helfen soll?« ebenso mit »Weil er es ihm versprochen hat« antworten wie auf die Frage »Warum soll Jan seinem Bruder helfen?«. Wenn wir davon ausgehen können, dass in beiden Fällen die Antwort denselben Zweck erfüllt, können wir moralische Weil-Sätze auch im Sinne der epistemischen Konzeption verstehen. 5.5.1

Urteilsgründe, Schlüsse und Argumente

Was aus der epistemischen Lesart für die Partikularismus diskussion folgt, hängt nun davon ab, welches Verständnis epistemischer Gründe wir heranziehen und wie wir den Zusammenhang zwischen Urteils gründen und 28

29

Ein weiteres Problem ist Folgendes: Nehmen wir an, dass mit Weil-Aussagen in der Moral Erklärungen formuliert werden, dann ergibt sich eine apriori-Garantie dafür, dass moralische Sachverhalte, die unter Zuhilfenahme von Begriffen wie »sollen«, »richtig« und »falsch« beschrieben werden, erklärt werden können (so auch Raz 2000: 50). Des Weiteren folgt, dass eine Voraussetzung für ein angemessenes Verständnis dieser moralischen Begriffe darin besteht, zu akzeptieren, dass diese Sachverhalte stets einer Erklärung zugänglich sind. Dies sollte ein Anlass für kritische Rückfragen sein, denn eigentlich ist überall dort, wo wir nach Erklärungen fragen können, die Frage danach, ob sich solche Erklärungen geben lassen und wie weit sie reichen, grundsätzlich offen und durch den Versuch zu beantworten, entsprechende Erklärungen erfolgreich zu formulieren. Um die Erklärungslesart des moralischen Weils zu verteidigen, müsste daher plausibel gemacht werden, dass moralische Gegebenheiten hiervon ausgenommen sind, ohne dabei bereits auf die Annahme zurückzugreifen, dass moralische Weil-Aussagen der Erklärung moralischer Sachverhalte dienen. Zudem müsste dies auf eine Weise geschehen, die den Sonderstatus von Erlaubtheitsurteilen berücksichtigt. Es liegt nahe, die epistemische Konzeption dann so zu verstehen, dass mit moralischen WeilSätzen nicht Gründe beliebiger Stärke, sondern die im jeweiligen Kontext stärksten Gründe formuliert werden.

5.5 Urteils gründe und Schlussfolgerungen

155

Argumenten konzipieren. Beginnen wir mit einigen terminologischen Festlegungen: Ich verstehe unter einer Begründung jedes Anführen von Gründen. Mit der Behauptung, dass Gründe für Überzeugungen anzuführen dasselbe ist wie diese Überzeugungen zu begründen, wird daher keine substantielle These formuliert. 30 Wie lässt sich nun das Verhältnis von Gründen zu Schlussfolgerungen und Argumenten verstehen? Klar ist, dass nicht jedes logisch gültige Argument einen guten Grund liefert, die Konklusion des Arguments für wahr zu halten (man denke etwa an Argumente der Form »p, also p«). Kann es aber nur dort einen guten epistemischen Grund für die Überzeugung geben, dass p der Fall ist, wo sich ein gültiges und alles in allem erfolgreiches Argument mit der Konklusion p formulieren lässt, ganz gleich, ob es sich hierbei um ein deduktives Argument, ein induktives Argument, einen Schluss auf die beste Erklärung oder um sonst eine Art von Argument handelt? Wer diese Frage positiv beantwortet, der hat, wie ich es nennen möchte, ein inferentialistisches Verständnis von epistemischen Gründen. 31 In gewisser Hinsicht widerspricht diese Sichtweise unserer alltäglichen Formulierung von Gründen. Dass Wolken am Himmel stehen, kann ein Grund sein, zu glauben, dass es regnen wird, aber »Es sind Wolken am Himmel, also wird es regnen« ist kein gültiges Argument. Dieser Punkt darf aber nicht überbewertet werden. Wer epistemische Gründe ohne Argumente für undenkbar hält, kann sich auf den Standpunkt zurückziehen, dass wir im Alltag Argumente oftmals elliptisch formulieren und die einschlägigen Zusatzprämissen aus dem Kommunikationskontext stets ersichtlich sind. Wenn wir das inferentialistische Verständnis von Urteils gründen mit der epistemischen Lesart des moralischen Weils kombinieren, gelangen wir zu der Sichtweise, dass mit Weil-Sätzen dem Anspruch nach gültige Argumente (unvollständig) formuliert werden und die Akzeptabilität eines Weil-Satzes vom jeweils zugehörigen Argument abhängt. »S soll '{)-en, weil p« wird dann im Sinne von »p ist der Fall, also soll S '{)-en« verstanden. Nennen wir dies die Argumentlesart des moralischen Weils. 32 Aus dieser Variante der epis30

31

32

Die Redeweise vom »Gründe anführen« und von »Begründung« kann erfolgsorientiert so verstanden werden, dass nur gute Gründe oder erfolgreiche Begründungen als solche zählen. Hier wird sie jedoch durchgehend liberaler verstanden, so dass auch eine schlechte Begründung in diesem Sinne als Begründung gilt. Ich benutze »erfolgreich« nur als Platzhalter für diejenige Eigenschaft, die aus bloß gültigen Argumenten gute Argumente macht, d. h. solche Argumente, die für die Frage, ob man ihre Konklusion akzeptieren soll, von Belang sind. Zirkuläre Argumente und Argumente mit offensichtlich falschen Prämissen sind Beispiele für in diesem Sinne nicht erfolgreiche Argumente. Es handelt sich hierbei um eine zwar recht verbreitete Sichtweise, die aber nur selten explizit herausgestellt wird und eher implizit bestimmten Diskussionen zugrunde liegt. Besonders klar sind in dieser Hinsicht die Schriften Hares, der sich die Argumentlesart an zahleichen

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5 Das moralische Weil- Die Aufgabe

temischen Konzeption ergibt sich als unmittelbare Konsequenz, dass Argumente im moralischen Denken eine zentrale Rolle spielen und für gerechtfertigte moralische Urteile unverzichtbar sind. Denn da moralische Urteile der Weil-Anforderung unterliegen, folgt dann, dass nur derjenige in seinem Urteil über die Richtigkeit (Falschheit) einer bestimmten Handlung gerechtfertigt sein kann, der in der Lage ist, ein Argument für eben diese Sichtweise zu formulieren. Es ist nun zu klären, um was für Typen von Argumenten es sich hierbei überhaupt handeln und wie eine vollständige Rekonstruktion der Argumente jeweils lauten könnte. »Jan hat Stephan versprochen, ihm zu helfen, also soll er ihm helfen« benennt bestenfalls eine der potentiell einschlägigen Prämissen für die Konklusion, dass Jan Stephan helfen soll. Wie könnten die anderen Prämissen lauten, und auf welche Weise kann von diesen Prämissen auf die Konklusion geschlossen werden? Wenn mit Weil-Sätzen Argumente formuliert werden, dann handelt es sich sicherlich nicht um Schlüsse auf die beste Erklärung. Bei solchen Schlussfolgerungen wird vom Explanandum auf das Explanans geschlossen. Diese Struktur lässt sich aber nur schwer auf moralische Weil-Sätze übertragen, denn in diesem Fall würde ein Schluss auf das moralische Explanans vorliegen, das als beste Erklärung für ein nicht-moralisches Explanandum dienen müsste. Es lässt sich aber nur schwer ein Kontext vorstellen, in dem sich z. B. die Tatsache, dass Klaus gelogen hat (oder nicht das Gesamtwohl bestmöglich gefördert hat oder auf Grundlage einer nicht-universalisierbaren Maxime gehandelt hat etc.) am besten dadurch erklären ließe, dass er hiermit falsch gehandelt hat. Diejenigen nicht-moralischen Sachverhalte, auf die in den moralischen Weil-Sätzen Bezug genommen wird, lassen sich nicht durch den Bezug auf moralische Gesichtspunkte erklären. Da auch transzendentale Argumente, Analogieargumente und Selbstanwendungsargumente nicht als Argumente infrage kommen, die durch moralische Weil-Sätze zum Ausdruck gebracht werden, verbleiben als Kandidaten hierfür lediglich logisch gültige Argumente und induktive Argumente im engeren Sinn, d. h. solche, die auf sog. enumerative Induktion abzielen. 33

33

Stellen zu eigen macht (vgl. etwa Hare 1952: 145f., Hare 1960/1972: 52f. und Hare 1963: 20f.), aber auch Birnbacher 2003: 1.3.4, Darwa1l1998: 6ff., Frankena 1963: 79f., Rachels 1999: 1518 und Timmons 2002: 2-7 enthalten recht eindeutige Hinweise auf die Argumentlesart des moralischen Weils. McNaughton scheint die epistemische Lesart des moralischen Weils ohne Argumentlesart zu vertreten (vgl. McNaughton 1988: 53f.). Für eine Typologie verschiedener Argumenttypen vgl. Tetens 2004: Kap. 9-16. Unter enumerativer Induktion ist Folgendes zu verstehen: Angenommen wir konnten feststellen, dass alle bisher untersuchten Gegenstände, die F sind, auch G sind. Unter der Annahme, dass sich die Eigenschaft F für Induktionsschlüsse eignet und damit projizierbar ist, können wir vor diesem Hintergrund von der Aussage, dass dieser bislang noch nicht untersuchte Gegenstand Eigen-

5.5 Urteils gründe und Schlussfolgerungen

157

Induktive Argumente dieser Art können aber nicht das letzte Wort sein, wenn wir die Argumentlesart des moralischen Weils zugrunde legen. Wenn wir versuchen, den unvollständig formulierten Schluss »J an hat versprochen, seinem Bruder zu helfen, also soll er ihm helfen« als induktiven Schluss zu rekonstruieren, dann müssen wir als Zusatzprämisse »In allen bisher betrachteten Fällen, in denen jemand versprochen hatte, etwas zu tun, sollte er es auch tun« (oder etwas dieser Art) ansetzen. Wichtig ist nun der Hinweis, dass induktive Argumente dieses Typs für sich all eine nicht ausreichend sein können, um die Weil-Anforderung an gerechtfertigte Einzelurteile zu erfüllen, wenn wir moralische Weil-Sätze gemäß der Argumentlesart verstehen. Die Weil-Anforderung besagt, dass nur derjenige in einem Sollensurteil gerechtfertigt sein kann, der in der Lage ist, einen hierzu passenden WeilSatz zu formulieren. Wenn wir nun einen Weil-Satz im Sinne der Argumentlesart als elliptische Formulierung eines induktiven Arguments verstehen, so gilt, dass mithilfe dieses Arguments allein die Weil-Anforderung nicht erfüllt werden kann, da hierdurch lediglich die Forderung nach weiteren Weil-Sätzen aufgeworfen wird. 34 Der Versuch, die Weil-Anforderung, verstanden als Forderung nach einem Argument, allein durch induktive Argumente zu erfüllen, muss daher scheitern, da man auf diese Weise unweigerlich in einen Regress gerät. Die jeweils nur implizit erwähnte Zusatzprämisse hängt in ihrer Rechtfertigung selbst davon ab, dass zahlreiche moralische Einzelurteile gerechtfertigt sind, und diese unterliegen allesamt wiederum der WeilAnforderung. Wenn die Argumentlesart des moralischen Weils zutrifft, dann können wir durch induktive Argumente die mit der Weil-Anforderung einhergehenden Verpflichtungen nie einlösen, sondern nur dadurch, dass an irgendeiner Stelle ein deduktives Argument formuliert wird. Vor dem Hintergrund der Argumentlesart des moralischen Weils gilt daher angesichts der Weil-Anforderung: Es kann nur derjenige in einem partikularen moralischen Urteil gerechtfertigt sein, der in der Lage ist, an irgendeiner Stelle ein gültiges deduktives Argument anzuführen. Deduktive Argumente erweisen sich dann für die Rechtfertigung moralischer Einzelurteile als unverzichtbar. Angesichts der Sein-Sollen-Schranke führt nun ein direkter Weg zu der Annahme, dass ein moralisches Prinzip erforderlich ist, um den deduktiven Schluss auf die moralische Konklusion jeweils gültig zu machen. Wenn wir

34

schaft F hat, darauf schließen, dass er die Eigenschaft G hat. Welche Bedingungen projizierbare Eigenschaften erfüllen und ob sich diese Bedingungen überhaupt nicht-zirkulär formulieren lassen, wurde im Anschluss an Goodmans »New Riddle of Induction« intensiv diskutiert (vgl. Goodman 1955: Kap. 3, für einen Überblick über verschiedene Vorschläge zur Unterscheidung von projizierbaren und nicht-projizierbaren Eigenschaften vgl. Vickers 2010). Für eine ähnliche Argumentation vgl. Zangwill 2006: 273ff., wobei Zangwill für die weiterreichende These argumentiert, dass Wissen davon, welche nicht-moralischen Eigenschaften Handlungen richtig und falsch machen, nicht empirisch erworben werden kann.

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5 Das moralische Weil- Die Aufgabe

einen moralischen Weil-Satz also als Formulierung von einem dem Anspruch nach gültigen Argument verstehen, werden wir dazu gedrängt, diesen Satz als elliptische Formulierung eines deduktiven Arguments mit einem Prinzip als Prämisse zu verstehen. Eine vollständige, semantisch äquivalente Paraphrase von Sätzen der Form »S soll q:>-en, weil SEigenschaft F hat« wäre dann dementsprechend: »S ist F; jeder, der F ist, soll q:>-en; also soll S q:>-en«. Schritt für Schritt gelangt man also, ausgehend von der Argumentlesart des moralischen Weils, zu der Position, dass niemand in einem moralischen Einzelurteil gerechtfertigt ist, der nicht eine Kette von Begründungen vorweisen kann, die in ein Prinzip mündet. Dies ist eine nur im Wortlaut abgewandelte Formulierung der Subsumptionskonzeption moralischen Urteilens, die sich somit aus der Verbindung der epistemischen Lesart des moralischen Weils mit einem inferentialistischen Verständnis von Gründen ergibt. 35 Gegen das inferentialistische Verständnis von Gründen, das von der epistemischen Lesart des moralischen Weils zur Subsumptionskonzeption führt, ließe sich kritisch anführen, dass etwas ein epistemischer Grund sein kann, der dafür oder dagegen spricht, ein bestimmtes Urteil zu fällen, ohne dass dieser Grund die Form eines Arguments hat oder aber seinen Status als Grund einem korrespondierenden Argument verdankt. Wahrnehmungs zustände werden von Kritikern eines inferentialistischen Verständnisses von Gründen oft als ein Beispiel für etwas angeführt, das in der Relation des Grundseins zu Überzeugungen stehen, aber nicht Prämisse in einem Argument sein kann. Vielleicht ließen sich für moralische Urteile ähnliche nichtinferentielle Gründe ausfindig machen.36 Ich werde diesen Ansatz aber nicht weiterverfolgen, da der Hebel der Kritik bedeutend tiefer angesetzt werden kann, und zwar bei der epistemischen Lesart des moralischen Weils selbst. Moralisches Weil und Urteils gründe haben, dem ersten Eindruck zum Trotz, nichts miteinander zu tun, und die epistemische Interpretation moralischer Weil-Sätze unterliegt im Vergleich mit Alternativen. Daher führt selbst ein allgemein inferentialistisches Verständnis epistemischer Gründe zusammen mit der Weil-Anforderung für moralische Urteile nicht zur Subsumptionskonzeption.

