Kants Ethik als System der Zwecke: Perspektiven einer modifizierten Idee der "moralischen Teleologie" und Ethikotheologie 9783110875881, 3110126206, 9783110126204

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Kants Ethik als System der Zwecke: Perspektiven einer modifizierten Idee der "moralischen Teleologie" und Ethikotheologie
 9783110875881, 3110126206, 9783110126204

Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort
I. TEIL
1. Kants Charakterisierung des Menschen als “Zweck an sich selbst”: die notwendige Unterscheidung verschiedener Perspektiven
2. Der genau bestimmte Stellenwert des “Reichs der Zwecke”: das Reich der Zwecke als “Reich des Rechtes”
3. Menschheit, Person und Persönlichkeit. “Autonomie” in Abgrenzung zu bloßer Autarkie und Autokratie
4. Mit Vorblick auf Fichte gefragt: (Verborgene) Ansätze zu einer Interpersonalitätstheorie bei Kant?
II. TEIL
1. Die Sonderstellung der Menschheitsformel: Die Menschheitsformel im Lichte des “obersten Prinzips der Tugendlehre”. Zum Unterschied zwischen dem “kategorischen Imperativ” und dem “Imperativ, der die Tugendpflicht gebietet”
2. Zu Kants Begründung und “Erörterung des Begriffes von einem Zwecke, der zugleich Pflicht ist” und der durchaus unterschiedliche Stellenwert der “Beförderung fremder Glückseligkeit” in Kants Schriften
3. Eine Anmerkung betreffend die Frage nach der “Entwicklung der kantischen Ethik”
III. TEIL
1. Kants Postulatenlehre im Rahmen einer erweiterten und modifizierten Ethiko-theologie
2. Kants Postulatenlehre in fundamentalphilosophischer Perspektive: “Natur und Freiheit” - die “beiden Türangeln der Philosophie” (Kant)
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister

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Rudolf Langthaler Kants Ethik als „System der Zwecke"

w DE

G

Kantstudien Ergänzungshefte im Auftrage der Kant-Gesellschaft herausgegeben von Gerhard Funke und Rudolf Malter

125

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1991

Rudolf Langthaler

Kants Ethik als „System der Zwecke" Perspektiven einer modifizierten Idee der „moralischen Teleologie" und Ethikotheologie

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1991

ClP-Titelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Langthalef, Rudolf: Kants Ethik als „System der Zwecke" : Perspektiven einer modifizierten Idee der „moralischen Teleologie" und Ethikotheologie / Rudolf Langthaler. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1991 (Kantstudien : Ergänzungshefte ; 125) ISBN 3-11-012620-6 NE: Kantstudien / Ergänzungshefte

© Copyright 1990 by Walter de Gruyter & Co., D-1000 Berlin 30. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: W. Hildebrandt, D-1000 Berlin 65 Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, D-1000 Berlin 61

Meinem Lehrer Professor Erich Heintel in Verehrung und Dankbarkeit

INHALTSVERZEICHNIS Vorwort

ix

I. TEIL: 1. I.1. 2. 2.1.

2.2. 3. 3.1. 4. 4.1.

Kants Auszeichnung des Menschen als "Zweck an sich selbst": die notwendige Unterscheidung verschiedener Perspektiven . . . . 3 Der Mensch als Rechtssubjekt 26 Der genau bestimmte Stellenwert des "Reichs der Zwecke": das Reich der Zwecke als "Reich des Rechts" 34 Das "Reich der Zwecke" in der Kantliteratur: repräsentative Beispiele für in der Regel zu weite Charakterisierungen 47 Zu Kants Idee des "höchsten Gutes": das "höchste politische Gut" als der "ganze Endzweck der Rechtslehre" . . . . 54 Menschheit, Person und Persönlichkeit. "Autonomie" in Abgrenzung zu bloßer Autarkie und Autokratie 80 Beispiele für reduktionistische Bestimmungen des kantischen Autonomie-Begriffes (auch) in der jüngeren Kantliteratur . . . . 95 Mit Vorblick auf Fichte gefragt: (Verborgene) Ansätze zu einer Interpersonalitätstheorie bei Kant? Moralität als Ermöglichungsgrund praktischer Ich- Identität bei Kant?

104 142

II. TEIL: 1.

2.

2.1.

Die Sonderstellung der Menschheitsformel: die Menschheitsformel im Lichte des "obersten Prinzips der Tugendlehre". Zum Unterschied zwischen dem "kategorischen Imperativ" und dem "Imperativ, der die Tugendpflicht gebietet" Zu Kants Begründung und "Erörterung des Begriffs von einem Zwecke, der zugleich Pflicht ist" und der durchaus unterschiedliche Stellenwert der "Beförderung fremder Glückseligkeit" in Kants Schriften Beispielhafte Fehleinschätzungen dieser Themenbereiche in der neueren Kantliteratur

157

180 258

3.

Eine Anmerkung betreffend die Frage nach der "Entwicklung der kantischen Ethik"

268

III. TEIL: 1. 1.1. 1.2.

1.3. 1.4. 1.5. 1.6. 1.7.

2.

Kants Postulatenlehre im Rahmen einer erweiterten und modifizierten Ethiko-theologie "Hoffnung" im Rahmen einer erweiterten Idee der "moralischen Teleologie" Die "objektive Realität" des "praktischen Ideals" und der Zusammenhang von "praktischem Endzweck" und "Endzweck der Schöpfung" Zu Kants Bestimmung des "Postulates" und die entsprechende Konzeption des "praktischen Glaubens" Kants "symbolischer Anthropomorphismus" im Rahmen der erweiterten Postulatenlehre Kants modifizierte Postulatenlehre im Lichte ihrer Kritik durch Schelling Kants Aufsatz "Das Ende aller Dinge" im Rahmen der motivlich erweiterten Postulatenlehre "Höchstes abgeleitetes Gut" und "höchstes ursprüngliches Gut" als "symbolische Hypotyposen" der Vernunftidee des "Unbedingten" Kants Postulatenlehre in fundamentalphilosophischer Perspektive: "Natur und Freiheit"- die "beiden Türangeln der Philosophie" (Kant)

279 286 294 310 331 348 358 374

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Literaturverzeichnis

413

Personenregister

423

Sachregister

426

VORWORT Es bedarf doch gewiß keines besonderen Nachweises, daß Kants praktische Philosophie ~ wie kaum eine andere in der Neuzeit ~ von epochemachender Wirkung war. Schon ein Blick auf die einschlägigen Bibliographien zur Moralphilosophie bestätigt jedoch überaus eindrucksvoll die Aktualität Kants in diesen Themenbereichen auch für die Gegenwart. Die zahllosen ~ und so auch kaum noch überschaubaren ~ Detailanalysen zu den einzelnen Formeln des kategorischen Imperativs und ihrem Verhältnis zueinander, auch die Diskussion über den möglichen Stellenwert dieses kategorischen Imperativs als Moralprinzip, bestimmen weithin, wenngleich unter dem Anspruch kritischer Weiterführung des kantischen Ansatzes, das Erscheinungsbild der zeitgenössischen praktischen Philosophie und ihrer Begründungsversuche einer Moralphilosophie. Aber auch Kants Rechtsphilosophie findet in den letzten Jahren unübersehbar und zunehmend neue Beachtung. Und dennoch bleibt zu sehen: die Ansicht, "seit etwa zwanzig Jahren" sei eine "zunehmende wissenschaftliche Beschäftigung mit den ethischen Schriften zu beobachten"1, ist, obwohl richtig, deshalb präzisierungsbedürftig, weil es sich mit der von Kant im engeren Sinne so genannten Ethik und den damit unmittelbar verbundenen Problembereichen augenfällig doch ein wenig anders verhält, zumal diese in der jüngeren Diskussion nicht nur etwa bloß vernachlässigt, sondern weithin überhaupt ganz unberücksichtigt bleiben. Kants Idee einer Ethik als "System der Zwecke der reinen praktischen Vernunft" findet erstaunlich wenig Beachtung. Auch in umfangreicheren Gesamtdarstellungen der praktischen Philosophie Kants ist beispielsweise die späte Tugendlehre der Metaphysik der Sitten entweder gar nicht oder allenfalls anhangsweise und in Fußnoten berücksichtigt. Unter diesen Vorzeichen mag noch am ehesten verständlich werden, daß die Beachtung und Bearbeitung der systematischen Zusammenhänge der späten Schriften Kants, die eben seine ausgeführte und von ihm so genannte

1

Gerhardt V. / Kaulbach F., Kant. Darmstadt 1979, 59. Auch heute noch - sechzig Jahre nach Laupichlers Diagnose - gilt freilich immer noch, daß die Grundeinstellung gegenüber der Ethik Kants bestimmt ist "durch die einseitige Blickrichtung auf die Grundlegungsschriften ["Grundlegung . . .", Kritik der praktischen Vernunft], . . . deren Gehalt mit dem der Kantischen Ethik überhaupt in der Regel einfach gleichgesetzt wird. Allein schon die Existenz der M.d.S. [Metaphysik der Sitten] hätte jedoch darauf aufmerksam machen müssen, daß in den Grundlegungsschriften nicht die ganze Ethik Kants vorliegt." (M. Laupichler, Die Grundzüge . . . S f.)

χ eigentliche Ethik enthalten, mit Kants religionsphilosophischen Auffassungen und auch den einschlägigen zentralen Problemstellungen der Kritik der Urteilskraft ebenfalls als vernachlässigt erscheint. Ohnedem ist jedoch gewiß jene Aufgabe nicht einzulösen, ja nicht einmal als bedeutsam auszuweisen, die Kant allerdings ~ freilich in einem weiten, unpräzisen Sprachgebrauch ~ der "Wissenschaft von der Moral" zudenken möchte: "Moral ist die Wissenschaft, welche die Prinzipien der Einheit aller möglichen Zwecke vernünftiger Wesen apriori enthält." Ein Grund für diese Situation darf zweifellos in der mangelnden Beachtung jenes Sachverhaltes gesehen werden, daß nach Kant die "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" doch lediglich "mit dem Prinzip der Pflicht vorläufige Bekanntschaft macht und eine bestimmte Formel derselben angibt und rechtfertigt" (IV 112 f.), und auch die Kritik der praktischen Vernunft bekanntlich doch vor die primäre Aufgabe gestellt ist, vor der "besonderen Bestimmung der Pflichten als Menschenpflichten" noch "das Subjekt dieser Bestimmung (der Mensch), nach der Beschaffenheit, mit der er wirklich ist, obzwar nur so viel als in Beziehung auf Pflicht überhaupt nötig ist", zu erkennen. Die "besondere Bestimmung der Pflichten" gehört für Kant eben nicht mehr selbst "in eine Kritik der praktischen Vernunft überhaupt, die nur die Prinzipien ihrer Möglichkeit, ihres Umfanges und Grenzen vollständig angeben soll. Die Einteilung gehört also hier zum System der Wissenschaften, nicht zum System der Kritik." (IV 112 f.) Eine Vernachlässigbarkeit der wesentlichen Themen der Metaphysik der Sitten (insbesonders auch ihres zweiten Teiles) und der damit zusammenhängenden Lehrstücke wird man daraus allerdings nicht ableiten dürfen, was nicht zuletzt auch mit Rücksicht auf die Beurteilung des Stellenwertes der Tugendlehre in der Kantliteratur von einiger Relevanz sein sollte. Die in dieser Arbeit vorgestellten Überlegungen wollen nun in Anbetracht dieser Sachlage nicht nur den wesentlichen Prinzipien der Tugendlehre und ihren Differenzierungen einen doch höheren Stellenwert einräumen als dies gemeinhin üblich ist; sie versuchen weiters auch plausibel zu machen, daß die schon genannten späteren Lehrstücke Kants (näherhin die Methodenlehre der Kritik der Urteilskraft, grundlegende Motive der Religionsschrift und des zweiten Teils der Kritik der praktischen Vernunft sowie dann eben die Tugendlehre der Metaphysik der Sitten selbst) als in einem durchaus beachtenswerten motivlich-systematischen Zusammenhang miteinander stehend angesehen werden dürfen, deren maßgebliche Verbindungslinien erst freigelegt und nachgezeichnet werden sollen. Damit sollte es gelingen, die in Kants Werk angelegten, bisher noch weniger beachteten Aspekte und Motive einer modifizierten und erweiterten maßgebenden Idee einer "moralischen Teleologie" und "Ethikotheologie" zutage treten zu lassen, die sich als geeignet erweisen könnten, den doch allzu engen Rahmen des kantischen religionsphilosophischen Programms auszudehnen und zugleich damit auch die Verbindung der

xi kantischen Ethik mit den grundlegenden religionsphilosophischen Themen noch einmal enger zu knüpfen. Dieser Aufweis ist aber nur möglich, wenn sich zeigen läßt, daß Kants Auszeichnung der Weltstellung des Menschen als "Zweck an sich selbst", die zentrale Bestimmung des "praktischen Endzwecks" des Menschen, seine Erörterung des "Zwecks, der zugleich Pflicht ist" (damit das "oberste Prinzip der Tugendlehre") und die Idee des "Endzwecks der Schöpfung" in einer inneren, unauflöslichen Verbindung stehen ~ einem Zusammenhang, der natürlich ebenso der kantischen Idee der umfassenden "moralischen Teleologie" wie auch der Charakterisierung der Ethik als dem "System der Zwecke der reinen praktischen Vernunft" und der kantischen Konzeption der "Ethikotheologie" zugrunde liegt. Der zu erbringende Aufweis der systematischen, unauflöslichen Einheit dieser Themenbereiche steht im Mittelpunkt des diese Arbeit primär leitenden Interesses. Vor der Analyse dieser Probleme bedarf es nun freilich noch einer eingehenderen differenzierenden Untersuchung dieser in engem Zusammenhang stehenden Momente selbst, zumal doch deren jeweiliger Sinngehalt keinesfalls so ohne weiteres als eindeutig gelten darf. So will schon der erste Teil des Buches, der zu den in der Hauptsache beschäftigenden Themen des zweiten und dritten Teiles doch eigentlich erst hinführen soll, die Notwendigkeit aufzeigen, in Kants Begründung der Welt-Stellung des Menschen als "Zweck an sich selbst" durchaus recht unterschiedliche und verschiedenwertige Perspektiven auseinanderzuhalten, was sich in der weiteren Folge natürlich ganz besonders auch für eine präzisere Charakterisierung und Bestimmimg des Stellenwertes der Idee des "Reichs der Zwecke", des "höchsten Guts", die kantische Autonomiekonzeption, besonders aber auch für die Bestimmung von "Person und Persönlichkeit" und für ein angemessenes Verständnis des bei Kant durchaus anzutreffenden Problems einer "qualifizierten (praktischen) Ich-Identität" als bedeutsam erweist. Die Darstellung und Diskussion dieser für die Entwicklung der im weiteren (in den Teilen II und III) behandelten Themen wichtigen Fragen ließ es dem Autor doch als zweckmäßig erscheinen, vergleichsweise ausführlich besonders auch auf neuere Kantliteratur (nicht zuletzt zum Zwecke der Ausgrenzung des eigenen Standpunktes) Bezug zu nehmen — aber auch zum Zweck des Nachweises, daß und wie mißverständliche und reduktionistische Bestimmungen der genannten (im ersten Teil beschäftigenden) Themen nicht selten eine grand-

xii legend einseitige Sicht oder überhaupt die Ausblendung der in den Teilen II und ΙΠ entwickelten Probleme bedingen.2 Schon die Ausführungen des ersten Teiles sollen sodann auch die im zweiten Teil erst zu begründende und zu entfaltende Auffassung vorbereiten, daß der berühmten Menschheitsformel des kategorischen Imperativs in der Reihe der zu unterscheidenden Formeln nicht nur eine Sonderstellung zukommt, sondern diese Menschheitsformel eben letztlich überhaupt ~ über ihren "negativen", "eingrenzenden" Aspekt hinaus ~ erst über das von Kant in der "Erörterung des Begriffes von einem Zweck, der zugleich Pflicht ist", entwickelte "oberste Prinzip der Tugendlehre" und ihren Maßstab einen erfüllenden Sinn gewinnt, und damit aber auch die von Kant immer wieder angeführte "praktische revolutionierte Denkungsart" im Grunde allein über die zu denkende Einheit von "oberstem Prinzip der Moral" und "oberstem Prinzip der Tugendlehre" in zureichender Weise zu bestimmen ist. Anders ist nämlich, so soll sich zeigen, der "ganze moralische Zweck" und die "höchste Stufe der Moralität" auch nach Kant nicht angemessen zu bestimmen. Dieser "Zweck, der zugleich Pflicht ist", bedarf als Konstituens dieses "praktischen Endzwecks des Menschen" insbesondere in den hier noch zu unterscheidenden Vermittlungsstufen einer genaueren Analyse. Anhand einiger repräsentativer Beispiele aus der Kantliteratur soll wiederum aufgewiesen werden, wie in gebührender Rücksichtnahme auf diese viel zu wenig beachteten Motive der kantischen Ethik auch zahlreiche, weithin zu Gemeinplätzen avancierte Einwände gegen die Ethik Kants gegenstandslos werden ~ was etwa die vielbeklagte angebliche bloße "Rechtsförmigkeit" der kantischen Ethik, den häufig falsch verstandenen Rigorismus und Formalismus dieses Ansatzes, betrifft. Es ist lediglich eine Folgerung daraus, daß die genaue Rücksicht auf diese Fragen im weiteren auch das Problem der "Entwicklung der Ethik Kants" aufwirft und in neuem Licht erscheinen läßt. Von Kants Bestimmung dieser Ethik als dem "System der Zwecke der reinen praktischen Vernunft" ist nun aber diejenige einer Idee der "Ethikotheologie" nicht abzutrennen -- erst recht nicht, wie sich sodann zeigen soll, bei

2

Die in diesem Buch wiederholt vorgenommene streiflichtartige Bezugnahme auf Beispiele aus der Kantliteratur kann und soll freilich nicht als Literaturbericht gelten. Sie will aber auch gar nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Auswahl der hier angeführten Literatur ohne Zweifel einer gewissen Beliebigkeit unterliegt. In ganz besonderer Weise gilt dies für die einschlägige Literatur aus dem anglo-amerikanischen Sprachraum. Andere fremdsprachige Kantliteratur muß überhaupt unberücksichtigt bleiben. Neben den mangelnden Fremdsprachenkenntnissen und dem Wunsch des Autors, diese Arbeit einem möglichen AbschluB zuzuführen, war auch das Anliegen, den ohnehin überlasteten Anmerkungsteil nicht noch mehr zu belasten, ein dafür mitentscheidender Grund.

xìiì Voraussetzung einer radikalisierten Konzeption der Idee der "moralischen Teleologie". Damit gewinnt der von Kant so nachdrücklich behauptete Zusammenhang zwischen Moralität und Religion eine ganz spezifische Bedeutung; Kants bekannter Hinweis, die Moral führe "unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert, in dessen Willen dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll" (IV 652), erhält so einen ganz spezifischen Richtungssinn. Entsprechend dazu resultiert die Notwendigkeit (aber auch erst die Möglichkeit) einer der modifizierten Idee der "moralischen Teleologie" genügenden Bestimmung des "praktischen Vernunftglaubens" und einer ihm angemessenen Bestimmung der Postulate der praktischen Vernunft. So sehr diese für die Beantwortung der kantischen Frage "Was ist der Mensch?" entscheidende Verbindung der Fragen "Was soll ich tun?" und "Was darf ich hoffen?" - im Zusammenhang der Ausmessung des Horizontes des menschlichen Wissens - im Zeichen des kantischen "Weltbegriffs der Philosophie" und damit der ihm angemessenen Idee der "Weisheit" stehen, so wenig darf dies übersehen lassen, daß - und welche ~ ganz grundlegende Motive des "Schulbegriffs der Philosophie" indessen auch diesem so vielgeschmähten (und ebenso vielverkannten) Lehrstück der Postulatenlehre zugrunde liegen, ohne die in der weiteren Folge auch Kants Kritik der Urteilskraft in ihren systematischen Grundfragen (schon in ihren beiden Einleitungen) letztendlich nicht zu verstehen ist. Somit ergibt sich die Aufgabe, diese Postulatenlehre auf ihre vorausgesetzten (zugrunde liegenden) fundamentalphilosophischen Wurzeln und Problemperspektiven hin wenigstens in ersten Ansätzen noch freizulegen. Wegen der Häufigkeit der Zitation werden die Belegstellen aus Kants eigenen Werken (auch um der besseren Lesbarkeit willen) im Text selbst angeführt. Ich habe reichlichen Grund, zu danken. Die Drucklegung der vorliegenden Arbeit wäre ohne großzügige finanzielle Unterstützung nicht möglich gewesen: diesbezüglich weiß ich mich der Diözese St. Pölten, dem Amt der niederösterreichischen Landesregierung, der Stadtsparkasse Amstetten, der Ersten Allgemeinen Versicherung, der Österreichischen Länderbank (St. Pölten), der PSK - Bank St.Pölten und meiner Heimatstadt Amstetten zu besonderem Dank verpflichtet. Mein herzlicher Dank gilt auch den Herren Professoren Funke und Malter für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe der Kant-Studien-Ergänzungshefte sowie Herrn Professor Wenzel vom Verlag Walter de Gruyter. Dank

xiv

schulde ich den Herren Helmut Achleitner und Alfred Ortmayer: ohne ihre Hilfe hätte ich den technischen Teil der Arbeit nicht bewältigen können. In ganz anderer Weise habe ich freilich meinem Lehrer Professor Erich Heintel zu danken: ihm ist dieses Buch gewidmet.

Amstetten, im Juni 1990.

I. TEIL

1. Kants Charakterisierung des Menschen als "Zweck an sich selbst": die notwendige Unterscheidung verschiedener Perspektiven. Bekanntlich ist es Kants Lehre zufolge die Stellung des Menschen als "Verstandeswesen", die ihn ausschließlich als "kulturfähiges Wesen" auszeichnet und somit in der Reihe des Lebendigen den Rang des "letzten Zwecks der Natur" für sich beanspruchen läßt. Es ist ohne Zweifel interessant und für die Interpretation der einschlägigen moralphilosophisch- ethisch- geschichtsphilosophischen Lehrstücke Kants auch keineswegs so folgenlos, wenn nach Kants wiederholt vorgetragener Ansicht schon die bloße Fähigkeit, der einfachen Vorstellung einer "äußeren Zweckmäßigkeit" folgend zu handeln (d. i. das darin aktuierte Vermögen des Verstandes, "sich willkürlich Zwecke zu bestimmen"), diesen Menschen in den Rang eines "Zwecks an sich selbst" versetzt und darin somit die Natur ihren "letzten Zweck" als "Kultur" erreichen (wenn auch noch nicht ausschöpfen) läßt, denn so gilt: "Der Verstand muß also bloß zur Natur gehören, und, wenn der Mensch bloß Verstand hätte, ohne Vernunft, und freien Willen, oder [aber?] ohne Moralität, so würde er sich in nichts von den Tieren unterscheiden, und vielleicht bloß an der Spitze ihrer Stufenleiter stehen, da er hingegen jetzt, im Besitz der Moralität, als freies Wesen, durchaus und wesentlich von den Tieren verschieden ist, auch von dem klügsten (dessen Instinkt oft deutlicher und bestimmter wirkt, als der Verstand des Menschen.)" (VI 342) Und auch mit Blick auf die "Methodenlehre" der Kritik der Urteilskraft bleibt zu sehen, daß der Mensch als "letzter Zweck der Natur als eines teleologischen Systems" (V 551) eben das "einzige Wesen auf Erden" ist, "welches Verstand, mithin ein Vermögen hat, sich selbst willkürlich Zwecke zu setzen" und deshalb als "betitelter Herr der Natur" zu gelten hat, weil doch der letzte Zweck, den die Natur in diesem zu erreichen vermag, nur "die formale, subjektive Bedingung" sein kann, "nämlich der Tauglichkeit: sich selbst überhaupt Zwecke zu setzen und (unabhängig von der Natur in seiner Zweckbestimmung) die Natur den Maximen seiner freien Zwecke überhaupt angemessen als Mittel zu gebrauchen. . . Die Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt (folglich in seiner Freiheit) ist die Cultur. Also kann nur die Cultur der letzte Zweck sein, den man der Natur in Ansehung der Menschengattung beizulegen Ursache hat." (V 554) Dieser im Menschen also erreichte "Zweck der Natur" soll nun allerdings "nur in der Gattung, nicht aber im Individuum" seine volle Verwirklichung erreichen können. Dabei ist nun nicht zu übersehen, daß in solcher Perspektive das von Kant als "ganzer Endzweck der Rechtslehre" ausgezeichnete "höchste politische Gut" selbst doch in die eigentümlich-prekäre Rolle einer bloßen

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Der Mensch als Zweck an sich selbst

Voraussetzung (Bedingung) des von Kant immer wieder klar ausgegrenzten "letzten Zwecks der Natur" gerät : "Die formale Bedingung, unter welcher die Natur . . . ihre Endabsicht allein erreichen kann, ist diejenige Verfassung im Verhältnisse der Menschen untereinander, wo dem Abbruche der einander wechselseitig widerstreitenden Freiheit gesetzmäßige Gewalt in einem Ganzen, welches bürgerliche Gesellschaft heißt, entgegengesetzt wird; denn nur in ihr kann die größte Entwicklung der Naturanlagen geschehen. Zu derselben wäre aber doch, wenn gleich Menschen sie auszufinden klug und sich ihrem Zwange willig zu unterwerfen weise [!] genug wären, noch ein weltbürgerliches Ganze, d. i. ein System der Staaten, die aufeinander nachteilig zu wirken in Gefahr sind, erforderlich." (V 555) Es ist nun aber unschwer zu erkennen, daß Kants unterschiedliche Argumentation sich nicht einem von Kant selbst ausgewiesenen Perspektivenwechsel verdankt, sondern vielmehr doch in sachlicher Hinsicht nicht imbedeutende Akzentverschiebungen mit sich bringt: die "bürgerliche Gesellschaft" selbst ist hier — unübersehbar anders als im geschichtsphilosophischen Kontext der kantischen Überlegungen ~ keinesfalls verstanden als die die "fortgehende Kultur" gemäß dem "Plane der Natur" krönende und abschließende Wirklichkeit einer "vollkommenen bürgerlichen Vereinigung in der Menschengattung", sondern diese fungiert vielmehr selbst als "formale Bedingung" (!) der "Endabsicht der Natur" ~ und d. h. eben: sie ist gleichsam deren Instrument und keineswegs schon diese selbst! Eben in dieser Weise argumentiert Kant auch schon im fünften Satz seiner "Ideen zu einer allgemeinen Geschichte . . .": die "Absicht der Natur", "daß der Mensch alles, was über die mechanische Anordnung seines tierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selbst herausbringe" (VI 36), bediene sich demnach — dies ist nun die doch einigermaßen überraschende Essenz solcher kantischen geschichts- (kultur-) philosophischen Perspektive ~ der "vollkommenen gerechten bürgerlichen Verfassung" als dem einzig probaten Mittel zur Erreichung dieses Zweckes: denn so allein ist dieser imstande, "sich nach seinen von ihm selbst genommenen Zwecken zu perfektionieren". (VI 673) Freilich: dieses bloße "Vermögen der Zwecke" hätte so für sich genommen noch jede Orientierung an dem normativen Begriff der Humanität außer sich, charakterisiert es doch lediglich den Rang eines "klugen Tieres" und dessen Befähigung, gleichsam in "Überkompensation" seiner "Instinktungesichertheit" es sich "verständig" einzurichten. Zu fragen bleibt überdies, ob nicht der Umstand, daß die mögliche Verwirklichung der genannten "formalen Bedingung" selbst sich "nur in der Gattung, nicht aber in Individuen" erfüllen soll, sich in Anbetracht der so entstandenen Problemsituation als prekär erweist. Spiegelt sich dies nicht auch in Kants Anfrage an Herder (in der Rezension zu Herders "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit") augenfällig wider, wenn dort etwa zu lesen ist: "Wie, wenn aber nicht dieses Schattenbild der Glückseligkeit, welches sich ein jeder selbst

Der Mensch als Zweck an sich selbst

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macht, sondern die dadurch ins Spiel gesetzte immer fortgehende und wachsende Tätigkeit und Kultur, deren größtmöglicher Grad nur das Produkt [!] einer nach Begriffen des Menschenrechts geordneten Staatsverfassung, folglich ein Werk der Menschen selbst sein kann, der eigentliche Zweck der Vorsehung wäre?" (VI 804) Daß Kant hier Klarheit vermissen läßt, tritt ganz unverkennbar zutage: Kultur als "letzter Zweck der Natur" hat einmal die "bürgerliche Gesellschaft" zu ihrer unabdingbaren Voraussetzung, dann wiederum ist diese letztere selbst als "geordnete Staatsverfassung" "größtmöglicher Grad" des "Produktes dieser Kultur".1 Kant weiß ebenso um die Möglichkeit einer "gleichsam planlos fortgehenden Kultur", die um die Idee der "eigenen allgemeinen und zwar äußeren Gesetzmäßigkeit, welche das bürgerliche Recht heißt", gänzlich unbekümmert bleibt (vgl. etwa VI 95 Anm.), wie andererseits die im "zivilisierten Zustand" erreichbare "vollkommene bürgerliche Verfassung" wiederum das "äußerste Ziel der Kultur" (VI 94 Anm.) genannt werden kann.2 Festzustellen ist demnach eine innere Unausgeglichenheit, die den geschichts- und kulturphilosophischen Ausführungen Kants doch unübersehbar innewohnt. Noch der seine späte "Anthropologie in pragmatischer Absicht" leitende Aspekt ist die Vorstellung der "Perfektionierung des Menschen durch fortschreitende Kultur", die den Menschen so doch überhaupt erst aus der "Rohigkeit der Natur" heraustreten läßt und damit den Eintritt in den Entwicklungsstand des "animal rationale" zu sichern vermag. Es ist dies nichts anderes als das dem geschichtlichen Wege selbst immanente "Telos" dieser Entwicklung : "Der Mensch ist durch seine Vernunft bestimmt, in einer Gesellschaft mit Menschen zu sein, und in ihr sich durch Kunst und Wissenschaft zu kultivieren, zu zivilisieren und zu moralisieren, wie groß auch sein tierischer Hang sein mag, sich den Anreizen der Gemächlichkeit und des Wohllebens, die er Glückseligkeit nennt [!], passiv zu überlassen, sondern vielmehr tätig, im Kampf mit den Hindernissen, die ihm von der Rohigkeit seiner Natur anhängen, sich der Menschheit würdig zu machen." (VI 678) Auch Kants kleiner (aus dem Jahr 1785, d. i. dem Erscheinungsjahr der Grundlegungsschrift stammender) Aufsatz "Mutmaßlicher Anfang der Men-

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In den Schlußpartien des Aufsatzes (aus dem Jahr 1785) "Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte" heißt es nun freilich, "nur nach einer (Gott weiß wann) vollendeten Kultur würde ein immerwährender Friede [der nach Kant immerhin der "ganze Endzweck" der Rechtslehre ist] für uns heilsam und auch durch jene allein möglich sein". (VI 100) Auch seiner "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" zufolge ist erst mit der bürgerlichen Verfassung einer Republik "der höchste Grad der künstlichen Steigerung der guten Anlage in der Menschengattung zum Endzweck ihrer Bestimmung" erreicht. (VI 681) In geschichtsphilosophischer Perspektive bleibt dies freilich der "physiologischen Anthropologie" immanent, die darlegt, "was die Natur aus dem Menschen macht."

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schengeschichte" verdient in diesem Zusammenhang Beachtung. Kant läßt hier in einem "vierten und letzten Schritt" der Vernunft den Menschen sich als "Zweck der Natur" erfassen und zugleich damit eben den Anspruch erheben, "selbst Zweck zu sein, von jedem anderen auch als ein solcher geschätzt, und von keinem bloß als Mittel zu anderen Zwecken gebraucht zu werden." Genau dies sei es doch, dieser geschichtsphilosophischen Perspektive zufolge, worin erst der eigentliche "Grund der so unbeschränkten Gleichheit der Menschen" zu finden sein soll. (VI 91) Diese Sicht liefert nun für Kant aber auch de facto den Legitimationsgrund dafür, die Entwicklung der Kultur — von den "ersten und rohen Anlagen . . . nun nach und nach alle menschliche Kunst, unter welcher die der Geselligkeit und bürgerliche Sicherheit die ersprießlichste ist" (VI 97) — als die geschichtlich sich vollziehende, gleichsam entelechiale Entfaltung dieses so begründeten (s. u. 34 ff.) "Reichs der Zwecke" anzusehen, d. h. als sich vervollkommnende Geschichte der Genese der menschlichen Naturanlagen und das immanente Telos der Kulturentwicklung der Menschengattung ~ mit dem im "Reich der Zwecke" zu erreichenden äußersten Ziel: der "Liberalisierung der Denkungsart". Dieses "Reich der Zwecke" ist, jedenfalls in geschichtsphilosophischer Perspektive, begründet in dem Status des Menschen als Kulturwesen und formuliert so Weg und Ziel der Entfaltung und Vervollkommnung dieses "letzten Zwecks der Natur" (die Kultur und das ihrer fähige Wesen), was es deshalb zu behaupten verbietet, "die Idee der Moralität gehöre noch zur Kultur" (so allerdings Kant selbst: VI 44) ,3 Die von Kant selbst vollzogene wichtige Unterscheidung zwischen "letztem Zweck der Natur" und

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Es bestätigt sich somit auch in dieser Perspektive die mit ausdrücklichem Blick auf Kant getroffene Feststellung Riedels: 'Geschichtsphilosophie ist, richtig verstanden, ein Kapitel 'angewandter' praktischer Philosophie — historische Genese jener 'kollektiven', den Einzelwillen übergreifenden 'Einheit des a priori vereinigten Willens' aller in der Zeit, welche die rechtlich-praktische Vernunft im Begriff dem von ihr begründeten Aufbau sozialer Institutionen zugrunde legt." Riedel bemerkt völlig zu Recht: "Kultur — so lautet nun die von Kant vorgenommene terminologische Unterscheidung in der Methodenlehre geschichtsphilosophischer Deutung —, die Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt (folglich in seiner Freiheit) ist der letzte Zweck der Natur, aber nur unter der Voraussetzung eines Endzwecks. Der Grundsatz der Geschichtsphilosophie, wonach der Mensch so, wie ihn die Erfahrung zeigt, zur Verwirklichung jenes Endzwecks unfähig sei, bleibt unangetastet. Kant macht jedoch deutlich, daß für die Einführung des Begriffs der Kultur als des letzten Naturzwecks in die Geschichtsphilosophie die Beziehung auf das Moralprinzip, d. h. die Absicht des Menschen, von den kulturellen Mitteln, Handlungen und Zwecken einen moralischen Gebrauch zu machen, methodisch und terminologisch unumgänglich ist." (M. Riedel, Geschichtstheologie, Geschichtsideologie, Geschichtsphilosophie . . . 222 f.)

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"Endzweck" sprengt, wie noch genauer zu zeigen sein wird, ohne Zweifel solchen Rahmen.4 Der seiner selbst in der angeführten Weise durch die sich angeblich "über die Gesellschaft mit Tieren gänzlich erhebende Vernunft" — die sich indessen als bloßer Verstand entpuppt, dem als solchem eben die Ausrichtung an dem Vernunftgedanken des "Unbedingten" fehlt und welcher demnach auch gar keinen "unbedingten Zweck" zu denken erlaubt — als "Zweck der Natur" bewußt gewordene Mensch ist nun freilich diesen Erwägungen zum "mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte" zufolge allein schon dadurch "in eine Gleichheit mit allen vernünftigen [!] Wesen, von welchem Range sie auch sein mögen getreten . . . : nämlich, in Ansehung des Anspruchs, selbst Zweck zu sein, von jedem anderen auch als ein solcher geschätzt und von keinem bloß als Mittel zu anderen Zwecken gebraucht zu werden." (VI 91) Ausdrücklich in diesem Sachverhalt möchte Kant mm auch den "Grund der so unbeschränkten Gleichheit des Menschen, selbst mit höheren Wesen", erkennen. Es ist auch hier leicht zu erkennen, daß dies den Menschen freilich lediglich als "verständiges" Wesen ausweist, das als "Zweck der Natur" jener Vorstellung einer "äußeren Zweckmäßigkeit" fähig ist, wie "ein Ding der Natur einem anderen als Mittel zum Zwecke dient." (V 545) Die Weltstellung des Menschen als "letzter Zweck der Natur" wäre so gesehen jedoch auch schon die hinreichende Antwort auf den von Kant bemerkten Umstand: "Wäre kein Zweck, so wären auch die Mittel umsonst und hätten keinen Wert", denn "ein Ding in der Natur ist ein Mittel dem anderen, das läuft immer fort, und es. . . würde die Reihe kein Ende haben" ~ was es nun für Kant eben erforderlich macht, "am Ende ein Ding zu denken, das selbst Zweck an sich selbst" ist aufgrund seiner "Freiheit, daß er einen eigenen Willen hat."5 Dem andernfalls drohenden unendlichen Regreß verschafft also schon der "Rang" des Menschen

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Dies meint wohl auch der Hinweis Anackers: "Die Tauglichkeit zu beliebigen Zwecken ist selbst Zweck — durch sie wird das Verhältnis des Menschen zur Natur universal, beliebig spezifizierbar. Dies allein ist jedoch keine moralische Leistung; moralisch sinnvoll wird sie, sofern sie als Mittel angesehen werden kann, welches den Menschen als moralisches Subjekt repräsentiert." (Natur und InterSubjektivität 105) - Zur "Zweckeformel" s. auch H. E. Jones (Kants principle . . .) und M. G. Singer (Verallgemeinerung . . . bes. 272 ff.) Kant, Akademie-Ausgabe XXVII 1319 ff. Daß Kant jedoch diesen tatsächlich ganz besonders im geschichtsphilosophischen Kontext maßgebenden "moralneutralen Sinn von Zweck an sich selbst" (so Prauss, Kant über Freiheit als Autonomie 143 u. ö.) aufgegeben bzw. korrigiert hat, ist wohl nicht so zufällig.— Kritisch äußern sich zum "Zweck an sich selbst" auch Downie-Telfes und Haezrahi.

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als solcher "letzter Zweck der Natur" ein Ende, was freilich in keiner Weise dazu ausreicht, um dessen absolute Sonderstellung und Würde zu begründen.6 Bemerkenswert und ebenso folgenreich ist nun bezüglich Kants Argumentation in dem Begründungsgang seiner moralphilosophischen Position jedoch dies, daß diese so "begründete" Auszeichnung des Menschen, "selbst Zweck zu sein und von keinem bloß als Mittel zu anderen Zwecken gebraucht zu werden" (VI 91), jedenfalls in einer gewissen Hinsicht auch seiner einschlägigen Gedankenführung in der (in demselben Jahr erschienenen) "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" zugrunde liegt7, der zufolge eben "sich notwendig der

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Vielleicht am prägnantesten tritt dieses Defizit der kantischen Argumentation von einer späten Stelle der Tugendlehre aus betrachtet zutage, die zugleich auch den Unterschied der Begründungsganges verdeutlichen kann: "Der Mensch im System der Natur . . . ist ein Wesen von geringer Bedeutung und hat mit den übrigen Tieren, als Erzeugnis des Bodens, einen gemeinen Wert . . . Selbst daß er vor diesen den Verstand [!] voraus hat und sich selbst Zwecke setzen kann, das gibt ihm doch nur einen äußeren Wert seiner Brauchbarkeit... allein der Mensch als Person betrachtet, d. i. [ausschließlich eben] als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben, denn als ein solcher [!] . . . ist er nicht bloß als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d. i. er besitzt eine Würde (einen absoluten inneren Wert) wodurch er allen vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnötigt." (IV 568 f.) Kant sah recht genau, daß anders (also in der genannten bloß "verständigen" Weise) auch die Idee eines "unbedingten Zweckes" undenkbar (unbegründbar) bleiben müßte — ein Gedanke, der freilich gerade in dem Prinzip der Tugendlehre eine so maßgebliche Bedeutung erlangt. So gesehen - aber auch nur so - läßt sich tatsächlich mit Prauss (Kant über Freiheit als Autonomie 136) behaupten: "Mindestens am Anfang und im Ansatz legt Kant seiner praktischen Philosophie den Menschen nicht allein als theoretisches Selbstverhältnis sondern insbesondere auch als praktisches, und dies zunächst in einem ganz moralneutralen Sinn", zugrunde. Es ist aber doch nicht recht einsichtig — ja geradezu widersinnig —, wenn Prauss im weiteren meint: "Daß eben dadurch aber der Mensch einen 'Wert', ja sogar einen 'inneren' und 'absoluten' Wert darstellt, bedeutet somit lediglich [!], daß er als theoretisches und praktisches Selbstverhältnis jeweils immer wieder zunächst einmal allein 'sich selber wert ist.' Denn 'wert' ist er danach eben in dem ganz moralneutralen Sinne seines Selbstverhältnisses als eines grundsätzlichen Egoismus und besitzt zunächst einmal auch nur in diesem Sinne seine 'Würde' als 'Person' im Unterschied zu allen anderen Dingen, welche einschließlich der Tiere bloße 'Sachen' sind. Und dem neutralen Sinn gemäß, in dem der Mensch danach ursprünglich ein Bewußtsein von und Wille zu sich selbst und damit Freiheit eines theoretischen wie praktischen Selbstverhältnisses wäre, müßte er zunächst auch in neutralem Sinne schon Autonomie sein, aus welcher Kant so etwas wie moralische Autonomie dann überhaupt erst abzuleiten hätte." (Prauss 137 f.) Prauss findet freilich die kantische "Preisgabe der moralneutralen Begründung des Menschen als Zweck an sich selbst" unverständlich: "Was nämlich sollte es wohl heißen, sich Selbstzweck könne der Mensch nur unter der Bedingung sein, daß er zunächst einmal [!] die anderen Menschen als Selbstzweck sich selber zum Zweck macht? Denn gerade letzteres kann als zurechenbare Handlung aus Willensfreiheit heraus überhaupt nur insoweit verständlich sein, als der Mensch auch dabei im genannten Sinne

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Mensch sein eignes Dasein" in dieser Weise (d. h. als "Zweck an sich selbst") vorstelle: und "sofern ist es also ein subjektives Prinzip menschlicher Handlungen. So stellt sich aber auch jedes andere vernünftige Wesen sein Dasein, zufolge eben desselben Vernunftgrundes [!], der auch [!] für mich gilt, vor." (IV 61) Dieser zentrale Passus der Grundlegungsschrift hat also

grundsätzlich zunächst einmal sich Selbstzweck ist." (ebd. 139) Besagt aber dieser Einwurf denn mehr als dies, daß letztlich doch eben nur unter Voraussetzung der Freiheit als der Wesensbestimmung des Menschen Autonomie in moralisch qualifiziertem Sinne möglich ist? Richtig ist freilich, daß Kant tatsächlich eine Entwicklung durchgemacht hat - mag sein sogar bis zu dem "genauen Gegenteil jener ursprünglichen Ansicht vom Menschen." (ebd. 141) Was Prauss "vollends unverständlich", ja gar "skandalös" findet, ist in Wahrheit die Position Kants in seiner späten Tugendlehre: daß nämlich "das Sich-Selbstzweck-Sein genau darin bestehen könnte, sich das jeweilige Sich-Selbstzweck-sein anderer Menschen selber zum Zwecke zu machen." (ebd. 140) Ähnlich hatte Prauss schon in seinem Aufsatz "Kants Problem der Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft" argumentiert; denn auch hier sieht Prauss eben den Stellenwert des "Zwecks an sich selbst", den Prauss freilich bezeichnenderweise ohne weitere Differenzierung in aufgezeigter Übereinstimmung mit dem genannten Aufsatz "Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte" und Grundlegungsschrift interpretiert, darin begründet, "daß er als einziges Wesen, soweit wir wissen, in einem Verhältnis zu sich selbst steht." (Kants Problem . . . 295) Prauss übersieht keineswegs Kants zahlreiche Hinweise, "in denen Kant behauptet, Zweck für sich selbst [!] sei der Mensch erst dadurch, daß er sich selber das Moralgesetz auferlege" - auch wenn Prauss die "moralneutrale "Bestimmung des" Zwecks an sich selbst " vorziehen und gegen die nicht-'moralneutrale Bestimmung" des "Zwecks an sich selbst" u.a. auch dies einwenden möchte: "Wäre der Mensch nur dadurch Zweck an sich selbst, daß er sich das Moralgesetz auferlegt, so würde Kant mit diesem Äquivalent für den Kategorischen Imperativ sagen: Moralisch verpflichtet sei jeder von uns dadurch, daß auch jeder andere moralisch verpflichtet sei, — eine Formulierung, die das Moralgesetz bereits voraussetzt und von da her zirkulär ist." Ob Prauss damit dem Anspruch der Tugendpflicht, "sich den Menschen überhaupt zum Zwecke zu machen", auch nur in irgendeinem Sinne gerecht zu werden vermag? Ist denn Prauss' Argumentation nicht schon deshalb ganz schief, weil doch ein Grundargument Kants bekanntlich dies ist, daß einer Handlung als solcher bloß ihre "Pflichtmäßigkeit", nicht aber "moralischer Wert", anzusehen ist? Muß man denn nicht diesen moralischen Wert des je Anderen (weil der praktischen Bestimmung des Menschen entsprechend) gleichsam auf "Vorschuß" notwendig unterstellen (voraussetzen), weil im gegenteiligen Fall schon der "Pflicht der Achtung vor der Menschheit" in dessen Person widersprochen wäre?- Von einer "Art von Autonomie zur Glückseligkeit" zu sprechen, wie Prauss vorschlagen möchte, scheint nicht nur "weit . . . außerhalb von Kants Gesichtskreis" zu liegen, wie Prauss allerdings meint (Prauss, Kants Problem . . . 297), sondern dürfte überdies auch nicht unbedingt zielführend sein: meint dies doch wohl gar nichts anderes als die verständige Freiheit der Willkür, sich beliebige Zwecke zu setzen bzw. das Prinzip: "Niemand kann mich zwingen, auf seine A r t . . . glücklich zu sein, sondern ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut d ü n k t . . . " (VI 145) So läßt sich sagen: "Glücksverfolgung — nicht Glück ist Anspruchsinhalt aufklärungsspezifischer Menschenrechte." (H. Lübbe, Religion nach der Aufklärung, Graz-Wien-Köln 1986, Anm. 6)

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unverkennbar eine recht genaue Entsprechung in dem vorhin angeführten kleinen geschichtsphilosophischen Aufsatz Kants, im genaueren in der dort ganz deutlich ausgesprochenen Vorstellung einer "Gleichheit mit allen vernünftigen Wesen, von welchem Range sie auch sein mögen." Gleichwohl sind jedoch auch die schwerwiegenden Defizite dieser Argumentation unübersehbar, die unweigerlich geradewegs in Widersprüche führen: in der hier von Kant vorgeschlagenen Form ist nämlich offenkundig weder menschliche Würde zu begründen, noch kann dieser solcherart eingeführte Gedanke des "Selbstzwecks" ("Zwecks an sich") zur Fundierung des kategorischen Imperativs (wie Kant doch auch selbst betont) oder auch zur Begründung eines "Endzwecks der Schöpfung" (s. V 557 ff.) hinreichend sein. Das von Kant in diesem Kontext zugrunde gelegte, die Zwecksetzung erst ermöglichende praktische "Selbstverhältnis" und die darauf gegründete "Auszeichnung" des Ranges des Menschen ist ohne Zweifel doch kein tragfähiges Fundament, auf das sich gar Kants Moralphilosophie und Ethik (als das "System der Zwecke") errichten und auch stützen ließe.8 Nichts nämlich hinderte im genannten Falle, d. i. bei solcher Beschränkung der Begründung des definierten Status als "Zwecks an sich selbst" durch die bloße "Kulturfähigkeit" (die "Fähigkeit des Verstandes, Zwecke zu setzen" und einem entsprechenden Selbstverständnis als "Zweck an sich selbst"), dieses Wesen Mensch so eben bloß als "homo phaenomenon"

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Ilting spricht bekanntlich von einem diesbezüglichen "naturalistischen Fehlschluß" Kants. Denn die hier interessierende "Deduktion beruht auf dem Grundsatz: Die vernünftige Natur existiert als Zweck an sich selbst . . . Sie stützt sich mithin auf einen Satz der Metaphysik der Natur." (H. Ilting, Der naturalistische Fehlschluß 124) Meint denn diese Notwendigkeit, "sein eignes Dasein als Zweck an sich selbst vorzustellen", nicht die Bedingung der Möglichkeit des " Wollen-Könnens" — konstituiv eben für ein "vernünftiges Wesen" ? — Auch nach G. Krüger sei es nun doch "nötig zu sehen, daß damit nicht schon ein moralischer Grundwert — der Wert der menschlichen Person — entdeckt ist. Ich erkenne hier nicht unmittelbar eine angeborene moralische Würde jeder menschlichen Seele . . . Kant sagt mit Bedacht: das eigne Dasein stelle sich jeder als Zweck an sich selbst vor. Der Gedanke davon bliebe [so freilich lediglich] ein subjektives, höchst unmoralisches Prinzip, wenn er bloß ein beliebiger Entwurf wäre. Aber diesen Gedanken meiner Willkür stelle ich mir notwendig vor, als vernünftige Natur . . . [d. h. für Krüger] also als ein faktisch existierendes Wesen." (G. Krüger, Philosophie und Moral . . . 91 f.) Ganz ausdrücklich spricht Kant ja schon in seiner Grundlegungsschrift auch davon, daß die vernünftigen Wesen als Personen schon "ihre Natur [ ! ] . . . als Zwecke an sich selbst, d. i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet." (IV 60) — Auch schon die Reflexion 7305 belegt, daß Kant nicht immer (sondern doch erst vergleichsweise spät) diese Unterscheidung und damit auch die ihr entsprechende Begründung der menschlichen Würde vollzogen hat: "Die Würde der Menschheit in seiner eigenen Person ist die Persönlichkeit selbst, d. i. die Freiheit; denn er ist nur Zweck an sich selbst, sofern er ein Wesen ist, das sich selbst Zwecke setzen kann. Die Vemunftlosen, die das nicht können, haben nur den Wert der Mittel." (Reflexion 7305, in Akademie-Ausgabe XIX 307; vgl. Akademie-Ausgabe XXVII1319).

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anzusehen, dessen ganzes verständiges Sinnen und Trachten ausschließlich in den Dienst der Bewältigung und Beförderung seiner wie auch immer sublimierten "Daseinsinteressen" gestellt ist, ohne daß in dieser Weise freilich der Begriff einer "Verbindlichkeit" auch nur ins Blickfeld zu kommen vermag.9Im weiteren bleibt auch ganz besonders darauf zu achten, daß doch Kant selbst in aller nur denkbaren Entschiedenheit und auch mit tatsächlich guten Gründen sich dagegen ausgesprochen hat, den kategorischen Imperativ als das "Prinzip aller Pflicht" und seine Realität "aus der besonderen Eigenschaft der menschlichen Natur ableiten zu wollen", d. i. eben auch "aus der besonderen Naturanlage der Menschheit,. . . aus gewissen Gefühlen und Hange, ja sogar, wo möglich, aus einer besonderen Richtung, die der menschlichen Vernunft eigen wäre." (IV 56) Die Prinzipien des Moralischen von welchen Eigentümlichkeiten des Menschen auch immer, von "Anthropologischem" im weitesten Sinne — und sei es von der besonderen Natur der menschlichen Vernunft - abhängig zu machen, verfällt sonach Kants ausdrücklicher Kritik. Wenn nun aber nach Kants eigenem Hinweis das "Prinzip aller Pflicht" den Grund seiner Möglichkeit allein in der Existenz des Menschen als "Zweck an sich selbst" haben soll (IV 59), also nur dieser "Zweck an sich selbst" doch als oberstes praktisches Prinzip fungieren kann, so bedeutet dies notwendig, daß die Bestimmung (die Qualifikation) dieses "Zwecks an sich selbst" als "oberstes praktisches Prinzip" eben ganz unabhängig von jedem Rekurs auf und jeder Anleihe bei "anthropologischen Daten" erfolgen muß. Dies steht nun allerdings unverkennbar im Gegensatz dazu, daß bei Kant selbst der Rekurs auf das

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Es ist wohl nicht so ganz unproblematisch, den Zusammenhang von "letztem Zweck der Natur" und dem "letzten Zweck der Freiheit", die "Aufgabe der Natur" und die "Forderung des Sittengesetzes", in der Art Kaulbachs zu bestimmen: "Die das Recht verwaltende bürgerliche Gesellschaft ist nun diejenige Erscheinung, welche durch die Tätigkeit der freien Natur [!] im Bereich des Menschendaseins hervorgebracht wird. Daß der Mensch selbst seine Menschheit realisiere und eine gute Gesinnung in sich herstelle, liegt jenseits der Möglichkeiten der freien Natur. Diese Aufgabe muß der Mensch, dem die Natur gleichsam die Sprosse auf der Leiter dargeboten hat, auf der er selbst weiterzusteigen hat, durch Hinausgehen zum Stand der Selbstheit (Freiheit) lösen. Die Herstellung einer geschichtlichen Wirklichkeit, in der es vollkommen gerecht zugeht, ist uns nun, ob sie jemals realisiert werden wird, von der Natur jedenfalls auferlegt. Es ist ein Anderes zu sagen, etwas sei uns von der Natur auferlegt, und ein Anderes, es sei eine Forderung des Sittengesetzes an uns. Nur im zweiten Falle wird [also offensichtlich] menschliche Freiheit angesprochen, während im ersten Falle freie Erscheinungen, also das erscheinende Handeln nur solcher Wesen in Frage kommt, welche Gebilde der freien Natur sind, also nicht ihre selbständige Freiheit, sondern nur die Freiheit der Natur repräsentieren. Die Natur ist in Harmonie und zugleich in Konkurrenz mit der praktischen Vernunft getreten, welche aus ganz anderen, nämlich moralischen Motiven dasselbe Ziel [!] uns aus Pflicht gebietet, was die Natur auferlegt." (F. Kaulbach, Der Zusammenhang zwischen Naturphilosophie und Geschichtsphilosophie bei Kant 449)

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faktische "Sich-als-Zweck-vorstellen" als das durch bloße Generalisierung erweiterte "subjektive Prinzip" so ganz unleugbar eine entscheidende Rolle spielt, ja sogar in den geschichts- und kulturphilosophischen Zusammenhängen schlechthin maßgebend ist. Von dem auf diesen Begriff eines "Zwecks an sich selbst" gegründeten "Reich der Zwecke" wäre weder zu behaupten, dieses sei eine "systematische Einheit" (II 679), noch ließe sich in solcher Version in einem strengen Sinne der Satz Kants aufrechterhalten: "Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde." (IV 68) Überdies: den anderen Menschen als "Zweck an sich selbst" anzuerkennen, dies meint aber doch gewiß noch anderes als dasjenige, was durch diese angeführten dürftigen Bestimmungen aus der Grundlegungsschrift und auch den zitierten Passus aus dem "Mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte" abzudecken und von ihnen aus zu rechtfertigen wäre. Von einem solcherart "fundierten" "Reich der Zwecke" nämlich, das dem Menschen offenkundig doch lediglich als "letztem Zweck der Natur" Heimatrecht gewähren könnte, führt kein Weg zu der eigentlich erst so zu nennenden "moralischen Welt" ~ was nur noch einmal bestätigt, daß der Mensch "Zweck an sich selbst" eben nicht einfachhin, d. h. außerhalb eines qualifizierten Standpunktes der Freiheit, "ist". Jedenfalls ist dies — was es aber doch vermutlich sein soll? ~ kein "moralisches Reich der Zwecke", bleibt doch der hier grundgelegte Begriff des "Zwecks an sich selbst" für sich genommen (bestenfalls!) auf "Geselligkeit und bürgerliche Sicherheit" (VI 97) beziehbar, aber zweifellos auch darauf beschränkt. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß in diesen kultur- und geschichtsphilosophischen Perspektiven Kants im weiteren Kontext der Begründung des "Reichs der Zwecke" doch immer wieder auch "strategische Nützlichkeitserwägungen" einen sogar leitenden Gesichtspunkt darstellen.10 Diesem

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Auf Kants Version der "List der Vernunft", d. h. auf die schon auf diesem Weg zum "Reich der Zwecke" hin waltende heimliche Teleologie und die damit verbundenen Probleme — etwa dasjenige des Verhältnisses zwischen den "Zwecken der Menschheit im Ganzen ihrer Gattung" und den "Zwecken der Menschen" (VI 171) — kann deshalb ebensowenig eingegangen werden wie auf das Problem, wie diese frühe (nämlich aus dem Jahr 1784 stammende) grundlegende geschichtsphilosophische Perspektive in diesen "Ideen zu einer allgemeinen Geschichte . . . " mit Kants späteren Ausführungen "Zum ewigen Frieden" und insbesondere auch mit seiner 14 Jahre später im "Streit der Fakultäten" vorgetragenen Antwort der erneuerten Frage "Ob das menschliche Geschlecht in beständigem Fortschreiten zum Besseren sei?" zusammenstimmt. Jedenfalls sind hier nicht unerhebliche Modifizierungen festzustellen. "Kritisch" dürfen diese einschlägigen geschichtsphilosophischen Überlegungen Kants aber doch wohl schon allein deshalb genannt werden, weil durch sie nun eben nicht nur jedes Ansinnen einer innergeschichtlichen Instanz ein für allemal als unangemessen — "Vermessenheit" ist hier tatsächlich die richtige Kennzeichnung — zurückgewiesen wird, selbst in die Stelle (Rolle) des Trägers und Vollstreckers eines "verborgenen Plans (Absicht) der Natur" rücken zu wollen; und zwar nicht lediglich schon deshalb, weil dies

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zufolge sehen die Menschen sich eben aus Not (aber doch auch aus Klugheit) veranlaßt, sich in das "Gehege des Rechts zu begeben . . . Die ungesellige Geselligkeit gibt somit den Anstoß zu ihrer eigenen Disziplinierung, und das heißt zur Einführung einer rechtlichen Bestimmung und Sicherung ihrer Grenzen. Ist dies aber geschehen, so 'tun eben dieselben Neigungen hernach die beste Wirkung'. Unter den Bedingungen des Rechts führen sie erst zur eigentlichen Entfaltung von Kultur und Zivilisation [...] So ist zwar die Geschichte wesentlich dadurch gekennzeichnet, daß sich die Menschen auf rechtliche Verhältnisse einlassen, und zwar auf je und je neue, aber Kant führt diese Entwicklung nicht auf die Vernunft (Moralität) zurück. Die so Handelnden bestimmen sich nicht aus Pflicht dazu, die eigene Freiheit auf die Bedingung, daß sie mit der jedes anderen nach einem allgemeinen Gesetz bestehen könne, einzuschränken, sondern aus wohlverstandenem Eigeninteresse"11; sie sind damit freilich auch noch weit davon entfernt, wirklich "das allgemein Beste zu befördern."12 Selbstverständlich ist auch in Kants ethisch-

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keine endliche Instanz für sich beanspruchen kann, sondern dies auch gar nicht darf, wenn für diese allein die Sittlichkeit als "praktische Vernunftidee" konstitutiv und damit allein der praktischen Bestimmung angemessen ist. Übersehen wäre andernfalls also Status und Verbindlichkeit dieser eben gar nicht theoretischen, sondern praktischen Idee, "um das, was nicht da ist, aber durch unser Tun und Lassen wirklich werden kann; und zwar eben dieser Idee gemäß, zu Stande zu bringen." (IV 70) Gemäß dem hier bei Kant zu beobachtenden Perspektivenwechsel läßt sich nun bezüglich der von der Vernunft angestellten "retrospektiven Betrachtung dieser Universalgeschichte" sagen, daß in dieser "der Natuibegriff eine prädominierende Rolle übernimmt." (G. Kortian, Von der Autonomie der philosophischen Theorie in ihrem Verhältnis zum Politischen 96.) Dies ist nicht zuletzt wohl deshalb so, weil doch in prospektiver Dimension die "praktische Vernunftidee" die allein leitende Instanz sein darf — so zwar, daß dabei von Kant allerdings der Aufweis beabsichtigt zu sein scheint, daß der in retrospektiver Betrachtung riskierte Rekurs auf den "Naturbegriff" und Anthropologisches (im engeren Sinn) für den versuchten Aufweis der Verträglichkeit, ja sogar der "Affinität" beider Perspektiven — d. i. der geschichtsphilosophischen und deijenigen der praktischen Vernunft — nicht lediglich brauchbar, sondern sogar der letzteren Perspektive eben auch förderlich ist: soll doch damit vermutlich lediglich verdeutlicht werden, daß das "Andere der Vernunft" in retrospektiver Betrachtung der praktischen Vernunft gleichsam in die Hände arbeitet, auch wenn diese geschichtsphilosophische Retrospektive für die prospektive Dimension der Universalgeschichte natürlich keineswegs den maßgebenden Gesichtspunkt anbieten kann. H. Nagl-Docekal, Immanuel Kants Philosophie des Friedens . . . 69. Akademie-Ausgabe XV 894. Hier heißt es vom Menschen, er liebe "bloß sich selbst und soll doch das allgemein Beste befördern."- Richtig ist Wimmers diesbezüglicher Hinweis, Kant bemühe sich in den geschichtsphilosophischen Schriften vor allem auch (1) um den "anthropologischen Nachweis, daß die Menschheit schon aus Gründen puren Überlebens genötigt ist, den antagonistischen Naturzustand ihrer ungeselligen Geselligkeit . . . zu verlassen und sich sowohl im inner- als auch im zwischenstaatlichen Bereich nach republikanischen Grundsätzen zu organisieren, so daß der Krieg als Mittel der Auseinandersetzung zwischen Völkern und Nationen rechtlich wirksam geächtet und

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moralphilosophischer Perspektive aus diesem Grund eine solche "pathologisch abgedrungene Zusammenstimmung zu einer Gesellschaft" von einem rechtens so zu nennenden "moralischen Ganzen" (VI 28) abzugrenzen. Es bleibt so darauf zu achten, daß der wahrhafte praktische Vernunftbegriff des Rechtes doch erst unter der notwendigen Voraussetzung eines Perspektivenwechsels in Sicht zu kommen vermag. Die in geschichtsphilosophischer Perspektive weithin dominierende Verstandes-Perspektive jedoch nicht nur (legitimerweise) hintanzustellen, sondern unbesonnenerweise zugunsten der "Vernunft"-Perspektive ganz ignorieren zu wollen, dies führte bei aller Berechtigung einer Kritik an reduktionistischen Rechtsbegründungen (durch den Rekurs auf den bloß "strategischen Verstand") zweifellos ebenfalls zu Einseitigkeiten, die auch in der folgenden Bemerkung Höffes noch zutage treten: "Nach Kant ergibt sich Recht nicht aus einem rationalen Selbstinteresse, . . . sondern aus der in einer vernünftigen Rechtsordnung manifest gewordenen wechselseitigen Anerkennung der Menschen als gleicher Rechtssubjekte"13, die auch nur als solche das "Recht (facultas jurídica), jemand zu zwingen" (IV 512), haben. Höffe ist selbstverständlich uneingeschränkt darin zuzustimmen, daß sich Kants Rechts-

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geahndet werden kann und schließlich gänzlich verschwindet;" (2) gewiß geht es Kant auch um den "vernunftrechtlichen Nachweis, daß die Verwirklichung eines völkerumspannenden Reichs der Freiheit und des Friedens Pflicht der Menschheit ist, und 3. um den empirischen Nachweis, daß sie sich tatsächlich, natur- und kulturgeschichtlich betrachtet — über die Vernunftgeschichte der Freiheit läßt sich keine Aussage machen . . . — auf dem Weg zu einem solchen Reich der Zwecke befindet, in kontinuierlicher Annäherung zum höchsten politischen Gut, zum ewigen Frieden . . . Freilich ist dieser Fortschritt zugleich sehr prekär Der Gang der Menschengattung zur Erreichung ihrer ganzen Bestimmung scheint [. ..] in kontinuierlicher Gefahr zu sein, in die alte Rohigkeit zurückzufallen . . . , wie unsere Zeit in unüberbietbarer Weise demonstriert. Kants Reich der Freiheit [s. dazu allerdings die Überlegungen 34 ff] und des Friedens hat unüberhöibaren prophetischen und messianischen Klang, den Hegel, Marx und schließlich Bloch und Adorno in ihrem Philosophieren wieder aufnehmen. Aber es ist kein utopisches Reich, in dem die Natur des Menschen ihres Antagonismus zwischen Geselligkeit und Ungeselligkeit, zwischen Trieb, Selbstsucht und Vernunft ledig wäre; das Reich des Friedens ist ein Reich des Rechts, in dem die Freiheit endlich in Harmonie mit den Zwecken des einzelnen wie der Gesamtheit gebracht ist. Als solches ist es aber niemals vollständig und für immer realisierbar, sondern in steter Annäherung." (Wimmer, Universalisierung in der Ethik 163) Anfechtbar scheint hiebei allerdings die Ansicht Wimmers zu sein, daß sich nach Kant angeblich "über die Vernunftgeschichte der Freiheit . . . keine Aussage machen" lasse — hat doch Hegel in einer Perspektive, die Kant selbst in gewisser Hinsicht gar nicht so fremd geblieben ist, in überaus besonnener Weise von der Weltgeschichte als dem "Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit" gesprochen. Bliebe nicht auch an Kants Bemerkung über die Idee der "Weltgeschichte" (VI 47 ff.) in diesem Kontext ebenso zu erinnern wie an seinen Hinweis auf jenes "Phänomen der Menschengeschichte", das "sich nicht mehr vergißt"? (VI 361) O. Höffe, Ethik und Politik 223 f.

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konzeption, wie nicht zuletzt auch seine treffende Kritik an Hobbes verdeutlicht, jedoch natürlich keineswegs in diesem hier angesprochenen geschichtsphilosophischen Horizont erschöpft (oder dieser auch nur den primären Gesichtspunkt formuliert); geht es doch von dem engen Standpunkt der praktischen Vernunft aus gesehen (also erst nach vollzogenem Perspektivenwechsel) um ein "praktisches Vernunftprinzip", das in der Rechtsidee sodann als regulatives Prinzip des vernünftigen (und somit eben nicht bloß des verständig-strategischen) Handelns fungiert. Andernfalls bliebe es völlig unverständlich, wenn Kant ausdrücklich von der "Pflicht zur bürgerlichen Gesellschaft" sprechen will.14 Das von Kant gelegentlich so genannte "Reich der reinen praktischen Vernunft" scheint doch offenkundig ganz wesentlich — auch — die Rechtssphäre (die Rechtspflichten!) zu definieren, ist doch wohl nur so Kants Mahnung zu verstehen: "Trachtet allererst nach dem Reiche der praktischen Vernunft und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch euer Zweck (die Wohltat des ewigen Friedens) von selbst zufallen." (VI 240) Kant selbst hat die Rechtsidee als "praktisches Vernunftprinzip" keineswegs in Konkurrenz zu seiner geschichtsphilosophischen Konzeption verstehen wollen, sondern war eher doch wohl geneigt, beide — in ersichtlicher Entsprechung zu der Unterscheidung zwischen "physiologischer" und "pragmatischer" Anthropologie (VI 399) — als je verschiedene Perspektiven in komplementärem Verhältnis zueinander zu verstehen, wie auch ein längerer Passus aus Kants Schrift "Zum ewigen Frieden" es nahelegt: "Aber nun kommt die Natur dem verehrten, aber zur Praxis ohnmächtigen allgemeinen, in der Vernunft gegründeten Willen, und zwar gerade durch jene selbstsüchtigen Neigungen, zu Hilfe, so, daß es nur auf eine gute Organisation des Staates ankommt (die allerdings im Vermögen der Menschen ist), jener ihre Kräfte so gegen einander zu richten, daß eine die anderen in ihrer zerstörenden Wirkung aufhält, oder diese aufhebt: so daß der Erfolg für die Vernunft so ausfällt, als wenn beide gar nicht da wären, und so der Mensch, wenn gleich nicht ein moralisch-guter Mensch, dennoch ein guter Bürger zu sein gezwungen [!] wird. Das Problem der Staatserrichtung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand [!] haben), auflösbar und lautet so: 'Eine Menge von vernünftigen Wesen, die insgesamt allgemeine Gesetze für

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Kant, Akademie-Ausgabe XIX Refi. 7075. Völlig zu Recht stellt Kersting fest: "in dem Maße, in dem reine Rechtsvernunft über der instrumenteilen Vernunft und klugen Verwalterin der kontingenten menschlichen Interessen rangiert, in dem Mafie übersteigt auch der vernunftbegründete und rechtsnotwendige Staat den nur nützlichen und brauchbaren, interessenfunktional bestimmten Staat an Autorität und Dignität." (W. Kersting, Kants vernunftrechtliche Staatskonzeption 109 f.) — Zu den "utilitaristisch" orientierten Interpretationen Kants s. bes. die angeführten Arbeiten v. Gram, Harrison, Wolff.

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ihre Erhaltung verlangen, deren jedes aber in Geheim sich davon auszunehmen geneigt ist, so zu ordnen und ihre Verfassung einzurichten, daß, obgleich sie in ihren Privatgesinnungen einander entgegen streben, diese einander doch so aufhalten, daß in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg eben derselbe ist, als ob sie keine solche böse Gesinnungen hätten'. Ein solches Problem muß auflöslich sein. Denn es ist nicht die moralische Besserung der Menschen, sondern nur der Mechanismus der Natur [!], von dem die Aufgabe zu wissen verlangt, wie man ihn an Menschen benutzen könne, um den Widerstreit ihrer unfriedlichen Gesinnungen in einem Volk so zu richten, daß sie sich unter Zwangsgesetze zu begeben einander selbst nötigen, und so den Friedensstand, in welchem Gesetze Kraft haben, herbeiführen müssen." (VI 223 f.) Wäre dieser Freiheitsbegriff und die sich mit ihm verbindenden strategischen Nützlichkeitserwägungen allerdings der allein (oder auch nur der primär) maßgebende Gesichtspunkt, so bedürfte rechtliches Handeln in der Tat "nicht mehr als eines aufgeklärten Interesses an der eigenen Freiheit, zumal jedermann ein Interesse an der Realisierung seiner Zwecke" und somit natürlich auch "ein Interesse an seiner äußeren Freiheit und den Bedingungen ihrer Möglichkeit" hat.15 Damit wäre natürlich die Frage: "Was soll ich tun?" im Grunde zu dem Kalkül "Was tun?" herabgesunken, das Rechtsproblem wäre indessen als dasjenige der "reinen praktischen Vernunft" geradewegs eliminiert. Dies hieße jedoch zu übersehen, daß der "Rechtsfortschritt" Kants Auskunft zufolge ganz ausdrücklich als Aufgabe der "praktischen Vernunft" selbst anzusehen ist. Einer "verständigen" Engführung dieser Frage ist mit Kersting also in aller Deutlichkeit entgegenzuhalten, daß "der solcherart erwiesene rationale Charakter des Rechts verbindlichkeitstheoretisch irrelevant" bleibt und auch Kant selbst in Abwehr einer solchen verständig-bornierten Argumentation geltend gemacht hat: "Wenn man annimmt, daß reine Vernunft einen praktisch, d. i. zur Willensbestimmung hinreichenden Grund in sich enthalten könne, so gibt es praktische Gesetze; wo aber nicht, so werden alle praktischen Grundsätze bloße Maximen sein." (IV 125) Und auch das "Hinstreben zu einer bürgerlichen, auf dem Freiheits- zugleich aber auch gesetzmäßigen Zwangs- Prinzip zu gründenden Verfassung" ist, wie sich versteht, nicht auf die im Zeichen wohlverstandener Eigeninteressen stehende Freiheit der Willkür zu reduzieren, reichte doch die "praktische Vernunftidee" des Staates in solcher Weise niemals über die Zufälligkeit und den Rang eines durch den "Mechanismus der Natur" bewirkten "zusammengelesenen Aggregates" hinaus. Von einer "systematischen Einheit der Zwecke in dieser Welt der Intelligenzen, welche, obzwar als bloße Natur, zur Sinnenwelt, als ein System der Freiheit

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W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit 39.