35 36

Dies sind die in 3.2.3 angekündigten weiteren Überlegungen zur Motivation der Subsumptionskonzeption. Döring sieht in dieser Hinsicht eine strukturelle Analogie zwischen dem Verhältnis von Wahrnehmungen und Überzeugungen und dem Verhältnis von Emotionen und moralischen Urteilen (vgl. Döring 2007).

5.5 Urteils gründe und Schlussfolgerungen

5.5.2

159

Vorteile der epistemischen Interpretation

Fragen wir aber auch hier zunächst nach den Vorteilen der epistemischen Interpretation. Diese macht den nicht-kausalen und nicht-analytischen Charakter moralischer Weil-Sätze verständlich (ob etwas ein guter oder schlechter Grund ist, ergibt sich nicht allein aus der Bedeutung der Begriffe, die zu dessen Formulierung herangezogen werden). Bezüglich der Faktivität moralischer Weil-Sätze gestaltet sich die Lage etwas komplizierter. Daraus, dass p ein hinreichend starker Grund dafür ist, zu glauben, dass q der Fall ist d. h. ein Grund, der einen in dieser Meinung rechtfertigt -, folgt nicht, dass q der Fall ist, sondern lediglich, dass p nicht durch stärkere Gegengründe aufgewogen wird. Wenn wir aber davon ausgehen, dass es sich bei den für Weil-Sätze einschlägigen Gründen um deduktiv zwingende Gründe handelt, ist die Faktivität moralischer Weil-Sätze als Implikation der Analyse ausgewiesen. Was die Weil-Garantie, die Weil-Anforderung und den konstitutiven Charakter moralischer Weil-Sätze betrifft, so ist die epistemische Lesart darauf festgelegt, plausibel zu machen, dass alle partikularen Urteile (Erlaubtheitsurteile ausgenommen) zu ihrer Rechtfertigung Gründe erfordern, dass solche Gründe stets gegeben werden können und dass dies zu akzeptieren konstitutiv für ein Verständnis moralischer Begriffe ist. Ob und auf welche Weise diese Verpflichtungen eingelöst werden können, werde ich offenlassen und mich direkt den entscheidenden Einwänden widmen. 5.5.3

Einwand #1: Gegenbeispiele

Ein Problem für die epistemische Konzeption wird dadurch aufgeworfen, dass das Vorliegen einer guten Begründung für ein partikulares Moralurteil nicht hinreichend für einen korrespondierenden Weil-Satz ist. Nicht jeder Urteils grund und nicht jedes erfolgreiche Argument für eine moralische Konklusion untermauern einen Weil-Satz, wie folgende Beispiele verdeutlichen: MORALISCHE AUTORITÄTEN. Angenommen, der Dalai Lama (oder irgendwer sonst) ist, nach allem, was wir wissen, eine moralische Autorität im stärkstmöglichen Sinn: Er ist moralisch unfehlbar. 37 In diesem Fall würde die Tatsache, dass der Dalai Lama von jemandem gesagt hat, dass er etwas Bestimmtes tun soll, uns einen zwingenden Grund geben, zu glauben, dass diese Person die entsprechende Handlung ausführen soll. Hieraus würde 37

Es wird für das Beispiel nicht entscheidend sein, ob jemand diese Eigenschaft tatsächlich haben kann. Es geht allein um die Frage, worauf einen die Annahme, jemand sei moralisch unfehlbar, festlegt.

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5 Das moralische Weil- Die Aufgabe

aber nicht folgen, dass irgendjemand etwas deshalb tun soll, weil der Dalai Lama sagt, dass er es tun soll. LÜGENDETEKTOR. Angenommen es gilt, dass ausnahmslos jede Lüge moralisch falsch ist und dass es einen zu 100 % zuverlässigen Lügendetektor gibt (nennen wir ihn» VLD«), der eine Handlung genau dann als Lüge klassifiziert, wenn es sich um eine Lüge handelt. Aus dem Lügenprinzip und der letztgenannten Annahme folgt: Wenn der VLD zu dem Ergebnis kommt, dass mit einer Aussage gelogen wurde, dann war es falsch, diese Aussage zu machen. Selbst wenn wir dies voraussetzen, wirkt es aber wenig plausibel, dass irgend eine Handlung auszuführen deshalb falsch war, weil sie vom VLD als Lüge klassifiziert wurde. Diese Tatsache hat einen rein evidentiellen Status, sorgt aber nicht dafür, dass eine bestimmte Handlung auszuführen falsch ist. Nicht überall, wo sich ein überzeugendes Argument mit einem moralischen Prinzip als oberster Prämisse anführen lässt, gilt auch ein korrespondierender Weil-Satz. Dieser Punkt lässt sich auch auf Erlaubtheitsurteile übertragen. Da sich epistemische Gründe dafür anführen lassen, bestimmte Handlungen als moralisch erlaubt anzusehen, erhalten wir gemäß der epistemischen Lesart des moralischen Weils auch zahlreiche Weil-Sätze für Erlaubtheitsaussagen. 5.5.4

Einwand #2: Der moralische Gehalt von Weil-Sätzen

Die Probleme, auf welche die bisherigen Überlegungen verweisen, lassen sich nach einer Diagnose zu einem allgemeinen Kritikpunkt ausarbeiten. Das gemeinsame Merkmal der Eigenschaften, auf die im Autoritäten- und Lügendetektorbeispiel Bezug genommen wird, ist, dass sie selbst dann nicht als moralisch relevante Eigenschaften angenommen werden müssen, wenn alle für die Beschreibung der Beispiele entscheidenden Annahmen akzeptiert werden. Dass es stets dafür spricht, eine Handlung als falsch anzusehen, wenn sie vom VLD als Lüge klassifiziert wird, kann von jedem akzeptiert werden, der glaubt, es sei stets falsch zu lügen. Für die Vielzahl denkbarer und hierzu passender Weil-Sätze gilt dies jedoch nicht. Selbst im Lager all derjenigen, die ein ausnahmsloses Lügenverbot akzeptieren, kann es grundsätzlichen Dissens darüber geben, was dafür sorgt, dass man nicht lügen soll. Die epistemische Lesart steht vor dem Problem, dass diejenigen Merkmale, auf die wir bei der Angabe von epistemischen Gründen für moralische Urteile rekurrieren, nicht garantiert auch moralisch relevante Faktoren sind. Aussagen über Urteilsgründe legen einen - im Unterschied zu Aussagen darüber, warum man etwas tun soll - in keiner Weise darauf fest, bestimmte Eigenschaften und Tatsachen als moralisch relevant anzusehen.

5.5 Urteils gründe und Schlussfolgerungen

5.5.5

161

Einwand #3: Asymmetrie

Ein weiteres Problem für die epistemische Interpretation ergibt sich aus der Asymmetrie moralischer Weil-Sätze. Selbst wenn nicht alle Gründe für moralische Urteile von überzeugenden Argumenten mit moralischen Prinzipien abhängen, so gilt sicherlich, dass wer über ein solches Argument verfügt, mit einem guten Grund dafür ausgestattet ist, die Konklusion des Arguments zu akzeptieren. Vor diesem Hintergrund lässt sich nun zeigen, dass die epistemische Interpretation auf die Möglichkeit symmetrischer Weil-Aussagen festgelegt ist. Moralische Prinzipien können nicht nur die Form allquantifizierter Konditionale, sondern auch die Form allquantifizierter Bikonditionale annehmen (»Jemand soll genau dann q>-en, wenn er Eigenschaft F hat«). Insbesondere solche Moralprinzipien, die dem Anspruch nach als oberste Prinzipien dienen, aus denen alle weiteren gültigen moralischen Prinzipien und Urteile abgeleitet werden können, müssen auf diese Weise formuliert werden - man denke etwa an den Kategorischen Imperativ oder das utilitaristische Moralprinzip. Derartige Prinzipien ließen sich daher problemlos in beide Richtungen lesen und für Begründungen sowohl moralischer als auch nicht-moralischer Urteile einsetzen. Aus »Jemand soll genau dann q>-en, wenn er Eigenschaft F hat« lässt sich zusammen mit »S ist F« auf »S soll q>-en« und zusammen mit »S soll q>-en« auf »S ist F« schließen. Gemäß der epistemischen Lesart des moralischen Weils müsste daher jemand, der bspw. dem Utilitarismus anhängt, sowohl sinnvollerweise behaupten können, dass sich eine Person falsch verhält, weil sie nicht den Gesamtnutzen maximiert, als auch, dass eine Person nicht den Gesamtnutzen maximiert, weil sie sich falsch verhält. 5.5.6 Einwand #4: Inflation von Weil-Aussagen Abschließend lässt sich ein grundsätzliches Problem der epistemischen Konzeption benennen, das unabhängig davon besteht, dass dieses Verständnis moralischer Weil-Sätze mit den bisher genannten Merkmalen moralischer Weil-Sätze nicht harmoniert. Es muss nämlich verwundern, dass es nicht ganz allgemein ein spezifisch begründendes Weil derjenigen Art gibt, das die epistemische Konzeption für den Fall moralischer Urteile postuliert. Wenn die epistemische Lesart korrekt ist, dann sollten wir erwarten, dass wir überall dort, wo sich Gründe für oder gegen bestimmte Überzeugungen anführen lassen, auch Weil-Sätze derselben Art wie im Fall moralischer Urteile formulieren können. Dies ist jedoch nicht der Fall. Angenommen, ich sehe Licht im Nachbarhaus brennen und werte dies als Grund dafür, zu glauben, dass meine Nachbarin zu Hause ist. Bedeutet dies, dass ich auf die Annahme festgelegt bin, meine Nachbarin sei deshalb zu Hause, weil das Licht brennt?

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5 Das moralische Weil- Die Aufgabe

Nein, denn selbst wenn wir eine kausale Lesart ausschließen, ist meine Nachbarin in keinem verständlichen Sinn deshalb zu Hause, weil das Licht brennt, insbesondere nicht in dem Sinn, in dem ich z. B. etwas tun soll, weil ich es versprochen habe. Wenn ich etwas tun soll, weil ich es versprochen habe, dann sorgt die eine Tatsache auf nicht-kausale Weise dafür, dass die andere besteht, und dieses Phänomen gilt es, philosophisch einzufangen. Natürlich sind die hierbei gewählten Formulierungen metaphorisch, aber es ist auffällig, dass es sich nicht anbietet, dieselben Metaphern zu verwenden, um zu sagen, dass die Tatsache, dass das Licht brennt, in einem nicht-kausalen Sinn für das Zuhausesein meiner Nachbarin sorgt. Wäre das moralische Weil ein urteilsbegründendes Weil, so müssten wir Weil-Aussagen dieser Art überall dort vorfinden, wo sich Gründe für Überzeugungen benennen lassen. Da dies nicht der Fall ist, drängt sich der Verdacht auf, dass die epistemische Lesart auf das falsche Pferd gesetzt hat. Man könnte einwenden, dass überall dort, wo hinreichende epistemische Gründe vorliegen, etwas zu glauben, sehr wohl korrespondierende WeilSätze formuliert werden können. Wenn die Tatsache, dass das Licht brennt, mir einen hinreichenden Grund gibt, zu glauben, dass meine Nachbarin zu Hause ist, gilt dann nicht auch, dass ich diese Überzeugung deshalb haben soll, weil das Licht brennt? Ich vermute, dass diese Beschreibung korrekt ist, aber sie würde nur den Verdacht bestätigen, dass die epistemische Lesart den falschen Ansatzpunkt gewählt hat. Dass man glauben sollte, etwas tun zu sollen, und dass man etwas tun soll, sind zwei verschiedene Paar normativer Schuhe. Die epistemische Lesart liefert eine plausible Interpretation von Weil-Konstruktionen, die im Zusammenhang mit epistemischen Sollensaussagen vorgebracht werden, denen zufolge man bestimmte Propositionen glauben oder für wahr halten soll. Diese Interpretation lässt sich aber nicht auf moralische Weil-Aussagen übertragen, die ein Handlungssollen zum Gegenstand haben. Sätze der Form »S sollte glauben, dass p, weil q der Fall ist« lassen sich im Sinne der epistemischen Konzeption verstehen, Sätze der Form »S soll cp-en, weil q der Fall ist« jedoch nicht.

5.6 Rückblick und Ausblick Bislang haben wir gesehen, weshalb die Frage, was Gehalt und Funktion moralischer Weil-Sätze sind, von Interesse für die Diskussion des Partikularismus ist, und es wurde für eine Reihe von implizit oder explizit in der Literatur vertretenen Vorschlägen gezeigt, was an diesen problematisch, defizitär oder zumindest nicht ideal ist. Das nächste Kapitel ist nun vollständig dem Ziel gewidmet, einen konstruktiven Vorschlag zur Interpretation moralischer Weil-Sätze zu entwickeln und vor diesem Hintergrund die Frage zu

5.6 Rückblick und Ausblick

163

beantworten, ob moralische Weil-Sätze generalisierbar sind und einen auf die Akzeptanz von Prinzipien festlegen. Auch die Voraussetzungen dieses Vorschlags werden in diesem Zusammenhang ausführlich erläutert und auf unabhängiger Grundlage verteidigt, da das im nächsten Kapitel vorgeschlagene Verständnis moralischer Weil-Sätze eine bestimmte Konzeption moralischer Sollens-, Richtigkeits-, Falschheits- und Erlaubtheitsurteile erfordert, deren Attraktivität auch auf unabhängiger Grundlage herausgestellt werden kann.