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aber intelligibele, d. i. moralische Welt" genannt werden soll, wäre legitimerweise natürlich gar nicht zu reden. Zweifellos ist der Staat auch nach Kants Urteil anderes und mehr als ein "bloßes" (eben historisches) Phänomen, ist doch seine Wirklichkeit (wie auch sein einschlägiger Rekurs auf Piaton belegt) für Kant eben eine vernunftnotwendige Idee, die aus der conditio humana ermittelt (d. h. durchaus dem normativen Begriff der Humanität entsprechend angesetzt) ist: sie ist so die an der unaufgebbaren Leitidee der reinen praktischen Vernunft orientierte und zu verwirklichende Möglichkeit der praktischen Vernunft. Nur als selbst "gesetzgebend" in dem "Verhältnisse vernünftiger Wesen zu einander" vermag der Mensch, dem konstitutiven Prinzip der "bürgerlichen Freiheit" gemäß, als "Zweck an sich selbst" anerkannt zu werden, ist doch nur so nach Kant die "Idee der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht, als dem, das es zugleich selbst gibt" (IV 67), begründet. Nicht nur aus den der "praktischen Freiheit" eigenen Gründen der Klugheit und Vorsicht bezüglich dessen, "was selbst auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist" (II 675), ist der Austritt aus dem Naturzustand "geraten" — vor allem ist es "pflichtwidrig", darin verharren zu wollen, "denn die Menschen stehen als vernünftige Wesen apriori unter der Verpflichtung, ihre Verhältnisse nach Regeln des Rechts zu gestalten"16, ist dieses Rechtsgesetz doch ein apriorisches "Pflichtgesetz der Handlungen." Wollte man die von Kant genannten "inneren Rechtsprinzipien" (VI 361) und den darin grundgelegten Rechtsbegriff auf ein Kalkül des Eigennutzens gründen, so wäre, mit Kant gesprochen, ein für allemal unweigerlich das "Idealische" dieses Begriffes verspielt. Jede bloß eudaimonistisch-utilitaristische Perspektive (in welchen Nuancen und Variationen auch immer) muß das von Kant selbst im Auge behaltene Begründungsproblem verfehlen, weshalb Kant auch mit aller Entschiedenheit feststellen kann: "Denn mit Freiheit begabten Wesen genügt nicht der Genuß der Lebensannehmlichkeit, die ihm auch von anderen (und hier von der Regierung) zu Teil werden kann; sondern auf das Prinzip kommt es an, nach welchem es sich solche verschafft [...] Ein mit Freiheit begabtes Wesen kann und soll also, im Bewußtsein dieses seines Vorzuges vor dem vernunftlosen Tier, nach dem formalen Prinzip seiner Willkür keine andere Regierung für das Volk, wozu es gehört, verlangen, als eine solche, in welcher dieses mit gesetzgebend ist: d. i. das Recht der Menschen, welche gehorchen sollen, muß notwendig vor aller Rücksicht auf Wohlbefinden vorhergehen, und dieses ist ein Heiligtum, das über allen Preis (der Nützlichkeit) erhaben ist, und welches keine Regierung, so wohltätig sie auch immer sein mag, antasten darf . . . Autokratisch herrschen, und dabei doch republikanisch, d. h. im Geiste des Republikanismus

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W. Kersting, Neuere Interpretationen der Kantischen Rechtsphilosophie 297.

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und nach einer Analogie mit demselben, regieren, ist das, was ein Volk mit seiner Verfassung zufrieden macht." (VI 359 Anm.) Kant hat zweifelsohne auch wieder ganz klar gesehen, daß gerade eine solche "eudaimonistische" Fundierung der Idee des Staates in ihrem Reduktionismus konsequenterweise die völlige Rechtlosigkeit seiner Bürger mit sich bringen müßte. Daraus ergibt sich als Konsequenz, "daß unabhängig von den Realbedingungen rechtlichen Handelns das Rechtsgesetz als objektiv notwendiges und unbedingt verbindliches Gesetz und Pflichtprinzip die positive Freiheit als Bedingung seiner Möglichkeit voraussetzt. 'Die Autonomie des Willens ist das alleinige Prinzip aller moralischen Gesetze lud der ihnen gemäßen Pflichten'... ; wohlgemerkt schon der Pflichten und nicht erst ihrer Erfüllbarkeit."17 Völlig zu Recht und in Distanzierung aller einschlägigen (zahlreichen) reduktionistischen Bestimmungen des Rechtsprinzips kann Kersting betonen: "Die dem Recht eigentümlichen Momente der Äußerlichkeit, der Gesinnungsgleichgültigkeit und der Erzwingbarkeit dürfen (jedoch] nicht als Anzeichen seiner Geltungsunabhängigkeit von der Konzeption reiner praktischer Vernunft und dem in ihr fundierten Begriff des praktischen Gesetzes gelesen werden; die Hinweise Kants auf die notwendige systematische Verknüpfung der Rechtslehre mit der kritischen Moralphilosophie, [und d. h.] auf die verbindlichkeitstheoretische Verwurzelung des Rechts in der Sittlichkeitslehre müssen ernstgenommen und sorgfältig verfolgt werden . . . Das kantische Rechtsgesetz erhebt den Anspruch der Verbindlichkeit und praktischen Notwendigkeit; es ist ein praktisches Vernunftgesetz, keine analytisch aus dem Begriff der äußeren Freiheit zu gewinnende koexistenztechnische Verstandesregel [...] In der Konzeption der juridischen Gesetzgebungsweise des praktischen Vernunftgesetzes ist der systematische Kern der Rechtsbegründung Kants zu finden."18 Wollte man nämlich im Gegensatz dazu die "Freiheit des Verstandes" als das hier allein maßgebende Prinzip ansehen, so wäre nicht nur dieser Einsicht Kerstings widersprochen; Kant selbst könnte in solchem Falle auch nicht behaupten, daß "der eigene Nutzen . . . kein Grund des Rechts" sei: "Der Nutzen vieler gibt ihnen kein Recht gegen einen."19 Das reine Recht gründet vielmehr notwendig "auf das Bewußtsein der Verbindlichkeit eines jeden nach dem Gesetze" (IV 338), weshalb dieses Rechtsgesetz eben auch kein "hypothetischer Imperativ" sein kann ~ was freilich nicht ausschließt, "daß das Rechtsgesetz wie ein hypothetischer Imperativ befolgt werden kann."20 Fungierte die Sicherung der Freiheit der Willkür nämlich als Konstitu-

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W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit . . . W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit . . . Kant, Akademie-Ausgabe XIX Reflexion W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit . . .

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tionsprinzip des Rechts, so wäre in der Tat die "allein geltende Währung die Logik der hypothetischen Imperative".21 Es wäre so auch gar nicht zu sehen, daß Moral und Recht zwar in "praktischer Gesetzgebung der reinen Vernunft" gegründet sind, sich jedoch notwendig durch die den "Befolgungsmodus des Grundgesetzes der reinen praktischen Vernunft betreffende Gesetzgebungsweise" unterscheiden.22 Diese "doppelte Vernunftgesetzgebung" (ethische und juridische) gewinnt demnach schon innerhalb des "Reichs der Zwecke" zentrale Bedeutung, zumal so eben zu beachten bleibt: "Der Unterschied vom jure und der Ethik besteht nicht in der Art der Verbindlichkeit, sondern in den Beweggründen, den Verbindlichkeiten ein Genüge zu tun."23 Festzuhalten ist demnach: Kant hat die "instrumentelle (d. h. noch der Natur dienstbare) zur reinen praktischen Vernunft befreit und an die Stelle des Interesses am Leben, Überleben und Wohlleben das Interesse am Rechtszustand gesetzt"24 — was selbst dann noch aufrechtzuhalten bleibt, wenn der "Staat in der Erscheinung" dem Maß des "praktischen Vernunftideals" nicht zu genügen vermag. Ganz ähnlich bemerkt in diesem Sinne auch Apel den so wesentlichen Unterschied zwischen Hobbes und Kant, der eben darin besteht, daß bei letzterem der Übergang zum Rechtsstaat "nicht eine Forderung der Klugheit, d. h. der instrumentell-strategischen Vernunft, die sich in den Dienst des Selbstinteresses der Individuen gestellt hat", ist: "sie ist bei Kant vielmehr eine unbedingte Forderung des Sittengesetzes und damit der ethischen Vernunft. Diese — und nicht das rational durchkalkulierbare Selbstinteresse — ist das Motiv für die Forderung des Gesellschaftsvertrags und damit letzte

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L. Nagl, Gesellschaft und Autonomie . . . 289. W. Kersting, Wohlgeordnete F r e i h e i t . . . 70. Kant, Akademie-Ausgabe 27.1,271. Kant unterscheidet freilich die "obligatio perfecta" als "Verbindlichkeit wo der Handelnde zur Pflichthandlung durch die Willkür anderer necessitiert werden kann" von der "obligatio imperfeca" als der "ethischen Pflicht, wozu der Handelnde nur durch seine eigene moralische Grundsätze necessitiert werden kann." (Akademie-Ausgabe 27.2.1.^28; vgl. IV 337 f.) - In der neueren Kantliteratur haben insbesondere Höffe und Kersting wiederholt darauf verwiesen, daß die Thematik der "doppelten Vernunftgesetzgebung" genauestens abzuheben ist von der Unterscheidung zwischen Legalität und Moralität. Die "juridische Gesetzgebung" bestehe nämlich nicht "in einer Anspruchsminderung seitens der reinen praktischen Vernunft, . . . sondern in der Verknüpfung des Prinzips der Handlungspflichten mit der äußeren Triebfeder des Zwangs [...] nicht um eine ethische Entlastung des Verpflichteten geht es der praktischen Vernunft als einer rechtlichen, sondern darum, die Erzwingbarkeit von Schuldigkeitspflichten seitens des Berechtigten zu sichern." (W. Kersting, Sittengesetz und Rechtsgesetz . . . 164 f.) E. Heintel, Einleitung zu: ders. (Hg.), Philosophische Elemente der Tradition des politischen Denkens. Wien 1979, 12.

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Grundlage des Rechts überhaupt."25 Allein darin gründet jedoch letztendlich auch die unabdingbare Forderung der Vernunft, "den Friedenszustand zur unmittelbaren Pflicht" zu machen. Die bloße Begründung und Verwirklichung der Rechtsgemeinschaft durch den Rekurs auf die "ungeselligen Geselligkeit" (den "Mechanism der Natur") ist zweifellos schon des "Prinzips der Menschheit im Menschen" gar nicht würdig, zumal doch die sittliche Dimension des "inneren Rechtsprinzips" damit noch völlig unbeachtet bliebe.26 In diesem

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K. O. Apel, Zur geschichtlichen Entfaltung der ethischen Vernunft in der Philosophie II. Die Herausforderung der ethischen Vernunft in der Neuzeit 128 f. In: Praktische Philosophie/Ethik: Dialoge 113-136. Es scheint aber Apels Auskunft irreführend zu sein, "das Sittengesetz selber — auch das Sittengesetz, das Kant implizit [!?] schon gemeint hat" — sei nichts anderes "als das Prinzip der verallgemeinerten Gegenseitigkeit. Und ich würde meinen: wenn es diese Gegenseitigkeit zwischen Personen nicht gäbe, wenn es das Verhältnis der Kommunikation nicht gäbe, dann hätten das Sittengesetz oder die ethische Grundnorm überhaupt keinen Inhalt." (So Apel in der anschließenden Teamdiskussion: Probleme menschlichen Handelns und Verstehens. In: Praktische Philosophie/Ethik 1,257 f.) Daß dieser inteipersonal-kommunikative Raum selbst konstitutiv für moralische (sittliche) und rechtliche Verhältnisse ist, soll nicht bezweifelt werden. Dies erlaubt aber doch wohl nicht, das kantische "Sittengesetz" "auf die Perspektive des dieses Sittengesetz" internalisierenden "einsamen Gewissens" (so wiederum Apel in der Teamdiskussion 2S8) zu reduzieren; auch ist es nicht gestattet, in vorgeblicher Uberwindung einer angeblich Kant anzulastenden Engführung des Sittengesetzes dieses — wie Apel — als "das Prinzip der verallgemeinerten Gegenseitigkeit" zu bestimmen. Hätte Kant unter dieser Ape Ischen Voraussetzung überhaupt anderes und mehr als bloß "Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre" verfassen dürfen und hätte Kant sich so nicht dem aufwendig-mühsamen Geschäft der Auffindung eines "obersten Prinzips der Moral" durchaus ohne Verlust entziehen können? Wären dann nicht auch so wesentliche Unterscheidungen Kants: wie diejenige zwischen Moralität und Legalität, ethischer und juridischer Gesetzgebung, besonders auch der Unterschied zwischen "Allgemeinheit des Prinzips (universalitas)" und "Gemeingültigkeit (generalitas)" (IV 55) als überflüssig, im Grunde irreführend, ja sogar als falsch anzusehen? Kants Mahnung, "der eigentliche Rechtsgrund" sei "nicht durch Einmengung ethischer Fragen zu verwirren" (VI 811), ist gewiß beherzigenswert — ebenso aber auch, dies sei mit Blick auf die Ausführungen Apels vermerkt, daß die eigentlich "ethischen Fragen" dann nicht auf das Problem des "eigentlichen Rechtsgrundes" zu reduzieren sind. Eben dem scheint Apels (zuvor zitierte) Ansicht Vorschub zu leisten. Es ist deshalb wenigstens mißverständlich (einseitig) zu behaupten, die Gegenseitigkeit der für sich gemäß dem "angeborenen Recht" erhobenen Ansprüche führe "auf den Begriff des Rechts als eines Natuizwecks [!], der darin besteht, daß alle Menschen einander zur Disziplin zwingen. Dieser Zug bleibt als Moment des Rechtsbegriffes immer in ihm enthalten." (G. Krüger, Philosophie und Moral . . . 94.) Wenn Kant ausdrücklich das "natürliche Recht der Menschen" als das "wesentliche oberste Prinzip" der bürgerlichen Gesetzgebung bestimmt, so scheint dies Krügers Ansicht (jedenfalls in der wesentlichen rechtsphilosophischen Perspektive) zu widersprechen. (S. 34ff ) Es ist eben, dem genannten Unterschied zwischen verschiedenen Perspektiven entsprechend, mit Kant daran zu erinnern, daß die "Qualität des Zwecks dieser Gesetze als Zwangsgesetze, nicht in der Glückseligkeit", sondern in "der Freiheit für jeden, seine Glückseligkeit selbst, worin er sie

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Sinne bestätigt sich schon hier, daß "unmittelbar von Autonomie . . . Kant nur bei moralischen Subjekten" spricht, "während Rechtssubjekte als Rechtssubjekte weder unter der im kategorischen Imperativ angesprochenen Forderung nach Verallgemeinerbarkeit der Maximen stehen noch über die von einer solchen Forderung vorausgesetzte Autonomie des Willens verfügen. Die Mitglieder einer Rechtsgemeinschaft müssen die Gesetze nicht autonom befolgen, sie können es auch heteronom . . . tun. Das Recht bezieht sich auf die Freiheit der Menschen im Sinne ihrer Willkürfreiheit, nicht auf ihre Autonomie der praktischen Vernunft." Mit Recht betont Höffe in Korrektur eines gar nicht einmal seltenen Mißverständnisses: "Die praktische Vernunft qualifiziert die Struktur der institutionalisierten äußeren Relation zwischen den Subjekten, nicht wie in der Moral — die Subjekte selbst."27 Dennoch bleibt nunmehr zu beachten, daß nach Kant der "Begriff des Rechts" ~ es ist dies freilich der moralische Begriff des Rechts, im Unterschied zu demjenigen des "stricten Rechts", dem gar nichts Moralisches beigefügt sein soll und für den demnach also "reine praktische Vernunft" auch entbehrlich sein muß (s.o. 14 ff.) — aus dem "moralischen Imperativ" im einzelnen erst zu entwickeln bliebe, denn: "Wir kennen unsere eigene Freiheit (von der alle moralischen Gesetze, mithin auch alle Rechte sowohl als Pflichten ausgehen) nur durch den moralischen Imperativ, welcher ein pflichtgebietender Satz ist, aus welchem nachher das Vermögen, andere zu verpflichten, d. i. der Begriff des Rechts, entwickelt werden kann." (IV 347)M Diese Hinweise sollten lediglich noch einmal verdeutlichen, daß sowohl der Interessenshorizont bloß "verständiger Freiheit", aber auch das von Kant selbst so bestimmte "Postulat des öffentlichen Rechtes" : "du sollst im Verhältnisse eines unvermeidlichen [!] Nebeneinander mit allen anderen aus jenem [natürlichen Zustand] heraus in einen rechtlichen Zustand . . . übergehen" (IV 424), für sich genommen in ihrem doch ganz unverkennbaren Rekurs auf anthropologisch - empirische Momente nicht dazu taugen, einen rational- apriorischen Begriff des Rechts (das nur so "Vernunftrecht" genannt zu werden verdient) zu begründen und somit auch gänzlich ungeeignet sind, um den Menschen als

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immer setzen mag, zu besorgen, nur daß er anderer ihrer, gleich rechtmäßigen Freiheit, nicht Abbruch t u t . . . Salus rei publicae (die Erhaltung der bloßen gesetzlichen Form einer bürgerlichen Gesellschaft) suprema lex est." (Akademie-Ausgabe XI10) Und : "extra rem publicam nulla salus." (Akademie-Ausgabe XIX 566) O. Höffe, Ethik und Politik . . . 221. Es ist in diesem Kontext wichtig zu sehen, daß Kant einen "moralischen Begriff des Rechts" (vgl. auch Menzer, Eine Vorlesung Kants . . . 34) von dem "strikten Begriff des Rechts" unterscheidet — und zwar "in Hinblick auf den Modus der Rechtsbefolgung. Gemeinsam ist ihnen der Anwendungsbereich, das äußere, zwischenmenschliche praktische Verhältnis, gemeinsam ist ihnen auch das Rechtsgesetz als Fundamentalnorm einer äußeren Freiheitsordnung." (W. Kersting, Wohlgeordnete F r e i h e i t . . . 11)

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"Rechtssubjekt" und als Person auszuweisen, d. i. als ein Wesen mit dem Recht, "Subjekt äußerer Gesetzgebung zu sein und im Namen der Vernunft über fremde Willkür verfügen zu können"29 ~ in dem Sinne, "andere [und zwar nach Maßgabe des Rechtsgesetzes] zu verpflichten." (IV 345) Genau besehen bliebe nämlich in der hier kritisierten Verstandesperspektive dieser Rechtsgedanke der so maß - gebenden Freiheitskonzeption doch noch ganz äußerlich und zufällig. All diese voranstehenden kritischen Einwände gegen eine Dominanz der einseitigen geschichts- und kulturphilosophischen Perspektiven betreffen nun im weiteren aber auch Kants Ansicht bezüglich des "Charakters der Gattung", "so wie er aus der Erfahrung aller Zeiten und unter allen Völkern kundbar wird . . . Daß sie, kollektiv (als ein Ganzes des Menschengeschlechts) genommen, eine nach- und nebeneinander existierende Menge von Personen ist, die das friedliche Beisammensein nicht vermeiden können; folglich einen durch wechselseitigen Zwang, unter von ihnen selbst ausgehenden Gesetzen, zu einer, [zwar] beständig mit Entzweiung bedrohten, aber allgemein fortschreitenden Koalition in eine weltbürgerliche Gesellschaft (cosmopolitismus) sich von der Natur [!] fühlen: welche an sich unerreichbare Idee aber kein konstitutives Prinzip . . . , sondern nur ein regulatives Prinzip ist." (VI 687 f.) Auf diese Weise könnte Kant jedoch niemals "Freiheit und Gesetz" als die prinzipiellen "zwei Angeln" der "bürgerlichen Gesetzgebung" (VI 686) behaupten, wenn doch die folgenschwere Ausblendung des konstitutiven Prinzips der "politischen Freiheit" notwendig auf einen völlig unzureichenden Rekurs auf bloß geschichtlich - anthropologische Befunde hinauslaufen müßte. Dies scheint auch Brandt hervorheben zu wollen: "Hätte die Erde als der Wohnplatz der Menschen keine Kugelgestalt, so gäbe es [auch gar] keine Problematik der Rechtsrealisierung, denn jeder könnte auf einer unendlichen Fläche jeden anderen dazu nötigen, sich aus seiner konfliktträchtigen Nähe zu begeben . . . Erst die Tatsache der Kugelform der Erde führt zum Zwang der Erstellung von Rechtsverhältnissen. Sie ist also für die 'Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre' (nicht für die Tugendlehre!) ein empirisches Faktum apriori [I]".30 Wäre jedoch für das Problem der Konstituierung der Rechtssphäre so

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W. Kersting, Wohlgeordnete F r e i h e i t . . . 77. G. Brandt, Das Erlaubnisgesetz, oder Vernunft . . . 270. Bedenken betreffend die Angemessenheit einschlägiger "anthropologischer" Argumentation scheint doch auch eine diesbezügliche Argumentation von Habermas ausgesetzt zu sein: "'Moralisch' möchte ich alle die Institutionen nennen, die uns darüber informieren, wie wir uns am besten verhalten sollen, um durch Schonung und Rücksichtnahme der extremen Verletzbarkeit von Personen entgegenzuwirken. Unter anthropologischen Gesichtspunkten läßt sich nämlich Moral als eine Schutzvorrichtung verstehen, die eine in soziokulturellen Lebensformen strukturell eingebaute Verletzbarkeit kompensiert. In diesem Sinne

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versehrbar und moralisch schonungsbedürftig sind Lebewesen, die allein auf dem Weg der Vergesellschaftung individuiert werden." Und wenig später heißt es : "Weil Moralen auf die Versehrbarkeit von Lebewesen zugeschnitten sind, die durch Vergesellschaftung individuiert werden, müssen sie stets zwei Aufgaben in einem lösen: Sie bringen die Unantastbarkeit der Individuen zur Geltung, indem sie gleichmäßige Achtung vor der Würde eines Jeden fordern: im selben Maße schützen sie aber auch die intersubjektiven Beziehungen reziproker Anerkennung, durch die sich die Individuen als Angehörige einer Gemeinschaft erhalten. Den beiden komplementären Aspekten entsprechen die Prinzipien der Gerechtigkeit und der Solidarität. Während das eine gleichmäßige Achtung und gleiche Rechte für den Einzelnen poetuliert, fordert das andere Empathie und Fürsorge für das Wohlergehen des Nächsten. Gerechtigkeit im modernen Sinne bezieht sich auf die subjektive Freiheit unvertretbarer Individuen: hingegen bezieht sich Solidarität auf das Wohl der in einer intersubjektiv geteilten Lebensform verschwisterten Genossen." (J. Habermas, Moralität und Sittlichkeit. . . 208) Mit Blick auf Kant hieße dies doch in etwa dies: die "Pflichtgemäßheit" (wenn schon nicht die moralische Gesinnung) der Handlungen je anderer ist wechselseitig um der je eigenen Glückseligkeit willen zu wollen und zu fordern. Damit träfe freilich zu, was Kants Lehre geradewegs verneint: "Das Prinzip der Glückseligkeit kann zwar Maximen, aber niemals solche abgeben, die zu Gesetzen des Willens tauglich wären, selbst wenn man sich die allgemeine Glückseligkeit zum Objekte machte. Denn weil dieser ihre Erkenntnis auf lauter Erfahrungsdatis beruht, weil jedes Urteil darüber gar sehr von jedes seiner Meinung, die noch dazu selbst sehr veränderlich ist, abhängt, so kann es wohl generelle, aber niemals universelle Regeln, d. i. solche, die [nun zwar] im Durchschnitte am öftesten zutreffen, nicht aber solche, die jederzeit und notwendig gültig sein müssen, geben, mithin können keine praktische Gesetze darauf gegründet werden." (IV 148) Die fundamentale Prinzipienreflexion wäre so — was besonders auch bezüglich der gegenwärtig ζ. T. an Kant anschließenden Entwürfe einer Ethik zu beachten bleibt — indessen auf die sekundäre "Normenreflexion der Generalisierbarkeit einer Handlung" herabgesetzt, die sich damit eben keineswegs mehr "auf das allein verbindliche Prinzip der praktischen Universalisierbarkeit unserer obliquen Maximenreflexion. . . motivierter, also willkürlicher Handlungen" bezieht (so M. Benedikt, Strukturwandel der Intentionalität 134) — freilich um den Preis des völligen Verlustes des von Kant bezüglich dieser letzteren ausgewiesenen Verbindlichkeitsstatus. In diesem Fall fíele die wichtige Frage nach dem "Kanon der praktischen Beurteilung" (IV SS f.) — ganz im Gegensatz zu Kants eigener Intention — bestenfalls auf den bloßen Aspekt der "Gemeingültigkeit (generalitas)" zurück, die Idee der "Allgemeinheit des Prinzips (universalitas)" wäre so preisgegeben. Diese Reflexionsstruktur überschritte somit also keineswegs das bloße Interesse und den Horizont des (wenn auch "allgemeinen") "subjektiven Endzwecks vernünftiger Weltwesen: die eigene Glückseligkeit" (IV 653 Anm.), was Kant bekanntlich wiederholt und besonders deutlich in den "Grundsätzen der reinen praktischen Vernunft" zurückgewiesen hat. — Nach Kants Urteil unterscheiden sich bürgerliche Gesetze "auch darin von den moralischen", "daß sie auf den allgemeinen Nutzen gehen, die moralischen aber nicht." (Akademie-Ausgabe 27.1.,109) Noch einmal anders: es läßt sich dieses hier auftretende Problem in der Tat nicht auf die bloße Frage der Verallgemeinerungsfähigkeit reduzieren: "Das würde auf den Begriff der komparativen Allgemeinheit hinauslaufen und bedeuten, daß etwas dann nicht nur richtig [!], sondern gut ist, wenn es alle tun[...] Es geht nicht darum, ob eine individuelle Maxime verallgemeinert, sondern ob sie in den Rang eines allgemeinverbindlichen Gesetzes erhoben werden kann." (F. Delekat, Immanuel Kant 272) Aus dem "Gesichtspunkt eines ganz der Vernunft

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noch zu behaupten, der Mensch sei "durch seine Vernunft [!] bestimmt, in einer Gesellschaft mit Menschen zu sein"? (VI 678) Insbesonders Kants Argumentation bezüglich der "Selbständigkeit" als dem dritten Prinzip der kantischen Vertragskonstruktion einer rechtlich verfaßten "bürgerlichen Gesellschaft" war und ist auch zahlreichen (und in der Tat sachlich schwerwiegenden) Einwendungen ausgesetzt, ist doch nicht zu leugnen, daß Kants diesbezügliche Argumentation ganz beträchtliche Schwierigkeiten mit sich bringt. So bemerkt beispielsweise Riedel (stellvertretend für viele andere Autoren), daß diese "Selbständigkeit" gerade nicht — wie es doch nach Kants Auskunft sein soll! ~ als ein "Prinzip apriori" gelten darf, denn nicht "das für alle gleiche rechtliche Prinzip der Freiheit, sondern das nicht mehr formalrechtlich zu bestimmende Faktum der Selbständigkeit qualifiziert zur Teilnahme am Recht der bürgerlichen Gesellschaft, der 'Mitgesetzgebung'".31 Kants frei gestandenes Zögern ist in der Tat nicht unbegründet: "Es ist, ich gestehe es, etwas schwer, die Erfordernis zu bestimmen, um auf den Stand eines Menschen, der sein eigener Herr ist, Anspruch machen zu können." (VI 151)32 Riedels Hinweis trifft gewiß den wesentlichen Punkt: "Die Subsumtion unter die Kategorie des Eigentums zeigt an, daß sie [die Selbständigkeit] bei Kant in die [doch ganz unübersehbar bloß] kontingente Sphäre des gesellschaftlichen Warenverkehrs eingelassen ist. Die apriorische Rechtskonstruktion des ursprünglichen Vertrags, der herrschaftsfreie Koordination sozialen Handelns vorschreibt, beschreibt zugleich eine Gesellschaft, die mit dem ihr eigenen Namen (der bürgerlichen Gesellschaft im Sinne einer reinen Rechtsgesellschaft) nicht mehr zur Deckung gelangt. Es läßt sich unschwer erkennen, daß wir es hier mit dem Emanzipationsideal des bürgerlichen Liberalismus zu tun haben, das Kant der ständisch - bürgerlichen Gebundenheit des Eigentums und den rechtlichen Schranken seines Erwerbs entgegensetzt.

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gemäßen" - nicht nur demjenigen "eines durch Neigung affizierten - Willens" vermag die "bloße Gemeingültigkeit" nicht zu genügen, wäre so doch die "Allgemeingültigkeit des Prinzips" jedenfalls noch verfehlt. Gilt dies nicht auch für den kategorischen Imperativ als "bloßes" "Verallgemeinerungsargument" (Baier, Kemp)? M. Riedel, Herrschaft und Gesellschaft 139. - Hennigfeld bemerkt in Kants diesbezüglicher Argumentation einen Unterschied zwischen der Schrift "Zum ewigen Frieden" und dem "Gemeinspruch" - Aufsatz — zumal in erstgenannter das Prinzip der Selbständigkeit durch das einer "Gleichheit" ersetzt sei. Hennigfeld erwägt selbst in seiner Erklärung dieser Abweichung, dies als einen Beleg dafür anzusehen, "daß Kant bei der Fassung dieses dritten Prinzips [d. i. der Selbständigkeit] selbst unsicher war." (J. Hennigfeld, Der Friede als philosophisches Problem . . . 28 f.) Tatsächlich ist Kants Ansicht die: "Aktiver Staatsbürger als Glied der societas civilis, 'der nicht bloß Teil des gemeinen Wesens'. . ., ist für ihn [Kant] nur der rechtsfähige, politisch berechtigte, ökonomisch selbständige Bürger." (W. Oelmüller, Die unbefriedigte Aufklärung . . . 121)

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Das heißt aber: das Modell ist mit genau jenen Elementen unverträglich, die Selbständigkeit als Rechtstitel der alten bürgerlichen Gesellschaft konstituierten."33 Diese im Anschluß an Riedel und Habermas soeben wenigstens kurz angedeuteten Schwierigkeiten betreffend die "Apriorität des Rechtsprinzips" lassen sich wiederum in geschichtsphilosophischer Perspektive noch ergänzen. So kritisiert Baumanns mit doch guten Gründen, daß Kant im Kontext seiner "Völker- und Weltbürgerlehre" mit dem "Prinzip der ungeselligen Geselligkeit (d. h. der gesellschaftsbildenden Ungeselligkeit)" argumentiert, "das er auch in seiner Geschichtsphilosophie benutzt. Dieses Prinzip aber, der [offenkundig] in gesellschaftlicher Harmonie aus- und umschlagende Antagonismus (Konkurrenz, Rivalität, gegenseitige Furcht) sollte als empirisch-anthropologisches Prinzip, wenn nicht aus der praktischen Philosophie, so aber doch aus einer 'reinen Rechtslehre' ferngehalten werden."34 Offensichtlich verstößt Kant selbst demnach gegen seine eigene Einsicht und die Forderung der "absoluten Notwendigkeit" und d. h. auch der "Apriorität der reinen Vernunft und ihrer Begriffe." (IV 13) Dies nämlich hat zum einen nicht zuletzt auch bezüglich dieses Rechtsgesetzes Relevanz und Gültigkeit; gleichwohl ist Kants wiederholter (illegitimer) Bezug auf anthropologische Instanzen und Bedingtheiten selbst dann noch unverkennbar, wenn dies wiederum auch als Preisgabe des streng "Anthroponomischen" entschieden zurückgewiesen wird.35 So wäre nämlich die "Allgemeinheit, mit der sie [die Verbindlichkeit der Gesetze] für alle [!] vernünftigen Wesen ohne Unterschied gelten sollte, die unbedingte praktische Notwendigkeit, die ihnen dadurch auferlegt wird", zweifelsohne nicht zu retten: denn diese "fällt weg, wenn der Grund derselben von der besonderen Einrichtung der menschlichen Natur, oder den zufälligen Umständen hergenommen wird, darin er gesetzt ist." (IV 13)36

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M. Riedel, Herrschaft und Gesellschaft 143. Vgl. dazu auch die kritischen Anmerkungen von J. Habermas, Publizität als Vermittlung von Politik und Moral (Kant) (183 f.) sowie auch die einschlägige überaus scharfe Kritik von W. Kersting, Kants vernunftrechtliche Staatskonzeption . . . 119 f. Kersting identifiziert in diesen Ausführungen Kants eine "ernsthafte theoretische Verfehlung" von solchem Gewicht, die sogar einem "Verrat Kants an seinen eigenen Prinzipien" gleichkomme. P. Baumanns, Hobbes und die praktische Philosophie . . . 98. Vgl. dazu noch einmal IV 56. Nach Kersting träfe freilich bei Fichte auf das Rechtsgesetz zu, daß dieses sich nicht durch Verbindlichkeit der genannten Art, sondern lediglich durch bloße "Denknotwendigkeit" auszeichnete - tatsächlich spricht Fichte von der "praktischen Gültigkeit des Syllogismus" (Fichte, Akademie-Ausgabe I 3, 356): d. h. nämlich genauerhin: "Analytisch aus dem Faktum, daß mehrere freie Wesen in einer gemeinschaftlichen, die 'Wirksamkeit aller fortpflanzenden Sphäre stehen', ableitbar, verlangt es nicht praktische Vernunft, sondern lediglich 'logische Konsequenz und Wahrheit des Denkens': es bedarf zu seiner Erfassung

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1.1. Der Mensch als Rechtssubjekt. Festzuhalten bleibt, daß Kant zur genaueren Charakterisierung des als Idee des Staates konzipierten "Reichs der Zwecke" sowohl die "bürgerliche Freiheit" wie auch die "politische Freiheit" herangezogen hat, um so dieses "Reich der Zwecke" als ein "systematisch gedachtes Ganzes aller Zwecke (sowohl der vernünftigen Wesen als Zwecke an sich als auch der der eigenen Zwecke, die ein jedes sich selbst setzen mag)" (IV 66), auszuweisen.37 Damit ist nun offensichtlich der Aspekt der Errichtung und der Sicherung der "äußeren Freiheit" thematisiert, d. i. die "Unabhängigkeit des Menschen von der Willkür anderer, nicht nach ihren, sondern dadurch zugleich nach seinen eigenen Zwecken handeln zu dürfen." (IV 345) Denn diese auf das Prinzip der "bürgerlichen Freiheit" begründete Rechtsidee, seine Freiheit ausschließlich auf die notwendige Bedingung der Übereinstimmung mit derjenigen aller Anderen einschränken zu müssen, ist nun aber notwendigerweise durch jenes unverzichtbare Freiheitsprinzip der Autonomie zu ergänzen, nur allgemein verbindlichen Gesetzen unterworfen zu sein. Dies ist nun das Moment der "politischen Freiheit" als die "Befugnis, keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Beistimmung habe geben können" (VI 204 Anm.), und entspricht nur so der "Idee einer mit dem natürlichen Rechte der Menschen zusammenstimmenden Constitution", "daß nämlich die dem Gesetz Gehorchenden auch zugleich, vereinigt, gesetzgebend sein sollen" — denn diese Idee "liegt

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der theoretischen Vernunft und zu seiner Realisierung eines verständigen Egoismus, der seinerseits eine staatliche Macht fordert, die den Willen eines jeden mit 'mechanischer Naturnotwendigkeit' in die Bahnen des Rechts zwingt und so das begrifflich notwendige störungsfreie Miteinander freier Wesen mit der Unwiderstehlichkeit einer Naturmacht in der Sinnenwelt garantiert." (Wohlgeordnete Freiheit 69) Vgl. dazu auch noch einmal Kants Analogie zwischen den "rechtlichen Verhältnissen menschlicher Handlungen" und den "mechanischen Verhältnissen bewegender Kräfte" (III 233 Anm.): erstere sind sonach gedacht nach Art der mechanischen Bewegung: "Die Wirkung bewegter Körper auf einander durch Mitteilung ihrer Bewegung heißt mechanisch." (V 92) Dem fügt sich nun bei Berücksichtigung des unterschiedlich bestimmten Stellenwertes des kategorischen Imperativs auch noch Kants Bemerkung: "Ein solches Reich der Zwecke würde nur durch Maximen, deren Regel der kategorische Imperativ [als Beurteilungsprinzip] aller vernünftigen Wesen vorschreibt, wirklich zustande kommen, wenn sie allgemein befolgt würden. Allein, obgleich das vernünftige Wesen darauf nicht rechnen kann, daß, wenn es auch diese Maximen pünktlich befolgte, darum jedes andere eben derselben treu sein würde, ungleichen, daß das Reich der Natur und die zweckmäßige Anordnung derselben, mit ihm, als einem schicklichen Gliede, zu einem durch ihn selbst möglichen Reiche der Zwecke zusammenstimmen, d. i. seine Erwartung der Glückseligkeit begünstigen [!] werde: so bleibt doch jenes Gesetz: handle nach Maximen eines allgemeinen gesetzgebenden Gliedes zu einem bloß möglichen Reich der Zwecke, in seiner vollen Kraft, weil es kategorisch gebietend ist." (IV 72 f.)

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bei allen Staatsformen zum Grunde, und das gemeine Wesen, welches, ihr gemäß durch reine Vernunftbegriffe gedacht, ein platonisches Ideal heißt (res publica noumenon), ist nicht ein leeres Hirngespinst, sondern die ewige Norm für alle bürgerliche Verfassung überhaupt. . . Eine dieser gemäß organisierte bürgerliche Gesellschaft ist die Darstellung derselben nach Freiheitsgesetzen durch ein Beispiel in der Erfahrung (respublica phaenomenon)." (VI 364) Somit scheint es angemessen, diese "politische Freiheit" mit Kersting sodann auch als ein "gleiches Mitwirkungsrecht an der Gesetzgebung", als "politisches Teilhaberecht", zu bestimmen: "sie vermittelt Recht und Gesetz, sie ist das Medium der Positivierung des angeborenen Freiheitsrechts, durch sie wird die im Rechtsgesetz gedachte Freiheitsordnung auf rechtlichem Wege und unmittelbar in eine Gesetzesordnung überführt."38 Bezüglich dieser durch die Prinzipien der "bürgerlichen" und "politischen" Freiheit definierten Rechtssphäre und ihrer Positivierung in der bürgerlichen Gesetzgebung bleibt noch daran zu erinnern, daß diese "zu ihrem wesentlichen obersten Prinzip das natürliche Recht der Menschen, welches im statu naturali (vor der bürgerlichen Verbindung) eine bloße Idee ist, zu realisieren" hat, "d. i. unter allgemeine, mit angemessenem Zwange begleitete, öffentliche

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W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit . . . 240. - Interessant ist hier (nicht zuletzt wegen der darin angesprochenen Bestimmung der "politischen Freiheit") auch ein Passus aus Kants Vorarbeiten zu seinem Gemeinspruch-Aufsatz (Akademie-Ausgabe XXIII 129 ff.): "Alle Rechtsgesetze müssen aus der Freiheit derer hervorgehen die ihnen gehorchen sollen. Denn das Recht selbst ist nichts Anders als die Einschränkung der Freiheit des Menschen (im äußeren Gebrauch) auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung derselben mit der Freiheit von jedermann. Daher die bürgerliche Verfassung als ein rechtlicher Zustand unter öffentlichen Gesetzen durchgängige Freiheit eines jeden Gliedes des gemeinen Wesens als erste Bedingung [!] enthält (nicht die ethische, auch nicht bloß die juridische, sondern die politische Freiheit). Diese besteht darin daß er seine Wohlfahrt nach seinen Begriffen suchen kann und auch nicht einmal als Mittel zum Zweck seiner eigenen Glückseligkeit von andern und nach derer ihren Begriffen gebraucht werden kann sondern bloß nach den seinigen (worunter also die Sicherheit des Eigentums mit begriffen ist) so ist dieses ein salus publicum d. i. die Erhaltung dieses Zustandes der Freiheit — diese Freiheit kann keiner weggeben weil er dann aufhören würde ein Recht zu haben und eine Sache sein würde obzwar wohl verwirken. Sie findet selbst bei Dienstboten statt welche bestimmte ihrem möglichen Wunsche der Selbsterhaltung zusammen bestehende Arbeiten für andere übernehmen können." Offenkundig knüpft Kant hier an Rousseaus Unterscheidung zwischen "liberte civile und liberte naturelle" an: erstere "befähigt" zur Partizipation am Staatswesen, während dagegen die letztere eben die Unabhängigkeit formuliert, in seinem Glückseligkeitsstreben auch vor der Willkür und der Behinderung anderer geschützt zu werden. — Genau dieser hier angesprochene notwendige Aspekt der Rechtsfundierung bleibt freilich in Kants Bestimmung des "strikten" ("engen") Rechtes unberücksichtigt: "Das strikte Recht kann auch als die Möglichkeit eines mit jedermanns Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmenden durchgängigen wechselseitigen Zwangs vorgestellt werden." (IV 339)

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Vorschriften zu bringen, denen gemäß jedem sein Recht gesichert oder verschafft werden kann." Hier verdient eine briefliche Mitteilung Kants an Jung-Stilling^9 betreffend die Konstitution der Rechtsperson Interesse: ihr zufolge müssen diese durch bürgerliche Gesetzgebung "gesatzten Vorschriften" nach der "Ordnung der Kategorien. . .1., was die Quantität betrifft, so gegeben werden, als ob einer für sie alle und alle für einen jeden einzelnen freiwillig beschlossen hätten. 2. Die Qualität des Zwecks dieser Gesetze (als Zwangsgesetze) ist nicht Glückseligkeit, sondern Freiheit für jeden, seine Glückseligkeit selbst, worin er sie immer setzen mag, zu besorgen, und daß er anderer ihrer gleich rechtmäßigen Freiheit nicht Abbruch tut. 3. Die Relation der Handlungen, welche Zwangsgesetzen unterworfen sind, ist nicht die des Bürgers auf sich selbst oder auf Gott, sondern bloß auf andere Mitbürger, d. i. öffentliche Gesetze gehen auf äußere Handlungen. 4. Die Modalität der Gesetze ist, daß die Freiheit nicht durch willkürliche Zwangsgesetze, sondern nur die, ohne welche die bürgerliche Vereinigung nicht bestehen kann und die also in dieser schlechthin notwendig sind, eingeschränkt werde. Salus rei publicae (die Erhaltung der bloßen gesetzlichen Form einer bürgerlichen Gesellschaft) suprema lex est." Ohne Zweifel ist es der Rang dieses Prinzips der "politischen Freiheit", der auch als letzter Rechtfertigungsgrund aller "rechtmäßigen Zwangsgewalt" fungiert: "Herrschaft und Vereinbarung auf der einen, Freiheit und Zwang auf der anderen Seite sind bei Kant nicht mehr einander entgegengesetzt, sondern im Begriff einer rechtmäßigen (die Freiheit eines jeden ermöglichenden) Zwangsgewalt vereinigt. Die Freiheit, verstanden als die Gesetzgebung der praktischen Vernunft, fordert vereinbarte Herrschaft für die Freiheit, verstanden als freie Willkür, aber in Form des Rechtszwangs: daß der Gebrauch der Freiheit eines jeden auf die Bedingungen ihrer möglichen gesetzlichen Übereinstimmung mit der aller anderen 'eingeschränkt sei und von anderen auch tatsächlich eingeschränkt werden dürfe; und dieses sagt sie als ein Postulat, welches gar keines Beweises weiter fähig ist'".40 Dies formuliert die genau bestimmte und eingegrenzte Aufgabe des "bürgerlichen Rechts" (VI 95); die republikanische Verfassung ist es, in deren Idee demgemäß für Kant die Freiheit als Prinzip und Bedingung allen Zwanges ausgezeichnet ist.41 Der vernünftig-allgemeine Wille ist notwendig das Prinzip

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S. den Brief Kants an Jung-Stilling Akademie-Ausgabe XI10. M. Riedel, Herrschaft und Gesellschaft... 135 f. Dies bleibt indessen zu beachten, soll nicht Höffes Hinweis doch mißverständlich sein, daß die "Rechtslehre [Kants] . . . von der Willkürfreiheit endlicher Vernunftwesen, das heißt von der Fähigkeit" ausgeht, "sich selbst Zwecke zu setzen und sie mit den für sinnvoll erachteten Mitteln und Wegen verfolgen zu können." (O. Höffe, Recht und Moral 33) Die freilich unentbehrliche Dimension der bürgerlichen und politischen Freiheit bliebe

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der Rechtsordnung: "Der Wille ist also das Begehrlingsvermögen, nicht sowohl (wie die Willkür) in Beziehung auf die Handlung, als vielmehr auf den Bestimmungsgrund der Willkür zur Handlung, betrachtet, und hat für sich eigentlich keinen Bestimmungsgrund, sondern ist, sofern sie die Willkür

andernfalls doch unbeachtet, das Recht als "Vernunftrecht" wäre aus dem bloßen Horizont der Willkürfreiheit entworfen und könnte somit natürlich niemals die "wahre Bestimmung des Rechts" auch nur annähernd erschöpfen. Ein solches auf das bloße Prinzip der Willkürfreiheit gegründetes Recht und dessen Anspruchsniveau hätte Kant auch gewiß nicht als "Augapfel Gottes" auszeichnen wollen (VI 207 Anm.), käme ein solcherart fundiertes Rechtsprinzip doch keinesfalls über die bloß "subjektive Freiheit" hinaus: niemals wäre es als "objektive Freiheit" in dem bestimmten Sinne einer Institution zu fassen, in der, wieder mit Hegel gesprochen, "der freie Wille sein Dasein hat". Solches Rechtsprinzip bliebe so vielmehr offenbar auf die Vorstellung "gegenseitiger Beschränkung" reduziert und wäre so lediglich "Akzidentelles" der Freiheit. Hegels diesbezügliche Kritik bleibt zweifellos erinnernswert: "Die Einheit selbst aber kann, nach dem Prinzip der absoluten qualitativen Vielheit, wie in der empirischen Physik, nichts als wieder mannigfaltige Verwicklungen des als ursprünglich gesetzten einfachen und [voneinander] abgesonderten Vielen, oberflächliche Berührungen dieser Qualitäten, die für sich selbst in ihrer Besonderheit unzerstörbar und nur leichte, teilweise Verbindungen und Vermischungen einzugehen vermögend sind, — an die Stelle der vielen atomen Qualitäten also eine Vielheit von Geteiltem oder von Verhältnissen darstellen, und, insofern die Einheit als Ganzes gesetzt wird, den leeren Namen einer formalen und äußern Harmonie unter dem Namen der Gesellschaft und des Staats setzen." (Hegel, Jubiläums-Ausgabe I 450 f.) Es ist also ganz offenkundig die "gegenseitige Beschränkung" als das "einheitsstiftende" Prinzip, die so diesem gesellschaftlichen Zustand primär zugrunde liegt (und so bestenfalls "Koexistenz" ermöglicht), auf die somit auch Hegels (auf Fichtes Rechtslehre gemünzte) Charakterisierung zutrifft: "Aber jener Verstandes-Staat ist nicht eine Organisation, sondern eine Maschine: das Volk nicht der organische Körper eines gemeinsamen und reichen Lebens, sondern eine atomistische lebensarme Vielheit, deren Elemente absolut entgegengesetzte Substanzen, teils eine Menge von Punkten (den Vernunftwesen), teils mannigfaltig durch Vernunft (d. h. in dieser Form: durch den Verstand) modifikable Materien sind: — Elemente, deren Einheit ein Begriff, deren Verbindung ein endloses Beherrschen ist." (Hegel, Jubiläums-Ausgabe I 114). Vgl. auch den § 29 der Rechtsphilosophie. - Diese Einwände bleiben auch dann beachtenswert, wenn man Hegels Konzeption der Moral- und Rechtsphilosophie im einzelnen schwerwiegenden Bedenken ausgesetzt sieht. - Auch der Ebbinghaus-Schüler H. Oberer empfiehlt bezüglich des Unterschiedes von Ethik und Rechtslehre genauestens darauf zu achten, "daß in der ersteren nur vom positiven Freiheitsbegriff der sittlichen Autonomie, in der letzteren aber nur vom negativen Freiheitsbegriff des äußeren Willkürgebrauches im Sinne fehlender Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit legitimerweise die Rede ist." Ganz im Sinne seines Lehrers — deshalb aber auch derselben Kritik (besonders auch Kerstings) ausgesetzt, erachtet er es als "unzulässig", "Bestimmungen aus der kritischen Ethik auf Kants Rechtsphilosophie zu übertragen — und zwar eben wegen der Beschränkung der Argumentation der Rechtslehre auf den Freiheitsbegriff der Unabhängigkeit der Willkür in ihrem äußeren Gebrauche von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit." (H. Oberer, Zur Frühgeschichte der Kantischen Rechtslehre 98 f.)

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bestimmen kann, die praktische Vernunft selbst." (IV 317) Als das "Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein", ist dieser Wille Ermöglichungsgrund der "reinen praktischen Vernunftgesetze" und begründet somit auch als Vernunftprinzip (im Unterschied zur Willkür als dem "Vermögen des Verstandes") den besonderen Rang und die Würde des Menschen als Rechtssubjekt.42 Bliebe das lediglich dieses äußere Verhältnis der Menschen zueinander betreffende Rechtsverhältnis auf das brüchige Fundament der Willkürfreiheit gestellt, so wäre genau besehen auch gar nicht einzusehen, warum diese — und zwar in einem sittlichen relevanten Sinne — sein s o l l e n : das Recht wäre wohl kaum als eine Bestimmung der sittlichen Freiheit selbst anzuerkennen. Im Grunde wußte Kant ebenso gut wie Hegel darum, daß die bloße "Freiheit des Verstandes" für sich genommen eine bloße Abstraktion darstellt und sonach in der "politischen Freiheit" aufzuheben ist, wenn andernfalls sich doch auch nicht behaupten ließe, das Recht sei ein "reiner praktischer Vernunftbegriff der Willkür unter Freiheitsgesetzen." (IV 358)43 Rechtssubjekt ist der Mensch nach Kant eben ganz wesentlich als "Subjekt der moralisch-praktischen Vernunft", d. h. also: "Weder in dem entfremdeten Zweck-Mittel- Zusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft, noch in der zu ihm komplementären Romantik (und ihrer partikularistischen Insistenz auf den Besonderheiten subjektiven Geschmackes) kommt freilich Autonomie im Sinne Kants vor"44 — bedingt eben durch die grobe Vernachlässigung bzw. die Ausblendung des für die angeführten Begründungszusammenhänge im

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Nur so läßt sich auch sagen: "Die praktische Vernunft gibt dem Menschen auf, in eine Gemeinschaft mit den anderen Menschen (als Vernunftwesen) zu treten . . . der Mensch versetzt sich durch sein sittliches Wollen und Handeln in ein 'Reich der Zwecke' . . ., verbindet sich mit seinesgleichen zu einem ideal-sozialen System frei wollender, autonomer, als Selbstzwecke (nicht bloß als Mittel) geltender, aus eigener Vernunft gesetzgebender Persönlichkeiten." (R. Eisler, Kant-Lexikon 195.) Lediglich auf die Freiheit als bloßes "Vermögen der Zwecke" restringiert wäre auch wohl kaum rechtens zu behaupten, daß der Begriff des äußeren Rechts "gar nichts mit dem Zwecke" zu tun habe, "den alle Menschen natürlicherweise haben, und der Vorschrift der Mittel, dazu zu gelangen." (R. Eisler, Kant-Lexikon 454) Unvereinbar wäre damit auch Kants These, daß ausschließlich das Recht (nicht die Glückseligkeit) als Prinzip der Rechtsverfassung gelten könne. Dafi die Gesetze "zunächst auf die Glückseligkeit (die Wohlhabenheit der Bürger, die Bevölkerung u. dgl.) gerichtet sind", möchte Kant keineswegs selbst "als Zweck der Errichtung einer bürgerlichen Verfassung, sondern bloß als Mittel, den rechtlichen Zustand vornehmlich gegen äußere Feinde des Volkes zu sichern", anerkennen. (VI 154 f.) Es ist allein das Prinzip der "bürgerlichen" und der "politischen Freiheit", das die Abwertung (Reduktion) des "höchsten politischen Guts" (als einer wesentlich sittlichen Aufgabe) und damit des "ewigen Friedens" auf ein bloß "physisches Gut" (VI 239) verhindern kann. L. Nagl, Gesellschaft und Autonomie . . . 37.

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wörtlichen Sinne maßgebenden Prinzips der "politischen Freiheit". Auch das "Reich der Zwecke" ist, wie sich zeigen soll, maßgeblich bestimmt durch die "bürgerliche" und "politische Freiheit", ohne freilich mit der Idee des "Reichs der Freiheit" selbst so ohne weiteres identifizierbar zu sein. An dieser Stelle ist auf eine für eine angemessene Interpretation der einschlägigen Lehrstücke Kants entscheidende Unterscheidung hinzuweisen. Kant unterscheidet in einer ganz wichtigen Hinsicht Legalität ("pflichtgemäß") und Moralität ("aus Pflicht") als jene "zwei Arten des Verhältnisses, das das Subjekt zu ein und derselben Verbindlichkeit, [d. i.] dem Moralgesetz (Sittengesetz) einnimmt."45 Diese bekannte Unterscheidung zweier Verhältnisse der "Befolgungsart" ist nun jedoch genauestens von der "doppelten Vernunftgesetzgebung" abzuheben, zumal diese letztere doch auf den Unterschied zwischen Rechts- und Tugendpflichen zielt. Wie Höffe völlig zu Recht betont, ist es in dem Begriffspaar "Moralität und Legalität" nicht "um zwei Gruppen von Verbindlichkeiten, sondern [um] zwei Arten des subjektiven Verhältnisses zu ein und derselben Verbindlichkeit, dem Moralgesetz"46, zu tun. In diesem zweitgenannten, in der Regel weniger beachteten Begriffspaar (juridische und ethische Gesetzgebimg) stehen hingegen in der Tat "zwei Gruppen von normativen Verbindlichkeiten" einander gegenüber, die nun eben auch eine Unterscheidung "nach Maßgabe der Inhalte" ermöglicht und sich folglich nicht mehr auf die Art des Verhältnisses zu dieser Verbindlichkeit allein beschränkt. Die Notwendigkeit einer solchen Unterscheidung wird allein schon daraus plausibel, daß die juridische Gesetzgebung ja natürlich keineswegs dies verlangen kann, "daß die Idee dieser Pflicht, welche innerlich ist, für sich selbst Bestimmungsgrund der Willkür des Handelns sei, und, da sie doch einer für Gesetze schicklichen Triebfeder bedarf, nur äußere mit dem Gesetze verbinden kann"; während jedoch die "ethische Gesetzgebung dagegen. . . zwar auch innere Handlungen zu Pflichten" macht, "aber nicht etwa mit Ausschließung der äußeren, sondern geht auf alles, was Pflicht ist, überhaupt" (IV 324) — zumal doch schon "alle Pflichten bloß darum, weil sie Pflichten sind, mit zur Ethik gehören." (IV 325)47 Kant unterscheidet demnach jedenfalls ihrem Inhalte nach "zwei Klassen von Pflichten, eine erste Klasse von Pflichten, die auch äußerlich, von einer zweiten, die bloß innerlich sein können. Insofern aber Legalität (Gesetzmäßigkeit) als Übereinstimmung mit den sittlichen Pflichten definiert ist, erhält diese Übereinstimmung jetzt eine doppelte Bedeutung. Es handelt sich ent-

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O. Höffe, Recht und M o r a l . . . 18. O. Höffe, Recht und Moral . . . 21. Vgl. ebd. 325: "Rechtslehre und Tugendlehre unterscheiden sich also nicht sowohl durch ihre verschiedenen Pflichten, als vielmehr durch die Verschiedenheit der Gesetzgebung, welche die eine oder die andere Triebfeder mit dem Gesetz verbindet."

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weder um die Übereinstimmung mit den äußeren Pflichten, von Kant auch juridische (rechtliche) Legalität genannt, oder um eine Übereinstimmung mit den bloß inneren Pflichten, auch ethische Legalität genannt" ~ wie Höffe48 in Berufung auf eine Reflexion Kants49 feststellen kann: "Die Legalität ist entweder juridisch oder ethisch." Erst diese Unterscheidung macht deutlich, daß auch die Tugendpflichten (die von Kant so genannten "weiten Pflichten") lediglich bloß "legalistisch" (d. i. bloß "pflichtgemäß") befolgt werden können: "Der Begriff der juridischen Legalität bezeichnet die Pflichtgemäßheit angesichts von Rechtspflichten, der Begriff der ethischen Legalität die Pflichtgemäßheit der von den Rechtspflichten verschiedenen Tugendpflichten. In beiden Fällen liegt der strikte Begriff von (bloßer) Legalität vor: die Befolgung von Pflichten aufgrund irgendwelcher Bestimmungsgründe, nicht notwendiger Weise aufgrund einer Anerkennung der Pflichten als solcher." Tatsächlich ist diese angeführte "doppelte Vernunftgesetzgebung" von größter Bedeutung für die so entscheidende kantische "Trennung zwischen Moral und Recht" ~ ein Sachverhalt, der auch in neueren Kantinterpretationen häufig übersehen wird: "das Recht ist für ihn [Kant] nicht das sittengesetzlich sanktionierte Dürfen, nicht ein im Bestimmungsschatten des Moralprinzips stehen des Erlaubt- und Berechtigtsein. Der Unterschied zwischen Moral und Recht hat bei Kant seinen Grund allein in einer den Befolgungsmodus des Grundgesetzes der reinen Vernunft bzw. ihm zuzuordnende Exekutionsprinzip betreffenden Differenz der Gesetzgebungsweise." Kersting trifft so Kants Standpunkt wohl recht präzis: "Der Unterschied zwischen Pflichten der Moral und Pflichten der Naturrechts nebst der Vorspiegelung, als ob diese auf einem anderen und festeren Grund als jene beruhten, und daher größere Verbindlichkeit hätten, man sich auch wohl diesen unterwerfen könne, ohne jene anzuerkennen, ist also . . . nichtig, da alle Pflichten eigentlich in die Moral gehören."50

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O. Höffe, Recht und M o r a l . . . 23. Kant, Akademie-Ausgabe XIX 154, Reflexion 6764. W. Kersting, Sittengesetz und Rechtsgesetz 163. — Vgl. dazu auch die mit Kersting weithin übereinstimmenden Überlegungen von W. Bartuschat (Praktische Philosophie und Rechtsphilosophie bei Kant): Während die "Unterscheidung zwischen Moralität und Legalität. . . eine Unterscheidung hinsichtlich des Motiviertseins des handelnden Subjekts ist" und deshalb "eine Unterscheidung innerhalb der Ethik" (S. 28) betrifft, ist auch nach Bartuschat demgegenüber die "Trennung von Moralität und Recht . . durch den unterschiedlichen Gegenstandsbereich bedingt, auf den sie sich jeweils beziehen. Die Differenz macht es möglich, das eine vom andern her zu bestimmen. Gemeinsames Prinzip ist jedoch die reine praktische Vernunft, die Moralität und Recht zu Teilen der praktischen Philosophie macht und die sich in den beiden Sphären unterschiedlich artikuliert, als Bestimmungsgrund moralischen Handelns über die Motivation des durch das vernünftige Sittengesetz bestimmbaren Willens und als Rechtfertigung des durch empirische Vorgaben

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bedingten Zwanges, der, nicht aus reiner Vernunft folgend, von ihr gerechtfertigt werden muB, soll er konstitutives Element des Rechts und nicht nur der Gewalt sein können" (S. 38) — was so nur noch einmal verdeutliche, daß "Recht gegenüber der Moralität nicht ein Weniger darstellt, sondern ein Anderes ...". (S. 40) Vgl. dazu auch W. Bartuschat, Apriorität und Empirie in Kants Rechtsphilosophie, bes. 36 ff. — Auch im Zusammenhang der wenigstens angedeuteten Differenzierung verschiedener "Reiche" auf dem Boden der Freiheit ist vielleicht der Hinweis Hufelands aus seinem "Versuch über den Grundsatz des Naturiechts" interessant, zumal Kant selbst dieses Werk rezensiert hat (VI 807 ff.). Hufeland spricht hier auch von einem "Reich der Sittlichkeit" - einer Idee, die bei Kant aber jedenfalls in dieser undifferenzierten Weise (und vermutlich nicht zufällig) keine Berücksichtigung gefunden hat: "Das Reich der Sittlichkeit muB im aller höchsten Verstände eins seyn, folglich können Pflichten keiner Art aus einem andern Grundsatze fließen, als aus dem Grundsatze der M o r a l . . . : wie kann also das Recht der Natur sich anmaßen, Pflichten zu lehren, ohne einen Eingriff in das Eigentum der Moral zu tun, ohne einen Teil des Gebiets sich zuzueignen welches einzig und allein der letztern Wissenschaft zugeteilt ist. Diese Zwistigkeit zwischen beiden dadurch beilegen zu wollen, daß man [wie Kant es will] jenem die Zwangspflichten, dieser die Gewissenspflichten zuteilt, ist ein eitles Unternehmen. Es kann zwischen beiden Arten von Pflichten keine bestimmte Grenzlinie gezogen werden." (Hufeland, Versuch über den Grundsatz des Naturrechts 218) — Es wäre durchaus interessant zu untersuchen, ob und wie weit Hufelands "Versuch über den Grundsatz des Naturrechts" insbesondere in dem Gedanken eines "höchsten Zwecks eines vernünftigen Wesens" auf Kants Tugendlehre Einfluß genommen hat. (Vgl. VI 810) - Vgl. dazu aber auch die Arbeiten von Atwell (Objective Ends. ..), Hill (The Kingdom. ..) und Watson (Kant on Autonomy . ..).

2. Der genau bestimmte Stellenwert des "Reichs der Zwecke": das Reich der Zwecke als "Reich des Rechtes". Entgegen einer weit verbreiteten Ansicht soll im folgenden die Auffassung vertreten und begründet werden, daß das "Reich der Zwecke" am angemessensten wohl als das "Reich des Rechtes" zu bestimmen ist und somit jedoch von dem "ethischen gemeinen Wesen" noch abzugrenzen bleibt. Folglich gründet auch Kants Idee eines "Völkerbundes" und das für diese Vernunftidee konstitutive "Gesetz des Gleichgewichts" wie auch die "vereinigte Gewalt, die demselben Nachdruck gibt, mithin einen weltbürgerlichen Zustand der öffentlichen Staatssicherheit einzuführen" (VI 44), auf dem Grundgedanken der in dieser Weise genauer eingegrenzten Idee des "Reichs der Zwecke". Als die wesentliche Aufgabe der praktischen Vernunft hat sich nun in der angeführten rechtsphilosophischen Perspektive die "allgemeine und fortdauernde Friedensstiftung" erwiesen, die Kant aus diesem Grunde im weiteren "nicht bloß einen Teil, sondern den ganzen Endzweck der Rechtslehre innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" nennen kann — woraus sich im weiteren auch die Forderung ableitet, die Regel dieser Verfassung müsse deshalb "durch die Vernunft apriori von dem Ideal einer rechtlichen Verbindung der Menschen unter öffentlichen Gesetzen überhaupt hergenommen werden." Der im Ausgang von der Rechtsidee des Weltbürgerrechts konzipierte Begriff des "ewigen Friedens" wurde von Kant ausdrücklich auch als die Idee des "höchsten politischen Guts" in rechtsphilosophischer Sicht ausgewiesen. Als Beleg für den von Kant wenigstens der Sache nach vollzogenen Unterschied zwischen dem "Reich der Zwecke" und dem "ethischen Gemeinwesen" darf aber auch noch dies folgende angeführt werden. Während Kant wiederholt geltend macht: "Das vernünftige Wesen muß sich jederzeit als gesetzgebend in einem durch Freiheit des Willens möglichen Reich der Zwecke betrachten, es mag nun sein als Glied oder als Oberhaupt" (IV 67), — gründet doch seine Würde, dem konstitutiven Prinzip der "politischen Freiheit" gemäß, in seinem "Anteil an der allgemeinen Gesetzgebung" — so verhält es sich demgegenüber mit der praktischen Vernunftidee des "ethischen Gemeinwesens" schon deshalb ganz anders, weil in diesem "das Volk selbst gerade nicht als selbstgesetzgebend angesehen" werden darf (IV 757), sondern vielmehr ausschließlich der "göttlichen moralischen Gesetzgebung" unterstehend anzusehen ist. (Vgl. bes. IV 757 ff.) Es ist folglich ein durchaus bemerkenswerter Unterschied, der so in Kants später Religionsschrift angesprochen ist. Damit bestätigt sich nur noch einmal, daß die dem Status des "Reichs der Zwecke" adäquate Idee des

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"höchsten Gutes" wohl recht genau abzugrenzen ist von dem "höchsten unter seiner [Gottes!] Herrschaft allein möglichen Gut", d. i. eben der "Existenz vernünftiger Wesen unter moralischen Gesetzen." (V 576) Dieses von Kant gelegentlich so genannte "Reich der Tugend" und die diesem zueigene "Art der Verpflichtung" (IV 326) ist somit jedenfalls nicht einfach unterschiedslos gleichzusetzen mit dem "Reich der Zwecke", auch wenn dieses "Reich der Tugend" selbstverständlich noch die "äußerlichen Pflichten" mitumfassen muß. Kant nennt nun allerdings dieses in der "freien Tugend" seiner Glieder (als deren "Vereinigungsprinzip") gegründete Reich ohne weitere Differenzierungen schon ~ ein wenig vorschnell ~ "Volk (Reich) Gottes."51 Sein Hinweis, daß "ein ethisches gemeines Wesen doch auf öffentlichen Gesetzen beruhen, und eine darauf sich gründende Verfassung enthalten muß" (IV 754), darf nun jedoch keinesfalls als eine Identifizierung52 dieses "ethischen gemeinen Wesens" mit dem "Reich der Zwecke" mißverstanden werden; dieses "Beruhen" des "ethischen gemeinen Wesens" auf "öffentlichen Gesetzen" meint vielmehr doch wohl gar nichts anderes als dies, daß das "Reich der Zwecke" Voraussetzung und Ermöglichungsgrund des ersteren und in diesem Sinne diesem "vorgeordnet" ist, zumal doch erst auf dessen festgegründetem Boden sich auch die verschiedenen Dimensionen (Standpunkte, Ebenen) und die notwendigen Differenzierungen menschlicher freiheitlicher Selbstbestimmung zur Geltung bringen. Darin artikuliert sich demnach die von Kant wiederholt angeführte Idee einer "Rangordnung der Zwecke". Es ist nicht zu übersehen, daß Kant selbst in unmittelbarem Anschluß an die vorhin zitierte Stelle der Religionsschrift die Idee des "ethischen gemeinen Wesens" ausdrücklich mit den Tugendpflichten in engste Verbindung setzt, während doch das "Reich der Zwecke" seine maßgebende praktische Leitidee in der "obersten einschränkenden Bedingung aller Zwecksetzung" (IV 72) gefunden hat. Die "Errichtung und Ausbreitung einer Gesellschaft nach Tugendgesetzen und zum Behuf derselben" (IV 752) - dies ist nun der von Kant im Grunde doch ganz unmißverständlich festgelegte Status des "ethischen gemeinen Wesens". (S. auch IV 751) Kants eigener Auskunft zufolge ist, im Unterschied

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Kants Urteil zufolge bietet die "praktische Idee . . . von einem allgemeinen moralischen Gesetzgeber für alle unsere Pflichten, als Urheber des uns inwohnenden moralischen Gesetzes . . . dem Menschen eine ganz neue Welt dar. Er fühlt sich für ein anderes Reich geschaffen, als für das Reich der Sinne und des Verstandes [das freilich das "Reich der Zwecke" wenigstens in kultur- und geschichtsphilosophischer Perspektive ist!] — nämlich für ein moralisches Reich Gottes. Er erkennt nun seine Pflichten zugleich als göttliche Gebote und es entsteht in ihm ein neues Erkenntnis, ein neues Gefühl, nämlich Religion." (VI 345) Wie besonders Kants geschichts- und kulturphilosophische Entwürfe verraten, sieht diese Idee des "Reichs der Zwecke" von diesen für das "moralische Reich (Gottes)" konstitutiven Momenten wenigstens in der diesen Entwürfen eigenen Perspektive ab. Diesem Mißverständnis unterliegt auch G. Krüger.

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zu dem "bürgerlichen gemeinen Wesen", der "Begriff eines ethischen gemeinen Wesens immer auf das Ideal eines Ganzen aller Menschen bezogen und darin unterscheidet es sich von dem eines politischen." (IV 754) Diese Idee des "ethischen gemeinen Wesens" erschöpft sich also doch nicht in den engen Grenzen und Verbindlichkeitsansprüchen einer "bloß" rechtlich-bürgerlichen Gesellschaft und den ihr eigenen "Abstraktionen". Deutlich ist dieser Unterschied angesprochen in der von Kant zum Ausdruck gebrachten zukünftigen Hoffnung, eine "pathologisch- abgedrungene Zusammenstimmung zu einer Gesellschaft endlich in ein moralisches Ganzes (zu) verwandeln." (VI 38) Es ist deshalb auch ungenau, eine "Hauptfrage" Kants darin erkennen zu wollen, "wie ein ethisches gemeines Wesen, das heißt eine Verbindimg der Menschen unter Bedingungen der Vernunft (Moral) und damit zugleich, wie der ewige Friede als dessen unabdingbare Voraussetzung möglich sei."53 Nicht nur in der Grundlegungsschrift (IV 66 f.) hat Kant die Idee des "Reichs der Zwecke" primär auf die negativ-einschränkende Version der Menschheitsformel (IV 63 ff; vgl. dazu aber u. II. Teil) bezogen, wie doch auch Kants später Kommentar zu den ihn bewegenden Ereignissen in Frankreich bestätigt: "So hat man sich bei einer neuerlich unternommenen gänzlichen Umbildung eines großen Volkes zu einem Staat des Wortes Organisation häufig für Einrichtung der Magistraturen usw. und selbst des ganzen Staatskörpers sehr schicklich bedient. Denn jedes Glied soll freilich in einem solchen Ganzen nicht bloß Mittel, sondern zugleich auch Zweck und, indem es zu der Möglichkeit des Ganzen mitwirkt, durch die Idee des Ganzen wiederum seiner Stelle und Funktion nach bestimmt sein." (V 487)^ Kants affirmativer (wenn auch unter Verweis auf den doch bloß analogen Sinn riskierter) Gebrauch des Terminus "Organisation" in diesem Kontext bliebe bei ausschließlicher (oder

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H. Nagl-Docekal, Immanuel Kants Philosophie des Friedens . . . 56 Ob sich bei Beachtung der angeführten Unterscheidung des Anspruchsniveaus der verschiedenen Imperative so ohne weiteres (und ohne Einschränkung) sagen läßt: "Als Forderung der widerspruchsfreien Universalisierbarkeit einer Maxime bezieht sich der kategorische Imperativ primär auf die Identität des Ich: in der Gestalt der Zwecke-Mittel-Formel bezieht er sich primär [!] auf das System, den Organismus oder, wenn man will, den Kosmos geistiger Substanzen"? (M. Sommer, Die Selbsterhaltung der Vernunft 149) Diese Schlußfolgerung muß doch als voreilig erscheinen, (s.u. 143 ff.) — Problematisch (weil im ganzen doch noch zu undifferenziert) ist auch die Einschätzung dieser Probleme durch Heidegger (Die Grundprobleme der Phänomenologie 197): "Das Reich der Zwecke ist das Miteinander-Sein, das Commercium der Personen als solches, und deshalb [!] das Reich der Freiheit. Es ist das Reich der existierenden Personen unter sich . . . Reich der Zwecke muß in einem ontischen Sinne genommen werden. Zweck ist existierende Person, das Reich der Zwecke das Miteinander der existierenden Personen selbst." Und wenig später: "Das Reich der Zwecke, d. h. das Miteinander der Personen als freier, ist das intelligible Reich der Freiheit\(S.200)

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auch nur vorrangiger) Rücksicht auf die "Freiheit des Verstandes" schlechthin unverständlich. Auch dieser soeben zitierte Passus dürfte also die Ansicht stützen, daß die Charakterisierung des Staates als der Idee des "Reichs der Zwecke" ohne das Prinzip der "politischen Freiheit" und dem ihr gemäßen Begriff der Autonomie nicht unverkürzt zu bestimmen ist, zumal nur in dieser Weise der doch für Kants rechtsphilosophische Konzeption allein bestimmenden Vernunftperspektive zureichend Rechnimg getragen ist. Allein dies verhindert so nicht nur einen pragmatisch-utilitaristischen Reduktionismus bezüglich der Rechts- und Staatsidee durch den notwendigen Rekurs auf Prinzipien der "reinen praktischen Vernunft", sondern eröffnet so doch auch erst jenen Freiraum, als "vernünftiges [!, nicht bloß "verständiges"] Wesen . . . sich jederzeit als gesetzgebend in einem durch Freiheit des Willens möglichen Reich der Zwecke betrachten" zu können, um sich in dieser Weise jedoch auch als Person anerkannt zu wissen. (S. u. 80 ff.) "Miteinander in Rechtsverhältnisse" zu kommen, d. i. in den "rechtlichen Zustand" einzutreten: dies erst ist die dieser Stufe adäquate "Leitidee der praktischen Vernunft" und entspricht so in ihrem idealen Entwurf einer "vollkommenen rechtlichen Verfassung unter Menschen." (IV 497) Die auf diesem Prinzip gegründete Rechtsgemeinschaft ist der "Staat (civitas). . .[als] die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen" (VI 313); dieser ist demnach "für Kant eine das Recht wahrende und zugleich die Sicherheit seiner Bürger gegenüber auswärtigen Feinden gewährleistende Organisation."55 Dies also scheint der von Kant der Idee des "Reichs der Zwecke" zugedachte genauere Status zu sein, die somit keinesfalls schon als das "höchste Ideal der praktischen Vernunft" zu charakterisieren ist. Wohl ist zwar die "praktische Vernunftidee des Staates" als solche notwendiges Motiv sittlichen Handelns und entspricht damit auch einer ganz bestimmten Explikationsstufe der umfassenden Idee des "Reiches der Freiheit", ohne daß diese Stufe jedoch mit der "Idee der Freiheit" selbst zu identifizieren wäre: "Eine Verfassung von der größten menschlichen Freiheit nach Gesetzen, welche machen, daß jedes Freiheit mit der andern ihrer zusammen bestehen kann (nicht von der größten Glückseligkeit, denn diese wird schon von selbst folgen), ist doch wenigstens eine notwendige Idee, die man nicht bloß im ersten Entwürfe einer Staatsverfassung, sondern auch bei allen Gesetzen zum Grunde legen muß, und wobei man anfänglich von den gegenwärtigen Hindernissen abstrahieren muß." (II 323) Es ist wesentlich die "Konstitution des allgemeinen Willens" und der ihm entsprechende Begriff der Autonomie, die die "Idee des Staates" begründen: "In ihm vereinigt sich die Freiheit eines jeden mit der aller anderen unter Rechtsgesetzen, so daß sie einen Willen bilden, der imstande sein muß, sich

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I. Fetcher, Immanuel Kant und die Französische Revolution 277 f.