6

Moralisches Weil und moralische Gründe

6.1 Ein neuer Ansatz: Moralisches Weil und moralische Handlungsgründe In diesem Kapitel werde ich die Kritik aus dem vorherigen Kapitel durch einen Vorschlag für eine Lesart des moralischen Weils ergänzen, von dem ich glaube, dass er ausnahmslos alle der genannten Merkmale moralischer Weil-Sätze verständlich macht und keinerlei Einwänden ausgesetzt ist. Als Ausgangspunkt hierfür kann die epistemische Konzeption des moralischen Weils dienen, denn diese hat bereits die richtige Struktur: Das moralische Weil kann als ein Weil der Gründe begriffen werden, wenn wir hierunter allgemein normativ relevante Faktoren verstehen, die für oder gegen etwas sprechen. Nicht Gründe für Überzeugungen bzw. Urteile sind es jedoch, die für moralische Weil-Sätze eine Rolle spielen, sondern praktische Gründe, d. h. Gründe, die dafür sprechen, bestimmte Handlungen auszuführen. 1

6.1.1 Sollen und Gründe Eine zufriedenstellende Konzeption moralischer Weil-Sätze können wir formulieren, wenn wir ein bestimmtes Verständnis moralischer Urteile zugrunde legen, dem zufolge der Bereich moralischer Urteile durch eine ZweiEbenen-Struktur gekennzeichnet ist. Neben Richtigkeits-, Falschheits-, Sollens- und Erlaubtheitsurteilen, denen bislang die alleinige Aufmerksamkeit galt, werden hier Urteile über moralische Gründe berücksichtigt. Sie werden verstanden als Urteile darüber, welche Tatsachen oder Aspekte mehr 1

Es wird für gewöhnlich zwischen sog. motivierenden Gründen (oder allgemeiner: explanatorischen Gründen) und normativen Gründen unterschieden (für Überblicke über verschiedene Varianten dieser Unterscheidung vgl. Dancy 2000a: 20-25 und Lenman 2009). Angemessener scheint es, von verschiedenen Kontexten zu sprechen, in denen der Ausdruck »Grund« oder Konstruktionen der Form »S hat einen Grund« bzw. »Es gibt einen Grund für S zu ... « verwendet werden, nämlich einmal zum Zwecke der Erklärung verschiedener Phänomene (inklusive solcher, die Handlungen durch Verweis auf Motive erklären) und andererseits zur Benennung entscheidungs relevanter Faktoren, die für oder gegen etwas sprechen (ähnlich Dancy 2000a: 2f.). Der in diesem Kapitel präsentierte Vorschlag zum Zusammenhang von moralischen Grund- und Sollensaussagen verdankt sich in großen Teilen der Weiterentwicklung von Ross' Konzeption moralischer prima facie-Pflichten durch Dancy, auch wenn Dancy auf dieser Grundlage nicht zu derjenigen Konzeption gelangt, die hier verteidigt wird.

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6 Moralisches Weil und moralische Gründe

oder weniger stark dafür oder dagegen sprechen, in einer konkreten Situation eine bestimmte Handlung auszuführen. 2 Nennen wir die erste Ebene die Ebene abschließender Urteile, mit denen Überlegungen dazu zum Abschluss gebracht werden, was in einer Situation, moralisch betrachtet, zu tun ist, und nennen wir die zweite Ebene die Ebene moralischer Gründe, auf der artikuliert wird, welche Tatsachen und Eigenschaften moralisch relevant und Gründe für bzw. gegen bestimmte Handlungen sind. Darüber hinaus setzt die vorgestellte Konzeption moralischer Weil-Sätze voraus, dass Urteile der abschließenden Ebene als Urteile über die normativen Verhältnisse auf der Ebene moralisch relevanter Faktoren verstanden werden können. Mit moralischen Richtigkeits-, Falschheits- und Erlaubtheitsurteilen wird, so der Kerngedanke, die Bilanz oder relative Stärke der jeweils vorliegenden moralischen Gründe beurteilt und zum Ausdruck gebracht, wie sich die Gründelage nach Ansicht des Urteilenden alles in allem verhält. Genauer lautet der Vorschlag, dass sich die Begriffe der moralisch richtigen, falschen und erlaubten Handlung folgendermaßen explizieren lassen: (R) Dass eine Handlung auszuführen moralisch richtig ist (dass sie, moralisch betrachtet, ausgeführt werden soll), heißt, dass es für den Akteur moralische Gründe gibt, die entscheidend dafür sprechen, die Handlung auszuführen. (F)

2

Dass eine Handlung moralisch falsch ist (dass sie, moralisch betrachtet, unterlassen werden soll), heißt, dass es für den Akteur moralische

Diese metaphorische Charakterisierung dessen, was es heißt, ein Grund zu sein, ist nicht als Analyse zu verstehen, sondern dient lediglich dazu, einen Hinweis auf das intendierte Begriffsverständnis zu geben und die im Weiteren einschlägige Verwendung von »Grund« von anderen üblichen Verwendungsweisen abzugrenzen (hierbei folge ich Dancy 2004: 29, Parfit 2011a: 31 und Scanlon 1998: 17). - Ich verwende im weiteren Verlauf der Arbeit Sätze der Form »S hat einen Grund zu arbeiten< in Dancys Sichtweise gerade holistisch, weshalb die systematisch zentralen Kapitel 5-8 in Dancys Ethics Without Principles auch unter der Überschrift »From Holism to Particularism« stehen. Ähnlich äußerst sich Little, die zum Zusammenhang von Holismus und Partikularismus schreibt: [T]he particularist's doubt does not stern from philosophical obsession with counterexamples or lazy extrapolation from them; it is not brute pessimism floating free of any other philosophical commitment. The particularist doubt is born of reflection about the nature of the moral domain. (Little 2000: 279)

If reason-giving considerations function holistically in the moral realm, we simply shouldn't expect to find rules that mark out in nonmoral terms the sufficiency conditions for applying moral concepts. (Little 2000: 284) Behauptet wird hier, es gebe eine bestimmte Auffassung moralischer Gründe, die eine partikularistische Sichtweise begründen kann. 4 Dies gilt es im Fol3

4

Vielleicht ließe sich argumentieren, dass das, was ich »verschiedene Formulierungen der partikularistischen Kernidee« nenne, nicht im strengen Sinne äquivalente Behauptungen sind. Es sollte aber unstrittig sein, dass jede von ihnen auf dieselbe Weise wie die partikularistische These zu begründen ist und daher nicht selbst die gesuchte Begründung der partikularistischen These liefern kann. Auch zahlreiche Kritiker des Partikularismus haben sich der Sichtweise angeschlossen, dass der Holismus der Gründe das beste Pferd im Stall der Partikularisten ist und daher einer gründ-

7.2 Was ist der Holismus der Gründe?

209

genden zu prüfen. Zunächst wird hierfür geklärt, wie genau die holistische These eigentlich zu verstehen ist, denn unter der Oberfläche einer einfachen Formulierung verbergen sich ungeahnte Untiefen.

7.2 Was ist der Holismus der Gründe? Für die Darstellung und Diskussion des Holismus wird sich folgende Sprachregelung als nützlich erweisen: Als normativer Status einer Tatsache zählt im Weiteren die Eigenschaft, als Grund für oder gegen eine Handlung zu fungieren sowie die Eigenschaft, normativ neutral zu sein, d. h. weder für noch gegen irgendeine Handlung zu sprechen. Die holistische These erhält bei Dancy, der sie in die Diskussion und als Argument für den Partikularismus eingeführt hat, ihre kanonische Formulierung: [A] feature that is a reason in one case may be no reason at aB, or an opposite reason, in another. (Dancy 2004: 73)5 Der normative Status, ein Grund zu sein, der für oder gegen etwas spricht, ist dem Holismus zufolge nicht fest mit einer Tatsache verbunden, sondern kann ihr, je nach Situation oder Kontext, zukommen oder auch nicht. Selbst wenn die Tatsache, dass man etwas zu tun versprochen hat, manchmal dafür spricht, es zu tun, ist es dem Holismus zufolge möglich, dass dieselbe Tatsache unter anderen Umständen ein Grund ist, die versprochene Handlung nicht auszuführen, oder auch gar kein Grund für irgendetwas ist. Von Gründen, die für etwas, und Gründen, die gegen etwas sprechen, können wir sagen, dass sie sich in ihrer Polarität unterscheiden. 6 Die holistische These lässt sich nun auch folgendermaßen formulieren:

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lichen Kritik bedarf. Dies geht so weit, dass die These, Gründe seien holistisch zu verstehen, gelegentlich selbst bereits als Partikularismus bezeichnet wird (vgl. Cullity 2002: 169f. und Kirchin 2007a: 8). Genau genommen sieht Little in Little 2000 den Holismus der Gründe nur mit bestimmten Formen von Prinzipienethiken als unvereinbar an, nämlich mit solchen, die von der Existenz von Brückenprinzipien im Sinne von 2.2.3 ausgehen. Da diese Einschränkung für die Beurteilung des argumentativen Potentials der holistischen These keine Rolle spielt, werde ich im Weiteren hiervon abstrahieren. Ähnlich Dancy 1993: 60ff., Dancy 2009: § 3 und McNaughton 1988: Kap. 13. Der Holismus ist zu verstehen als These, die den gesamten Bereich praktischer Gründe betrifft. Da für das Anliegen dieser Arbeit jedoch nur moralische Gründe von Interesse sind, sind Äußerungen zu Gründen und deren holistischem bzw. atomistischem Charakter im weiteren Verlauf dieses Kapitels, sofern nicht explizit anders vermerkt, weiterhin stets so zu verstehen, dass sie spezifisch moralische Gründe betreffen. In der Wahl der Terminologie folge ich hier überwiegend Dancy 2004: 7.

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7 Der Holismus der Gründe

(Hl) Jede Tatsache, die ein moralischer Grund sein kann, kann auch normativ neutral oder ein Grund mit entgegengesetzter Polarität sein. Die zentrale systematische Alternative zu einem so verstandenen Holismus nennt Dancy »Atomismus«. Dessen zentrale These lautet: (Al) Für keine Tatsache, die als moralischer Grund fungieren kann, gilt, dass sie normativ neutral oder ein Grund mit einer entgegengesetzten Polarität sein kann.7 Wenn wir Gründe, die ihren normativen Status, ein Grund zu sein, verlieren oder ihre Polarität ändern können, variable Gründe nennen und alle anderen Gründe als konstante Gründe bezeichnen, lassen sich Holismus und Atomismus auch auf folgenden Nenner bringen: Dem Holismus zufolge sind alle Gründe variabel, dem Atomismus zufolge gibt es nur konstante Gründe. Spätestens hier fällt nun auf, dass Holismus und Atomismus sich zwar wechselseitig ausschließen, die Unterscheidung Holismus/ Atomismus aber nicht vollständig ist, da beide Positionen in ihrem Gehalt jeweils über die Negation der anderen hinausgehen. Die Option einer Position zwischen Atomismus und Holismus wird von Dancy nicht explizit berücksichtigt. Wenn sich zeigen lässt, dass alle Gründe variabel sind, sobald irgend ein Grund variabel ist, ist diese Nichtberücksichtigung durchaus legitim. Für den Moment werde ich diese Frage noch zurückstellen, an späterer Stelle in diesem Kapitel aber ausführlicher darauf eingehen, ob und inwiefern die Möglichkeit einer Zwischenposition zwischen Holismus und Atomismus von Belang ist. 8 7.2.1

Probleme der bisherigen Formulierung von Holismus und Atomismus

Sowohl (Hl) wie auch (Al) geben Anlass zu mehreren Rückfragen, und es müssen einige Unklarheiten ausgeräumt werden, bevor wir uns sinnvoll an eine Diskussion der holistischen These wagen können. Für die Formulierung des Holismus ist die Möglichkeit von zentraler Bedeutung, dass dieselbe Tatsache in manchen Kontexten ein Grund ist, in anderen jedoch nicht. Dies 7 8

Dancys Formulierung der These lautet im Original: »[A] feature that is a reason in one case must remain a reason, and retain the same polarity, in any other.« (Dancy 2004: 74). Sollte sich die Holismus/Atomismus-Unterscheidung tatsächlich als vollständig und exklusiv erweisen, so wäre dies insbesondere deshalb von Interesse, weil es dann sowohl Holisten als auch Atomisten genügen würde, Gegenbeispiele zur jeweils anderen Position ausfindig zu machen, um die eigene Position im Ausschlussverfahren zu etablieren. Keine Seite wäre gezwungen, die argumentativen Lasten einzulösen, die mit der unabhängigen Begründung von allquantifizierten moralischen Urteilen einhergehen.

7.2 Was ist der Holismus der Gründe?

211

ließe sich so verstehen, dass die im strikten Sinne numerisch identische Tatsache in verschiedenen Kontexten vorkommt und hierbei einmal ein Grund mit einer bestimmten Polarität ist, ein anderes Mal hingegen nicht. So droht die holistische These allerdings aus dem denkbar banalen Grund falsch zu sein, dass eine partikulare Tatsache nicht Teil zweier unterschiedlicher Situationen oder Kontexte sein kann. (In jedem Fall wäre es wünschenswert, die Diskussion des Holismus von derartigen ontologischen Subtilitäten frei zu halten.) Auch würde eine solche Interpretation nicht zu der Art und Weise passen, wie für gewöhnlich für bzw. gegen die holistische These argumentiert wird. 9 Wenn z. B. die Tatsache, dass Jan sich ein Buch von Norbert geliehen hat, Jan einen Grund gibt, Norbert das Buch zurückzugeben, die Tatsache hingegen, dass Klaus sich von Egon ein Buch geborgt hat, Klaus keinen Grund gibt, das Buch an Egon zurückzugeben, so handelt es sich hierbei um gen au die Art von Phänomen, das Gegenstand der holistischen These ist. Hier wird aber nicht nachgewiesen, dass ein und dieselbe Tatsache einmal als Grund fungiert und einmal nicht, da es sich um zwei verschiedene partikulare Tatsachen handelt. Wir sollten daher davon ausgehen, dass es bei der holistischen These darum geht, dass Tatsachen desselben Typs nicht allesamt Gründe mit derselben Polarität sein müssen. Folgen wir diesem Hinweis, können wir die holistische These folgendermaßen umformulieren: (H2) Wenn die Tatsache p ein Grund ist, etwas zu tun, dann kann es Tatsachen desselben Typs geben, die kein Grund oder ein Grund mit entgegengesetzter Polarität sind. 10 So formuliert droht die holistische These nun jedoch zu einer Banalität ohne jede systematische Relevanz zu verkommen. Einzelne Tatsachen lassen sich verschiedenen Typen zuordnen, und es lässt sich stets irgend eine Zuordnung finden, unter der es korrekt ist, zu sagen, dass zwei Tatsachen desselben Typs nicht beide Gründe mit derselben Polarität sind. 11 Es muss daher genauer 9

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Dies trifft für den überwiegenden Teil der im Kontext der Holismusthese diskutierten Beispiele zu (vgl. etwa Audi 2006: 293-298, Crisp 2000: 36-40, Cullity 2002: 173ff., Dancy 1993: 60ff., Lance und Little 2006a: 306ff., McKeever und Ridge 2006: 27-32, McNaughton 1988: 193 sowie McNaughton und Rawling 2000: 266-272). Es sei darauf hingewiesen, dass (H2) ein recht deflationäres Verständnis der Vorstellung ermöglicht, dass Tatsachen in unterschiedlichen Kontexten vorkommen können. Dass dieselbe Tatsache in zwei Kontexten einmal ein Grund ist und einmal nicht, lässt sich im Einklang mit (H2) so verstehen, dass von zwei typidentischen partikularen Tatsachen die eine ein Grund ist, die andere hingegen nicht. Es ist hierfür nicht notwendig, anzugeben, was unterschiedliche Kontexte voneinander unterscheidet und wie die Relation, die durch » ... ist Teil des Kontexts .•. « zum Ausdruck gebracht wird, zu verstehen ist. So wird bspw. sowohl in der Tatsache, dass Jan blonde Haare hat, wie auch in der Tatsache, dass Jan Anne versprochen hat, mit ihr in den Urlaub zu fahren, die komplexe Eigenschaft hat

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7 Der Holismus der Gründe

angegeben werden, welcher Typ für die Bestimmung dessen entscheidend ist, was im Sinne der holistischen These als dieselbe Tatsache zählt. Behoben werden kann dieses Problem auch ohne einen Umweg über komplizierte Fragen der Tatsachenontologie folgendermaßen: Sagen wir, dass zwei Sätze genau dann Tatsachen desselben Typs beschreiben, wenn es ein Satzschema gibt, das von beiden Sätzen instantiiert wird und das folgende Eigenschaften hat: (i) Das Satzschema enthält ausschließlich Platzhalter für singuläre Termini, (ii) das Satzschema enthält keine Platzhalter für Eigenschaftsausdrücke oder Handlungsverben. In diesem Sinne drücken die folgenden Paare von Sätzen in (a) und (b) jeweils Tatsachen vom selben Typ aus, nicht aber die in (c): (a) Jan ist in Not und benötigt Hilfe. / Jutta ist in Not und benötigt Hilfe. (b) Wenn Hans diesen Knopf drückt, dann tötet er hiermit seinen Patienten. / Wenn Klaus diesen Knopf drückt, dann tötet er hiermit seinen Patienten. (c) Jan hat Anne versprochen, mit ihr in den Urlaub zu fahren. / Jan hat Anne angedroht, mit Hannes in den Urlaub zu fahren. Wenn von nun an im weiteren Verlauf der Arbeit von »denselben Tatsachen« oder von »Tatsachen desselben Typs« die Rede ist, so ist dies stets im soeben explizierten Sinne zu verstehen.