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gegen jeden partikulären Willen per Zwangsvollstreckung durchzusetzen. Nur auf diese Weise kann die Idee des Rechts verwirklicht werden, die Sicherheit und unabhängige Jurisdiktion voraussetzt."36 Damit erweist sich auch die Notwendigkeit von weiteren Differenzierungsschritten innerhalb dieser so bestimmten Idee des "Reichs der Freiheit", die es sodann auch erst gestatten, verschiedene, in diesen Begründungszusammenhängen maßgebende Ebenen und Akzentuierungen des Freiheitsbegriffes zu berücksichtigen. Schon hier bleibt jedenfalls auch mit besonderem Blick auf Kants Unterscheidung zwischen Rechts- und Tugendpflichten (und sodann wiederum ganz besonders betreffend die so genannten "Liebespflichten") darauf zu achten, daß nach Kant ein "strenges Prinzip der Autonomie des Willens" von dem für die Rechtssphäre maßgebenden Autonomiebegriff zu unterscheiden ist und dieser also offensichtlich auf den Status und Anspruch der "politischen Freiheit" zielt: daß nämlich dieser Wille "keinem Gesetze gehorcht als dem, das er sich selbst gibt." (IV 67) Auch daraus ist noch erkennbar, daß die Idee der "bürgerlichen" und der "politischen" Freiheit das "Reich der Zwecke" fundiert, d. h. den Menschen als "vernünftiges Wesen" durch seinen "Anteil. . . an der allgemeinen Gesetzgebung . . . hierdurch zum Gliede in einem möglichen Reiche der Zwecke tauglich" macht. (IV 69) Nur bei Beachtung dieser verschiedenen Nuancierungen des Begriffes der Autonomie sowie des von Kant doch immer wieder auch recht weit gefaßten Gehaltes des "moralischen Gesetzes" läßt sich so auch geltend machen, daß der "Rechtsbegriff ohne Freiheit und darauf gegründetes moralisches Gesetz . . . ein sachleerer Gedanke" sei. (VI 232)57Schon in diesem Kontext bleibt aber auch daran zu erinnern, daß Kant von aller bloßen Aufgabe der "Zivilisierung" den Gedanken der "Vollkommenheit des Bürgers" eben aus dem einfachen Grunde abheben muß, weil doch diese erstgenannte zwar den Menschen wohl "verfeinert", keineswegs ihn aber auch schon "bürgerlich gesinnet" macht.58 Wohl trifft man den von Kant der Idee

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D. Henrich, Einleitung zu Kant/Gentz/Rehberg, Über Theorie und Praxis 15. — Kants "Staat in der Idee" scheint nicht bloß in rechtsphilosophischer Perspektive (als "Idee der reinen rechtlich- praktischen Vernunft") interessant und maßgebend zu sein, sondern dürfte auch in geschichtsphilosophischer Perspektive wesentliche Motive dessen formulieren, was recht verstanden Hegels Lehre vom "Weltgeist" intendiert. S. dazu P. Heintel, Zum Begriff des Weltgeistes . . . bes. 243 f. W. Kersting, Neuere Interpretationen . . . 289. Kant, Akademie-Ausgabe XV 897: vgl. dazu auch die Reflexionen 1521 ff. Hieher gehört Kants auch noch in seiner Pädagogik klar ausgesprochene Unterscheidung zwischen bloß "öffentlichem" und "innerem Wert" des Menschen: die Erlangung des ersteren ist schon mit der erreichten "Zivilisierung" gegeben, die so in den Status des Bürgers erhebt: einen "inneren Wert" gewinnt der Mensch aber freilich erst und ausschließlich durch die dem "Prinzip der Moralität" verpflichtete (d. i. daran als Bestimmungsgrund orientierte)

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des "Reichs der Zwecke" zugedachten Gehalt am ehesten und vermeidet sowohl eine Unterbestimmung wie auch eine zu weit reichende Kennzeichnung dieser Idee des "Reichs der Zwecke", wenn man die moralische (d. i. gesinnungsmäßige) Beachtung der gebotenen Rechtspflicht als jenes Anspruchsniveau ansieht, dessen Erfüllung Kant noch am ehesten den Angehörigen dieses "Reiches" zumuten möchte. Daß dies Kants genauere Bestimmung des Stellenwertes dieses "Reichs der Zwecke" jedenfalls in moral- und rechtsphilosophischer Perspektive sein dürfte, scheint nun auch noch der achte Satz der "Ideen zu einer allgemeinen Geschichte . . . " zu bestätigen: "Man kann die Geschichte der Menschengattung im großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine innerlich [!] ~ und, zu diesem Zweck, auch äußerlich-vollkommene Staatsverfassung zu Stande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem sie alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann." (VI 45) In solcher "teleologisch" anmutenden Kennzeichnung der "innerlich - vollkommenen Staatsverfassung" zeigt sich nun, daß allein in ihr letztlich dem "Plan der Natur [d. i. der Vorsehung], der auf die vollkommene bürgerliche Vereinigung in der Menschengattung abziele, entsprochen ist, d. h. dieser nur darin seine Erfüllung findet."59 Eine zu weit gefaßte Kennzeichnung der Idee des "Reichs der Zwecke" — gar deren vorschnelle Gleichsetzung mit der "intelligiblen Welt" — dürfte hingegen (wie an einigen repräsentativen Beispielen zu zeigen sein wird) Mißverständnisse lediglich begünstigen. Wenigstens in sachlicher Hinsicht bei Kant selbst angelegte Differenzierungen müßten damit doch unberücksichtigt bleiben.60 Dies gilt beispielsweise auch für die Stellungnahme Konhardts: "Die Verknüpfung des für die moralische Selbstbestimmung des endlichen Vernunftwesens notwendigen Begriffs der Autonomie des Willens (positive Freiheit) mit der Überlegung, daß der durch das Gesetz der reinen praktischen Vernunft bestimmte Wille als solcher nur diejenigen Zwecke wollen kann, die zugleich Pflicht sind (objektive Zwecke), führt auf die Idee einer systematischen Verbindung aller Zwecke unter dem Namen eines 'Reichs der Zwecke'".61 Die gesinnungsmäßige Befolgung der Rechtspflichten scheint also wohl am ehesten den maßgebenden letzten Gesichtspunkt des Rahmens des "Reichs der

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Selbstbestimmung. (S. VI 712 f.) Vgl. auch Reflexion 6598 (Akademie-Ausgabe XIX103): "Daher nichts einen absoluten Wert hat als Personen, und dieser besteht in der bonitaet ihrer freyen Willkühr." "Nun ist Moralität die Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein kann". (IV 68) Freilich ist hier auch darauf zu achten, daß der Terminus "Natur" bei Kant immer wieder auch (aber keineswegs ausschließlich) als säkularisierte Idee der "Vorsehung" fungiert. Vgl. dazu A. Wellmer, Ethik und Dialog 208. K. Konhardt, Die Einheit der V e r n u n f t . . . 242.

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Zwecke" darzustellen.62 Zwar erachtet Kant die Handlungsmaximen durch die Formel des sittlichen Imperativs ~ "daß die Maximen so müssen gewählt werden, als ob sie wie allgemeine Naturgesetze gelten sollten" ~ allein erst dadurch als vollständig bestimmt, "daß alle Maximen aus eigener Gesetzgebung zu einem möglichen Reiche der Zwecke, als einem Reiche der Natur, zusammenstimmen sollen." (IV 70) Nun formuliert dies aber doch nicht mehr als gewissermaßen eine bloße Minimalbedingung; ist doch nicht zu vergessen, daß Kant zufolge "das vernünftige Wesen . . . als Zweck an sich selbst jeder Maxime zur einschränkenden Bedingung aller bloß relativen und willkürlichen Zwecke dienen müsse" und dabei "von allem zu bewirkenden Zweck abstrahiert werden muß (als der jeden Willen nur relativ gut machen würde), so wird der Zweck hier nicht als ein zu bewirkender, sondern selbständiger Zweck, mithin nur negativ, gedacht werden müssen, d. i. dem niemals zuwider gehandelt, der also niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck in jedem Wollen geschätzt werden muß. Dieser kann nun nichts anderes als das Subjekt aller möglichen Zwecke selbst sein, weil dieses zugleich [!] das Subjekt eines möglichen schlechterdings guten Willens ist." (IV 71)63 Freilich : niemand kann im strengen Sinne w o l l e n , lediglich "pflichtgemäß", d. i. also bloß den Maßstäben und den Ansprüchen des (bloß) "strikten Rechts" genügend, behandelt zu werden. Selbst wenn die Beschränkung auf das Prinzip der bloßen "juridischen Vernunft" den Anspruch der Idee des "Reichs der Zwecke" tatsächlich unterbieten sollte, indem dieses sich auch auf die "subjektiven Grundsätze" selbst erstreckte, so wäre damit doch lediglich und bestenfalls allein diejenige Verbindlichkeit angesprochen, das "Rechthandeln

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Nur in diesem Sinne läBt sich ohne Mißverständnis behaupten: "Nur durch die Moralität kann ein vernünftiges Wesen gesetzgebendes Glied eines Reichs der Zwecke und infolgedessen ein Zweck an sich selbst sein." (J. Paton, Der kategorische Imperativ 30) Andernfalls ist es wenigstens mißverständlich, von dem "moralischen Ideal eines Reichs der Zwecke" (so Paton 235) zu sprechen. Unschwer zu erkennen, daß der Begriff "Zweck an sich selbst" in Analogie zu dem "Ding an sich selbst" formuliert ist: so wie dieses in Abhebung von der "Erscheinung" bestimmt ist, steht jener "Zweck an sich selbst" im Gegensatz zu dem Verständnis des anderen Menschen als bloßem "Zweck für uns" und fungiert so gesehen in der Tat "als formaler Gegenbegriff zur Idee des menschlichen Zweckentwurfes", d. h. er ist so "der Formulierung des Gebotes wegen erdacht worden." (G. Krüger, Philosophie und Moral . . . 202) Aus diesem Grund vermag auch dem Menschen als "Zweck an sich selbst" gegenüber eine bloße "Willensbestimmung zwar gemäß dem moralischen Gesetze, aber nur vermittelst eines Gefühles, welcher Art es auch sei" (als bloße "Legalität"), nicht zu genügen, weil diese "nicht um des Gesetzes willen" erfolgt und deshalb "nicht Moralität enthalten" könne. (IV 191) Zu fragen wäre freilich, ob nicht eben die genannte unverkennbare Analogisierung des "Zwecks an sich selbst" zum "Ding an sich selbst" das Mißverständnis einer bloß negativ-einschränkenden Fassung der Menschheitsformel begünstigt? - Vgl. die Argumentation Gregors (Laws 82 ff.) und Millers (Kant: Two Concepts 378 ff.)

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mir zur Maxime zu machen" - nach Kant allerdings eine Forderung, "die die Ethik an mich tut." (IV 338) Und nur so ist jedoch der von Kant erhobene Anspruch zu verstehen, die Menschen müßten eine "Gesinnung" bekommen, "die notwendigerweise von jedermann gebilligt" werden könne, zumal genau besehen nur in dieser Weise die Zwecke "zu gleicher Zeit jedermanns Zwecke sein können". (VI 707)64 Hingegen gilt für die Forderung: "das Subjekt, welches Zweck an sich selbst ist, dessen Zwecke müssen, wenn jene Vorstellung [des Menschen als Zweck an sich selbst] bei mir alle Wirkung tun soll, auch, so viel möglich, meine Zwecke sein" (IV 63),— daß diese schon in Kants früher Grundlegungsschrift im Grunde freilich eher nur beiläufigerweise erwähnte, offenkundig aber doch wesentlich weiter reichende und auch unabweisbare Verbindlichkeit der praktischen Vernunft damit also zweifellos noch keine zureichende Berücksichtigung gefunden hat. Soll sich doch näherhin noch erweisen, daß Kants Selbstzweck- (Menschheits-) Formel erst von der späten Tugendlehre der Metaphysik der Sitten aus ihren eigentlichen unverkürzten Sinn zu gewinnen vermag. Dies nun: daß das "Rechthandeln mir zur Maxime zu machen . . . eine Forderung" ausspricht, "die die Ethik an mich tut", überhöht und radikalisiert so zwar in "ethischer Hinsicht" den Anspruch des "allgemeinen Rechtsgesetzes", insofern dies eben die ethische Verbindlichkeit der gesinnungsmäßigen Befolgung der Rechtspflichten formuliert, die aus diesem Grund auch "indirekt-ethische Pflichten" genannt werden können.65

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Davon ist freilich die (dem Wortlaut nach ähnliche) auf die Rechtssphäre zu beziehende Bemerkung Kants zu unterscheiden, daß "jedes Glied nicht bloß Mittel, sondern zugleich auch Zweck und, indem es zu der Möglichkeit des Ganzen mitwirkt, durch die Idee des Ganzen wiederum seiner Stelle und seiner Funktion nach bestimmt sein" soll. (V 487 Anm.) Sich "das Rechtsprinzip selbst wiederum zum inneren Bestimmungsgrund, zur Maxime des Handelns zu machen, ist aber eine weiter gehende Forderung, die folglich aus dem Begriff des rechtlich Erlaubten herausfällt... Zu den rechtlich erlaubten Handlungen gehört es nicht, daß das Rechtsgesetz auch die Triebfeder der Handlungen abgibt." (O. Höffe, Kants Begründung . . . 353) Das auf den Bereich der "äußeren Handlung" beschränkte "Recht würde seine Grenze zur Moral überschreiten, forderte es eine Rechtsgesinnung, forderte es Rechthandeln um des Rechtes willen." (W. Kersting, Wohlgeordnete F r e i h e i t . . . 7) Es ist vielmehr die umfassende "ethische Verpflichtung", auch die Rechtspflichten "aus Gesinnung" zu befolgen, geht diese doch "auf alles, was Pflicht ist, überhaupt" ( IV 324) — was eben erklärt, daß Kant die Rechtspflichten selbst "indirekt-ethische Pflichten" nennt. Vgl. W. Kersting, Sittengesetz und Rechtsgesetz . . . 167: "Ein Recht haben bedeutet, Subjekt äußerer Gesetzgebung zu sein, entsprechend eine Rechtspflicht haben, äußerer Vernunftgesetzgebung unterworfen zu sein. Unterwerfe ich mich dieser selbst, so wird sie zu einer inneren, und die Rechtspflicht nimmt den Charakter einer indirekt-ethischen Pflicht an. Der ethischen Gesetzgebung unterstehe ich wie der rechtlichen, doch jene verlangt mehr von mir, nämlich ihr Subjekt zu werden. Und nur dann werde ich Subjekt der ethischen Gesetzgebung, wenn Vernunft meinen Willen unmittelbar bestimmt. Subjekt der ethischen Gesetzgebung jedoch bin ich immer, allein darum, weil ich ein vernünftiges

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Hinzuweisen ist nun auch noch auf den im Grunde eher wenig beachteten Sachverhalt, daß Kant in doch recht aufschlußreicher Weise im Kontext seiner Überlegungen zum "Vertrag der Errichtung einer bürgerlichen Verfassung" von einem "Zweck, der in solchem äußeren Verhältnis an sich selbst Pflicht ist", spricht, und dies ausdrücklich auf den das "äußere Recht" begründenden "Begriff der Freiheit im äußeren Verhältnis der Menschen zu einander" bezieht. Denn dieser Vertrag der Errichtung einer bürgerlichen Verfassung ist für Kant "von so eigentümlicher Art, daß, ob er zwar in Ansehung der Ausführung vieles mit jedem anderen (der eben sowohl auf irgendeinen beliebigen gemeinschaftlich zu befördernden Zweck gerichtet ist) gemein hat, er sich doch im Prinzip seiner Stiftung . . . von allen anderen wesentlich unterscheidet. Verbindung vieler zu irgendeinem (gemeinsamen) Zwecke (den alle haben) ist in allen Gesellschaftsverträgen anzutreffen: aber Verbindung derselben, die an sich selbst Zweck ist (den jeder haben soll), mithin die in einem jeden äußeren Verhältnisse der Menschen überhaupt, welche nicht umhin können [!], in wechselseitigen Einfluß auf einander zu geraten, unbedingte und erste Pflicht ist: eine solche ist nur in einer Gesellschaft, sofern sie sich im bürgerlichen Zustande befindet, d. i. ein gemeines Wesen ausmacht, anzutreffen. Der Zweck nun, der in solchem äußeren Verhältnis an sich selbst Pflicht und selbst die oberste formale Bedingung . . . aller übrigen äußeren Pflicht ist, ist das Recht der Menschen unter öffentlichen Zwangsgesetzen, durch welche jedem das Seine bestimmt und gegen jedes anderen Eingriff gesichert werden kann." (VI 144)66 Nun ist es die Rechtspflicht, die Kant durch eben eine solche "Nötigung" ausgezeichnet sieht, "wozu auch eine äußere Gesetzgebung möglich ist." (IV 525) Der Unterschied zwischen Kants Argumentation in dem soeben zitierten "Gemeinspruch"-Aufsatz (aus dem Jahr 1793) und seinen Ausführungen der nur wenige Jahre später erschienenen Metaphysik der Sitten ist nicht zu übersehen, erweist sich doch dieser letzteren zufolge das Recht gerade als ein solches, das von allen Zwecken abstrahiert. Der "Zweck, der zugleich Pflicht ist" (der "Zweck, den man haben soll"), wird in der späten Tugendlehre der Metaphysik der Sitten von der Tugendpflicht aus bestimmt, ist diese in Abhebung von der Rechtspflicht nach Kant doch eine solche, die sich aller Zwangsbefugnis entzieht, während eben dadurch der Status der Rechtspflicht wiederum ganz genau definiert ist. Von erheblicher Bedeutimg ist dies nun nicht zuletzt für eine zureichend differenzierte Bestimmung der Konstitutiva

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Wesen bin." Vgl. dazu auch M. Laupichler, Die Grundzüge . . . Vgl. O. Höffe, Ethik und Politik 212: "Der Gesellschaftsvertrag im spezifischen Sinn, pactum civilis, hat nicht etwas Beliebiges zum Zweck, sondern das, was an sich Zweck ist, die Errichtung des Rechtszustandes."

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der von Kant in sachlicher Hinsicht doch unterschiedenen "Reiche". Davon muß im zweiten Teil dieses Buches noch ausführlicher die Rede sein. Sodann bleibt auch in diesem Zusammenhang schon Kants Auskunft über den "Begriff eines Gegenstandes der praktischen Vernunft" beachtenswert — näherhin besonders der daran geknüpfte Hinweis Kants darauf, daß die "Beurteilung, ob etwas ein Gegenstand der reinen praktischen Vernunft sei, oder nicht, . . . nur die Unterscheidung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit" betrifft, "diejenige Handlung zu wollen, wodurch, wenn wir das Vermögen dazu hätten (worüber die Erfahrimg urteilen muß) ein gewisses Objekt wirklich werden würde." (IV 174) Zur Vermeidung von sich auch in der gegenwärtigen Kantliteratur hartnäckig erhaltenden Mißverständnissen bleibt darauf zu achten, daß die "Regel der Urteilskraft unter Gesetzen der reinen praktischen Vernunft" für sich genommen natürlich keineswegs schon dem Anspruch dessen genügt, was Kants Prinzip des "kategorischen Imperativs" intendiert. Sie ist deshalb auch nicht damit zu verwechseln und natürlich erst recht nicht mit dem Imperativ der Tugendpflicht (s. u. Teil II) gleichzusetzen. Diese Regel der Urteilskraft (und nicht der Imperativ selbst) lautet: "Frage dich selbst, ob die Handlung [!], die du vorhast, wenn sie nach einem Gesetz der Natur, von der du selbst ein Teil wärest, geschehen sollte, sie du wohl, als durch deinen Willen möglich, ansehen könntest." (IV 188) Im Falle der Verwechslung (bzw. einer Gleichsetzung) von Imperativ und Regel der Urteilskraft bliebe nun letztendlich nicht nur Kants entschiedene Zurückweisung der bekannten "goldenen Regel" unverständlich; überdies vermag die bloße "Möglichkeit der Handlung" nämlich keinesfalls schon zu gewährleisten, daß die dieses Beurteilungsprinzip Befolgenden wie auch die davon Betroffenen tatsächlich als "Zweck an sich selbst" anzuerkennen (anerkannt) sind, wäre doch das "oberste Prinzip der Moral" selbst damit noch gar nicht in Sicht gekommen, das ohne die Pflicht als "Beweggrund des Willens" gar nicht zu denken ist.67 Mag es zwar möglich sein, daß man "von eben derselben Handlung [anderer] auch in sich den Zweck . . . enthalten" könne (IV 62) und man sich somit auch als "Angehörige" des "Reichs der Zwecke" wechselseitig anerkennt — für ein "moralisches Verhältnis der Menschen zueinander" genügt dies offensichtlich gerade nicht, ist doch solcherart auch überhaupt noch gar nicht darüber entschieden, ob die jeweils Betroffenen denn auch von der Maxime der Handlung "den Zweck in sich enthalten können" — so erst wären jedoch in dem eigentlich so zu nennenden moralischen Verhältnis der Menschen zueinander

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O. Höffe, Ethik und Politik . . . 211.

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diese als "Zwecke an sich selbst" im strengen Sinne anerkannt!68 Es soll sich freilich noch im einzelnen zeigen, daß die Forderung: "handle in Beziehung auf ein jedes vernünftige Wesen (auf dich selbst und andere) so, daß es in deiner Maxime [!] zugleich als Zweck an sich gelte" (IV 71), abgesehen ("außerhalb") von dem "obersten Prinzip der Tugendlehre" letztlich gar nicht einzuholen ist, zumal das "ohne Widerspruch . . . als allgemeines Gesetz denken können" als Maßstab diesem Anspruch gewiß noch nicht zu genügen vermag. Aus den soeben angeführten Gründen ist es wenigstens ungenau ~ ja irreführend --, wenn Kaulbach die "moralische Verbindlichkeit" so bestimmen will: "Der Andere muß in meinem Handlungskonzept als Selbstzweck auftreten: d. h. daß ich nur einer solchen Willensentscheidung gemäß handeln darf, die sich aus einer gemeinsamen Selbstgesetzgebung ergibt."69 Es ist nicht zu übersehen, daß Kant an ganz entscheidender Stelle der Kritik der praktischen Vernunft bezüglich des Stellenwerts des "Zwecks an sich selbst" in aufschlußreicher Weise allerdings doch anders argumentiert: um der Autonomie menschlicher Freiheit willen "ist jeder Wille . . . auf die Bedingung der Einstimmung mit der Autonomie des vernünftigen Wesens eingeschränkt, es nämlich keiner Absicht [!] zu unterwerfen, die nicht nach einem Gesetz, welches aus dem Willen [!] des leidenden Subjekts selbst entspringen könnte, möglich ist: also dieses niemals bloß als Mittel, sondern zugleich selbst als Zweck zu gebrauchen. Diese Bedingungen legen wir mit Recht sogar dem göttlichen Willen in Ansehung der vernünftigen Wesen in der Welt als seiner Geschöpfe bei, indem sie auf der Persönlichkeit derselben beruht, dadurch allein sie Zwecke an sich selbst sind." (IV 210) Eben so ist auch Kants Lehre zu verstehen, das "Subjekt der Zwecke" sei als "oberstes praktisches Prinzip" anzusehen, aber auch die in einem produktiven Sinne doch mehrdeutige Feststellung Kants, die Existenz des "Zwecks an sich selbst" sei alleiniger Grund der Möglichkeit eines kategorischen Imperativs. (S. u. 105 ff.) Daß "Achtung . . . jederzeit nur auf Personen" geht (IV 197) und nun diese "Achtung für Personen . . . immer auf dem Bewußtsein einer Pflicht beruhe, . . . also Achtung niemals einen anderen als moralischen Grund haben" könne (IV 203 Anm.) — diese These wird sich noch als überaus aufschluß- und folgenreich erweisen. Somit zeigt sich: das in den voranstehenden Ausführungen ausgegrenzte und begründete "Reich der Zwecke" ist das "Reich des Rechts". Einem diesbezüglich zweifellos wesentlichen Hinweis der kantischen Rechtslehre zufolge

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Die Vermutung wurde schon geäußert, daß die gewiß eigenartige Formulierung des kategorischen Imperativs: "Handle nur nach deijenigen Maxime, d u r c h die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz weide" (IV 51), wohl eben diesem Anliegen Rechnung tragen will. F. Kaulbach, Das Prinzip H a n d l u n g . . . 109.

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(IV 345 ff.) ist es nunmehr aber das eine "angeborene Recht" als "moralisches Vermögen, andere zu verpflichten", das in der Stellung des Menschen als "Zweck an sich selbst" sein Fundament hat bzw. aus dieser überhaupt erst abgeleitet ist: "Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammenbestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht. — Die angeborene Gleichheit, d. i. die Unabhängigkeit, nicht zu mehreren von anderen verbunden zu werden, als wozu man sie wechselseitig auch verbinden kann". (IV 345) Eben genau diese Begründungsmomente sind es freilich, die nun zweifelsohne auch für Kants Konzeption der Idee des "Reichs der Zwecke" bestimmend sind.70 Auch als gesetzgebendes Glied des Reichs der Zwecke ist nun der Mensch als "bürgerliche Persönlichkeit" entsprechend zu achten, ohne damit — für sich genommen ~ schon als "moralische Persönlichkeit" im strengen Sinne qualifiziert zu sein.71 Was nun Möglichkeit und Verbindlichkeit des Rechtsgesetzes, d. h. die hier ausschließlich maßgebende "juridische" Vernunftgesetzgebung betrifft, so bleibt bezüglich des genaueren Stellenwerts der Rechtspflichten mit Kersting noch folgendes anzumerken: "Sofern das Vernunftgesetz die Möglichkeitsbedingungen von Zwang formuliert, ist es das Gesetz der juridisch gesetzgebenden Vernunft. Die Bestimmung des Juridischen weist auf keine besondere Gesetzgebungsleistung der reinen praktischen Vernunft hin: die reine praktische Vernunft ist juridisch gesetzgebend, insofern ihr Gesetz den Zwang zu solchen Handlungen für moralisch möglich erklärt, die um ihrer Verbindlichkeit willen auszuführen sie als ethisch gesetzgebende Vernunft verlangt. Das Rechtsgesetz

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Dies bestätigt nicht zuletzt auch die Bemerkung Kants, der Rechtsgrund, zu "gebrauchen, verbrauchen und verzehren", gelte "zwar in Ansehung der Tiere", gleichwohl er sich "aber doch schlechterdings nicht auf den Menschen, vornehmlich [!] als Staatsbürger, anwenden" lasse, "der im Staat immer als mitgesetzgebendes Glied betrachtet werden mufi (nicht bloß als Mittel, sondern zugleich als Zweck an sich selbst.)" (IV 469) Dazu paßt durchaus — die Rücksicht auf den unterschiedlich bestimmten Gehalt und Stellenwert des kategorischen Imperativs einmal vorausgesetzt — die folgende Charakterisierung dieses "Reiches": "Ein solches Reich der Zwecke würde nur durch Maximen, deren Regel der kategorische Imperativ [als "Beurteilungsprinzip"] aller vernünftigen Wesen vorschreibt, wirklich zu Stande kommen, wenn sie allgemein befolgt würden. Allein obgleich das vernünftige Wesen darauf nicht rechnen kann, daß, wenn es auch gleich diese Maxime pünktlich befolgte, darum jedes andere eben derselben treu sein würde, imgleichen, daß das Reich der Natur und die zweckmäßige Anordnung desselben, nicht ihm, als einem schicklichen Gliede, zu einem durch ihn selbst möglichen Reiche der Zwecke zusammenstimmen, d. i. seine Erwartung der Glückseligkeit begünstigen werde: so bleibt doch jenes Gesetz: handle nach Maximen eines allgemeinen gesetzgebenden Gliedes zu einem bloß möglichen Reiche der Zwecke, in seiner vollen Kraft, weil es kategorisch gebietend ist." (IV 72 f.)

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ist ein auf den moralisch möglichen Zwang zugeschnittenes und darum rein handlungsbezogenes Pflichtprinzip."72 Legitim ist solcher Zwang ausschließlich als "Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmend". Die Rechtspflichten formulieren somit (als "schuldige Pflichten") gar nichts anderes als die "oberste einschränkende Bedingung aller subjektiven Zwecke" — weit gefehlt freilich, daß über diese bloß "negative Übereinstimmung" hinaus die "Vorstellung der Menschheit als Zweck an sich selbst" gar schon "alle Wirkung" getan hätte! (Vgl. IV 63) So darf man es wohl auch verstehen, wenn Kant diese Rechtspflichten eben als die "Unterlassungspflichten", die Tugendpflichten jedoch eher als "Begehungspflichten" kennzeichnen möchte, wobei mit diesen letzteren doch der durch die "Idee der Menschheit" als der "obersten einschränkenden Bedingung" abgesteckte Rahmen fraglos als überschritten gelten muß. Es hat sich nun aber auch schon erwiesen, daß diesem Anspruch der Rechtspflichten zu genügen ohne weiteres auch damit verträglich ist, nichtsdestoweniger in einem bloßen "ethischen Naturzustand" zu verharren. Denn bekanntlich bezieht sich das Recht im Unterschied zur "Ethik: erstens nur auf das äußere, und zwar praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere, sofern ihre Handlungen als Fakta aufeinander (unmittelbar oder mittelbar) Einfluß haben können"; sodann bezieht es sich nur auf das Verhältnis der einen Willkür zur Willkür des anderen und überdies eben nur auf die "Form im Verhältnis der beiderseitigen Willkür, sofern sie bloß als frei betrachtet wird." (IV 337) Wenn nun auch "jedes Vernunftwesen als solches notwendigerweise in der Behauptung eigener Rechte die Rechte anderer so anerkennt, daß dadurch ein vernünftiger Konsens zwischen allen möglich ist, ein Reich der Zwecke"73, so ist dieses jedoch, wenn doch von aller "Materie der Willkür, d. i. dem Zwecke", abzusehen ist, mitnichten schon ein solches Reich, in dem das "oberste Prinzip der Tugendlehre" (der "Zweck, der zugleich Pflicht ist") das buchstäblich maß-gebende Prinzip darstellt.74 Was besagt jedoch das Anerkennungsverhältnis innerhalb dieses so ausgegrenzten "Reichs der Zwecke" im Grunde tatsächlich anderes als dies, daß (wenigstens der Handlung nach) das alter ego nicht als ein "bloßes Objekt, sondern auch als Subjekt"

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W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit . . . 31. Nur so läßt sich in Vermeidung von Mißverständnissen auch sagen: "Pflicht kommt allen Gliedern des Reichs der Zwecke in gleichem Maße zu." (R. Eisler, Kant-Lexikon 412) A. Wildt, Autonomie und Anerkennung . . . 178. So gesehen läßt sich tatsächlich - und zwar in einem strengen Sinne — sagen: "Die Idee eines Reiches der Zwecke abstrahiert von allem Unterschied der Person und allem Inhalt der Zwecke." (H. J. Heß, Die obersten Grundsätze . . . 60) Eben deshalb ist es ja auch von der Idee eines "ethischen gemeinen Wesens" zu unterscheiden.

Das "Reich der Zwecke" in der Kantliteratur

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zu gelten hat?75 Die Frage bleibt doch gerade, ob solches "Anerkennen" schon gleichgesetzt werden darf mit der Achtung des Anderen als "Subjekt", wie es doch die moralische Intention genau besehen auszeichnet? Dies zielt nun nicht lediglich darauf, daß die "aus Gesinnung" befolgte Rechtspflicht erst solchem Anspruchsniveau genügte; den anderen Menschen "nicht bloß als Objekt zu nehmen" bedeutete indessen auch nach Kant nicht eo ipso dies, ihn als "Subjekt" zu achten. Freilich: in der moralischen Intentionalität des qualifizierten Freiheitsstandes praktischer Vernunft ist dieser Andere auch als "Zweck an sich selbst" wohl ganz anders ausgezeichnet als durch sein bloßes Vermögen, "sich willkürlich Zwecke zu setzen und diese zu bewirken", bzw. sein eigenes Dasein als "Zweck an sich selbst" vorzustellen. (S. o. 3 ff.) In solch dürftiger Auszeichnung den Grund der "Achtimg" erkennen zu wollen, liefe letztlich auch in kantischer Vernunftperspektive auf eine zweifellos defiziente Charakterisierung des Menschen als "Zweck an sich selbst" hinaus. Kant selbst teilte gewiß diese Ansicht, auch wenn er — besonders in den geschichtsphilosophischen Zusammenhängen — diese für das Ganze seiner Moralphilosophie und Ethik so wichtigen Begründungszusammenhänge, und vor allem den genannten unverkennbaren Perspektivenwechsel zwischen Verstandes- und Vernunftperspektive vielleicht nicht immer in der gebotenen Genauigkeit entwickelt hat. Dies zu übersehen wäre ebenso einseitig wie die konträr gearteten Versuche, Kant in völliger Verkennung seiner prinzipiellen moralphilosophisch-ethischen Begründungsperspektive darauf festlegen zu wollen. Dem steht schon Kants ausdrückliche Mahnimg entgegen, allein Moralität sei "die Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein kann." (IV 68) Die genaue Beachtung unterschiedlicher Perspektiven, die Kants Argumentation im einzelnen leiten, vermag am ehesten vor Mißverständnissen der genannten Art zu schützen.

2.1. Das "Reich der Zwecke" in der Kantliteratur: repräsentative Beispiele ßr in der Regel zu weite Charakterisierungen. Im folgenden seien nun einige Beispiele für unangemessene, in der Regel zu weite Charakterisierungen der Idee des "Reichs der Zwecke" und seines Gebietes aus der neueren Kantliteratur angeführt, die in exemplarischer Weise zeigen mögen, daß ~ bedingt durch unübersehbare Nachlässigkeiten Kants selbst — auch in der Kantliteratur die genaue Ausmessung des Gebietes dieses "Reichs der Zwecke" und damit notwendig verbundene Differenzierungen des Freiheitsbegriffes ein durchwegs vernachlässigtes Problem darstellen.

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M. Theunissen, Der Andere . . . 399.