7.2.2

Die endgültige Formulierung von Holismus und Atomismus

Um eine weitere ungewollte Trivialisierungsgefahr der holistischen These zu bannen, muss (H2) noch in einer letzten Hinsicht überarbeitet werden. Wenn die Tatsache p ein praktischer Grund ist, dann ist p stets ein Grund, der dafür oder dagegen spricht, eine bestimmte Handlung auszuführen. Formulierungen der Form »p ist ein Grund« sind unvollständig, solange nicht angegeben wird, wofür oder wogegen p ein Grund ist. Es ist daher auch banal, dass wenn p ein Grund ist zu cp-en, sich ein Kontext finden lässt, in dem p kein Grund ist, denn dies gilt für zahlreiche Handlungsweisen, die von cp-en verschieden sind. Wenn ich versprochen habe, mit meiner Freundin in den Urlaub zu fahren, dann gibt mir dies einen Grund, mit meiner Freundin in den Urlaub zu fahren. Es gibt mir aber keinen Grund, meiner Anne versprochen, mit ihr in den Urlaub zu fahren oder hat blonde Haare instantiiert, so dass beide Tatsachen sich nach dem Kriterium »dieselbe Eigenschaft wird instantiiert« als Tatsachen desselben Typs ausweisen lassen. Dieser Punkt lässt sich ohne Weiteres für beliebige Tatsachen und Eigenschaften generalisieren.

7.2 Was ist der Holismus der Gründe?

213

Freundin einen Hund zu kaufen (es sei denn, das Kaufen des Hundes ist auf irgend eine Weise eine Voraussetzung dafür, dass wir in den Urlaub fahren können - solche Dinge geschehen). Die holistische These muss daher so aufgefasst werden, dass es immer um die Frage geht, ob etwas, das in einem Kontext ein Grund für bzw. gegen eine Handlung vom Typ cp-en ist, stets ein Grund ist, der dafür bzw. dagegen spricht zu cp-en. Dies wird mit folgenden Formulierungen von Holismus und Atomismus sichergestellt: (H-Def) (i) Wenn eine Tatsache ein Grund ist, der dafür spricht zu cp-en, dann ist es möglich, dass es eine Tatsache desselben Typs gibt, die nicht dafür spricht zu cp-en oder die dagegen spricht zu cp-en. (ii) Wenn eine Tatsache ein Grund ist, der dagegen spricht zu cp-en, dann ist es möglich, dass es eine Tatsache desselben Typs gibt, die nicht dagegen spricht zu cp-en oder dafür spricht zu cp-en. (A-Def) (i) Wenn eine Tatsache ein Grund ist, der dafür spricht zu cp-en, dann ist es unmöglich, dass es eine Tatsache desselben Typs gibt, die nicht dafür spricht zu cp-en oder die dagegen spricht zu cp-en. (ii) Wenn eine Tatsache ein Grund ist, der dagegen spricht zu cp-en, dann ist es unmöglich, dass es eine Tatsache desselben Typs gibt, die nicht dagegen spricht zu cp-en oder die dafür spricht zu cp-en. Mit (H-Def) und (A-Def) liegen nun jeweils Präzisierungen der holistischen und atomistischen These vor, die im Einklang mit den in der Literatur diskutierten Beispielen stehen und weder trivial erweise wahr noch trivial erweise falsch sind. Bevor wir uns an die Diskussion dieser Thesen wagen können, ist jedoch abschließend noch zu fragen, wie der modale Charakter von Holismus und Atomismus zu verstehen ist.

7.2.3 Der modale Charakter der holistischen These Die holistische These macht von der Formulierung Gebrauch, dass Tatsachen, die Gründe sind, auch keine Gründe sein können. Was ist hiermit gemeint?12 Beginnen wir mit folgender Überlegung: Bei der Beschäftigung 12

Wir können Möglichkeitsaussagen verstehen als Aussagen über die Konsistenz von bestimmten Annahmen mit verschiedenartig spezifizierten Mengen von Sätzen (z. B. die Menge aller Sätze, von denen wir wissen, dass sie wahr sind, die Naturgesetze, metaphysische Prinzipien,

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7 Der Holismus der Gründe

mit moralischen Fragen spielen hypothetische Szenarien eine wichtige Rolle. Dies gilt nicht nur dann, wenn wir versuchen, ethische Theorien oder moralische Prinzipien zu begründen oder zu kritisieren und uns bspw. fragen, ob es notwendigerweise irrational ist, nicht die Mittel zu seinen Zwecken zu wählen, ob es notwendigerweise gut für eine Person ist, wenn ihre Wünsche erfüllt sind, und ob Handlungen, deren Maximen nicht als allgemeines Gesetz gewollt werden können, erlaubt sein können. 13 Auch sonst ist es oft hilfreich, die eigene Entscheidungssituation mit hypothetischen Situationen zu vergleichen, zu denen man einigermaßen klare und sichere Einschätzungen hat. Es bietet sich daher an, den modalen Charakter der holistischen These folgendermaßen zu verstehen: Für jede Tatsache, die als Grund fungiert, lässt sich eine reale oder hypothetische Situation beschreiben, für welche die korrekte (bzw. alles in allem angemessene) moralische Einschätzung die ist, dass die fragliche Tatsache nicht als Grund, oder als Grund mit entgegengesetzter Polarität, fungiert. Diese Interpretation sei im Folgenden als starke Lesart der holistischen These bezeichnet. Um die starke Lesart der holistischen These zu verteidigen, müssen konkrete moralische Überlegungen zu verschiedenen realen oder hypothetischen Szenarien plausibel gemacht werden. In der starken Lesart schließen sich Holismus und Atomismus aus, es ist aber nicht ohne Weiteres ersichtlich, warum nicht manche Gründe konstant, andere hingegen variabel sein können. In Dancys Schriften finden sich auch Hinweise darauf, dass er bei der Formulierung des Holismus eine bedeutend schwächere These vor Augen hat, die mit der Konstanz zumindest mancher Gründe kompatibel ist, sofern bestimmte Bedingungen erfüllt sind: Invariant reasons, should there be any, will be invariant not because they are reasons but because of their specific content. And this is something that the particularist, it seems, should admit. It is like the claims that a man can run a mile in four minutes, that Sam Smith is a man, and that Sam Smith cannot run a mile in four minutes. These claims are compatible, and so are the claims that reasons are variable qua reasons though some reasons are (necessarily, given

t3

Gesetze der Logik, begriffliche Wahrheiten usw.). Eine detaillierte Diskussion von Semantik und Logik modaler Aussagen sowie eine technisch einwandfreie Unterscheidung verschiedener Typen von Modalitäten ist hierfür nicht erforderlich (für Details vgl. Garson 2009 und Priest 2001: Kap. 2). Die Antwort auf keine dieser Fragen kann positiv ausfallen, wenn wir mit »notwendig« jeweils »logisch notwendig« oder »begrifflich notwendig« meinen, so dass ich davon ausgehe, dass hier eine andere Form von Notwendigkeit relevant ist. Mehr als diese rein negative Charakterisierung der einschlägigen Modalität kann im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht gegeben werden.

7.2 Was ist der Holismus der Gründe?

215

their content) invariant. The invariance, where it occurs, derives not from the fact that we are dealing here with a reason, but from the particular content of that reason. (Dancy 2004: 77) Die holistische These soll also damit vereinbar sein, dass manche Gründe stets Gründe mit derselben Polarität sind, solange auch diese variabel qua Grund sind. Was Dancy schreibt, lässt sich am besten als eine Aussage über den Begriff des Grundes verstehen. 14 Dass eine Tatsache p qua Grund sowohl ein Grund als auch kein Grund sein kann, hieße demnach, dass Situationen konsistenterweise und im Einklang mit der Bedeutung von »Grund« so beschrieben werden können, dass p in einem Fall als Grund mit einer bestimmten Polarität fungiert, im anderen Fall hingegen nicht. Dass nur manche, aber nicht alle Tatsachen desselben Typs Gründe mit einer bestimmten Polarität sind, wäre mithin begrifflich möglich. 15 Die holistische These, derart verstanden, ist eine moralisch neutrale Formulierung, die mit der These vereinbar ist, dass manche oder sogar alle Gründe konstant sind, sofern es sich dabei um eine substantielle moralische Position handelt. 16 Im Folgenden soll diese Interpretation der Holismusthese als schwache Lesart bezeichnet werden. Die schwache Interpretation impliziert im Unterschied zur starken Lesart, dass es sich bei der Holismus/ AtomismusUnterscheidung um eine vollständige und exklusive Unterscheidung handelt. Wenn es für irgend eine Tatsache begrifflich möglich ist, dass sie ihren normativen Status, ein Grund zu sein, verliert (oder ihre Polarität wechselt), dann ist es für alle Tatsachen begrifflich möglich. 17 Die starke Variante der holistischen These impliziert die schwache Lesart, das Umgekehrte gilt jedoch nicht. Im weiteren Verlauf der Diskussion werden wir beide Varianten der holistischen These betrachten, um das argumentative Potential der

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Ähnlich Kirchin 2007a: 12. Es ist in diesem Sinne z. B. begrifflich unmöglich, dass jemand etwas weiß, das nicht der Fall ist, aber begrifflich möglich, dass es sprachbegabte Insekten gibt (obwohl Letzteres z. B. naturgesetzlich und vielleicht auch metaphysisch unmöglich ist). Diese Interpretation der holistischen These passt auch zu der Haltung, die Dancy zu denjenigen Beispielen einnimmt, die er selbst zur Begründung der holistischen These vorbringt. Dancy behauptet, dass die Überzeugungskraft der von ihm gewählten Beispiele nicht davon abhängt, dass man die in sie eingehenden moralischen Annahmen teilt. Stattdessen sei es, so Dancy, ausreichend, sie als »Beispiele für Beispiele« zu verstehen (so etwa in Dancy 1999 und in mündlichen Konversationen). Dies ergibt dann einen guten Sinn, wenn wir davon ausgehen, dass die Beispiele zur Begründung der schwach holistischen These herangezogen werden, denn in diesem Fall kommt es für die Überzeugungskraft der Beispiele allein darauf an, sie als Beispiele für das dargestellte Phänomen und somit als kohärente Möglichkeit zu akzeptieren. Streng genommen gilt dies nur, wenn wir voraussetzen, dass es für keine Tatsache analytisch wahr ist, dass sie ein moralischer Grund ist.

216

7 Der Holismus der Gründe

Art von Überlegungen, die Vertreter des Gründeholismus wie Dancy angestoßen haben, möglichst tiefgehend auszuloten. 7.2.4

Begriffliche Unterscheidungen im Umkreis der holistischen These

Dancy flankiert die Unterscheidung von Gründeholismus und -atomismus mit zwei begrifflichen Unterscheidungen innerhalb des Bereiches moralisch relevanter Tatsachen. Die erste ist die Unterscheidung zwischen Gründen und Unterminierern (engl. »disabler«). Gründe sind Tatsachen, die dafür oder dagegen sprechen, etwas Bestimmtes zu tun. Unterminierer hingegen sind Tatsachen, die verhindern, dass etwas, das als Grund fungieren kann, in einem bestimmten Kontext tatsächlich als Grund fungiert. t8 Eine solche Unterscheidung ist notwendig, wenn Gründe variabel sind, da zwischen Situationen, in denen p ein Grund ist, etwas zu tun, und Situationen, in denen dies nicht der Fall ist, ein moralisch relevanter Unterschied bestehen muss. Dies fordert die Universalisierbarkeit moralischer Urteile, die auch für Urteile über das Vorliegen von Gründen gilt. Wenn p in einem Fall dafür spricht zu ep-en, in einem anderen hingegen nicht, dann muss im letzteren Fall eine Tatsache vorliegen, die verhindert, dass p als Grund fungiert. Um dies anhand eines Beispiels von Dancy zu illustrieren: Wenn mir jemand ein Buch geliehen hat, dann spricht dies dafür, ihm das Buch beizeiten zurückzugeben. Wenn ich aber weiß, dass die besagte Person das Buch gestohlen hat, dann wird nach Dancy eben hierdurch verhindert, dass die genannte Tatsache ein Grund ist, das Buch an diese Person zurückzugeben. t9 Wenn wir den Holismus akzeptieren und zwischen Gründen und Unterminierern unterscheiden, dann können wir nicht mehr wie bisher lediglich unspezifisch von moralisch relevanten Eigenschaften oder Faktoren sprechen. Nicht alle moralisch relevanten Tatsachen sind dann nämlich Gründe und spielen dieselbe normative Rolle, manche von ihnen wären vielmehr insofern moralisch

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Vg!. Dancy 2004: 39ff. Da keine der wörtlichen Übersetzungen von eng!. »disable« sich für eine treffende und stilistisch vertretbare Übersetzung eignet, verwende ich einen anderen Ausdruck. Dancy zufolge gibt es auch sog. enabler, die es anderen Tatsachen ermöglichen, als Gründe zu fungieren (vg!. Dancy 2004: 39). Der Unterschied zwischen Ermöglichern und Unterminierern ist jedoch aufgrund der Interdefinierbarkeit der beiden Begriffe ein rein verbaler: p ist ein Unterminierer für q genau dann, wenn ein Ermöglicher für q ist; und p ist ein Ermöglicher für q genau dann, wenn ein Unterminierer für q ist (ähnlich Dancy 2004: 41). Vg!. Dancy 1993: 60. Im Haupttext steht bewusst nicht »wird verhindert, dass es einen Grund gibt, das Buch zurückzugeben«, weil es natürlich weitere Gründe geben kann, das Buch zurückzugeben, die mit der Tatsache, dass ich mir das Buch geliehen habe, nichts zu tun haben und demnach auch nicht durch die Tatsache, dass das Buch gestohlen wurde, beeinträchtigt werden (etwa wenn ich weiß, dass derjenige, von dem ich mir das Buch geliehen habe, ansonsten Amok läuft).

7.2 Was ist der Holismus der Gründe?

217

relevant, als sie beeinflussen, ob andere Tatsachen Gründe sind, ohne dabei notwendig erweise selbst Gründe zu sein. 20 Die Unterscheidung von Gründen und Unterminieren ist bislang noch wenig gehaltreich, denn was heißt es, dass etwas eine bestimmte Tatsache daran hindert, ein Grund zu sein? Auch wenn das Fehlen einer klaren Definition in Dancys Schriften nahelegt, dass er den Begriff für unexplizierbar hält und Tatsachen der Form q verhindert, dass p ein Grund ist als nicht reduzierbar ansieht, dürfte eine kontrafaktische Analyse folgender Art eine nicht unerhebliche Attraktivität aufweisen: (KU) Tatsache q verhindert, dass p ein Grund zu cp-en ist, genau dann, wenn folgende beiden Bedingungen erfüllt sind: (i) p ist kein Grund zu cp-en und q ist der Fall. (ii) Wäre q nicht der Fall, wäre p ein Grund zu cp_en. 21 Nach Dancy gibt es also nicht nur Gründe, sondern ebenso Faktoren, die beeinflussen, ob etwas ein Grund ist oder nicht. Wir können auch sagen, dass ein Grund zu sein und ein Unterminierer zu sein, zwei verschiedene normative Rollen sind, die von einer Tatsache ausgeübt werden können. Dancy schlägt weiterhin vor, im Bereich moralisch relevanter Tatsachen die normative Rollen eines Verstärkers (engl. »intensifier«) und die eines Dämpfers (engl. »attenuator«) für einen Grund zu unterscheiden. Verstärker und Dämpfer für einen Grund sind Tatsachen, welche die Stärke dieses Grundes beeinflussen. Wenn ich einen Grund habe, etwas Bestimmtes zu tun, dann ist p genau dann ein Verstärker dieses Grundes, wenn gilt, dass die Stärke des Grundes geringer wäre, wenn p nicht der Fall wäre. Ebenso gilt: Wenn ich einen Grund habe, etwas Bestimmtes zu tun, dann ist p genau dann 20

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Es ist nicht ausgeschlossen, dass eine Tatsache als Grund und zugleich als Unterminierer fungiert. Sog. silencing reasons im Sinne McDowells würden diese beiden Eigenschaften vereinen. McDowell versteht unter diesem Begriff Gründe, die zugleich alle denkbaren Gegengründe ,zum Schweigen bringen< (vgl. McDowell1979/1998: 55f.). Dies lässt sich so verstehen, dass diese Gründe zugleich Unterminierer sind, die sich nicht spezifisch auf bestimmte einzelne Tatsachen, sondern auf alle denkbaren Gegengründe richten. Wenn ein derartiger Grund z. B. gegen eine Handlung vorliegt, dann wird zugleich verhindert, dass irgendetwas für diese Handlung spricht. McDowell versucht, mithilfe dieses Begriffs vorrangig verständlich zu machen, wieso eine tugendhafte Person Beeinträchtigungen ihres Eigeninteresses nicht als Verlust anzusehen braucht (vgl. McDowell1980/1998: 17 f.) . Der Begriff des silencing reason lässt sich aber auch für die Formulierung der Sichtweise verwenden, dass bestimmte Handlungen unter keinen Umständen erlaubt sein können (siehe hierzu 6.4.1). Dancy geht davon aus, dass der Status einer Tatsache, ein Unterminierer für eine andere Tatsache zu sein, ebenso kontextabhängig ist wie der, ein Grund zu sein (vgl. Dancy 2004: 43ff.). Ich sehe keinen Anlass, diese Möglichkeit begrifflich von vornherein auszuschließen, und ein Vorteil von (KU) ist, dass es diese Möglichkeit offenlässt.

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7 Der Holismus der Gründe

ein Dämpfer dieses Grundes, wenn gilt, dass die Stärke des Grundes höher wäre, wenn p nicht der Fall wäre. 22 Folgt man Dancy, so hat man mit Verstärkern, Dämpfern, Gründen und U nterminierern eine differenzierte Sicht darauf, was es heißen kann, eine moralisch relevante Tatsache oder ein moralisch relevanter Faktor zu sein. 23 Moralisch relevante Tatsachen lassen sich dann nicht mehr nur undifferenziert als solche verstehen, die einen Einfluss darauf haben können, was man tun soll, weil dieser Einfluss auf ganz verschiedene Weise ausgeübt werden kann.

7.3 Vom Holismus zum Partikularismus? Bislang haben wir uns ausschließlich Fragen gewidmet, die zu einem besseren Verständnis der holistischen These führen sollten. Bevor erörtert wird, ob wir uns einem holistischen Verständnis moralischer Gründe anschließen sollten, wird zunächst der systematische und argumentative Zusammenhang genauer betrachtet, in dem die beiden holistischen Thesen zum Partikularismus stehen. 7.3.1

Gründeverlust und Polaritätswechsel

Der holistischen These geht es um die Möglichkeit, dass Tatsachen, die Gründe sein können, auch keine Gründe oder Gründe mit entgegengesetzter Polarität sein können. Da es sich um eine »oder«-Formulierung handelt, ist die holistische These bereits dann wahr, wenn es für jeden potentiellen Grund für eine bestimmte Handlung eine Situation gibt, in der er kein Grund für eben diese Handlung ist. Dass es Situationen gibt, in denen potentielle Gründe nicht den normativen Status eines Grundes aufweisen, ist für 22

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Vgl. Dancy 2004: 41 f. Auf die Unterscheidung von Gründen und Faktoren, welche die Stärke von Gründen beeinflussen, ist jeder festgelegt, der davon ausgehen will, dass sich zwar Gründeprinzipien formulieren lassen, aber keine Prinzipien, die angeben, wie Konflikte zwischen Gründen zu entscheiden sind (vgl. Ross 193012002: Kap. 2 für eine strukturell parallele Position zu prima fade-Pflichten). Denn wenn die Stärke von Gründen konstant ist, lässt sich für jedes Paar von Gründen angeben, ob einer von beiden stets der stärkere Grund ist, sofern für irgendeinen Kontext angegeben werden kann, in welchem Stärkeverhältnis die beiden Gründen zueinander stehen. Von hier aus lässt sich auch die Wahl der auf den ersten Blick etwas gewöhnungsbedürftigen Bezeichnungen »Holismus« und »Atomismus« verständlich machen. Die These, dass Gründe variabel sind, ist bei Dancy eingebettet in eine Sichtweise, der zufolge die Eigenschaft, ein Grund mit einer bestimmten Stärke zu sein, sich nur relativ zu einer bestimmten Gesamtheit beurteilen lässt, nämlich der Menge aller je nach Situation relevanten Faktoren. Den Holismus zu verneinen legt stattdessen ein Bild von Gründen nahe, in dem Gründe als .normative Atome< in Abstraktion von anderen normativ relevanten Faktoren relevant sind.

7.3 Vom Holismus zum Partikularismus?

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die Diskussion des Partikularismus auch die allein interessante These. Kontexte, in denen Tatsachen, die sonst Gründe sind, diesen Status nicht haben, sind ohne Weiteres dazu geeignet, als Gegenbeispiele zu Prinzipien zu dienen, die angeben, welche Tatsachen Gründe für welche Handlungen sind. Situationen, in denen ein Grund seine Polarität wechselt, sind hierfür nur von Belang, wenn ausgeschlossen ist, dass etwas zugleich ein Grund für und ein Grund gegen dieselbe Handlung sein kann. Ob dies tatsächlich ausgeschlossen werden kann, braucht hier nicht geklärt zu werden. Wenn wir die Frage nach der Existenz und Reichweite von Gründeprinzipien beantworten wollen, interessieren wir uns allein für Situationen, in denen potentielle Gründe nicht als Gründe fungieren. Ob die jeweils betrachteten Tatsachen darüber hinaus noch eine andere Polarität angenommen haben, ist für die Prinzipienfrage nur sekundär von Belang und wird daher im Weiteren auch nicht diskutiert. 24 7.3.2

Holismus als Argument für den Partikularismus?

Dancy hat an verschiedenen Stellen behauptet, eine partikularistische Sichtweise sei Konsequenz einer holistischen Konzeption von Gründen. In ihrer stärksten Ausprägung läuft diese These auf die Überlegung hinaus, dass eine holistische Konzeption von Gründen mit einer Prinzipienethik unvereinbar ist. 25 Ließe sich dieses Verständnis des Zusammenhangs von Holismus und Partikularismus verteidigen, dann hätte der Holismus ein immenses prinzipienkritisches Potential. Im Fall des schwachen Holismus würde dann gelten, dass ein fundamental prinzipienkritisches Argument ohne Rückgriff auf substantielle moralische Annahmen formuliert werden könnte, das allein von Reflexionen über den Begriff des praktischen Grundes ausginge. Dies wäre das Äquivalent

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Dies hat auch den strategischen Vorteil, dass es bedeutend schwerer ist, überzeugende Beispiele für einen echten Polaritätswechsel zu finden als Beispiele für Situationen, in denen potentielle Gründe nicht als Gründe fungieren. Die Annahme der Möglichkeit eines Polaritätswechsels stellt ein echtes Hindernis auf dem Weg zur Akzeptanz der holistischen These dar, wie sie von Dancy formuliert wurde, und führt die Diskussion unnötig auf Abwege. Meine Vermutung lautet, dass Dancy mit dem Verweis auf Polaritätswechsel plausibel machen möchte, dass Gründe sich auf vollkommen unvorhergesehene Weise verhalten können, und damit auch die partikularistische These weniger abwegig erscheinen lassen möchte, als sie es für viele vielleicht zunächst ist (in diese Richtung deutet auch Dancy 2004: lSf.). Vgl. Dancy 2000b: 13sff. Dancy behauptet an dieser Stelle zwar nur, die Annahme, dass die Existenz von Gründen von Prinzipien abhängig sei, werde durch den Holismus widerlegt. Tatsächlich dreht sich die nachfolgende Diskussion dann aber um die Frage, ob die Existenz von Prinzipien mit dem Holismus vereinbar ist (ähnlich Dancy 1993: 60 & 66 sowie Little 2000: 279).

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7 Der Holismus der Gründe

zur moralisch neutralen Argumentation für eine prinzipienethische Position. Aber auch im Fall der starken Interpretation der holistischen These wäre für den Partikularisten viel gewonnen, wenn diese eine prinzipienskeptische Sichtweise nahelegen würde. Denn in diesem Fall müssten Partikularisten zwar im Rahmen der Prinzipien kritik auf konkrete moralische Überlegungen zurückgreifen,26 es wäre aber nicht erforderlich, mühsam gegen immer neue, überarbeitete Formulierungen von Prinzipien, die im Lichte verschiedener Kritikpunkte vorgenommen wurden, zu argumentieren. Partikularisten könnten in diesem Fall eine argumentative Abkürzung nehmen, die direkt von Annahmen über den möglichen Verlust des Gründestatus einzelner Tatsachen zur Unmöglichkeit von Prinzipien einer bestimmten Art führt. Sollte der Holismus tatsächlich der Formulierbarkeit von Prinzipien im Wege stehen, dann wären hiervon in erster Linie solche Prinzipien betroffen, die angeben, welche Tatsachen moralische Gründe für welche Handlungen sind. Obwohl es sich vielleicht aufdrängt, zu glauben, dass es in diesem Fall auch unmöglich wäre, auf hilfreiche Weise anzugeben, unter welchen Umständen diese Tatsachen entscheidende Gründe für bestimmte Handlungen sind, folgt dies keineswegs. 27 Selbst wenn der Holismus mit der Existenz von Gründeprinzipien unvereinbar sein sollte, würde dies die Möglichkeit einer eingeschränkten Form der Prinzipienethik intakt lassen. Sollte der Holismus aber nicht einmal Anlass dazu geben, die Formulierbarkeit von Gründeprinzipien skeptisch einzuschätzen, dann hat diese These keinerlei prinzipienkritisches Potential. Im Weiteren werden wir sehen, dass genau dies der Fall ist.

7.3.3

Warum Holismus und Prinzipienethik nicht unvereinbar sind

Wie sich zeigt, taugt der Holismus in keiner der beiden präsentierten Fassungen zur Begründung einer partikularistischen Position. Für die schwache Lesart bedarf dies kaum einer ausführlichen Rechtfertigung, denn diese besagt lediglich, dass es nicht begrifflich unmöglich ist, dass eine Tatsache 26

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Wo für die holistische These argumentiert wird, da geschieht dies häufig anhand von Beispielen, auch wenn, wie erwähnt, Dancy in neueren Publikationen in Richtung der schwächeren Lesart zu tendieren scheint und seine Argumentation daher nicht von bestimmten Beurteilungen verschiedener Beispiele abhängig zu machen sucht. Selbst wenn sich keine Prinzipien formulieren lassen, mit denen angegeben wird, wann eine bestimmte Tatsache ein Grund zu cp-en ist, lässt dies offen, dass wir Prinzipien der folgenden Form formulieren können: »Wenn p dafür spricht zu cp-en und q dagegen spricht zu cp-en und keine weiteren Gründe vorliegen, dann soll man cp-en, sofern es der Fall ist, dass .. . « Wie in 12.3.1 dargelegt wird, können solche Prinzipien im Einzelfall für die Beantwortung der Frage herangezogen werden, wofür entscheidende Gründe sprechen.