Der Stellenwert des "Reichs der Zwecke"

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1. Dies ist beispielsweise schon gegen die Ansicht Heimsoeths geltend zu machen, diese Idee des "Reichs der Zwecke" umgreife die "Prinzipien der Sittlichkeit, der Gesetzgebung und der Religion." Dieses "Reich der Zwecke" ist auch nicht mit dem "Welt-Ideal der reinen praktischen Vernunft" gleichzusetzen.76 Auch Delekats Behauptung ist in der Folge doch unrichtig, Kant unterscheide "die bürgerliche Gesellschaft begrifflich genau von dem bürgerlichen Rechtsstaat" ~ kann doch diese bürgerliche Gesellschaft nicht, wie Delekat erstaunlicherweise will, mit einer "auf ethische Zwecke gerichteten Verfassung" gleichgesetzt werden. Auch ist dies unvereinbar damit, daß nach Delekats Interpretation die auf den Begriff der bürgerlichen Gesellschaft "angewandten" Bestimmungen des "ethischen gemeinen Wesens" genauerhin bedeuten sollen, "daß sie sich über die ganze Menschheit erstreckt, von der Gesinnung der Rechtlichkeit beherrscht ist, auf dem Prinzip einer freien Gemeinschaft sittlich-autonomer Persönlichkeit beruht und ihrer Konstitution nach grundsätzlich unverändert ist."77 Gerade nach Kants Theorie ist diese "bürgerliche Gesellschaft" der Sache nach entschieden von dem "Reich der Tugend" abzugrenzen; und auch dies, daß doch der Mensch "Zweck an sich selbst" lediglich als ein "gesetzgebendes Glied" im "Reich der Zwecke" ist, heißt nicht (wie Delekat meint), daß er als "Oberhaupt der Gesetzgebung" in diesem "Reich" gelten müsse, sondern bedeutet vielmehr nur seinen "Anteil an der allgemeinen Gesetzgebung". (IV 69) Als Glied des Reichs der Zwecke ist dieser nun zwar "allgemein gesetzgebend", aber dennoch nichtsdestoweniger dem "Willen eines anderen unterworfen" ~ und eben schon deshalb nicht "Oberhaupt". Problematisch ist so auch Delekats andernorts vorgetragene Ansicht: "Kants Definition der bürgerlichen Gesellschaft, sofern sie 'eine Verbindung der Menschen unter bloßen Tugendgesetzen nach den Vorschriften der Humanitätsidee' ist, darf . . . als eine säkularisierte Form des theologischen Begriffs von der wahren Kirche angesehen werden, in der sich das 'Reich Gottes auf Erden' verwirklicht."78

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Ähnlich meint Heimsoeth in dem Aufsatz "Kant und Plato": "Das Welt- 'Ideal' der reinen praktischen Vernunft (Kant nennt es das 'Reich der Zwecke') . . .". Gegen Heimsoeth ist auch einzuwenden, daß das kantische Reich "vernünftiger Wesen, als eines sittlichen Zusammenhanges von freien, durch ein übergreifendes Vernunftgesetz wechselseitig aufeinander hingeordneten Intelligenzen" keinesfalls mit dem "Reich der Zwecke" so ohne weiteres gleichzusetzen ist, weil letzteres vielmehr doch notwendige Voraussetzung des erstgenannten bleibt. S. H. Heimsoeth, Metaphysik der Neuzeit. Darmstadt 1967, 120 f. F. Delekat, Immanuel K a n t . . . 360 ff. F. Delekat, Das Verhältnis von Sitte und Recht . . . 75. Einem diesbezüglich ähnlichen M ißVerständnis unterliegt Paton (Der kategorische Imperativ 239): "Seine [Kants] Formel vom Reich der Zwecke als einem Reich der Natur ist deutlich genug, seine vernunftgemäße Form der Anerkennung einer sichtbaren und unsichtbaren Kirche, des Reiches Gottes, auf Erden offenbar gemacht werden muß." — Auch Gregor (Laws . . . 89 ff.) möchte aber das

Das "Reich der Zwecke" in der Kantliteratur

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2. Problematisch ist wohl auch die Meinung Krügers, das "ethische gemeine Wesen" sei "von der formalen Idee des Reichs der Zwecke in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten nicht zu trennen."79 Es kann auch keine Rede davon sein, das "Reich der Zwecke unter der Regierung Gottes" sei als das "Leibnizische 'Reich der Gnaden'"80 anzusehen — und erst recht nicht davon, diese "Idee des Reichs der Zwecke" sei gar mit der "Idee der Schöpfung" zu identifizieren.81 Wenn Krüger freilich mit Bezug auf diese "Idee des ethischen gemeinen Wesens" (aus der Religionsschrift Kants) "den Einbezug der 'vernünftigen Zwecke anderer Menschen ins Reich der Zwecke'" feststellen will, so tritt auch darin recht deutlich die unerlaubte Gleichsetzung des "Reichs der Zwecke" mit dem "ethischen gemeinen Wesen" zutage. 3. Im wesentlichen stimmt mit Krügers These auch Schwartländer überein, wenngleich letzterer dessen gewiß ist, daß bei Kant "Aufgabe und Struktur der ethischen Vereinigung immer wieder im Rückblick auf Struktur und Aufgabe der politisch-rechtlichen Vereinigung" in unverkennbarer Analogisierung erscheint.82 Für Schwartländer bleibt so freilich "der eigentlich positive Sinn der Gemeinschaft, und zwar gerade der personalen Gemeinschaft, womit wir es ja in dem ethischen Gemeinwesen zu tun haben, auf diese Weise noch unbestimmt, wenn nicht gar verdeckt." Wird eben dies nicht durch eine zu weit gefaßte Idee des "Reichs der Zwecke" jedoch gerade nahegelegt?83 Eben für diesen von Schwartländer eher bloß beiläufig angesprochenen Unterschied ist so wohl auch Höffes Unterscheidung zwischen einer "politischen" und einer so genannten "personalen Gerechtigkeit" von Bedeutung, wobei eben durch diese erstgenannte "eine persönliche Lebenshaltung im Verhältnis zu den Mitmenschen bezeichnet wird, die — im Unterschied zu Freundschaft und Liebe - weder auf freier Zuneigung beruht und beim Handeln über das hinausgeht, was man einem anderen schuldet. Die Gerechtigkeit als personale Tugend bedeutet nicht bloß, das Gerechte zu tun, weil es gerecht ist, und nicht etwa deshalb, weil man andernfalls bestraft oder sozial gemieden würde."84 Diese Unterscheidung Höffes ist für eine präzisere Bestimmung der

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"oberste Prinzip der Tugendlehre" mit der Idee des "Reichs der Zwecke" verbinden. G. Krüger, Philosophie und M o r a l . . . 104. G. Krüger, Philosophie und M o r a l . . . 109. G. Krüger, Philosophie und M o r a l . . . 104. J. Schwartländer, Der Mensch ist Person . . . 233. J. Schwartländer, Der Mensch ist Person . . . 238. O. Höffe, Moral und R e c h t . . . 61; ders. : Immanuel Kant 212. Höffe sieht bezüglich des Status des kategorischen Imperativs AnlaB zu der differenzierenden Feststellung: "Aufgrund des Universalitätsaspekts ähnelt [!] das Kriterium der politischen Gerechtigkeit dem Kriterium der Moralität, dem kategorischen Imperativ. Beide fordern (a) zu einem Gedankenexperiment der Verallgemeinerung und (b) zu einer Praxis auf, die dem Gedankenexperiment genügt. Indessen beziehen sich beide Kriterien auf zwei verschiedene

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"Idee des Reichs der Zwecke" ebenso beherzigenswert wie seine andernorts vorgetragene Kritik an einer "Moralisierung des Rechts" und einer "Verrechtlichung der Moralität".85

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Aspekte menschlicher Praxis. Während der kategorische Imperativ [nämlich] die Verallgemeinerbarkeit der generellen Triebfedern des Handelns, der persönlichen Maximen (Lebensgrundsätze) verlangt, fordert das Gerechtigkeitsprinzip die Verallgemeinerbarkeit von Prinzipien der Konfliktregelung rivalisierender Willkürfreiheiten, also die Verallgemeinerbarkeit jener Grundsätze, die das äußere Verhältnis frei handelnder Wesen zueinander regeln." (Recht und M o r a l . . . 26) Steht zu dieser Sicht Höffes aber nicht seine andernorts (Ethik und Politik 84 ff.) vorgetragene Beobachtung von "2 Begriffe(n) von kategorischem Imperativ" in offenbarem Widerspruch, der zufolge der allgemeine (weitere) "Begriff, der die unbedingte Verbindlichkeit einer Praxis meint, von einem engeren und spezifisch ethischen Begriff, der die unbedingte Verbindlichkeit in bezug auf selbstgesetzte Willensgrundsätze (Maximen) fordert", von Höffe aber noch unterschieden wird? Der gewiß nicht unwesentliche Unterschied zur erstangeführten Stelle liegt evidenterweise darin, daß die in ihr angesprochene Differenz selbst schon eine solche wäre, die unter den "engeren und spezifisch ethischen Begriff" des kategorischen Imperativs fiele, "der die unbedingte Verbindlichkeit in bezug auf selbstgesetzte Willensgrundsätze (Maximen) fordert" — so daß damit aber diese Differenz (und die ihr gemäß verstandenen "kategorischen Imperative") selbst noch einmal von jenem genannten "allgemeinen oder weiteren Begriff" des kategorischen Imperativs in Höffes Version zu unterscheiden ist. — Es ist freilich noch eine andere Frage, ob sich dann tatsächlich mit Höffe behaupten läßt, "unter sittlicher Perspektive" sei "für den Rechtsbereich an keiner Stelle die personale Sittlichkeit und ihr Prinzip, der transzendentale Begriff der Freiheit, vorausgesetzt." (Recht und M o r a l . . . 33) Insbesondere auch J. Ebbinghaus hat sich gegen alle Versuche einer "Verrechtlichung der Moral" und einer "Moralisierung des Rechts" ausgesprochen. Bekanntlich ist für ihn das "Recht bei Kant . . . definiert als die Bedingung, unter der ein Zwang, der auf den Menschen ausgeübt wird, allein in Harmonie mit der möglichen Vereinigung der (äußeren) Freiheit aller nach allgemeinen Gesetzen sein kann." (Kants Rechtslehre und die Rechtslehre . . . 323) Ebbinghaus hat wiederholt mit aller Entschiedenheit geltend gemacht, daß für Kants Konzeption des Rechts jene Bestimmung der ("äußeren") Freiheit als Willkürfreiheit (basierend auf Autarkie und Autokratie) nicht nur ausreichend, sondern eigentlich auch maß-gebend sei: "Die Freiheit, deren Gesetz das Recht bei Kant ist, ist lediglich die Fähigkeit des Menschen, sich in seinen äußeren Willkürhandlungen irgendwelchen Regeln gemäß zu bestimmen, die er selbst (aus welchen Motiven immer) gemacht hat. Dies ist der Sinn der kantischen Lehre, daß es für die Rechtmäßigkeit unseres Handelns nicht darauf ankomme, daß die Pflicht selber Triebfeder sei und daß hier auch äußere Triebfedern möglich sind." Ebbinghaus weist auch darauf hin, "daß Kant die im Rechtsbegriffe enthaltene Forderung von allen naturgegebenen Zwecken der Menschen, das heißt von allen ihren möglichen empirisch bedingten Interessen emanzipiert. Aus einem Gesetze der Vereinigung der Menschen in ihren natürlichen Zwecken wird das Rechtsgesetz bei ihm zu einem Gesetz der Vereinigung aller in derjenigen (äußeren) Freiheit, deren sie bedürfen, wenn sie irgendwelche Zwecke, ganz gleich welche, sollen realisieren können [.. .] Dann aber ist auch bewiesen, daß die Menschheit, sofern sie in der Einheit ihres Willens durch das Gesetz der Vereinigung der Freiheit aller nach Gesetzen konstituiert ist, von jedem Menschen rechtmäßig

Das "Reich der Zwecke" in der Kantliteratur

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4. Höffes Kritik trifft so freilich recht genau dasjenige, was der Kantinterpretation Pasinis (der sich eben zu Unrecht auf Kant beruft) vorzuschweben scheint: für Pasini nämlich wird im "Reich der Zwecke . . . die Moral gesetzlich gemacht und das Gesetz moralisiert. Im 'Reich der Zwecke' entwickelt sich voll und ganz die menschliche Idee, und die Moral wird rechtlich, indem sie das Gute in den Formen der Gerechtigkeit anführt. Das letzte Fundament der kantischen Rechtlichkeit liegt daher in der gleichen metaphysischen Wirklichkeit: die Rechtlichkeit in diesem Sinn ist Ergänzung der moralischen Ordnung, legaler und propädeutischer Fortschritt zu dieser

Unterwerfung unter diesen ihren Willen fordern kann." (J. Ebbinghaus, Kant und das 20. Jahrhundert 520 f.) Dennoch bleibt - worauf zuletzt besonders Kersting hingewiesen hat— genauestens darauf zu achten, daß der von Ebbinghaus hervorgehobene Sachverhalt, dem zufolge das "strikte Recht" doch auf die im eigentlichen Sinne so zu nennende moralische Subjektivität Verzicht leistet bzw. ohne diese auskommt — im Unterschied freilich zum moralischen Begriff des Rechts (IV 337) —, nicht bedeuten kann, daß der Charakter des Rechtsgesetzes als "praktisches Vernunftgesetz" verlorenginge (oder auch nur zu vernachlässigen sei) und so folgerichtig zu einer "analytisch aus dem Begriff der äußeren Freiheit zu gewinnende(n) koexistenztechnischen Verstandesregel" (W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit. . . IX) verkommen müßte — denn zweifellos ist es richtig: "Kants Rechtslehre ist keine Sozialphysik." (ebd. 13) Auch nach Kersting gilt jedoch: "In der Entbehrlichkeit reiner praktischer Vernunft für die Konzeption des strikten Rechts und seiner Verwirklichung zeigt sich die Rechtslehre als von der Moralphilosophie unabhängig", denn das Recht ist das Gesetz der äußeren Freiheit. Dies darf nicht vergessen lassen — was ganz besonders auch gegenüber Ebbinghaus zu erinnern bleibt —, daß Kant ausdrücklich feststellt: "Die Autonomie des Willens ist das alleinige Prinzip aller [!] moralischen Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten." (IV 144) Wenn Kant die Rechtspflichten (deren Befolgung aus Gesinnung freilich nicht erzwingbar ist) auch "indirekt-ethische Pflichten" nennt, so ist doch gegen Ebbinghaus dies zu berücksichtigen, daß auch Kant "das Gesetz der inneren Freiheit zu einem der Ethik und dem Recht gemeinsamen Prinzip apriori möglicher Verbundenheit menschlichen Wollens überhaupt machen will." (J. Ebbinghaus, Kants Rechtslehre. . . 332) Auch nach Ebbinghaus kann nur aus dem "Gesetz apriori der Pflicht" [d. i. aber doch das "Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft"] eine "mögliche Begründung des Rechtes als einer allgemeingültigen, keinerlei subjektivem Belieben unterliegenden Forderung" erfolgen. (J. Ebbinghaus, Empirismus und Apriorismus in der M o r a l . . . 898) — Kersting versucht mit guten Gründen nachzuweisen, daß die Vertreter der Unabhängigkeitsthese (der Rechtsphilosophie von der Moralphilosophie) zahlreiche anderslautende Stellungnahmen Kants ignorieren müssen. Kersting hat auch folgende Klarstellung mit unmittelbarem Blick auf Ebbinghaus vorgetragen: daß die "dem Recht eigentümlichen Momente der Äußerlichkeit, der Gesinnungsgleichgültigkeit und der Erzwingbarkeit dürfen nicht als Anzeichen seiner Geltungsunabhängigkeit von der Konzeption reiner praktischer Vernunft und den in ihr fundierten Begriff des praktischen Gesetzes gelesen werden: die Hinweise Kants auf die notwendige systematische Verknüpfung der Rechtslehre mit der kritischen Moralphilosophie, auf die veibindlichkeitstheoretische Verwurzelung des Rechts in der Sittenlehre müssen ernstgenommen und sorgfältig verfolgt werden." (W. Kersting, Wohlgeordnete F r e i h e i t . . . IX)

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Der Stellenwert des "Reichs der Zwecke"

Moral, wobei sich die Rationalität der menschlichen Natur voll nur in einer idealen Republik behauptet, wo Gerechtigkeit und Moral bedingungslos herrschen." Pasinis Lesart der "Idee des Reichs der Zwecke" entspricht genau der kritisierten, weil viel zu undifferenzierten (d. i. doch zu weiten) Charakterisierung: "Diese Welt der Freiheit ist das 'Reich der Zwecke': geistige Vereinigung aller guten Willen in der uneigennützigen Liebe des Guten . . . In diesem 'Reich der Zwecke' nun, welches die Verwirklichung der Gesellschaft in der noumenischen Sphäre [!] ist, hat jedes Individuum, das diesem menschlichen Zusammenleben angehört, den Wert eines absoluten Endzwecks [!]: er ist autonomer Ausdruck und Spezifikation des universellen menschlichen Geistes." Dies ist nach Pasini die "Welt der authentischen Freiheit, das heißt die Welt des moralischen Willens", die "außerhalb der Verkettung selbst der Natur wirkend" sich gar "ohne moralische Nötigung selbst verwirklicht."86 5. Die Ausführungen Simons über "Der Nächste als Kritik der Gemeinschaft" dürften hingegen in sachlicher Hinsicht die in diesem Kapitel vorgeschlagene Lesart und Einschätzung des genauer bestimmten Gehaltes der "Idee des Reichs der Zwecke" stützen: "Nachdem die Kategorie der 'Gemeinschaft' in ihrer objektiven Gültigkeit durch Kant auf die Funktion eines Verstandesbegriffs zur Synthesis von Gegenständen im Raum restringiert worden war, die in ihr als sich gegenseitig bedingende, in 'Wechselwirkung' stehende und in diesem Sinne zugleichseiende Gegenstände gedacht werden, konnte von einer ethisch verstandenen Gemeinschaft in einem objektiven Sinne im kritischen Verstände nicht mehr gesprochen werden. Wenn es sie geben sollte, dann mußte sie nunmehr als eine Gemeinschaft vorgestellt werden, für die 'das Volk als ein solches nicht selbst für gesetzgebend angesehen werden' kann, d. h. als eine Gemeinschaft, deren Bedingungen nicht von ihren Mitgliedern zu bestimmen sind. Nur als 'juridische' ist nach Kants Kritik eine Gemeinschaft von Personen noch so zu denken, daß sie sich von allen zu ihr gehörenden in den Bedingungen ihrer Konstitution nach einem Prinzip begreifen läßt, nämlich nach dem Prinzip, 'die Freiheit eines jeden auf die Bedingungen einzuschränken, unter denen sie mit jedes andern Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann.' 'Dieses ist das Prinzip alles äußern Rechts.' Es ist kein ethisches Prinzip, weil in ihm der Begriff eines 'allgemeinen Gesetzes', das in der Gemeinschaft gilt, eine Rolle spielt. Die Gemeinschaft versteht sich 'juridisch' von den in ihr geltenden Gesetzen her,

86

D. Pasini, Das "Reich der Zwecke" und der politisch-rechtliche Kantianische Gedanke 686. Ähnliche Bedenken wären (wiederum stellvertretend für viele Autoren) auch gegen Pieretti zu erheben. (A. Pieretti, The "Reich der Zwecke" as Possible Foundation of the Personal Intersubjectivity. In: Akten des IV. Internationalen Kant- Kongresses Mainz 1974, Teil II. 2,582-589.) Unter diesem Aspekt ist auch der Aufsatz von Mc Closkey (Kants Kingdom of Ends) zu sehen.

Das "Reich der Zwecke" in der Kantliteratur

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als von Gesetzen, die in anderen 'juridischen' Gemeinschaften nicht notwendig auch gelten müssen [...] Das Ergebnis der Kantischen 'Kritik der praktischen Vernunft' besteht bezüglich der Idee der Gemeinschaft also darin, daß 'Gemeinschaft' aus Vernunft nur juridisch oder, wenn ethisch, nur theokratisch zu begründen ist."87 Diese aus "Vernunft begründete juridische Gemeinschaft" ist eben die somit genauer abgegrenzte Idee des "Reichs der Zwecke". 6. Zuzustimmen ist demnach Wimmers "Hinweis auf die Verwandtschaft des Gedankens eines Reichs der Zwecke mit Piatons Ideal einer vollkommenen Republik — auf das Kant selbst mehrfach Bezug nimmt . . . —, vor allem aber mit Rousseaus Ideen einer gesellschaftsvertraglich gesicherten republikanischen Bürger - und Staatengemeinschaft . . . Der sich diesem vernunftrechtlichen Freiheitsprinzip verdankende Gesellschaftsvertrag — konstitutiv für den republikanisch sich organisierenden Einzelstaat und für den aus freien und gleichberechtigten Staaten sich zusammenschließenden Völkerbund - stellt die rechtlich-politische Seite des in den Formeln der Triade zum Ausdruck kommenden praktischen Vernunftprinzips dar."88 Wenn nun allerdings nach Wimmers Ansicht Kant das "Reich der Zwecke" als "die Vereinigung aller vernünftigen Wesen zu gemeinsamer, zugleich autonomer Gesetzgebung . . . ein Reich der Vernunft, der Freiheit und des Friedens" konzipieren möchte, dann dürfte es — ein Blick auf die eben vorhin referierte Anmerkung Simons kann dies bestätigen - doch irreführend sein zu behaupten, Kant habe "den Ausdruck 'Reich' auch seines messianischen Klanges

87 88

J. Simon, Der Nächste als Kritik der Gemeinschaft... 349 f. R. Wimmer, Univeisalisierung in der Ethik . . . 184. S. dazu auch J. Schmucker, Die Ursprünge . . . 258. Schmucker hat mit guten Gründen in der weiteren Folge darauf verwiesen, daß schon in den "Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen" "die Art, wie Kant das neue Lösungsprinzip entwickelt, in auffallender Weise an Rousseau erinnert. [. . .] Entscheidend aber ist in dieser Hinsicht eist, daß die Kantische Konzeption in ihrer systematischen Durchführung auffallend viele Ähnlichkeiten mit der Rousseauschen Lehre vom Prinzip der bürgerlichen Gesellschaftsform aufweist: so, daß der Mensch durch den allgemeinen Willen gesetzgebendes Glied einer umfassenden geistigen Gemeinschaft wird, daß er unter ihm deshalb wesentlich frei bleibt, weil er damit nur dem Gesetz gehorcht, das er sich selbst gibt, daß die Gesetze des allgemeinen Willens der Idee nach allen Gliedern der Gemeinschaft erlassen werden müssen, endlich daß jeder dem anderen nur so viel schuldig ist, als er ihn selbst nach dem Gesetz des allgemeinen Willens hat wollen lassen etc." (Die Ursprünge der Ethik Kants . . . 254) Zu Kants Abhängigkeit von Rousseaus Idee des "contrat social" siehe Schmucker, Die Ursprünge . . . 248 ff. Zweifellos läßt sich sagen, "daß Kant in der Theorie der gesellschaftlichen Verfassung in allen wesentlichen und grundsätzlichen Fragen die Thesen des 'Contrat social' von Rousseau übernimmt." (ebd. S. 396)

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Der Stellenwert des "Reichs der Zwecke"

wegen gewählt, um dieses höchste Ideal [!] der praktischen Vernunft angemessen zu beschreiben."® 7. Problematisch ist somit natürlich auch das Urteil Cohens: "Die Gemeinschaft autonomer Wesen also ist der Inhalt des formalen Sittengesetzes. Das Sittengesetz ist der Gedanke einer Gemeinschaft autonomer Selbstzwecke: ist der Gedanke eines 'Reichs der Zwecke'. Und dieses Reich der Zwecke ist ein anderes als das Reich der Dinge. Der Endzweck kann nur als Noumenon gedacht werden. [...] Das Sittengesetz hat ja nicht etwa das Pflichtgebot, sondern vielmehr den Gedanken einer eigentümlichen Realität, der Gemeinschaft autonomer Wesen zu seinem vorzüglichen Inhalte. Als solche Gemeinschaft bezeichnend, ist das Sittengesetz Endzweck. Die Gemeinschaft besteht daher aus und in Wesen, welche, in dieser Gemeinschaft, Selbstzwecke sind [...] Und das moralische Gesetz bedeutet eine Gemeinschaft autonomer, unter eigener allgemeiner Gesetzgebimg stehender Wesen."90

2.2. Zu Kants Idee des "höchsten Guts": das "höchste politische Gut" als der "ganze Endzweck der Rechtslehre". Auch Kants Lehrstück vom "höchsten Gut" ist bis in die Gegenwart schwerwiegenden Mißdeutungen ausgesetzt, wie nun im folgenden anhand einiger besonders prägnanter Beispiele aus der gegenwärtigen Kantliteratur dokumentiert werden soll. So läßt sich zwar mit Silber sagen, die Idee des höchsten Guts sei jedenfalls in gewisser Hinsicht auch als Antwort auf die kantische Frage "Was soll ich tun?" noch zu verstehen91; wenig sinnvoll scheint jedoch Silbers weitere Ansicht zu sein, der Mensch sei auch "verpflichtet, das höchste Gut völlig zu erreichen" 92 — bedeutete dies doch gar nichts anderes als den von Kant ausdrücklich zurückgewiesenen Widersinn, ein schlechthin Aussichtsloses gebieten zu wollen. Ausdrücklich bestimmt Kant beispielsweise noch in der späten Preisschrift "Welches sind die wirklichen Fortschritte ..." den Endzweck der reinen praktischen Vernunft als "das höchste Gut" und kennzeichnet diesen als "übersinnlich". (III 631) Einen offenkundigen Widerspruch zwischen "konstitutiver Immanenz und regulativer Transzendenz des höchsten Guts" meint Silber bei Kant zwar feststellen zu müssen, will aber diesen Widerspruch von Kant selbst auch aufgelöst sehen: "Kant erkennt diese anscheinend widersprüchlichen Aspekte des höchsten Gutes - seine offen-

89 90 91 92

R. Wimmer, Universalisierong in der Ethik . . . 179. H. Cohen, Kants Begründung der Ethik . . . 272 f. J. Silber, Immanenz und Transzendenz des höchsten Guts . . . 386. J. Silber, Immanenz und Transzendenz des höchsten Guts . . . 389.

Die Idee des 'höchsten politischen Gutes"

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sichtliche Transzendenz als Idee der Vernunft und seine notwendige Immanenz als verpflichtendes Objekt jedes moralischen Wollens ~ und stellt daher die menschliche Pflicht im Hinblick auf das höchste Gut auf zwei radikal verschiedene Weisen dar. Einerseits behauptet Kant oft, es sei die Pflicht des Menschen, das höchste Gut voll zu verwirklichen. Andererseits erklärt er oft, es sei die Pflicht des Menschen, das höchste Gut bis zur äußersten Grenze seiner Kräfte zu befördern. An den Stellen der ersteren Art betont er die Transzendenz des höchsten Guts als der Idee der Vernunft; an Stellen der letzteren Art unterstreicht er seine Immanenz als das Objekt des Wollens."93 Dieses Schwanken zwischen "Beförderung" und "Bewirkung" des höchsten Guts" ist bei Kant tatsächlich zu beobachten, und auch Silbers Unterscheidung einer Verwendung dieser Idee des "höchsten Guts" als "regulatives Prinzip" zum einen, einer "konstitutiven Anwendung" dieser dann durchaus möglichen "immanenten" Idee zum anderen, mag in gewisser Rücksicht sinnvoll und vielleicht auch gelegentlich hilfreich sein. Das grundsätzliche Manko der Argumentation Silbers besteht aber doch wohl darin, daß die "Idee des höchsten Guts" auch dann nicht einfach " immanentistisch" kurzgeschlossen werden darf, wenn der "regulative Charakter dieses Prinzips" ganz zu Recht herausgestellt wird. Es ist doch gewiß nicht zu übersehen, daß Silbers Interpretationsvorschlag auch den Motiven der Postulatenlehre (und somit nicht zuletzt auch der Idee des "Endzwecks aller Dinge") nicht gerecht zu werden vermag - und zwar auch dann nicht, wenn man wiederum Silbers zusammenfassender Problemsicht durchaus zustimmen will: "das höchste Gut ist [für Kant] das notwendige und daher mögliche Objekt des moralischen Wollens, sowohl als immanentes als auch als transzendentes. Die Möglichkeit des höchsten Guts in seiner transzendenten Form wird durch seinen regulativen Gebrauch gesichert, die in seiner immanenten durch die Tatsache seiner Immanenz. Die Notwendigkeit des höchsten Guts in seiner immanenten Form beruht auf seinem konstitutiven Gebrauch: seine Notwendigkeit in der transzendenten Form ist damit gegeben, daß sein Gebrauch als ein regulatives Prinzip notwendige Bedingung für seinen Gebrauch als ein immanentes konstitutives Prinzip ist. Damit ist das Problem gelöst, wie die transzendente, unmögliche und unwirkliche Idee des höchsten Gutes auf den menschlichen Willen als sein notwendiges, immanentes und mögliches Objekt bezogen werden kann. Kant kann die Transzendenz und die Immanenz, die Möglichkeit und die Notwendigkeit dieses Objektes rechtfertigen."94 Gilt diese Spannung zwischen Immanenz und Transzendenz des höchsten Gutes jedoch nicht auch im Falle der bloßen Beschränkung auf das "höchste politische Gut"? Dies

93 94

J. Silber, Immanenz und Transzendenz des höchsten Guts . . . 401. J. Silber, Immanenz und Transzendenz des höchsten Guts . . .407.

Der Stellenwert des "Reichs der Zwecke"

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scheint doch schon deshalb der von Kant gemeinte Sachverhalt zu sein, weil Kants Beantwortung der Frage nach dem Möglichkeitsgrund seiner berühmten Anfrage: "ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei?" (VI 351 ff.) offensichtlich ganz in diese Richtung zielt: eine solche "apriori mögliche Darstellung der Begebenheiten, die da kommen sollen" ~ und damit auch die Klärung der Frage "Wie ist aber eine Geschichte apriori möglich?" ~ sieht Kant bekanntlich nur im gegebenen Falle der Identität von "Wahrsagenden und Handelnden" gewährleistet, d. h. daß und "wenn der Wahrsager die Begebenheiten selber macht und veranstaltet, die er zum voraus verkündigt."95 Silbers Unterscheidung scheint somit letztlich nicht geeignet zu sein, um die notwendigen, dieser Idee des "höchsten Gutes" selbst immanenten Differenzierungen in zureichendem Maße deutlich zu machen. Silbers Ausführungen geraten so unweigerlich in die Nähe zu Goldmanns Antwort auf seine (in sich schon irreführende) Frage, warum "das praktische Interesse der Vernunft nicht zu einer Geschichtsphilosophie, sondern zu einer transzendenten Religion führen" mußte. Eine solche Frage verfehlt in Ermangelung der erforderlichen Unterscheidung verschiedener Momente dieser praktischen Vernunftidee des "höchsten Guts" wohl überhaupt den Kern der hier interessierenden Probleme. Goldmann selbst freilich findet diese eben genannte Frage nur umso natürlicher, "als sich ja in den Kantischen Schriften beinahe alle grundlegenden Elemente einer Geschichtsphilosophie finden, aber nicht genügend existentielles [!] Gewicht haben, um die Religionsphilosophie zu ersetzen. Die Hoffnung auf eine geschichtliche Entwicklung in der Richtung einer höheren menschlichen Gemeinschaft einer weltbürgerlichen Gesellschaft, eines ewigen

95

Zur Vermeidung von MißVerständnissen hat Kant den Status dieser Aussagen genau ausgegrenzt: es handelt sich nicht um die Grübeleien eines Wahrsagers, auch nicht um theoretische Prognosen einer "wissenschaftlichen Futurologie", sondern um praktischnotwendige regulative Prinzipien des sittlich-rechtlich- politischen Handelns. Eben dies gilt für den Status der Reflexion 1499: "Die letzte Vollkommenheit: Völkcit>und." Mit W. Hogrebe wäre zu bemerken: "In diesem Sinne läBt sich Kants 'Idee einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft' als regulative Idee oder Schema der Reflexion über den Gang der Geschichte und als Schema von (im Kantischen Sinne) 'vernünftiger politischer Praxis' zugleich kennzeichnen." (W. Hogrebe, Kant und das Problem der transzendentalen Semantik 178 f.) Es zeigt sich, daß Kant dabei die durch Leibniz vorbereitete Verzeitlichung des Zielpunktes der Vollkommenheit von diesem übernommen "und in den Vollzug des weltlichen Geschehens hereingeholt" hat: "progressus est in infinitum perfectionis." D. h.: "Die Zielbestimmung einer möglichen Vollkommenheit, die früher nur im Jenseits erreichbar war, diente seitdem einer irdischen Daseinsverbesserung, die es erlaubte, die Lehre von den letzten Dingen durch das Wagnis einer offenen Zukunft zu überholen." (R. Koselleck, "Erfahrungsraum" und "Erwartungshorizont" — zwei historische Kategorien 362, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1979, 349-375)

Die Idee des "höchsten politischen Gutes"

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Friedens hat Kant ohne Zweifel gehabt und in seinen Werken klar ausgesprochen. Sie war ihm aber niemals stark und gefestigt genug, um das praktische Postulat des übermenschlichen Wesens, welches in der Ewigkeit eine höhere Gemeinschaft, das Reich Gottes schaffen wird, zu erübrigen [!]. Das was später für Marx und Lukacs eine Selbstverständlichkeit war, schien ihm, obwohl er das Problem klar gesehen und überdacht hatte, eine Unmöglichkeit. Es bleibt die Frage: Warum? Uns scheint die einzig ernsthafte Antwort in der damaligen sozialen Lage Deutschlands und vor allem Preußens zu liegen, in der ökonomischen und politischen Zurückgebundenheit des Landes, in der Schwäche der fortschrittlichen Kräfte, welche jedes Hoffen auf eine geschichtliche Zukunft in hohem Maße als Illusion und Utopie erscheinen lassen mußten."96 Ist jedoch nicht die Antwort noch ungleich plausibler, daß Kant die hier anstehenden Probleme in ihrer Differenziertheit zu klar gesehen und entwickelt hat, als daß er sie in der vorgeschlagenen Weise Goldmanns hätte glätten und nivellieren können? Ahnliche Bedenken sind diesbezüglich auch gegen Cohens Behauptung zu erheben: "Die Gemeinschaft autonomer Wesen ist das alleinige [!] höchste Gut."97 Um nichts weniger mißverständlich ist aber auch seine wenigstens

96 97

L. Goldmann, Mensch, Gesellschaft, Welt in der Philosophie Immanuel Kants 204 f. H. Cohen, Kants Begründung der Ethik . . . 350. Gleichwohl ist es ganz richtig zu sagen, "daß die Hoffnung sich nicht nur auf die Gerechtigkeit und Glückseligkeit aller einzelnen, sondern auf die Ermöglichung einer moralischen Ordnung der Welt im ganzen richtet" (R. Schäffler, Was dürfen wir hoffen? . . . 321) — wenn so nämlich (wie Schäffler auch beachtet) verschiedene Ebenen des "höchsten Guts" nicht verwechselt werden. Gegründet ist diese Hoffnung freilich in der sittlichen Forderung: "Der Mensch soll aus dem ethischen Naturzustand herausgehen, um ein Glied eines ethischen gemeinen Wesens zu werden", auf welcher Voraussetzung Schäffler sodann feststellen kann: "Gerade deshalb, weil es der postulatorischen Hoffnung [Kants]... nicht um die 'Privatisierung' der sittlichen Praxis zu tun ist, sondern um die Aufrichtung eines 'ethischen gemeinen Wesens', hat die so verstandene Hoffnung immer auch eine politische Dimension." (Schäffler, S. 318) Wenn nun aber Schäffler in dieser letzten Bemerkung doch auch selbst das "ethische gemeine Wesen" mit dem "Reich der Zwecke" zu identifizieren scheint, so steht seine Interpretation doch einer reduktionistischen Interpretation entgegen. Dies beweist auch sein Hinweis auf den "dreifachen Inhalt" der postulatorischen Hoffnung Kants: "Sie richtet sich auf die Rechtfertigung des Sünders . . ., auf die Glückseligkeit des Einzelnen, aber auch auf die Errichtung eines 'ethischen gemeinen Wesens'. Alle diese Ziele sind der praktischen Vernunft durch das Sittengesetz vorgezeichnet." (Schäffler S. 321) — Bei all dem ist freilich nicht zu vergessen, daß diese Hoffnung keineswegs die "unbedingte" praktische Vernunftforderung — entsprechend der Unendlichkeit dieser praktischen Vernunftidee — relativieren darf und so vor der ständig ausständigen "Beförderung* des "höchsten Guts* niemals dispensieren kann. — Völlig zu Recht unterscheidet Holz (Philosophischer Glaube . . . 413) das "transmundane" und das "intramundane höchste Gut" und sieht mit beiden nun ein je verschiedenes "intersubjektives Verhältnis gegeben": ersteres bezieht sich nach Holz auf die "Subjektivität Gottes (sowie selbstverständlich dann als InterSubjektivität aller