7.3 Vom Holismus zum Partikularismus?

221

manchmal ein Grund ist und manchmal nicht. Dies kann auch ein Utilitarist akzeptieren, solange er die normative Konstanz der von ihm als Gründe angesehenen Tatsachen als substantielle moralische These vertritt. Die schwache Lesart des Holismus wurde von Dancy gerade mit dem Ziel in die Diskussion eingeführt, eine Formulierung der holistischen These vorzulegen, die mit der Annahme konstanter Gründe vereinbar ist. Wenn es konstante Gründe gibt, dann korrespondieren diesen Gründen Prinzipien der Form »Wenn p der Fall ist, dann spricht p dafür zu cp-en«. Die schwache Lesart des Holismus ist daher, was die Frage nach der Möglichkeit einer Prinzipienethik betrifft, ohne jeglichen Biss. Aber auch der starke Holismus ist mit einer prinzipienethischen Herangehensweise an Fragen der Moral vereinbar. Zwar werden in diesem Fall manche Prinzipien ausgeschlossen, nämlich all jene, die von bestimmten Tatsachen sagen, dass diese unter allen Umständen, unter denen sie bestehen, Gründe sind. Die Möglichkeit von Prinzipien zum normativen Status bestimmter Tatsachen, die nicht diese einfache Form haben, wird hierdurch jedoch nicht infrage gestellt. McKeever und Ridge illustrieren dies anhand eines einfachen Beispiels: The fact that an action would promote pleasure is a reason to perform the action if and only if the pleasure is nonsadistic. (McKeever und Ridge 2006: 31)28

Wenn wir die Tatsache, dass eine Freude sadistischer Natur ist, als Unterminierer für den genannten Grund verstehen, dann liegt mit dem von Ridge und McKeever genannten Prinzip ein Vorschlag für ein Prinzip vor, das vollkommen im Einklang mit der holistischen These steht und zugleich angibt, unter welchen Umständen eine bestimmte Tatsache ein Grund für eine bestimmte Handlung ist. Ähnliches gilt für die folgende Liste von Vorschlägen für Prinzipien: - Wenn man versprochen hat, etwas zu tun, dann spricht dies dafür, das Versprochene zu tun, sofern es einem möglich ist. - Wenn eine Person in Not ist, dann ist dies ein Grund, ihr zu helfen, sofern das eigene Leben nicht in Gefahr ist. - Wenn man mit einer Handlung einer Person schaden würde, dann ist dies ein Grund, die Handlung nicht auszuführen, sofern es sich nicht um einen Akt von Selbstverteidigung handelt. 28

McKeever und Ridge haben diesem Sachverhalt die ihm gebührende Aufmerksamkeit zukommen lassen, eine Argumentation dieser Art findet sich jedoch bereits in Jackson, Pettit und Smith 2000, wo die Autoren nachzuweisen versuchen, dass der Holismus der Gründe mit einer bestimmten Form von Erwartungsnutzenutilitarismus kompatibel ist (vgl. Jackson, Pettit und Smith 2000: 96ff.). Auch einige Überlegungen in Holton 2002 und Shafer-Landau 1997 weisen deutlich in diese Richtung (vgl. insb. Holton 2002: 197 und Shafer-Landau 1997: 593f.).

222

7 Der Holismus der Gründe

In jedem dieser Vorschläge wird auf eine Bedingung Bezug genommen, die sich so verstehen lässt, dass unter ihr die vom Prinzip als potentieller Grund angeführte Tatsache kein Grund ist. Alle drei Vorschläge sind daher, unabhängig davon, ob sie inhaltlich überzeugen können, mit einer holistischen Interpretation vereinbar. 29 Durch den Holismus werden allein Prinzipien einer bestimmten Form wie die folgenden ausgeschlossen: - Wenn man etwas versprochen hat, dann spricht dies stets dafür, es zu tun. - Wenn eine Person in Not ist, dann ist dies stets ein Grund, ihr zu helfen. - Wenn man mit einer Handlung einer anderen Person schaden würde, dann ist dies ein Grund, die Handlung nicht auszuführen. Unvereinbar mit der holistischen These sind nur Gründeprinzipien der denkbar einfachsten Form. Solange nicht gezeigt wird, dass Prinzipien zu moralischen Gründen allein diese einfache Form haben können und ausschließlich konstante Gründe für die Formulierung von Prinzipien infrage kommen, spricht der Holismus der Gründe nicht gegen die Möglichkeit von Prinzipien. 7.3.4

Holismus als indirektes Argument: Kosmische Zufälle und Wahrscheinlichkeiten

Dancy räumt in Ethics Without Principles ein, dass der Holismus der Gründe den Partikularismus nicht impliziert, behauptet aber zugleich, dass angesichts des Holismus die Chancen für die Formulierbarkeit akzeptabler Prinzipien schlecht stünden. Dancy zufolge würde es sich um einen Zufall kosmischen Ausmaßes handeln, wenn sich trotz Holismus korrekte Gründeprinzipien formulieren ließen, die nicht lediglich angeben, welche Tatsachen Gründe sind, sondern zugleich Bedingungen spezifizieren, unter denen dies nicht der Fall ist. Dancy schreibt: The point is only that one cannot argue from holism directly to the conclusion that moral principles are impossible. What this shows is that the argument [... ] from holism to particularism is at best indirect. [... ] [G]iven the holism of reasons, it would be a sort of cosmic accident if it were to turn out that a morality could be captured in a set of holistic contributory principles of the sort that is here suggested. [ ... ] It would be an accident because, given the

29

Wäre diese Liste vollständig, dann läge sogar ein im Sinne des Holismus interpretierbarer Kanon von Gründeprinzipien vor, mit dem sich für jede Situation entscheiden ließe, welche Tatsachen moralische Gründe für welche Handlungen sind. Auch ein vollständiger Prinzipienkanon wird daher durch den Holismus nicht ausgeschlossen.

7.3 Vom Holismus zum Partikularismus?

223

holism of reasons, there is no discernible need for a complete set of reasons to be like this. (Dancy 2004: 82)30 Dancys Überarbeitung des Versuches, mithilfe des Holismus für den Partikularismus zu argumentieren, können wir als Kombination von zwei Manövern verstehen: Erstens wird nach der logisch schwächsten Zusatz annahme gesucht, die ein Argument, dessen erste Prämisse der Holismus der Gründe ist, logisch zwingend macht. Diese lautet, wie zuvor gesehen, dass sich Prinzipien nur dann formulieren lassen, wenn sich einfache Prinzipien formulieren lassen, die Tatsachen eines bestimmten Typs als konstante Gründe spezifizieren. 3l Zweitens schwächt Dancy diese These zu einer probabilistischen Variante ab, der zufolge es äußerst unwahrscheinlich ist, dass sich angesichts des Holismus Prinzipien dieser Art formulieren lassen. Das modifizierte Argument zielt dann insgesamt auf die Konklusion, dass wir die Möglichkeit, zufriedenstellende Prinzipien ließen sich trotz Holismus formulieren, eben aufgrund dieser Unwahrscheinlichkeit als abwegig ignorieren können. Das derart modifizierte Argument ist einer Reihe von Einwänden ausgesetzt. Zu allererst ist zu überlegen, was für eine Art von Wahrscheinlichkeit bei der Rekonstruktion des Arguments sinnvollerweise angesetzt werden kann. Wer philosophisch mit Wahrscheinlichkeiten argumentiert, der geht das Risiko ein, dass es keine kohärente und für die Argumentation geeignete Interpretation des Wahrscheinlichkeits begriffs gibt und das Argument daher keine sinnvolle Lesart zulässt. 32 Da hier jedoch nicht der Ort 30

31

32

Ähnlich Little 2000: 277 und Stratton-Lake 2000: 128ff. Verwirrend ist, dass Dancys erklärtes Anliegen in Dancy 2004 gar nicht (mehr) der Nachweis ist, dass es keine Prinzipien gibt, sondern lediglich, dass die Möglichkeit moralischen Denkens nicht von der Formulierbarkeit von Prinzipien abhängt. Für dieses Ziel ist es nicht erforderlich zu zeigen, dass der Holismus der Gründe gegen die Möglichkeit von Prinzipien spricht. Auch passt Dancys argumentativer Einsatz der holistischen These in Dancy 2004 in keiner Weise zu der ebenfalls dort vorgenommenen Abschwächung der holistischen These, die explizit mit dem Ziel formuliert wird, die Existenz konstanter Gründe gerade nicht auszuschließen. Es wäre müßig, der Frage nachzugehen, wie sich diese verschiedenen Argumentationsstränge bei Dancy zueinander verhalten, denn allem Anschein nach handelt es sich bei Ethics without Principles um keine in sich geschlossene Monographie mit durchgängigem Argumentationsgang, sondern eher um eine Sammlung einzelner Aufsätze aus verschiedenen Stadien des Nachdenkens. - Einen interessanten Versuch einer kohärenten Gesamtdeutung von Dancys Hauptwerk zum Partikularismus enthält Schroeder 2009, wobei sich aus Schroeders Deutung kurioserweise ergibt, dass die Frage nach der Rolle von Prinzipien für die Partikularismusdebatte, wie Dancy sie versteht, letztendlich von untergeordneter Bedeutung ist. Eine äquivalente Formulierung dieser Prämisse ist diese: Wenn es irgendwelche Unterminierer für einen potentiellen Grund gibt, dann gibt es zu viele Unterminierer, um sie in Prinzipien zu erfassen. Diese Konsequenz droht auch hier. Wenn wir eine im weitesten Sinne epistemische Interpretation des Wahrscheinlichkeitsbegriffs zugrunde legen, dürfte die probabilistische Zusatzprä-

224

7 Der Holismus der Gründe

ist, das Spektrum philosophischer Wahrscheinlichkeitstheorien zu diskutieren, werde ich im Sinne des Arguments davon ausgehen, dass es eine passende Interpretation des Wahrscheinlichkeitsbegriffs gibt. Ich gehe ebenfalls davon aus, dass wir in der Annahme gerechtfertigt sind, dass es keine Prinzipien gibt, sofern sich erstens zeigen lässt, dass es im einschlägigen Sinne extrem unwahrscheinlich ist, dass sich Prinzipien formulieren lassen, und wir zweitens über keine Hinweise verfügen, die positiv auf die Existenz von Prinzipien hindeuten. 33 Doch selbst angesichts dieser großzügigen Zugeständnisse sind die Erfolgschancen von Dancys Argument weiterhin skeptisch zu beurteilen, wie sich anhand von Beispielen verdeutlichen lässt: In manchen Jahren ist der 28. der letzte Tag des Monats Februar, in anderen nicht, aber es kommt keinem Zufall kosmischen Ausmaßes gleich, dass wir in der Lage sind, anzugeben, wann welche der beiden Möglichkeiten der Fall ist. Dass etwas, das manchmal Eigenschaft F hat, nicht immer F ist, ist für sich genommen kein Hinweis darauf, wie wahrscheinlich es ist, dass sich allgemein angeben lässt, wann was von beidem der Fall ist. Dancy müsste zeigen, dass und warum dies gerade im Fall der Eigenschaft, ein Grund zu sein, anders sein sollte, und einen Hinweis darauf suchen wir in seinen Schriften vergeblich. Und auch wenn sich zwingend begründen ließe, dass die Existenz moralischer Prinzipien angesichts des Holismus der Gründe äußerst unwahrscheinlich ist, bliebe die Reichweite von Dancys Argument sehr eingeschränkt. Die Diskussion darüber, ob wir Prinzipien akzeptieren und uns in unseren Entscheidungen an ihnen orientieren sollten, findet nicht in einem normativen Vakuum statt, auch wenn wir uns fragen können, ob sich Argumente zugunsten der betrachteten Positionen formulieren lassen, die ohne inhaltliche moralische Voraussetzungen auskommen. Selbst wenn die Formulierbarkeit von Prinzipien angesichts des Holismus der Gründe ein gewaltiger Zufall wäre, verblasste die argumentative Bedeutung dieses Befunds in dem

33

misse kaum von der eigentlich intendierten Konklusion zu unterscheiden sein, da sie dann in etwa besagt, dass es im Lichte des Holismus alles in allem vernünftig oder gerechtfertigt ist, die Annahme, dass sich Prinzipien formulieren lassen, nicht zu akzeptieren (zur epistemischen Interpretation vgl. Cruz und Pollock 1999: 4.2 & 4.3). Ob sich aus der Menge der verbleibenden Kandidaten zur Interpretation eines nicht-epistemischen Wahrscheinlichkeitsbegriffes zu denken wäre an die logische Interpretation, an Regularitätskonzeptionen und sog. propensities-Ansätze (vgl. hierzu Hajek 2012) - ein geeigneter Vorschlag auswählen lässt, der sinnvoll auf Annahmen wie die angewendet werden kann, dass sich moralische Prinzipien formulieren lassen, muss als fragwürdig gelten (skeptisch hierzu ebenfalls: Raz 2006: 116f.). Dies lässt sich als Anwendung des sog. principal principle verstehen. Etwas vereinfacht ausgedrückt: Wenn unsere einzige relevante Information die ist, dass das Auftreten eines bestimmten Sachverhalts sehr unwahrscheinlich ist, dann sind wir gerechtfertigt darin, davon auszugehen, dass dieser Sachverhalt nicht besteht (vgl. hierzu Lewis 1980).

7.3 Vom Holismus zum Partikularismus?

225

Moment, in dem inhaltliche moralische Überlegungen nahelegten, dass wir einen plausiblen Kandidaten für ein Moralprinzip gefunden hätten. Überlegungen dazu, wie unwahrscheinlich ein Erfolg wäre, gäben uns dann keinerlei Grund mehr, von dem Prinzip Abstand zu nehmen, ebenso wenig wie die Tatsache, dass die Entwicklung intelligenten Lebens auf der Erde extrem unwahrscheinlich war, uns einen Grund gibt, daran zu zweifeln, dass sich intelligentes Leben auf der Erde entwickelt hat, und ebenso wenig wie die Tatsache, dass meine Chancen auf einen Sechser im Lotto mit Zusatz- und Superzahl bei 1: 64.000.000.000 stehen, mir noch einen Grund liefern würde, an meinen Gewinnen zu zweifeln, wenn ich vom Notar bestätigt bekomme, dass meine Zahlen gezogen wurden. Sobald inhaltliche moralische Überlegungen für bestimmte Prinzipien ins Spiel kommen, ist der von Dancy bemühte kosmische Zufall daher argumentativ ohne Gewicht und nicht geeignet, dem Versuch, erfolgreiche moralische Prinzipien zu formulieren, eine grundsätzliche Absage zu erteilen. Da es grotesk wäre, inhaltliche moralische Überlegungen aus der Diskussion darüber, ob man sich an moralischen Prinzipien orientieren sollte, zu verbannen, muss Dancys Argument des kosmischen Zufalls als gescheitert gelten. 7.3.5

Holismus und KodiJizierbarkeit

Holismus und Prinzipienethik können also ein harmonisches Gespann bilden, und auch der Versuch, durch Wahrscheinlichkeitsüberlegungen die argumentative Lücke zwischen Holismus und Partikularismus zu schließen, hinterlässt keinen bleibenden Eindruck. Dies gilt zumindest so lange, wie wir die holistische These tatsächlich im Sinne von (H -Def) auffassen. Dies versteht sich nicht von selbst, denn gelegentlich wird die holistische These auch auf eine Weise formuliert - oder unter der Hand im Laufe der Argumentation auf eine Weise umformuliert -, die es zu einer Trivialität macht, dass Holismus und Prinzipienethik unvereinbar sind. Ein Beispiel hierfür liefert Little: Natural features do not always ground the same moral import [... ]. The moral contribution they make on each occasion is holistica11y determined: it is itse/f dependent, in a way that escapes useful or finite articulation, on what other non moral features are present or absent. It isn't just that we haven't bothered to fi11 in the background conditions because they are so complex holism is not complicated atomism. The claim, rather, is that there is no cashing out in finite or helpful propositional form the context on which the moral meaning depends. (Little 2000: 280) Die hiermit definierte Form des Holismus - nennen wir sie »(HK)« - ist ohne Frage inkompatibel mit der Annahme von Prinzipien, denn (HK)

226

7 Der Holismus der Gründe

besagt gerade, dass die Art und Weise, wie der normative Status einer Tatsache variiert, nicht in Prinzipien erfasst werden kann. Aus demselben Grund eignet sich (HK) aber auch nicht zur Begründung einer partikularistischen Sichtweise, denn (HK) ist selbst nichts anderes als eine Formulierung der partikularistischen Kernthese im Gewande spezieller Fachterminologie und angewandt auf den Fall von Gründeprinzipien. Eine prinzipienkritische Sichtweise durch (HK) begründen zu wollen, hieße, zirkulär zu argumentieren. 34

7.3.6

Vom Holismus zum Partikularismus: Ein ZwischenJazit

Der Holismus der Gründe eignet sich nicht als Argument für eine partikularistische Sichtweise, weder in seiner schwachen noch in seiner starken Lesart. Wenn es also einen systematisch interessanten Zusammenhang zwischen Holismus und Partikularismus gibt, dann muss dieser anders verstanden werden. Diejenigen Befunde, auf die bei der Kritik der These, der Holismus sei die argumentative Basis des Partikularismus, Bezug genommen wurde, sind bei unvoreingenommener Betrachtung eigentlich derart offensichtlich, dass man sich zudem fragen muss, wie die gegenteilige Sichtweise überhaupt zustande kommen konnte. Zum größten Teil muss dies Spekulation bleiben, aber eine Vermutung lautet, dass die Ursachen hierfür weniger in der Sache selbst als im Umgang mit ihr zu suchen sind, und dass durch fehlende begriffliche Klarheit verschiedene unter dem Namen »Holismus« und »Partikularismus« vereinte Thesen als zwei Seiten einer Medaille wahrgenommen wurden. Wenn es um die Argumentation zugunsten der holistischen These geht, liegt es vielleicht nahe, davon ausgehen, dass es sich beim Holismus der Gründe um eine moralisch neutrale These handelt. Sofern es sich jedoch um die Frage nach der Vereinbarkeit mit einer Prinzipienethik handelt, ist es verlockend, den Holismus als substantielle These zu interpretieren, und wenn dann an irgend einer Stelle der Argumentation noch der Ausdruck »unkodifizierbar« fällt, kann leicht der Anschein erweckt werden, eine »Holismus« genannte These zu praktischen Gründen halte einen argumentativen Weg von vergleichsweise unkontroversen Annahmen zu einer allgemeinen Prinzipienkritik bereit. Inwiefern dies tatsächlich zur Erklärung der Tatsache taugt, dass ein eigentlich banaler Befund längere Zeit übersehen wurde, vermag ich nicht zu beurteilen. Es steht jedoch fest, dass sobald im Umkreis der Holismusdiskussion begrifflich etwas aufgeräumt wird, die vermeintlichen Argumente gegen die Möglichkeit einer Prinzipienethik schnell in sich zusammenfallen. Das mag man enttäuschend finden, da auf diese Weise Überlegungen, 34

Auch hierauf haben McKeever und Ridge hingewiesen (vgl. McKeever und Ridge 2006: 42f.).

7.3 Vom Holismus zum Partikularismus?

227

die nach Ansicht vieler den systematischen Kern der Partikularismusdebatte darstellen, sich als irreführend erweisen. Ein kleiner Trost mag dabei sein, dass der Holismus der Gründe nicht als vollkommen irrelevant für die Diskussion prinzipienkritischer Thesen angesehen zu werden braucht, wie nun dargelegt wird. 7.3.7 Eine alternative Sichtweise: Kein Partikularismus ohne Holismus Aus den bisherigen Überlegungen folgt nicht, dass Holismus und Partikularismus in keinerlei interessanten systematischen Relationen zueinander stehen. Der starke Holismus impliziert zwar keine partikularistischen Positionen, umgekehrt impliziert der Partikularismus aber den starken Holismus. 35 Wenn für keine Tatsache, die ein Grund sein kann, mittels Prinzipien angegeben werden kann, wann diese Tatsache ein Grund ist, weil es zu viele Faktoren gibt, die hierauf einen Einfluss haben können, dann ist keine Tatsache, die ein Grund sein kann, ein konstanter Grund. Dies garantiert nicht, dass sich antiholistische Überlegungen auch argumentativ gegen eine partikularistische Position ins Feld führen ließen. Wenn wir Holismus und Atomismus als inhaltliche moralische Thesen verstehen, die durch den Nachweis zu begründen sind, dass diejenigen Tatsachen, welche de facto den Status moralischer Gründe haben, konstant oder variabel sind, dann verläuft die Widerlegung des Holismus gerade über die Verteidigung von Prinzipien einer bestimmten Form. Den Holismus zu widerlegen (und den Atomismus zu begründen) heißt dann gerade, die Frage nach der Existenz und Reichweite einfacher Gründeprinzipien zu beantworten. Anders liegen die Dinge bei derjenigen Variante der atomistischen Position, welche die Negation der schwachen Lesart der holistischen These ist und deren Inhalt lautet, dass es aus begrifflichen Gründen ausgeschlossen ist, dass ein und derselben Tatsache nur manchmal der Status eines moralischen Grundes zukommt. Ließe sich diese Position - nennen wir sie den starken Atomismus - plausibel machen, so wären die Konsequenzen für den Partikularismus verheerend. Optimistisch betrachtet folgt aus der starken atomistischen These, dass wenn es uns möglich ist, eine Tatsache in irgend einem Kontext als Grund auszuzeichnen, wir auf dieser Grundlage auch ohne Weiteres ein moralisches Prinzip begründen können, dem zufolge diese Tatsache stets als Grund fungiert. 36 Weniger optimistisch betrachtet impliziert 35

36

Zumindest gilt dies für den radikalen Panikularismus. Der moderate Panikularismus implizien die Falschheit des Atomismus in beiden Varianten. Diese Auffassung liegt der ethischen Theorie von Ross zugrunde (der Unterschied von Gründeprinzipien und Prinzipien für prima facie-Pflichten kann im Moment vernachlässigt werden). Ross geht davon aus, dass unsere moralische Erkenntnis mit gerechtfenigten Uneilen

228

7 Der Holismus der Gründe

der starke Atomismus, dass sich nur dann irgend eine Tatsache gerechtfertigt als Grund auszeichnen lässt, wenn ein korrespondierendes Prinzip formulierbar ist, dem zufolge diese Tatsache stets als Grund fungiert. Zu welcher Sichtweise man auch tendiert, das Ergebnis ist in jedem Fall, dass wir dann und nur dann gerechtfertigt moralisch urteilen können, wenn es uns gelingt, Prinzipien einer bestimmten Form zu rechtfertigen, und dies wäre, wie in Kapitel 4 dargelegt, eine Widerlegung des Partikularismus. 37 Die stark atomistische These würde daher das Material für die Art von moralisch neutraler Partikularismuskritik bereitstellen, die wir bereits in den Kapiteln 4-6 kennengelernt haben. Den starken Atomismus zurückzuweisen und zumindest die schwache Variante der holistischen These plausibel zu machen, ist somit eine notwendige Voraussetzung dafür, das partikularistische Projekt überhaupt auf den Weg bringen zu können, und im nächsten Teil dieses Kapitels soll daher nun die Diskussion von schwachem Holismus und starkem Atomismus im Mittelpunkt stehen. Die Diskussion der starken Fassung der holistischen These wird im elften Kapitel stattfinden, in dem Vorschläge für Gründeprinzipien präsentiert werden und diskutiert wird, inwiefern diese Gründe unterminiert werden können und im Sinne des schwachen Atomismus oder des starken Holismus zu verstehen sind.

37

darüber, was in einem konkreten Einzelfall prima facie richtig oder prima facie falsch ist, beginnt und wir von hier ausgehend vermittelst dessen, was als intuitive Induktion bezeichnet wird, auf moralische Prinzipien schließen können (vgl. Ross 1930/2002: 32ff., Ross 1939: Kap. 8 sowie, hierzu, Dancy 1991a: 223ff. und Dancy 1993: 94ff.). Ein intuitiver Induktionsschluss liegt vor, wenn von einem Satz der Form »Dieses Fist G« auf die Generalisierung »Alle Fs sind G« geschlossen wird. Dieses Schlussverfahren mag auf den ersten Blick fragwürdig erscheinen, aber letztendlich ist Ross' Konzeption in dieser Hinsicht von einer bestechenden Einfachheit. Mithilfe der atomistischen Prämisse, dass das, was einmal relevant ist, stets auf dieselbe Weise relevant ist, lässt sich der intuitive Induktionsschluss sogar als logischer Schluss rekonstruieren, dessen zweite Prämisse die soeben genannte atomistische These ist (auch wenn Ross selbst diese Beschreibung nicht wählt). Sein Verständnis des Zusammenhangs von Gründen und Prinzipien liefert Ross also ein Erkenntnis- bzw. Rechtfertigungsmodell, das es einem erlaubt, unmittelbar von partikularen Gründeurteilen zu Prinzipien überzugehen (auf diese Eigenschaft der Ross'schen Konzeption hat Dancy nachdrücklich hingewiesen, vgl. Dancy 1983 und Dancy 1991a). Ähnlich argumentieren McKeever und Ridge, wobei es ihnen v. a. um die Frage geht, inwiefern es möglich ist, ausgehend vom Partikularismus für den Holismus zu argumentieren (vgl. McKeever und Ridge 2006: 43 ff.).

7.4 Starker Atomismus oder schwacher Holismus?

229

7.4 Starker Atomismus oder schwacher Holismus? Wer, wie Dancy, danach fragt, ob ein gegebenes Versprechen stets dafür spricht, das Versprochene zu tun, oder nur dann dafür spricht, sofern bestimmte andere Bedingungen erfüllt sind, der stellt eine vollkommen verständliche und ergebnisoffene Frage. Diese Frage kann nicht bereits mit dem Verweis darauf abgetan werden, dass sie zu stellen in etwa so sei, als würde man sich danach erkunden, ob man nur wissen könne, was wirklich der Fall ist. Dass sie nicht auf diese Weise zurückgewiesen werden kann, ist ein erster Anhaltspunkt für die Falschheit des starken Atomismus, und es lassen sich noch weitere benennen. Die folgenden Anmerkungen werden dabei zwar kein konklusives Argument für den schwachen Holismus bereitstellen, sie zeigen aber einige unplausible Konsequenzen des starken Atomismus auf und hinterfragen die Motivation der atomistischen Sichtweise.

7.4.1

Kann man seine Meinungen über Gründe ändern?

Dem Atomismus zufolge ist es nicht möglich, seine Meinungen über bestimmte Gründe zu ändern, sondern lediglich, seine Meinungen dazu zu ändern, was für Gründe es gibt. Wenn ich merke, dass ein von mir akzeptiertes Gründeprinzip nicht tragbar ist, muss ich der atomistischen Lesart zufolge zugleich meine Ansicht dazu ändern, welche Tatsachen es sind, die als Gründe fungieren. War ich bislang der Meinung, die Tatsache, dass man etwas versprochen hat, sei stets ein Grund, es zu tun, und revidiere ich nun meine Meinung mit dem Ergebnis, dass unter Zwang abgegebene Versprechen keinen Grund liefern, dann muss ich gemäß dem starken Atomismus zugleich folgern, dass ich streng genommen bisher eine falsche Vorstellung davon hatte, was dafür spricht, Versprechen zu halten. Ansichten dazu, welche Gründe es gibt, müssten demnach stets angepasst werden, wenn wir Prinzipien zum normativen Status verschiedener Tatsachen modifizieren. Dies scheint mir eine sehr artifizielle Beschreibung zu sein.

7.4.2

Gründe spezifizieren

Angenommen, es herrscht Einigkeit darüber, dass Folgendes gilt: (PS) Wenn man (i) mit einer Handlung jemandem Schmerzen zufügen würde und (ii) dies nicht als Teil von Selbstverteidigungsmaßnahmen geschähe und (iii) es nicht auf Anordnung desjenigen geschähe, dem man die Schmerzen zufügen würde, dann hat man einen Grund, diese Handlung zu unterlassen.

230

7 Der Holismus der Gründe

Für die stark atomistische Lesart ist charakteristisch, dass ihr zufolge letztendlich alle Bestandteile einer hinreichenden Bedingung dafür, dass es einen Grund gibt, Bestandteile dessen sind, was in diesem Fall als Grund fungiert. 38 Wenn man genau dann einen Grund hat zu q>-en, wenn p und q und r der Fall sind, dann ist es dem Atomismus zufolge nicht möglich, nur eine dieser drei Bedingungen als Grund anzusehen. Stattdessen sind p und q und r dem starken Atomismus zufolge notwendigerweise Teil eines komplexen Grundes, der durch die Konjunktion der drei Aussagen zum Ausdruck gebracht wird. Man betrachte nun folgendes Szenario: Ich muss jemanden, der in Panik geraten ist, zur Besinnung bringen und überlege, ob ich ihn hierfür schlagen darf. 39 Wenn ich mich nun frage, was dagegen spricht, die Person zu schlagen, und das oben erwähnte Prinzip (PS) akzeptiere, dann scheint »Dass es ihr Schmerzen zufügen würde« eine vollkommen zufriedenstellende und verständliche Antwort auf meine Frage zu sein. Es ist nicht erforderlich, an dieser Stelle auch die Bedingungen (ii) und (iii) zu erwähnen, um den vorliegenden Grund auf verständliche Weise zu spezifizieren. Der Atomist kann diesen Befund aufnehmen, indem er darauf verweist, dass es verständlich und angemessen sein kann, die Frage danach, was dafür oder dagegen spricht, eine Handlung auszuführen, mit elliptischen Formulierungen zu beantworten, die nur Teile des jeweils vorliegenden Grundes benennen, solange aus dem jeweiligen Kommunikationskontext heraus ver38

39

Dancy bezeichnet diese Position als Cluster-Atomismus, da ihr zufolge (möglicherweise äußerst komplexe) Kombinationen von Tatsachen als die eigentlichen Gründe identifiziert werden (vgl. Dancy 2004: 94ff). Clusteratomistische Annahmen in diesem Sinne werden bspw. von Raz und Crisp vertreten (vgl. Crisp 2000, Crisp 2007, Raz 2000 und Raz 2006) und scheinen auch im Hintergrund von Hookers Vorschlägen für Gründeprinzipien in Hooker 2000b zu stehen. - Auf der Grundlage des Clusteratomismus ließe sich auch das in 7.3.7 dargestellte Argument dafür, dass der radikale Partikularismus den Holismus impliziert, infrage stellen. Albertzart und Raz bringen bspw. die clusteratomistisch inspirierte Möglichkeit ins Spiel, dass für den Fall des Scheiterns des Versuchs, Generalisierungen vom Typ (PS) zu formulieren, lediglich gezeigt wäre, dass Gründe zu komplex sind, um in Prinzipien erfasst und formuliert werden zu können (vgl. Albertzart 2011: 53f. und Raz 2006: 112 & 118f.). üb dies eine sinnvolle Annahme zur Komplexität von Gründen ist, kann hier offenbleiben, Albertzart und Raz ist aber dahin gehend zuzustimmen, dass allein aus der Unmöglichkeit, hinreichende Bedingungen für das Vorliegen verschiedener Gründe auf informative Weise zu formulieren, nicht ohne Weiteres folgt, dass diese Gründe holistisch zu verstehen sind. Sollten Gründe jedoch zu komplex sein, um überhaupt identifiziert und voneinander unterschieden werden zu können, dürften sich hiermit auch gerechtfertigte Urteile darüber, welche Gründe im Einzelfall vorliegen, sowie Urteile darüber, was zu tun man im Einzelfall entscheidenden Grund hat, als unmöglich erweisen. Das in 7.3.7 vorgestellte Argument wird daher durch den Hinweis auf die Möglichkeit, Gründe als hyperkomplexe Tatsachenverbunde zu verstehen, nicht betroffen. Vermutlich würde man dies eher instinktiv tun und sich hinterher fragen, ob es vertretbar war, ich werde diese Schwierigkeit aber ignorieren.