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Der Stellenwert des "Reichs der Zwecke"

einseitige Berufung auf Kant: "Dem kritischen Idealismus ist das Reich absoluter Zwecke das höchste Gut, das als anzustrebendes eingebildet werden kann."98 Cohens Anspruch ist entschieden entgegenzutreten, sich "im Einklang mit Kants Grundrichtung" verstehen zu wollen, "wenn wir die ganze Erörterung über das höchste Gut, soweit dieselbe nicht in der Darstellung der ethischen Realität enthalten ist, aus dem Bezirk der Ethik auszuschließen. Was jenes Objekt als Ideal bedeutet, hat sich nach seiner ganzen Fülle [!] im formalen Sittengesetz entfaltet: was es als Idee besagt, leistet nicht größere Genauigkeit, als unser ethisches Kriterium, das Prinzip der Persönlichkeit zu leisten vermag. Was es dagegen als Darstellung augenscheinlich machen will, das schwächt nur unser ethisches Interesse ab, indem es dem Endzweck noch ein Ende anhängt."99 Solches zu behaupten ist ebenso problematisch wie die von Jansohn herausgestellte Ansicht, den kantischen Entwurf dem "Nachteil" ausgesetzt zu sehen, "lediglich auf kritisch-kühlen, von einem herben Pflichtbegriff getragenen Postulaten aufzuruhen, bezüglich des Hoffnungsinhaltes, dem empirischen Glücksbedürfnis . . . nur sehr wenig entgegenzukommen und zudem (wie übrigens jede Jenseitshoffnung) dem ständigen Vorwurf ausgesetzt zu sein, wegen eines u. U. illusionären Glücks im Jenseits ein mögliches Glück im Diesseits dranzugeben."100

schlechthin Guten)", letzteres sodann auf die "InterSubjektivität der intramundanen Subjekte als gut": fraglich bleibt aber doch gerade von dem hier vorgelegten Interpretationsansatz aus, wie beide "höchste Güter" miteinander zu vermitteln sind, wenn sie doch nicht in einem bloßen "Außereinander" zu fixieren sind. 98 H. Cohen, Kants Begründung der Ethik . . . 352. 99 H. Cohen, Kants Begründung der Ethik . . . 353. Mit dieser Sichtweise hängt auch — geradewegs im Gegensatz zu den einschlägigen Stellungnahmen von Ebbinghaus — sein Urteil zusammen: "Es darf nicht zugestanden werden, daß selbständig und schlechterdings unabhängig das Recht seine eigene Wege ginge: und daß, sei es vorher oder hinterher, eine Ethik kommen dürfte, als die Ethik des Individuums und der Gesinnung. Durch diese angebliche Selbständigkeit des Rechts würde die Ethik ihrer eigensten Aufgabe beraubt werden. Denn es gibt keine Gesinnung ohne Handlung: kein Individuum im ethischen Sinn ohne Rechtsgemeinschaft. Auf diese Verirrung kann man nur geraten, wenn man aus der Ethik im Handumdrehen die Religion macht, die es dann eben mit jenen Begriffen der Gesinnung und des Individuums zu tun hat." (H. Cohen, Ethik des reinen Willens 227) Ob Cohen nicht zuletzt die kantischen Differenzierungen und überhaupt den spezifischen Stellenwert der von Kant im engeren Sinne so genannten Ethik verfehlt? 100 H. Jansohn, Utopische Hoffnung in der Immanenz . . . 25. - Demgegenüber soll sich erweisen, daß, von einer zureichend genau bestimmten Idee des "höchsten Guts" ausgehend, durchaus bei Kant selbst — insbesondere im Kontext seiner rechts-und geschichtsphilosophischen Überlegungen - die Frage "Was soll [!] ich hoffen?" einen recht guten Sinn gewinnt, zumal nur von hier aus nach Kant die Frage sinnvoll zu entscheiden ist, "ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei" — mit ihr zugleich aber auch die Möglichkeit einer "wahrsagenden Geschichte des Menschengeschlechts" (VI 351 ff.) auf dem Spiele steht. Tatsächlich:

Die Idee des "höchsten politischen Gutes"

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AU diesen voranstehend genannten (und einschlägigen) reduktionistischen Interpretationen der Idee des "höchsten Guts" ist mit Höffe entschieden entgegenzuhalten, daß auch Kants "geschichts- und religionsphilosophische Überlegungen nicht . . . konkurrierende, viel mehr komplementäre Modelle der Sinngebung" enthalten.101 Kants Betonung der Idee des "höchsten politischen Guts" als ersten und "ganzen" Zweck gründet auch nicht, wie Böckerstette mit Recht gegen H. Arendt betont, in Kants Verzweiflung an der französischen Revolution, die ihn gar zu einer "Art Flucht in das Ganze vor der Sinn- und Hoffnungslosigkeit des Einzelnen" getrieben habe.102 Dies bleibt auch zu beachten, wenn Funkes (an sich nicht falsche) Feststellung nicht doch in eine verkehrte Richtung weisen soll: daß nämlich "die Geschichte das Reich der Freiheit im wörtlichen Sinn 'darstellt'."103 Zweifellos ist so Kants Hinweis auf die bei der Wahl des "rechten Standpunktes" (s. VI 355) mögliche Perspektive zu verstehen, der zufolge das durch "reine Vernunftbegriffe" entworfene "platonische Ideal" keinesfalls als Hirngespinst zu entlarven sei, sondern vielmehr vernunftnotwendig als "die ewige Norm für alle bürgerliche Verfassung überhaupt" fungiere: "Eine dieser gemäß organisierte bürgerliche Gesellschaft ist die Darstellung derselben nach Freiheitsgesetzen durch ein Beispiel in der Erfahrung (res publica phaenomenon), und kann nur nach mannigfaltigen Befehdungen und Kriegen mühsam erworben werden." (VI 364: s. Refi. 8077) Es ist das notwendig zur praktischen Orientierung aufgegebene (in seinem Anspruch und der Reichweite nach jedoch auch genau eingegrenzte) praktische Vernunftideal, das so eben in dem schon angeführtem Aspekt dieser Hoffnungsthematik in diesem Sinne einen Imperativischen Akzent verleiht, welcher in der "quasi-kantischen" Frage seinen Ausdruck finden kann:

101

102 1(B

"utopisches Denken ist Pflicht des Menschen, gefordert durch seine ihm zur steten Anstrengung und Bewährung aufgegeben Vernunft." (J. D. Löwisch, Über den Fortschritt zum Besseren . . . 28) O. Höffe, Immanuel K a n t . . . 240. Ganz zu Recht bemerkt Oelmüller diesbezüglich: "Die prinzipielle Unterscheidung zwischen der praktischen Philosophie und der *biblischen Theologie' ergibt sich für Kant bereits aus ihrem verschiedenen Gegenstand. Während jene allein von dem 'praktischen Gut' handelt, das der Mensch durch sein eigenes Handeln verwirklichen kann und soll, handelt jene von dem höchsten Gut 'dieser und einer anderen Welt' . . . , auf dessen Erlangung der Mensch mit Hilfe des göttlichen Beistandes hoffen darf*. (W. Oelmüller, Die unbefriedigte A u f k l ä r u n g . . . 134; 162; 226) Höffes berechtigter Hinweis auf die Komplementarität der religions- und geschichtsphilosophischen Überlegungen Kants bleibt auch den Ausführungen Löwischs entgegenzuhalten, so etwa wenn ihm zufolge die Gattung "an Stelle des Individuums ins Blickfeld der spätkantischen Reflexionen gerät." (Löwisch, Über den "Fortschritt zum Besseren . . ." 25.) H. Böckerstette, Aponen der F r e i h e i t . . . 376. G. Funke, Zum ewigen Frieden. Ethik und Politik 146.

Der Stellenwert des "Reichs der Zwecke"

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"Was soll ich (als Glied des Reichs der Zwecke) hoffen?"104 Auch für Kant kann kein Zweifel darüber möglich sein, ~ dies meint doch die von ihm behauptete Priorität dieses "höchsten politischen Guts" ~ daß dieser Idee entsprechend "die Rechte der Menschheit wieder herzustellen" die in diesem Sinne vorrangige Aufgabe darstellt: "Sich als ein nach dem Staatsbürgerrecht mit in der Weltbürgergesellschaft vereinbares Glied zu denken, ist die erhabenste Idee, die der Mensch von seiner Bestimmung denken kann und welche nicht ohne Enthusiasmus gedacht werden kann."105 Wenn Kant dieses "höchste politische Gut" den "ersten Zweck" nennen will, so besagte dies (s.o. 34 ff.) indessen gar nichts anderes, als daß dieser Rechtssphäre ein ganz bestimmter und nicht aufgebbarer Eigenwert in der "Rangordnung der Zwekke" zuzuerkennen ist, der freilich weder einfach auf das Niveau bloßer Nützlichkeitserwägungen herabgesetzt noch in einer sich anbietenden geschichtsphilosophischen Perspektive "teleologisch" aufzuheben ist.106 Es war

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Vgl. auch den Gemeinspruchaufsatz VI 165 ff. — Mit Recht betont Holz nachdrücklich "den Aspekt einer — nicht nur 'eudaimonischen' sondern auch — sittlichen Teleologie der gesamten Menschheit, als Gemeinschaft der Einzelnen genommen wie auch ihrer Geschichte." (H. Holz, Das Problem des vollkommenen Menschen . . . 354 Anm. 82) Reflexion 8077; auch diesbezüglich gibt J. Ebbinghaus Kants Auffassung gewiß korrekt wieder "Es ist das weithin leuchtende Wahrzeichen der Kantischen Sittenlehre, daß sie dem Recht eine von dem Gesetze, das das Glück anderer zum Zwecke zu haben befiehlt, unabhängige und ihm vorangehende Begründung gibt. Wenn irgend etwas, so ist das Recht an sich selbst Zweck, und es gibt kein Unglück für den Menschen, das mit dem, daß niemand seines Rechtes sollte sicher sein können, irgend einen Vergleich aushielte." (Kants Lehre vom ewigen Frieden . . . 28) Dieser hiemit zu kritisierenden "teleologischen Aufhebung" (Suspension) der Rechtssphäre verfällt indessen E. v. Sydow, der den Rechtsstaat "lediglich als Mittel, nicht als letzten Zweck" ansehen will. (Der Gedanke des Ideal-Reichs bei Kant 381) Gleichwohl bleibt zu fragen, ob nicht Kant selbst einer solchen "teleologischen Suspension" insofern Vorschub leistet, als er in geschichtsphilosophischer Perspektive geltend machen will, daß "eine vollkommene gerechte bürgerliche Verfassung die höchste Aufgabe der Natur [!] für die Menschengattung" sein müsse, "weil nur vermittelst der Auflösung und Vollziehung derselben, ihre übrigen Absichten mit unserer Gattung erreichen kann." (VI 39) So — im Sinne einer "teleologischen Aufhebung" der Rechtssphäre — kann jedenfalls dann auch Kaulbachs diesbezügliche Behauptung nicht gemeint sein: "die Legalität findet selbst ihre Rechtfertigung durch den moralischen [!] Bezug gegenseitiger Achtung und Anerkennung des Selbstzweckcharakters des anderen. Gesellschaft gründet sich auf moralische [!] Gemeinschaft, d. i. das Reich der Zwecke." (Das Prinzip Handlung . . . 89). Problematisch ist deshalb wohl auch Kaulbachs Ansicht, bei Kant sei bloß die "inhaltliche Beschreibung des Reichs der Zwecke . . . nach dem Vorbild einer bürgerlichen Gesellschaft gegeben"; problematisch ist dies selbst dann, wenn Kaulbach zur Stützung seiner These sich auf eine kantische Reflexion (Reflexion 6950) berufen will: "Die Sittlichkeit besteht in dem Verhältnis freier Handlungen mit den Gesetzen (Bedingungen) des allgemeinen Willens, entweder der Menschheit oder der Menschen. Der allgemeine Wille der Menschheit geht auf die Erhaltung [!] dessen, was zu der der menschlichen Natur

Die Idee des "höchsten politischen Gutes"

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das "Reich der Zwecke" und die darin aufgegebene "Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft", das als dieses "höchste politische Gut" anzusehen war und damit auch einen notwendigen Vernunftgedanken der "politisch-praktischen Vernunft" darstellte. Dieser konnte so nach Kant als Leitfaden einer kritischen philosophischen Geschichtsbetrachtung fungieren.107 Näherhin war es die Idee des Völkerbundes, die die Erwartung des "Reichs Gottes auf Erden" in eine moralische und praktische Zielbestimmung überführte 108 und ihr so einen ganz bestimmten praktischen Sinn verlieh. In Kants Sicht dieser Dinge hat sich offensichtlich eine Wandlung vollzogen, die auch für diesen Aspekt der Charakterisierung der Idee des "höchsten Guts" von Interesse ist. Hatte es in Kants früheren "Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" (aus dem Jahr 1784) noch ganz ausdrücklich geheißen, daß zu einer solchen "Erreichung einer allgemein

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wesentlichen Zwecken gehört. Der allgemeine Wille der Menschen besteht in dem Gegenstande oder der Form der Handlungen, dadurch er unabhängig von jeder besonderen Neigung wird. Er bedeutet den Willen eines jeden Teils, den Willen der auf einen jeden gerichtet sein kann." Neben den bekannten Themen der "Idee zu einer allgemeinen Geschichte . . ." und auch den kantischen Fragen, "ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei?" (aus dem "Streit der Fakultäten") ist hier auch noch auf den von Kant in Aussicht genommenen "Plan einer Universal-Geschichte" zu erinnern. (Reflexion 1443) Dennoch kann kein Zweifel darüber bestehen, daß der kantische Begriff der "intelligiblen Welt" als "das Ganze vernünftiger Wesen, als Dinge an sich" (IV 96), sich nicht in den Grenzen dieses "Reichs der Zwecke" erschöpft. Für dieses genauer umgrenzte "Reich der Zwecke" gilt also, wie Kant in geschichtsphilosophischer Sicht ausdrücklich mit Bezug auf nahe "empirische Data" betont, daß darin zwar doch nicht "ein immer wachsendes Quantum der Moralität in der Gesinnung, sondern Vermehrung der Produkte ihrer Legalität in pflichtmäßigen Handlungen, durch welche Triebfeder sie auch veranlaßt sein mögen; d. i., in den guten Taten der Menschen, die immer zahlreicher und besser ausfallen werden, also in den Phänomenen der sittlichen Beschaffenheit des Menschengeschlechts wird der Ertrag (das Resultat) der Bearbeitung desselben zum Besseren allein gesetzt werden können." (VI 365) Es ist demnach falsch zu behaupten, der genau bestimmte Gehalt der Idee des Reichs der Zwecke sei in der Religionsschrift "als die Lehre vom 'Volke Gottes unter ethischen Gesetzen' wiederaufgenommen und erhält damit den Platz, an den er als säkularisierter Begriff der Kirche hingehört." (F. Delekat, Immanuel Kant . . . 282) Unrichtig ist es sodann auch, daß Kant den "Begriff der wahren Kirche . . . mit der wahren bürgerlichen Gesellschaft identifiziert." (ebd. 361) Kants wohl unter dem nachhaltigen Eindruck nicht nur der französischen Revolution, sondern insbesondere auch des im Jahr 1795 geschlossenen Sonderfriedens zwischen Preußen und Frankreich getane — geradezu enthusiastische — Bemerkung, das Recht der Menschen sei der "Augapfel Gottes" und seine Verwaltung "das Heiligste, was Gott auf Erden hat" (so in der ebenfalls im Jahr 1795 erschienenen Schrift "Zum ewigen Frieden"), ist wohl in diesem Sinne zu verstehen. Vgl. R. Koselleck, Vergangene Z u k u n f t . . . 370 ff.

Der Stellenwert des "Reichs der Zwecke"

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das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft" (neben der Notwendigkeit des Begriffs einer richtigen Verfassung und großer Erfahrenheit) "über das alles ein zur Annehmung derselben guter Wille erfordert wird" (VI 41) ~ wenn doch alles Gute, "das nicht auf moralisch-gute Gesinnung gepfropft ist, . . . nichts als lauter Schein und schimmerndes Elend" sein kann (VI 45), ~ so wollte Kant einen solchen "guten Willen" als die Voraussetzung der "Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft" in der im Jahr 1795 erschienenen Schrift "Zum ewigen Frieden" einem "Volk von Teufeln" nicht mehr zumuten - auch in dem Fall, daß diesen, "wenn sie nur Verstand [!] haben", die Lösung dieses Problems der Staatserrichtung sehr wohl gelingen mag. Dies war ja auch der sodann maßgebliche Grundtenor, bestimmend jedenfalls in den späteren geschichtsphilosophischen Gedanken Kants gegenüber einer bloß "gutmütigen Voraussetzung der Moralisten von Seneca bis zu Rousseau" (IV 666): nicht "ein immer wachsendes Quantum der Moralität der Gesinnung, sondern Vermehrung der Produkte ihrer Legalität in pflichtmäßigen Handlungen, durch welche Triebfeder sie auch veranlaßt sein mögen, d. i. in den guten Taten der Menschen, die immer zahlreicher und besser ausfallen werden, also in den Phänomenen der sittlichen Beschaffenheit des Menschengeschlechts wird der Ertrag (das Resultat) der Bearbeitung desselben zum Besseren allein gesetzt werden können." (VI 365) Dies war auch Kants Antwort auf die "erneuerte Frage: ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei"109 und doku-

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Vgl. dazu auch Akademie-Ausgabe XXIII (S. 458): "Die Vorhersagung eines künftigen moralischen Erfolges aus den im Menschengeschlecht gegebenenteils sittlich inneren, teils physisch äußeren, Gelegenheitsursachen (die nicht ermangeln können einzutreten) geht also aus einer Idee der praktischen Vernunft in der Ordnung der Kategorien der Modalität auf folgende Art hervor. Das beharrliche Fortschreiten des Menschengeschlechts zum Besseren ist möglich; denn es ist Pflicht desselben in der unabsehlichen Reihe aller Zeugungen und dem ganzen Umfange der gesellschaftlichen Verhältnisse auf unserem Glob' dahin zu wirken. Die zum Erfolg der verlangten Begebenheiten (Geschichte der künftigen Zeit) teils moralisch hinwirkenden inneren teils physisch dahin nötigenden äußeren Ursachen sind wirklich; denn teils ist in allen ihres Vernunftgebrauchs mächtigen Menschen ein lebhaftes Gefühl der Lust am Gelingen, mithin auch ein subjektiver Grund zur Beförderung einer solchen fortschreitenden Weltgegebenheit, teils nötigt der in der menschlichen Natur gewurzelte Hang zum Kriege, der alle guten Zwecke der Menschen rückgängig zu machen droht, zur Bewirkung und steter Erhaltung einer solchen weltbürgerlichen Verfassung derselben, welche zum moralischen Fortschreiten hinleitet. Die Wirkung aus jenen Ursachen ist notwendig und kann als Geschichte des Menschengeschlechts für die künftige Zeit aus den gegenwärtigen Vorzeichen vorhergesagt werden." (Vgl. dazu bezüglich der für diesen Entwurf maßgeblichen Einflüsse auf Kant die Hinweise Reichs in seiner Einleitung zu Kants Schrift "Der Streit der Fakultäten* : Philosophische Bibliothek Band 252, Hamburg 1959 IX - XXVI) - Es ist also nach Kant überhaupt gar nicht die Frage: "ob der ewige Friede

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mentiert zugleich auch wohl ganz unverkennbar die zunehmend sich verdeutlichende Ausbildung des Nebeneinanders von moral- (rechts-)philosophischem Maßstab und der geschichtsphilosophischen Perspektive. Moralität im strengen Sinne bleibt von der Erreichung dieses Zieles für sich genommen noch ganz unberührt - wenigstens in dem Sinne, daß auch das dem platonischen "Ideal" nahekommende bürgerliche Gemeinwesen nicht von ihr dispensiert (Moralität also überflüßig wäre), ist doch der durchaus kultivierte und zivilisierte (und "sich dem Gemeinwesen nutzbar machende") Mensch, der (noch) "keinen guten Willen besitzt", für Kant nichtsdestoweniger ein "verachtungswürdiges Objekt, wenn man ihn nach seinem Innern betrachtet." (V 568) Für dieses "bürgerliche Gemeinwesen" stellt sich nun nicht lediglich die Aufgabe, die Sicherung jener Bedingungen zu gewährleisten, die den Menschen die volle Entfaltung ihrer "Naturanlagen" ermöglicht und auch Freiraum dafür eröffnet, "ohne Angst anders sein" und nach je eigener Facon glückselig werden zu können — denn dieses hat nicht zuletzt auch wesentlich dafür Sorge zu tragen, daß moralische Selbstbestimmung nicht als nahezu "unzumutbares" Risiko angesehen werden muß. (Vgl. VI 238 Anm.)110 Bezüglich der Reichweite und des Gehaltes des von Kant hier abgesteckten Bereiches des "höchsten politischen Gutes" ist freilich noch darauf zu achten: weder diejenige Regierungsform ist nach Kant die beste, "worinn am bequemsten ist zu leben (Eudaimonie) sondern worin dem Bürger sein Recht am

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ein Ding oder ein Unding sei, und ob wir uns nicht in unserem theoretischen Urteile betrügen, wenn wir das erstere annehmen, sondern wir müssen so handeln, als ob das Ding sei, was vielleicht nicht ist, auf Begründung desselben und diejenige Constitutio, die uns dazu die tauglichste scheint (vielleicht den Republicanism aller Staaten sammt und sonders) hinwirken, um ihn herbei zu führen und dem heillosen Kriegführen, worauf als den Hauptzweck bisher alle Staaten ohne Ausnahme ihre innere Anstalten gerichtet haben, ein Ende zu machen." (IV 478) Schelling trifft hier Kants Auffassung wohl präzis: "Der Staat ist es, . . . der dem Individuum eine Gesinnung erst möglich macht; er selbst aber fordert sie nicht. Gerade in dem er sie nicht fordert, sondern sie nur möglich macht, sich selbst aber mit der äußeren Gerechtigkeit begnügt und die Sorge dafür auf sich nimmt, macht er das Individuum frei und läßt ihm Raum für die freiwilligen, darum auch erst persönlichen Tugenden [. . .] Tugenden, welche die bloße Vernunft vorschreiben oder zuwegebringen kann, Tugenden, die rein persönlich sind und denen wir auch den Namen der gesellschaftlichen geben können; denn mit ihnen erhebt sich über der unfreiwilligen die freiwillige und darum höhere Gemeinschaft." (Schelling, Philosophie der Mythologie 1541 f.) Wie Kant so wußte auch Schelling : allein Freiheit kann "des Zwanges Zweck" sein, "Freiheit nämlich über den Staat hinaus und gleichsam jenseits des Staates, nicht aber rückwärts auf den Staat wirkende oder im Staat." (ebd. 546)

Der Stellenwert des "Reichs der Zwecke"

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meisten gesichert ist"111; ebensowenig kann es auch Aufgabe und Befugnis dieser dem "höchsten politischen Gut" zueigenen Rechtsordnung sein, "mit rechtlichen Mitteln die Bürger zur eigenen Vollkommenheit anzuhalten, und . . . gar . . . sich dabei strafrechtlicher Mittel zu bedienen." Aus tatsächlich plausiblen Gründen kann in dieser Hinsicht für Kant ein Fortschritt also "nur im Äußeren erwartet werden, in der Einrichtung von Rechtsverhältnissen und ihr Zusammenleben in einer weltweiten Friedensgemeinschaft ist die höchste Aufgabe, der Endzweck der Menschheit."112 Diese "allgemeine und fortdauernde Friedensstiftung" formuliert nun folglich keinesfalls "bloß einen Teil, sondern den ganzen [!] Endzweck der Rechtslehre innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" (IV 479) ~ ein "Endzweck" freilich, der selbst noch dem Bereich der Kultur angehört und demnach auch nur als "Zweck der Natur" gelten darf. (S.o. 3 ff.)

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Kant, Akademie-Ausgabe XXIII257; vgl. dazu auch die Reflexion 7938; Reflexionen 1400 und 1404; aber auch noch in der späten "Anthropologie in pragmatischer Absicht": VI 687. Wohl mit Recht macht Höffe darauf aufmerksam: "Dadurch, daß Kant das Recht zum universalen Vernunftprinzip staatlicher Ordnung erklärt, somit die strenge Idee der Rechtsstaatlichkeit begründet, schließt er sozial- und wohlfahrtsstaatliche Aufgaben zwar aus dem eigentlichen, dem Vernunftzweck von Staat, aber nicht aus den Staatstätigkeiten überhaupt aus." (Ethik und Politik 216 f.) — Entgegen der anders orientierten Interpretation von Habermas sei hier der nochmalige Hinweis vorgebracht, daB Kants Bemerkung, der zufolge die politischen Maximen "dem allgemeinen Zweck des Publikums (der Glückseligkeit) gemäß sein" müssen, "womit zusammen zu stimmen (es mit seinem Zustande zufrieden zu machen) die eigentliche Aufgabe der Politik ist" (VI 250), recht verstanden keineswegs im Widerspruch stehen muß zu seiner kurz zuvor getroffenen Feststellung: "die politische Maximen müssen nicht von der, aus ihrer Befolgung zu erwartenden, Wohlfahrt und Glückseligkeit eines jeden Staates, also nicht vom Zweck, den sich ein jeder derselben zum Gegenstand macht (vom Wollen), als dem obersten (aber empirischen) Prinzip der Staatsweisheit, sondern von dem reinen Begriff der Rechtspflicht (vom Sollen, dessen Prinzip apriori durch reine Vernunft gegeben ist) ausgehen, die physischen Folgen daraus mögen auch sein, welche sie wollen." (VI 242) Zu diesem Thema vgl. auch noch VI 155: "Wenn die oberste Macht Gesetze gibt, die zunächst auf die Glückseligkeit (die Wohlhabenheit der Bürger, die Bevölkerung u. dergl.) gerichtet sind: so geschieht dieses nicht als Zweck der Errichtung einer bürgerlichen Verfassung, sondern bloß als Mittel, den rechtlichen Zustand vornehmlich gegen äußere Feinde des Volks zu sichern." Die kontroversielle Beurteilung dieser Fragen in der Kantliteratur dürfte den weiteren Hinweis darauf rechtfertigen, daß dem auch von Höffe besonders akzentuierten Moment der Rechtsstaatlichkeit in Kants Argumentation zweifellos zwar Priorität eingeräumt ist; dennoch bleibt — etwa entgegen gewissen einschlägigen Einseitigkeiten in der Argumentation Kerstings — bei Kant auch der sozialstaatliche Aspekt nicht einfach unberücksichtigt — ja dieser ist nicht einmal auf ein bloß beiläufiges Moment reduziert, wie doch insbesondere auch Ausführungen über das Staatsrecht in Kants Rechtsphilosophie (vgl. bes. IV 446 f.) und aus dem "GemeinspruchVAufsatz belegen. (VI 143 ff.)

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O. Höffe, Immanuel K a n t . . . 245.

Die Idee des "höchsten politischen Gutes"

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Schon der "Idee einer allgemeinen Geschichte ..." zufolge ist eine "vollkommene gerechte bürgerliche Verfassung die höchste Aufgabe der Natur für die Menschengattung, deren Auflösung die Natur [!] ihn zwingt". (VI 39) Darum kann Kant andernorts sogar sagen: "Die Natur [!] will unwiderstehlich, daß das Recht zuletzt die Obergewalt erhalte." (VI 225) 113 Und auch noch in der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten ist für die Vorstellung Platz: "Wenn von Pflichtgesetzen (nicht von Naturgesetzen) die Rede ist und zwar im äußeren Verhältnis der Menschen gegeneinander, so betrachten wir uns in einer moralischen (intelligiblen) Welt, in welcher, nach der Analogie mit der physischen, die Verbindung vernünftiger Wesen (auf Erden) durch Anziehung und Abstoßung bewirkt wird. Vermöge des Prinzips der Wechselliebe sind sie angewiesen, sich einander beständig zu nähern, durch das der Achtung, die sie einander schuldig sind, sich im Abstand voneinander zu erhalten." (IV 585) Auch Höffe sieht nun freilich recht genau, daß dieser "Endzweck" nicht mit dem "umfassenden Endzweck" gleichzusetzen ist, sondern als der "ganze Endzweck der Rechtslehre" nicht mehr und nicht weniger als die "Idee des höchsten politischen Guts" umgreift. Völlig zu Recht weist Höffe darauf hin, daß die so zu denkende Rechtsgemeinschaft jedoch "für Kant keine Solidargemeinschaft der Bedürftigen, sondern eine Freiheitsgemeinschaft zurechnungsfähiger Subjekte" ist.114 Dies ist nun aber auch ganz besonders deshalb recht beachtenswert, weil andernfalls die von Kant aufgegriffene Bemerkung, eine seiner (Kants) "Lieblingsideen" sei doch diejenige, "daß der Endzweck des Menschengeschlechts die Erreichung der vollkommenen Staatsverfassung" formuliere, gewiß in eine falsche Richtung weist.115 Lediglich in diesem auf das "höchste politische Gut" beschränkten Sinn nämlich hat nach Kant "die Geschichtsphilosophie die Beantwortung der Frage zum Gegenstand: inwiefern die Geschichte als zeitliche Entwicklung der menschlichen Gemeinschaft zur Verwirklichung des höchsten Gutes führen kann und durch welches Verhalten

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Kant teilt also in dieser Schrift ganz offenkundig Mandevilles nüchterne Ansicht, der zufolge die "fortschreitende Kultur der Gesellschaft. . . nicht auf den Tugenden, sondern auf den Lastern der Menschheit" beruht. (M. Riedel, Einleitung zu Kant, Schriften zur Geschichtsphilosophie 13) Sind doch für Kant die bestimmenden "Triebfedern, deren sich die Natur [!] zur Hervorbringung der bürgerlichen Gesellschaft bedient . . . Eifersucht, Mißtrauen, Gewalttätigkeiten", "welche die Menschen nötigen, sich Gesetzen zu unterwerfen und die wilde Freiheit aufzugeben." (Reflexion 1468; vgl. auch bes. die Reflexionen 1500 und 1521.) O. Höffe, Immanuel Kant. . . 213. Unrichtig ist deshalb die Ansicht Schwartländers, "mit dem Begriff eines Reichs der Zwecke ist . . . der vom höchsten Gut als dem Endzweck bereits gegeben; denn das höchste Gut ist ja nichts anderes als das Reich der Zwecke in seiner Vollendung." (Der Mensch ist Person . . . 200) Letzteres trifft lediglich genau für das "höchste politische Gut" zu.