7.4 Starker Atomismus oder schwacher Holismus?

231

ständlich ist, wie die vollständige Antwort lautet. Im geeigneten Kontext kann »Klaus ist gerade angekommen« eine vollkommen zufriedenstellende Antwort auf die Frage »Sind jetzt alle Gäste da?« sein. Der Atomist kann daher argumentieren, dass in analoger Weise »Es wird ihr Schmerzen bereiten« dazu dienen kann, einen komplexen Grund vermittelst der Bezugnahme auf einen Teil dieses Grundes sprachlich herauszugreifen. 40 Diese Antwort weist jedoch den Schönheitsfehler auf, dass nicht alle unter (i)-(iii) im Prinzip (PS) genannten Bedingungen sich gleichermaßen eignen, um die Frage danach, was dagegen spricht, eine bestimmte Handlung auszuführen, zu beantworten. Während »Es würde ihr wehtun« eine nachvollziehbare Antwort auf »Was spricht dagegen, diese Handlung auszuführen?« ist, die auch für den verständlich und plausibel sein kann, der nicht glaubt, dass unter allen Umständen etwas dagegen spricht, jemandem Schmerzen zuzufügen, gilt dies für »die Handlung ist nicht Bestandteil von Selbstverteidigungsmaßnahmen« oder »Sie hat mich nicht dazu aufgefordert« nicht. Diese Antworten sind nicht in derselben Art dazu geeignet, den vorliegenden Grund zu benennen. Dasselbe gilt bspw. für »Ich bin dazu in der Lage«, das auch dann kein besonders guter Kandidat dafür ist, den Grund herauszugreifen, der dafür spricht, ein gegebenes Versprechen zu halten, wenn wir davon ausgehen, dass man nur dann einen Grund hat, ein Versprechen zu halten, wenn man dazu in der Lage ist. Natürlich kann je nach Kontext auch ein einfaches Nicken, ein Fingerzeig oder das Aussprechen eines einzelnen Buchstaben vollkommen ausreichend sein, um einem Kommunikationspartner mitzuteilen, über welchen Grund man gerade spricht. Davon unbenommen ist, dass nicht alle in (PS) angeführten Bedingungen gleichermaßen geeignete und naheliegende Kandidaten für die Spezifikation des Grundes sind, und dieser Sachverhalt verlangt nach einer Erklärung, die nicht allein im Rekurs auf die kommunikative Wirksamkeit elliptischer Formulierungen gegeben werden kann. 7.4.3

Was motiviert den starken Atomismus?

Beide genannten Kritikpunkte sind zwar nur Kratzer im Lack des starken Atomismus und keineswegs durchschlagend, aber sie liefern uns einen nicht zu vernachlässigenden Hinweis darauf, dass die atomistische Annahme nicht offensichtlich im Einklang mit den relevanten Phänomenen steht und nicht als Ausdruck einer basalen und theoretisch unbelasteten begrifflichen Intuition anzusehen ist. Zu vermuten ist vielmehr, dass der starke Atomismus insofern theoretisch vorbelastet ist, als die Ansicht, es sei ausgeschlossen, dass Tatsachen ihren normativen Status als Gründe verlieren können, Kon40

In diesem Sinn argumentiert Raz (vgl. Raz 2000: 59 und Raz 2006: 101).

232

7 Der Holismus der Gründe

sequenz einer bestimmten Konzeption des Gehalts und der Funktion von Aussagen ist, mit denen praktische Gründe zugeschrieben werden. Konzeptionen dieser Art, die den starken Atomismus implizieren, sind nicht schwer zu finden, und es lohnt sich, ihnen genauer nachzugehen. Zu betrachten sind folgende drei Sichtweisen: (GK) Die kontrafaktische Explikation von Gründen: p ist genau dann ein Grund für S zu cp-en, wenn gilt: Wäre p die einzige Tatsache, die relevant dafür ist, ob S cp-en soll, dann wäre es der Fall, dass S cp-en sol1.41 (GA) Handlungsgründe und Argumente: Einen Grund anzuführen, der im Fall von Person S dafür spricht zu cp-en, heißt, ein erfolgreiches Argument (bzw. einen Teil davon) anzuführen, das die Konklusion impliziert, dass S cp-en soll. Mit p wird demnach genau dann ein Grund für S zu cp-en zum Ausdruck gebracht, wenn p Prämisse in einem erfolgreichen Argument für die Konklusion ist, dass S cp-en soll. 42 (GE) Gründe und Erklärungen: Gründe, die dafür oder dagegen sprechen, etwas zu tun, sind Tatsachen, die herangezogen werden, um zu erklären, warum jemand etwas Bestimmtes tun oder lassen soll (entweder, weil sie selbst die Erklärung liefern, oder aber, weil sie wesentlicher Bestandteil solcher Erklärungen sind)Y 41

42

43

Wenn wir Ross' Definition des Begriffs der prima facie-Pflicht als Vorschlag für eine Analyse des Begriffs des praktischen Grundes verstehen, erhalten wir exakt diese Konzeption, und als solche wird sie von Dancy in Dancy 2004: 17-21 & 99f. auch diskutiert und kritisiert. Ein Argument ist in diesem Sinne erfolgreich, wenn es logisch gültig ist und wenn hinreichende Gründe vorliegen, seine Prämissen für wahr zu halten. Diese Konzeption praktischer Gründe findet sich z. B. bei Rachels (vgl. Rachels 1999: 16ff.) und in Hare 1952: 10.2. Die Kapitel 9-11 aus Hare 1952 sind zugleich ein besonders aufschlussreiches Beispiel dafür, auf welche Weise es möglich ist, alle in diesem Kapitel und in den vorherigen Kapiteln aus Teil III dieser Arbeit diskutierten Phänomene in eins zu setzen und auf diese Weise implizit systematisch relevante Vorentscheidungen zu treffen. Sowohl Urteile über das Vorliegen der Weil-Relation (vgl. Hare 1952: 145f.) als auch solche über das Vorliegen praktischer Gründe (vgl. Hare 1952: 154ff.) werden von Hare als Versuche der Rechtfertigung eines moralischen Urteils vermittelst der Angabe von Urteilsgründen begriffen, und diese Urteilsgründe werden wiederum als Argumente mit einem Prinzip als Prämisse verstanden (vgl. Hare 1952: 157 & 176). Alle genannten Phänomene werden zugleich auch unter dem Namen »Supervenienz« diskutiert (Hare 1952: 153-162), der, wie in 4.3.1 gesehen, bei Hare sowohl zur Bezeichnung der Supervenienz im eigentlichen Sinn wie auch zur Bezeichnung der Universalisierbarkeit moralischer Urteile verwendet wird. Varianten der Erklärungskonzeption praktischer Gründe finden sich explizit in Broome 2004, Lance und Little 2006a, Lance und Little 2006b sowie in Little 2000. Ich gehe davon aus, dass es derartigen Vorschlägen um Erklärungen von Gegebenheiten geht, die durch Aussagen der Form »S soll q>-en« und damit auf der Ebene abschließender Urteile zum Ausdruck gebracht werden, denn Sachverhalte wie der, dass jemand einen Grund hat, etwas zu tun, kommen als

7.4 Starker Atomismus oder schwacher Holismus?

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Wie Dancy überzeugend herausgearbeitet hat, führt die kontrafaktische Konzeption von Gründen unmittelbar zum Atomismus der Gründe, weshalb eine Kritik solcher Ansätze auch zu einem Kernanliegen von Dancys Ausarbeitung und Verteidigung einer partikularistischen Position gehört. Angenommen, ich habe meinem Nachbarn versprochen, ihm zu helfen und es gilt, dass wann immer dies die einzig relevante Tatsache ist, ich ihm helfen soll. Angenommen weiter, ich habe auch meinem Bruder versprochen, ihm zu helfen. Auch hier muss dann gelten, dass, wäre dies die einzig relevante Tatsache, ich meinem Bruder helfen soll, denn ansonsten liegt ein Verstoß gegen den Universalisierbarkeitsgrundsatz vor. Wenn also irgendeine partikulare Tatsache die in (GK) angeführten notwendigen und hinreichenden kontrafaktischen Bedingungen erfüllt, dann werden diese von allen Tatsachen desselben Typs erfüllt. 44 Im Fall von (GA) ist der Zusammenhang zwischen der zugrunde liegenden Konzeption von praktischen Gründen und der stark atomistischen These ebenfalls ohne größere Umwege darstellbar. Angenommen, p ist ein Grund, der im Fall von Person S dafür spricht zu cp-en. Nach (GA) impliziert p zusammen mit anderen Prämissen, dass Person S cp-en soll. Wenn wir davon ausgehen, dass sich unter diesen Zusatzprämissen ein Prinzip befinden muss, gilt ebenfalls, dass jede Tatsache desselben Typs zusammen mit dem im Hintergrund stehenden Prinzip für eine beliebige von S verschiedene Person S* eine Konklusion der Form »S':- soll cp-en« impliziert. Wenn die Tatsache, dass eine Person in Lebensgefahr schwebt, ein Grund ist, ihr zu helfen, dann heißt das nach (GA), dass »Diese Person schwebt in Lebensgefahr« zusammen mit einem passenden Moralprinzip wie etwa »Man soll jeder Person, die in Lebensgefahr schwebt, helfen« impliziert, dass ich dieser Person helfen soll. Besagtes Prinzip impliziert nun jedoch auch für jede andere Situation, in der jemand in Not ist und ein Akteur helfen kann, dass der Akteur helfen soll. Wenn die Tatsache, dass ich dieser Person, die in Not ist, helfen kann, also ein Grund für mich ist, ihr zu helfen, dann gilt nach (GA) auch für jede andere Person, die jemandem in Not helfen kann, dass dies ein Grund ist, der dafür spricht, ihr zu helfen. Konzeption (GA) impliziert daher den Atomismus der Gründe in seiner starken Fassung. Im Fall von (GE) schließlich folgt die stark atomistische Lesart, wenn wir sie mit derjenigen Variante der deduktiv-nomologischen Konzeption Explananda von (vermeintlichen) Gründeerklärungen nicht infrage. Dass jemand einen Grund

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hat zu kann nicht der Erklärung dafür dienen, warum er einen Grund hat zu Das Explanandum muss hier etwas anderes sein. Dennoch findet sich diese Ansicht z. B. bei Lance und Little, die zwar einerseits moralische Gründe als Erklärungen, zugleich aber Grundaussagen als Explananda derartiger Erklärungen begreifen (vgl. hierzu ausführlich 9.2). Ähnlich Dancy 2004: 100.

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7 Der Holismus der Gründe

von Erklärungen verbinden, der zufolge eine Erklärung darin besteht, eine Beschreibung des Explanandums aus einer Prämissenmenge logisch abzuleiten, zu der mindestens eine moralische Generalisierung gehört. Denn angenommen, der Grund p ist eine Tatsache, die zur Erklärung eines Sachverhalts der Form »S soll cp-en« herangezogen wird, und angenommen weiterhin, solche Erklärungen bestehen in dem Nachweis, dass das Explanandum aus einem Prinzip und p logisch folgt. In diesem Fall erhalten wir exakt dieselbe logische Struktur wie im Fall von (GA), nur dass dieser Struktur eine explanatorische Leistung zugeschrieben wird. Der Nachweis, dass diese Struktur den Atomismus in seiner starken Fassung impliziert, ist daher derselbe wie im Fall von (GA).

7.4.4 Kritik der vorgestellten Ansätze zum Verständnis praktischer Gründe Alle drei präsentierten Vorschläge zur Analyse von Aussagen über praktische Gründe haben wir in leicht abgewandelter Form bereits in Kapitel 5 kennen gelernt, dort jedoch als Vorschläge zur Analyse moralischer WeilAussagen. Der in Kapitel 6 etablierte Zusammenhang zwischen moralischem Weil und moralischen Gründen ermöglicht es, die dort vorgebrachte Kritik in zwei Fällen auch in eine Kritik der hier diskutierten Ansätze zum Verständnis praktischer Gründe zu überführen. Wenn praktische Gründe Erklärungen für Sollensachverhalte liefern würden, dann wäre das moralische Weil (das der Formulierung entscheidender Gründe dient) ein erklärendes Weil, und eben diese Annahme ist, wie gesehen, nicht haltbar. Wenn mit Aussagen über Gründe logisch zwingende Argumente für Sollensaussagen formuliert werden, dann dienen Weil-Aussagen der Formulierung solcher Argumente, und dies ist, wie dargelegt, auch nicht der Fall. 45 Die drei vorgestellten Ansätze lassen sich jedoch auch unabhängig von Verbindungen zur Diskussion von Weil-Aussagen wirkungsvoll kritisieren, und die wichtigsten Kritikpunkte werden nun kurz vorgestellt. Dabei wird auf Überlegungen zurückgegriffen, die schon im vorangehenden Kapitel 6 eine Rolle spielten. Dort wurden Eigenschaften moralischer Konflikte herangezogen, um zu verdeutlichen, warum es attraktiv ist, diese generisch in der Begrifflichkeit praktischer Gründe zu beschreiben. Im Folgenden werden nun Merkmale praktischer Gründe und Merkmale von Konflikten zwischen solchen Gründen herangezogen, um nachzuweisen, dass praktische

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Mir ist kein Versuch bekannt, Aussagen über moralische Gründe als Aussagen über das Vorliegen der Resultanzrelation zu analysieren, aber gegen diesen Ansatz spräche, dass dann das moralische Weil im Sinne von Dancys Resultanzkonzeption zu verstehen wäre.

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Gründe nicht so verstanden werden können, wie von (GK), (GA) und (GE) jeweils behauptet. Die kontrafaktische Analyse von Gründen ist letztendlich nichts anderes als die Ross'sche Definition von prima facie-Pflicht, übertragen auf den Begriff des praktischen Grundes, und sie erbt damit auch deren Schwächen. In Kapitel 6 ist darauf hingewiesen worden, dass sich im Einklang mit Ross' Definition nicht verständlich machen lässt, was es heißen kann, prima faciePflichten hinsichtlich ihrer Stärke zu vergleichen. Vor dem Hintergrund der kontrafaktischen Explikation des Begriffs des Grundes bekommen wir nun dasselbe Problem mit praktischen Gründen. Dass p als Grund, der dafür spricht zu