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Der Stellenwert des "Reichs der Zwecke"

wir schon jetzt in unserem konkreten, gegenwärtigen Leben unsere Bestimmung erfüllen und das höchste Gut erwerben können."116 Mit Oelmüller ist Kants Intention wohl am ehesten doch so zu verstehen: für Kants "Reich der Zwecke" und das für diese Idee maß-gebende "höchste politische Gut" gilt, daß nicht die "Verwirklichung des höchsten Guts [im umfassenden Sinn], sondern die Verhinderung größeren Unheils" die eigentliche Aufgabe darstellt, d. i. "Sicherung der Freiheit und der Lebens- und Daseinsbedingungen der Bürger, die auf Grund ihrer Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht . . . in einem Antagonismus leben, sowie die Freisetzung und Sicherung der sittlichen und religiösen Lebensordnungen der Bürger durch neutrale und formale Zwangsgesetze."117 Damit ist nun aber erst jene Perspektive gefunden, die es erlaubt, von einer "immanenten Bedeutung" der Idee des höchsten Gutes zu sprechen, "wenn sie als Ideal eines künftigen Weltzustandes gedacht wird, dessen approximative Verwirklichung auf dem Wege vernünftigen Handelns die praktische Vernunft nicht nur postuliert, sondern auch gebietet. In diesem Sinne bezeichnet Kant die Idee des höchsten Gutes auch als eine urbildliche Welt (natura archetypa), in die uns das Bewußtsein der Autonomie des Willens versetzt und deren Form wir 'der Sinnenwelt, als einem Ganzen vernünftiger Wesen, zu erteilen' haben."118 Anmerkung: Es ist auch in diesem Problemkontext zweifellos nicht zu übersehen, daß Kants unausgeglichen-uneinheitliche Kennzeichnung des Begriffes "Moralität" in beträchtlichem Ausmaß für die zutage tretenden nicht geringen Schwierigkeiten verantwortlich ist und nicht zuletzt auch Mißverständnisse hinsichtlich

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L. Goldmann, Mensch, Gemeinschaft und W e l t . . . 215. Nur so weit ist es auch sinnvoll zu sagen, daß "das höchste Gut als eine im Grund [!] gesellschaftliche Realität Gestalt annimmt." (Ph. Rossi, Die Grundlegung des philosophischen Autonomiebegriffs. . . 93.) W. Oelmüller, Kants Beitrag zur Grundlegung einer praktischen Philosophie der Moderne 203. — Ohne Zweifel ist tatsächlich die "Rechtsveibesserung" für Kant hier das leitende Prinzip, "deren utopischer Fluchtpunkt in der res publica noumenon, in der reinen Rechtsgesellschaft zu finden ist." (W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit XIII) Es bleibt dabei, daß das durch den so erreichten Zivilisationsstatus definierte "Reich der Zwecke" (als Stufe der Zivilisationsherrschaft) von der authentisch gedachten "ethischen Gemeinschaft" zu unterscheiden ist. G. Krämling, Das höchste Gut als mögliche Welt . . . 277. Und: "Als Adressat dieses Folgegebots aus dem kategorischen Imperativ fungiert ein überindividuelles gesellschaftliches Handlungssubjekt, dessen Einsetzung die praktische Vernunft zudem um die Dimension der Geschichte erweitert. Als Endzweck aus Freiheit kann die Idee des höchsten Guts in ihrer immanent-universalen Bedeutung sinnvollerweise nur in einem historisch fortschreitenden Prozeß kooperativen vernünftigen Handelns "befördert' weiden." (ebd. S. 284)

Die Idee des "höchsten politischen Gutes"

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des genaueren Stellenwertes der Idee des "höchsten Guts" begünstigt.119 So zielt diese "Moralität" beispielsweise einmal auf die "Beziehung aller Handlung [!] auf die Gesetzgebung, dadurch allein ein Reich der Zwecke [!] möglich ist" (IV 67); zum anderen räumt Kant aber doch wiederum ein, daß diese "Moralität" überhaupt nur ein indirektes (weil allein über die Maximen vermitteltes) Verhältnis zur eigentlichen Handlungsebene haben soll: "Moralität ist also das Verhältnis der Handlungen zur Autonomie des Willens, das ist, zur möglichen allgemeinen Gesetzgebung durch die Maximen derselben." (IV 73) Es ist zu sehen, daß Kant "Moralität" demnach einmal in dem ganz engen Sinne faßt — so etwa, wenn der kategorische Imperativ als "Kriterium der Moralität" die Maximen betrifft,"in der die Pflicht zugleich der Beweggrund des Willens ist"120 (oder auch in dem Unterschied zwischen Legalität und Moralität) —, andererseits dieser Terminus "Moralität" aber immer wieder auch als Oberbegriff für beide: die "ethischen Pflichten" und auch die "Rechtspflichten", fungiert. Als Beleg für diese weite Bestimmung des "Moralischen" mag auch Kants Bemerkung gelten, der zufolge "wahrer Enthusiasmus nur immer aufs Idealische und zwar rein Moralische [!], geht, dergleichen der Rechtsbegriff ist, und nicht auf den Eigennutz gepfropft werden kann." (IV 359) In einem ganz ähnlichen Sinne heißt es: die "Gesetze der Freiheit heißen zum Unterschiede von den Naturgesetzen moralisch" ~ und: "Sofern sie nur auf bloß äußere Handlungen und deren Gesetzmäßigkeit gehen, heißen sie juridisch: fordern sie aber auch, daß sie (die Gesetze) selbst die Bestimmungsgründe der Handlungen sein sollen, so sind sie ethisch." (IV 325 f.) 121 Auch Kants Bestimmung des genauen Gehaltes des "moralischen Gesetzes" hat sich in ganz entsprechender Weise als schwankend erwiesen.122

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Diese unverkennbar uneinheitliche Bestimmung des Gehaltes und "Umfanges" von "Moralität" spiegelt sich etwa noch darin wider, daß Kant auch die Kultur in einem weiteren Sinne - als "Entwicklung der menschlichen Anlagen überhaupt" - von einem engeren Kulturbegriff unterscheidet, der sodann eine "besondere von der Zivilisierung und Moralisierung unterschiedene Entwicklung im Hinblick auf physische Vollkommenheit" bedeutet. (G. Krainer, Beitrag zur Analyse . . . 126 Anm. 75a) O. Höffe, Ethik und Politik . . . 211. Auch erwägt Kant bekanntlich ausdrücklich die Möglichkeit, "alle Moralität [!] der Menschen nur auf die Rechtspflichten, doch mit der größten Gewissenhaftigkeit einzuschränken." (IV 595) Daß "alle moralische Verhältnisse vernünftiger Wesen . . . auf Liebe und Achtung zurückzuführen" seien und das "Prinzip" der "moralischen Verhältnisse" der Menschen ein immanentes sei, wenn doch "deren Wille gegeneinander wechselseitig einschränkend ist" — auch dies bestätigt die Mehrdeutigkeit dieses Terminus "Moralität" in Kants Gebrauch. Dies gilt folglich auch noch für Kants Schlufibemerkung der Grundlegungsschrift, die sowohl als Beleg für Kants uneinheitliche Kennzeichnung des "moralischen Gesetzes", aber auch - gewiß nicht zufällig — für den Aufweis dienen kann, daß Kant den Status des "Reichs der Zwecke" unscharf bestimmt: heißt es doch, daß das "herrliche Ideal eines

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Zu einem ganz ähnlichen Urteil kommt auch Höffe: "Kants Ausdruck 'moralisch' . . . ist nicht Adjektiv zu 'Moralität', sondern zu 'Moral', die 'Moral' ist aber nach der Vorrede der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten jener rein rationale Teil der Ethik, der die Gesetze der Freiheit unabhängig von allen empirischen Überlegungen einer praktischen Anthropologie untersucht. . . Als Teil der Metaphysik der Sitten ist auch die Rechtsphilosophie von empirischen Überlegungen unabhängig. Ahnlich nennt Kant in der 'Einleitung in die MS' die Gesetze der Freiheit im Unterschied zu den Naturgesetzen moralisch . . . Der Ausdruck 'moralisch' ist also gegenüber der Unterscheidung von Rechtsund Tugendlehre indifferent: er betrifft die Freiheitsgesetze als apriori gültige Gesetze menschlichen Handelns, also die Gattung zu den beiden Arten, den juridisch- und den ethisch-moralischen Freiheitsgesetzen." Völlig zu Recht spricht Höffe deshalb von einer "vorethischen Bedeutung" von "moralisch", während indessen von Moralität im engeren Sinne nur dort zu reden ist, "wo die Pflicht selbst gewollt ist, das heißt dort, wo die Pflicht zugleich den Bestimmungsgrund des Handelns abgibt: Moralität heißt ein Handeln aus Pflicht", nicht bloße "Pflichtgemäßheit".123 Damit hängt nun noch ein weiteres zusammen, worauf zur Vermeidung von Mißverständnissen hinzuweisen ist: während Kant in seiner "Idee zu einer

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allgemeinen Reichs der Zwecke an sich selbst (vernünftiger Wesen), zu welchen wir nur alsdann als Glieder gehören können, wenn wir uns nach Maximen [!] der Freiheit, als ob sie Gesetze der Natur wären, sorgfältig verhalten, ein lebhaftes Interesse an dem moralischen Gesetz in uns" bewirke. (IV 101) Schon in der Kritik der reinen Vernunft hatte es zu dieser "moralischen Welt" geheißen: "Diese wird so fern bloß als intelligible Welt gedacht, weil darin von allen Bedingungen (Zwecken) und selbst von allen Hindernissen der Moralität in derselben (Schwäche oder Unlauterkeit der menschlichen Natur) abstrahiert wird. So fem ist sie also eine bloße, aber doch praktische Idee, die wirklich ihren Einfluß auf die Sinnenwelt haben kann und soll, um sie dieser Idee so viel als möglich gemäß zu machen. Die Idee einer moralischen Welt hat daher objektive Realität, nicht als wenn sie auf einen Gegenstand einer intelligiblen Anschauung ginge . . ., sondern auf die Sinnenwelt, aber als einen Gegenstand der reinen Vernunft in ihrem praktischen Gebrauche, und ein corpus mysticum der vernünftigen Wesen in ihr, so fern deren freie Willkür unter moralischen Gesetzen sowohl mit sich selbst, als mit jedes anderen Freiheit durchgängige systematische Einheit an sich hat." Und genau diese so entworfene Idee der "moralischen Welt " wird durch den Bereich der "Rechtspflichten" definiert. O. Höffe, Recht und Moral . . . 17. Mit Recht kann Kaulbach auch zur "moralischen Welt" feststellen: "Die Idee einer moralischen Welt, die deshalb als Natur bezeichnet wird, weil in ihr die praktische Gesetzgebung als Wirklichkeit (Dasein) vorgestellt wird, hat ihren Standort noch vor der Differenzierung in Moralität und Legalität, in ethische und juridische Gesetzgebung. Sie ist, wie die Überlegungen zum kategorischen Imperativ zeigen, sowohl für die Beurteilung moralischen Handelns wie auch für die positive Rechtsgesetzgebung und Rechtspraxis orientierend und maßgebend." (Rechtsphilosophie und Rechtstheorie . . . ISO)

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allgemeinen Geschichte ..." noch beklagen konnte, daß die Menschheit wohl zivilisiert und kultiviert sei, nicht aber schon als "moralisiert" gelten dürfe, — diese Moralität dabei wiederum jedoch als prinzipiell kulturzugehörig erachtet124 ~ sieht Kant auch diese Zusammenhänge später wesentlich anders: Kultur wird in den späteren Arbeiten ausdrücklich bestimmt als "letzter Zweck der Natur", während Moralität von dieser "bloßen Kultur" abgehoben und ausschließlich als "Endzweck der Freiheit" ausgewiesen wird. Als solcher ist er von dem "letzten Zweck der Natur" abzugrenzen.125 Auch in dem "Gemeinspruch"-Aufsatz (VI 125 ff.) unterscheidet Kant folgerichtig den "Naturzweck" des Menschengeschlechts von dem "moralischen Zweck des Daseins". (VI 167) Wenn auch für Kant allein in der bürgerlichen Gesellschaft "die größte Entwicklung der Naturanlagen geschehen" kann (V 555), so bleibt dies doch nichtsdestoweniger "Ideal": denn die "Gattung macht einen Umweg ~ statt den Weg zur Sittlichkeit und Rechtlichkeit zu gehen und diesem Ziel die Kulturentwicklung unterzuordnen, geht sie, so allein dürfen wir wenigstens denken, vorausgesetzt, daß wir tun, was wir tun können und sollen, den von der Kultur zum Rechtszustand. Nicht der Weg des Geistes — der Weg der Natur der Menschengattung ist der Umweg."126 Und dieser Umweg führt nun tatsächlich über die Kultur zur Zivilisierung, auf welchem Boden sodann erst "Moralisierung" möglich und wirklich werden kann.127 Für den durch das

124 n ^ ¡ r s j n ( j jn hohem Grade durch Kunst und Wissenschaft kultiviert. Wir sind zivilisiert bis zum Überlästigen, zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber uns für schon moralisiert zu halten, daran fehlt noch viel. Denn die Idee der Moralität gehört noch zur Kultur; der Gebrauch dieser Idee aber, welcher nur auf das Sittenähnliche in der Ehrliebe und der äußeren Anständigkeit hinausläuft, macht bloß die Zivilisierung aus . . . [...] Alles Gute aber, das nicht auf moralisch-gute Gesinnung gepfropft ist, ist nichts als lauter Schein und schimmerndes Elend." (VI 44 f.) 125 M. Riedel ist also auch in dieser Hinsicht zuzustimmen: "Die kritische Unterscheidung zwischen 'letztem Zweck' und 'Endzweck' der Natur erfolgt nicht von ungefähr. Sie ist einer der wichtigsten Resultate von Kants Kritik an Herders Geschichtsphilosophie und sie läßt sich überdies als eine Art Selbstkritik an dem eigenen, von gewaltsam-dogmatischen Geschichtsdeutungen nicht ganz freien Verfahren der 'teleologischen Naturbetrachtung' in der Schrift von 1784 verstehen." (Geschichtstheologie, Geschichtsideologie . . . 223.) 126 K. Reich, Rousseau und Kant 25. 127 Vgl. Akademie-Ausgabe XV 883 Reflexion 1521. Unter diesen Vorzeichen ist die Zivilisierung "gegenüber der 'Kultivierung' des einzelnen die vollkommenere Stufe der Entwicklung, da die im "bürgerlichen Zustand' mögliche Garantie des Ausgleichs der vernünftigen Meinungen mehr ist als bloß die Ausbildung der Vernunft des einzelnen (also mehr als dessen 'Kultivierung')." (G. Funke, Kants Stichwort für unsere Aufgabe. . . 133) Kultivierung bezieht sich hier nämlich lediglich auf die "Hervoit>ringung der Tauglichkeit eines Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt". (V 554) In der weiteren Folge läßt sich sodann freilich auch noch mit Funke feststellen: "Wenn — wie Kant sagt — die Kultur der letzte Zweck ist, 'den man der Natur in Ansehung der Menschengattung

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D e r Stellenwert des "Reichs der Zwecke"

"radikal Böse" verkehrten Menschen ist die Kultur freilich ein "unentbehrliches Mittel der Erziehung des Menschengeschlechts zu seinem Endzweck, der Moralität"128, in der dieser gleichsam seine bloße Natürlichkeit abarbeitet und "bildet". Nun verdient es aber freilich Beachtung, daß doch auch nach Kant die "wahre Kultur" allerdings allein diejenige sein kann, "die selbst erst von der Moralität angeht."129 Eine Verkehrung der eigentlich "sittlichen Welt" stelle es doch dar, wenn die "Natur . . . von der Kultur zur Moralität, nicht (wie es doch die Vernunft vorschreibt) von der Moralität und ihrem Gesetz anhebend, zu einer darauf angelegten, zweckmäßigen Kultur hinzuleiten strebt: welches unvermeidlich eine verkehrte, zweckwidrige Tendenz abgibt." (VI 682)130 Somit ist deutlich geworden: geschichtsphilosophische Perspektive und Entwicklungsgang des Individuums (als Ausbildung persönlicher Identität) stehen hier zueinander im Gegensatz, muß doch "die moralische Bildung des Menschen nicht von der Besserung der Sitten, sondern von der Umwandlung der Denkungsart und von Gründung eines Charakters anfangen." (VI 48) So jedenfalls fordert es die Vernunftperspektive. Auf den Gang der Geschichte

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beizulegen Ursache hat', dann ist die Zivilisierung aller offenbar der Zweck der Kultivierung einzelner und ist die Moralisierung der Menschheit überhaupt in aller Zeit der Zweck der Zivilisierung jener Gruppen." (ebd. 143) Es ist tatsächlich nicht zu übersehen, daß diesen einschlägigen Ausführungen Kants zufolge die Kulturbestimmung des Menschen lediglich den Aspekt der Weiterbildung und Perfektionierung seiner "Natürlichkeit" und deren "Tauglichkeiten", "Fertigkeiten", zum Thema macht. Mit Recht bemerkt auch A n a c k e r "Dieser Prozeß der Objektivierung und Bildung des Natürlichen, von Kant auch Kultur genannt, hat den Charakter des Triebverzichtes. Insofern ist die Bildung des Genusses durch Freiheit zugleich dessen Einschränkung." (Natur und InterSubjektivität 89) Auch Kants Bemerkung über Sinn und Notwendigkeit der "scholastischen Bildung" läBt sich in dieser Weise verstehen: "Der scholastischen Bildung oder der Unterweisung bedarf der Mensch, um zur Erreichung aller seiner Zwecke geschickt zu werden. Sie gibt ihm einen Wert in Ansehung seiner selbst als Individuum. Durch die Bildung zur Klugheit [!] aber wird er zum Bürger gebildet, da bekommt e r einen öffentlichen Wert. Da lernt er sowohl die bürgerliche Gesellschaft zu seiner Absicht [!] lenken, als sich auch in die bürgerliche Gesellschaft schicken. Durch die moralische Bildung endlich bekommt er einen Wert in Ansehung des ganzen menschlichen Geschlechts." (VI 713) Κ Reich, Rousseau und Kant 26. G. Krainer, Beitrag zur Analyse . . . 14. Krainers Feststellung gewinnt hier besonderes Gewicht: "Die Anlagen entwickeln sich nacheinander, so daB wir einen Zustand wilder Gesetzlosigkeit (barbarische Verfassung) bei relativ fortgeschrittener Kultur (die Privatsache ist) kennen, wonach das Stadium der Zivilität (Entwicklung bürgerlicher Verhältnisse bei barbarischen Tugenden, bzw. einen ethischen Naturzustand) beginnt und das dritte Stadium der ethischen Gemeinschaft folgen soll. Das Nacheinander und die Trennung der Bildungsformen ist spezifische Eigenart der menschlichen Gattung, die von der Kultur zu Moralität geht, anstatt unter dem moralischen Gesetz in die allseitige Entwicklung der Anlagen einzutreten." (G. Krainer, Beitrag zur Analyse . . . 79)

Die Idee des "höchsten politischen Gutes"

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gesehen muß Kant indessen ernüchtert feststellen: "Unsere Cultur ist (ohne Plan) nur noch durch den Luxus belebt (Luxus in den Wissenschaften, man lernet alles untereinander), nicht durch den Zweck des allgemeinen Besten. Daher vermehren sich die Bedürfnisse, die Sorgen, die Arbeit, Ungleichheit und Mühseligkeit. 2. Unsere Civilisierung ist (erzwungen: eine Wirkung des Zwanges, nicht der Denkungsart) noch weit von der Vollkommenheit des Bürgers, d. i. der wahren Freiheit und Gleichheit unter weisen Gesetzen entfernt (...) Bis da her hat die bürgerliche Einrichtung mehr von Zufall und dem Willen des Stärkeren als der Vernunft und Freiheit abgehangen. 3. Wir haben Sitten ohne Tugend, Geselligkeit statt Rechtschaffenheit und Eitelkeit statt Ehrliebe."131

131

Kant, Akademie-Ausgabe XV Reflexion 1522. — G. Krainer hat den Unterschied zwischen "letztem Zweck der Natur" und "Endzweck der Schöpfung" so bestimmt: "Emanzipation und Moralisierung verhalten sich wie letzter Zweck der Natur und Endzweck der Schöpfung. In der Moralisierung geht es um Freiheit als Vermögen physischer Zwecke als moralischer. Der Begriff Befreiung geht auf den Vorgang der Emanzipation. Will man ihn auf die Moralisierung beziehen, bedeutet er nicht Befreiung seiner, sondern von sich selbst, Befreiung nicht durch Kultur (die unter dem Verstand mit seinem Naturbegriff steht), sondern Sichfreimachen von dem Schutt derselben auf Grund erneuerter Ansicht und Schätzung der Kulturarbeit durch Vernunft mit ihrem Freiheitsbegriff." (G. Krainer, Beitrag zu einer Analyse . . . 88) — Zu bedenken ist für die hier versuchte Interpretation nicht nur dies, daß im Unterschied zu Krainer diese "Befreiung von sich selbst" (als im Vollsinn so zu nennende Moralisierung) entsprechend einer Verwandlung des Gehaltes des "obersten Gutes" auf Kants Lehrstück vom "Zweck, der zugleich Pflicht ist" bezogen werden soll, weil nur so der "letzte Zweck der Freiheit" zu bestimmen ist; von letztgenanntem bleibt der "Endzweck der Schöpfung" noch abzuheben, auch wenn von dem so neu qualifizierten "Endzweck der Freiheit" ausgehend nun erst die "Autonomie der reinen praktischen Vernunft" zureichend zu charakterisieren ist und sich darin von dem "stoischen Ideal" (der Autarkie) offenbar notwendig abhebt. Denn sie allein verdient es, "einziger, unbedingter und letzter Zweck (Endzweck)" genannt zu werden, "worauf aller praktische Gebrauch unsers Erkenntnisses zuletzt sich beziehen muß, . . . die Sittlichkeit, die wir um deswillen auch das schlechthin oder absolut Praktische nennen." (III 517) Es ist nunmehr die in der Tugendpflicht "aufgehobene" Tugend, die als "die eigentliche, nämlich praktische Weisheit" deshalb zu würdigen ist, "weil sie den Endzweck des Daseins der Menschen zu dem ihrigen macht." (IV 537) Dieser "Endzweck der Freiheit", die "höchste moralische Vollkommenheit", überhöht so noch den Sinn dessen, was Kant die "Moralisierung" nennt — die nach Kant selbst schon den EinschluB der "guten Zwecke" mitumfaßt: "4. Muß man auf die Moralisierung sehen. Der Mensch soll nicht bloß zu allerlei Zwecken geschickt sein, sondern auch die Gesinnung bekommen, daß er nur lauter gute Zwecke erwähle. Gute Zwecke sind diejenigen, die notwendigerweise [!] von jedermann gebilligt werden, und die auch zu gleicher Zeit jedermanns Zwecke sein können." (VI 707) Diese wiederum sind natürlich nicht durch bloße "Generalisierung" zu ermitteln; zweifellos ist diese moralische Selbstbestimmung nach "lauter guten Zwecken" nach Kant jene, die (1) selbstverständlich über eine bloße "Bezähmung der Wildheit" (Disziplinierung) hinausreicht und als Befreiung von dem "Despotismus der Begierden" also vor der Unfähigkeit, überhaupt "selbst zu wählen", erst

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Ein Hinweis jedoch muß hier noch die voranstehenden Überlegungen zur Ortsbestimmung des "höchsten politischen Guts" ergänzen, der überdies nicht nur Kants unterschiedlichen Gebrauch des Begriffs "Moralität" bestätigt, sondern im besonderen auch die erwähnte Unausgeglichenheit zwischen Kants geschichtsphilosophischer und moralphilosophischer Perspektive betrifft. Mit ohne Zweifel guten Gründen kann Habermas mit primärem Bezug auf Kants Geschichtsphilosophie feststellen: "Wenn sich die Natur des 'Antagonismus der Gesellschaft', der Kämpfe im Inneren wie auch der Kriege zwischen den Völkern, bedient, um alle Naturanlagen der Menschheit in einer 'allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft' zu entfalten, dann wird diese 'vollkommen gerechte bürgerliche Verfassung' selbst eine 'pathologisch abgedrungene Zustimmung' sein müssen, die als ein 'moralisches Ganzes' nur erscheint. In ihr wird ein Problem seine praktische Auflösung gefunden haben, das Kant theoretisch in der Form stellt: 'eine Menge von vernünftigen Wesen, die insgesamt allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung verlangen, deren jedes aber insgeheim sich davon auszunehmen geneigt ist, so zu ordnen und ihre Verfassung so einzurichten, daß, obgleich sie in ihrem Privatgesinnungen einander entgegenstehen, diese einander doch so aufhalten, daß in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg eben derselbe ist, als ob sie keine solchen bösen Gesinnungen hätten'."132 Auch in dieser geschichtsphilosophischen

bewahrt; weiters übersteigt sie (2) die Ausbildung des "Vermögens, welches zu allen beliebigen Zwecken zureichend ist" (Kultivierung), und (3) erhebt es sich auch noch über alles bloße Bestreben, "daß der Mensch auch klug werde, in die menschliche Gesellschaft passe". Diese "Moralisierung" formuliert (erfüllt) für Kant erst das eigentliche Ziel der Humanität. Vgl. dazu den Aufsatz v. Watson: Kant on Autonomy, the Ends of Humanity 132

J. Habermas, Publizität als Prinzip . . . 181 u. 185. Bleibt doch - noch einmal sei es betont — in Geltung, daB für das allgemeine Rechtsgesetz als solches doch "die moralisch-praktische Folgenlosigkeit des ihm als sittlichem Gesetz anhaftenden Verbindlichkeitsanspruch konstitutiv ist." (W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit . . . 27) Im weiteren heißt es sodann: "Gleichwohl ist es auf reine praktische Vernunft angewiesen, wenn es ein praktisches Gesetz, ein objektiv gültiger praktischer Grundsatz sein soll. Damit [aber] erweist sich die Rechtslehre in geltungstheoretischer Hinsicht von der 'Kritik der praktischen Vernunft' abhängig. Obwohl das Recht sich in seiner Verwirklichung von moralischer Spontaneität unabhängig macht, muß es doch die 'moralische Persönlichkeit', die 'nichts anderes als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen' ist, als Bedingung seiner objektiven Gültigkeit voraussetzen." (ebd. 28) Tatsächlich ist nach Kant der "staatsbürgerliche Zustand" nun eben dadurch bestimmt, daß der "Antagonismus . . . also zu einem Ausgleich der Interessen" zwingt, "wodurch sich alle aus der Einsicht, daß die Erreichung ihrer eigenen Ziele nur durch ihn herbeigeführt werden kann, eine derartige Beschränkung ihrer Freiheit auferlegen, daß sie mit der Freiheit aller anderen verträglich wird." (L. Landgrebe, Die Geschichte im Denken Kants 536) Allerdings bleibt dabei genau auf Kants ausdrückliche Kritik des Hobbesschen Standpunktes zu achten.

Die Idee des "höchsten politischen Gutes"

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Perspektive ist bei Kant die von Habermas bemerkte "Ambivalenz seiner Geschichtsphilosophie" gleichwohl nicht zu übersehen, "in der neben vielen systemkonformen Äußerungen, die Moralität vom Fortschritt ausschließen und diesen eine Vermehrung der Produkte der Legalität vorbehalten, sich auch das ihnen widersprechende Geständnis findet, 'daß das menschliche Geschlecht beständig im Fortschreiten in Ansehung der Kultur als dem Naturzweck desselben ist, es auch im Fortschreiten zum Besseren in Ansehen des moralischen Zwecks seines Daseins begriffen sei.'" Kant selbst hat bekanntlich in der Religionsschrift auch zwischen dem "philosophischen" und dem "theologischen Chüiasmus" unterschieden: während der erstere "auf den Zustand eines ewigen, auf einen Völkerbund als Weltrepublik gegründeten, Friedens, hofft", ist der zweitgenannte sodann derjenige, "der auf des Menschengeschlechts vollendete moralische Besserung harret" ~ beide teilen nach Kant freilich das Schicksal, allzu leicht als bloße "Schwärmerei allgemein verlacht" zu werden. (IV 682 f.)133 Kants an Rousseau anknüpfende Frage, "wie die Kultur [!] fortgehen müsse, um die Anlagen der Menschheit, als einer s i 111 i c h e η [!] Gattung zu ihrer Bestimmung gehörig zu entwickeln, so daß diese jener als Naturgattung nicht mehr widerstreite" (VI 93), steht dem im Grunde doch ganz unverkennbar gegenüber.134 Freilich bleibt hier noch einmal an jenen Passus aus der "Anthropologie in pragmatischer Absicht" zu erinnern, dem gemäß es die "Zunahme der Kultur" selbst sein soll, die die durch Selbstsucht erwachsenen Übel des

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Zu Habermas' Interpretationsvorschlag, in Kants "politischer Philosophie . . . zwei Versionen auszumachen", vgl. ders., Publizität als Prinzip der Vermittlung. . . 186 ff.; der ersteren (offiziellen) Version zufolge meine also "moralische Politik nicht mehr als rechtliches Handeln aus Pflicht unter positiven Gesetzen", während die zweite davon ausgehe, "daß Politik auf die Herstellung eines rechtlichen Zustands erst dringen muß. Sie bedient sich deshalb der Konstruktion einer aus Naturzwang und moralischer Politik zumal hervorgehenden weltbürgerlichen Ordnung." (Habermas 187) Dem entspricht, daß schon auf der Ebene des als bürgerliches Gemeinwesen verstandenen "Reichs der Zwecke" verschiedene Begriffe der Freiheit unterschieden werden müssen. An Kants Maßstäben bemessen befinden sich die Menschen "in dem zweiten Grade des Fortschrittes zur Vollkommenheit, zwar cultiviert und zivilisiert, aber nicht moralisiert." (Refl.1460, Akademie-Ausgabe XV) Es bleibt zu beachten: in dieser Idee der "Vollkommenheit der bürgerlichen Verfassung" werden nach Kant allerdings eist "alle Talente entwickelt, die größte Vereinigung zu gemeinschaftlichen Zwecken [und] durch äußere Gesetze und die größte Dauerhaftigkeit dieses Zustandes durch die beste persönliche Denkungsart." (Reflexion 1468; s. auch Reflexionen 1501 u.1521) Und genau in diesem Sinne bleibt das "Reich der Zwecke" (und für dieses somit die Rechtssphäre) im ganz wörtlichen Sinne grund-legend: denn letzteres "ist selber das Gesetz der Möglichkeit einer Gemeinschaft freier Wesen überhaupt, und keine societas kann dem Rechte vorgeordnete Gemeinschaftbedingungen enthalten." (J. Ebbinghaus, Kants Lehre vom ewigen Frieden . . . 28)

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Menschen zum einen "desto stärker" fühlbar und vernehmbar macht und aus solcher Not aber im weiteren die "mit einer moralischen Anlage begabte(n) vernünftigen Wesen" in die Verlegenheit bringt, "als den Privatsinn (einzelner) dem Gemeinsinn (aller vereinigt), ob zwar ungern, einer Disziplin (des bürgerlichen Zwanges) zu unterwerfen, der sie sich aber nur nach von ihnen selbst gegebenen Gesetzen unterwerfen, durch dies Bewußtsein sich veredelt fühlen, nämlich zu einer Gattung zu gehören, die der Bestimmung des Menschen, so wie die Vernunft sie ihm im Ideal vorstellt, angemessen ist." Dieser soeben angesprochene "bürgerliche Zustand" gleiche allerdings, wenn auch für "lange Zeit" in regelmäßigem Gang gehalten, "am ehesten einem Maschinenwesen der Vorsehung" (VI 686) und verdiene als solches "zusammengelesenes Aggregat" freilich keineswegs schon als "systematische Verbindung" — gar eine solche eines "Reiches" ~ bezeichnet zu werden. Mit einer Konkretisierimg (Verwirklichung) der "praktischen Vernunft" hat dies ersichtlich noch wenig zu tun, ist das so Erreichte doch gar nichts anderes als eine in Freudscher "Stachelschwein-Perspektive" inszenierte, mehr oder weniger erfolgreiche (zwischen wechselseitiger Erwärmung und Verletzung pendelnde) "sozialtechnische Maßnahme" ~ "Auszeichnung" allenfalls eines von den Schutzräumen des Instinktes verlassenen "verständigen" Wesens, mitnichten jedoch den Vernunftansprüchen des Menschen genügend. Um noch einmal auf die (oben zustimmend) angeführten Sätze Höffes zurückzukommen: auch wenn man Höffes Kritik an einer Metabasis "von Moralund Religionsfragen zu Rechts- und Staatsaufgaben" (nicht zuletzt unter dem Eindruck der angeführten Beispiele aus der Kantliteratur) zustimmen möchte und selbstverständlich auch nicht übersehen will, daß die Idee des höchsten Guts bei Kant in der Tat ganz wesentlich ein "Moral- und Religionsproblem" zur Sprache bringt, so scheint es doch, in umgekehrter Richtung zu den Verkürzungen der genannten Art, nicht so ohne weiteres berechtigt zu sein, wenn Höffe jede Beziehung des "höchsten Guts" auf "den Bereich von Recht und Staat" zurückweisen will. Kants vorgelegte Differenzierungen zu dieser "Idee" gestatten es ohne weiteres, bei aller sachlich gebotenen Unterscheidung von Momenten (Perspektiven, Ebenen) das "höchste Gut" nicht in diesem übermäßig eng konzipierten Sinne zu fassen. Es ist deshalb auch nicht recht überzeugend, wenn Höffe feststellen will: "Wer auch für den Bereich von Recht und Staat nach einem höchsten Gut sucht, hätte bei Kant allenfalls zwei Kandidaten zur Verfügung, die jedoch bei näherer Untersuchung sich als untauglich erweisen: die dem gattungsgeschichtlichen Fortschritt aufgegebene weltweite Rechtsgemeinschaft, auch weltbürgerliche Gemeinschaft genannt, und die Gemeinschaft nach Tugendgesetzen, das Volk Gottes bzw. die (für Kant unsichtbare) Kirche. Da in der Rechtsgemeinschaft die Legalität, nicht die Moralität verwirklicht wird, im höchsten Gut ~ als Vermittlung von Moralität und Glückseligkeit ~ aber die Moralität gefragt ist, scheidet in dieser

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Hinsicht der erste Kandidat aus. Weil das Volk Gottes eine Gemeinschaft nach Tugendgesetzen ist, Tugendgesetze aber die Moralität, nicht die Legalität betreffen, ist das Volk Gottes eine Moral-, keine Rechts- und Staatsaufgabe, so daß auch der andere Kandidat ausscheidet. Es bleibt, daß das höchste Gut ein Moral- und Religions-, aber kein Rechts- und Staatsproblem ist."135 Diese ~ jedenfalls was die Motive Höffes betrifft — gewiß nicht ganz unberechtigte, aber doch einseitige Stellungnahme kann sich (wenigstens so ohne weiteres) auch nicht auf Kant selbst berufen. Die an einigen repräsentativen Beispielen aus der Kantliteratur schon vorgeführten Unstimmigkeiten der Bestimmung der Idee des "höchsten Guts" spiegeln sich nicht zufällig (mit den zum Teil ganz ähnlich gelagerten Schwierigkeiten) auch in der näheren Bestimmung des "Reiches (Volkes) Gottes" wider. Diese Idee des "Reichs Gottes" ist nach Kants ausdrücklichem Hinweis zwar in dem "Vereinigungsprinzip" der "freien Tugend" begründet, ist aber als das utopisch entworfene "Reich Gottes auf Erden" eben noch nicht gleichzusetzen mit der Idee des "Reiches Gottes" schlechthin. Die Glieder dieses "Reichs Gottes auf Erden" sind zwar notwendig auf das "Ideal des Ganzen" aller Menschen hin bezogen, als "reales" ist es dennoch unaufhebbar lediglich dessen "Schema". (Vgl.IV 755) Die dem hohen Anspruch dieser "Idee" erst entsprechende Erfüllung vermag freilich weder durch das Streben nach "eigener Vollkommenheit" des Einzelnen noch durch die partielle Gemeinschaft "wohlgesinnter Menschen" jemals eingeholt zu werden. Dieses nichtsdestoweniger unaufgebbare, weil alles moralische Handeln leitende Ideal des "absolut ethischen Ganzen" wird freilich für Kant — schon auf dieser Ebene praktischer Vernunftansprüche ~ zum terminus a quo des Postulates einer Instanz, die dieses Ideal sowohl zum einen (als "Gesetzgeber") fundieren, wie auch seine "Einholung" als zwar noch "utopisch", aber doch nicht einfach als illusorisch erscheinen lassen kann, denn: "Es können noch viele tausend Jahre verfließen, ehe wir unsere völlige ["letzte"] Bestimmung erhalten, welches alsdenn das Reich Gottes auf Erden sein wird, wenn alles nicht nur bürgerlich, sondern auch moralisch gut sein wird."136 Dieses Ideal des "Reiches Gottes

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O.Höffe, Naturrecht ohne naturalistischen Fehlschluß 49.- Angemessener ist die Kennzeichnung des "vollendeten rechtlich- staatlichen Zustand(es)" (nämlich des ewigen Friedens) als das "höchste politische Gut" durch Alpheus; auch für ihn steht diesem "in der 'Religion' der vollendete sittlich-kirchliche Zustand (Reich Gottes auf Erden) als das höchste-gemeinschaftliche- sittliche Gut gegenüber." (Kant und Scheler 133) Kant, Akademie-Ausgabe 27.1, 235. Vgl. Menzer, Eine Vorlesung Kants . . . 319: "Wenn die menschliche Natur ihre völlige Bestimmung und ihre höchst mögliche Vollkommenheit wird erreicht haben, so ist dieses das Reich Gottes auf Eiden: Alsdann wird das innere Gewissen Recht und Billigkeit regieren und keine obrigkeitliche Gewalt. Dieses ist der letzte bestimmte Zweck und die höchste moralische Vollkommenheit, zu der das menschliche Geschlecht gelangen kann, die durchaus nach dem Verlaufe vieler

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(auf Erden)" darf sonach auch nicht als "politisches imperium" mißverstanden werden, ist es doch als "ethisches Reich" der "moralische Endzweck der Menschheit".137 Die moralische Vernunftidee findet so zwar in dem "Reich Gottes" eine "Schematisierung", bleibt als Idee eine für die praktische Vernunft "unendliche Aufgabe". Es zeigt sich (wenn dies allen verkürzenden Interpretationen zum Trotz noch einer Erklärung bedürfte), daß Kants Idee des Reichs Gottes in ihrem umfänglicheren Sinn überhaupt mit keinem (wie auch immer im einzelnen vorgestellten, innergeschichtlich einholbaren) "messianischen Erdenreich" zu identifizieren ist: Kant spricht so von dem "Reich Gottes dem neuen Bunde nach", im Unterschied von demjenigen bloß "nach dem alten Bunde", einem "moralischen" und nicht einem "politischen Reich" 138 — was nur noch einmal darauf verweist, daß ersteres nicht "mit einem allein von den Menschen bzw. der Menschheit zu verwirklichenden Fortschritt der Sittlichkeit, der Kultur oder gar der Zivilisation" zu verwechseln ist.1" Nur zu verständlich wird so Höffes Kritik an all "jenen Versuchen, die die Suche nach einer Gemeinschaft

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Jahrhunderte zu hoffen ist." O. Höffe, Immanuel Kant 2S6. — Mit einer gelegentlichen Unterscheidung von Ebbinghaus (Kants Rechtslehre . . . 332) wäre auch zu sagen, daß all diese hier zurückzuweisenden Charakterisierungen des "Reichs Gottes" zum guten Teil sich dessen schuldig machen, "ein Prinzip apriori der Rechtsbestimmung" mit der "moralischen Idee des Himmelsreiches" zu verwechseln. Eben darin gründet nun auch Ebbinghaus' andernorts vorgetragene Kritik an der Ablehnung des Staates als Institution und damit all jener Positionen, die "umgekehrt den Staat unter die Bedingungen der vornehmlich ethisch gedachten Kultur des Menschen stellen wollen. Als Ideal schwebt ihnen eine Art Liebesstaat vor, ein Staat also, dessen Gesetzgebung selber vom Gesetze der Liebe gegen die Unterworfenen statt dem des "bloßen' Rechtes geleitet wäre." (Über die Idee der Toleranz . . . 326) Kant, Akademie-Ausgabe XXIII123. W.Oelmüller, Kants Beitrag . . . 216. Ausdrücklich wird "Reich Gottes" von Kant zur Kennzeichnung des "höchsten abgeleiteten Gutes" als "Darstellung der Welt" bestimmt, "in welchem Natur und Sitten in eine jeder von beiden für sich selbst fremde Harmonie durch einen heiligen Urheber kommen". (IV 260) Zu den verschiedenen inhaltlichen Nuancierungen des Begriffes "Reich Gottes" bei Kant vgl. W. Oelmüllers Ausführungen S. 215. - Erwähnt sei noch, daß das grenzbegriffliche Ideal eines "Reiches der Sitten" nach Kant sodann doch wohl jenes wäre, als deren Glieder nur die der Autokratie unbedürftigen, "weil der reinen Autonomie der praktischen Vernunft (d. i. sogar jenseits allen freien Selbstzwanges) fähigen, zwar endlichen, aber heiligen Wesen", "die zur Verletzung der Pflicht ja nicht einmal versucht werden können" (IV 512; 204), anzusehen wäre. Dieser Terminus "Reich der Sitten" wird von Kant aber auch immer wieder zur Bezeichnung des "Reichs der Tugend" verwendet. Vgl.auch Akademie-Ausgabe 27.729: das "Reich der Sitten" sei jenes, in dem "alle Menschen . . . sich als ein Volk Gottes" betrachten, "das sich zur Übung und Beförderung der Tugend und der ethischen Gesetze vereinigt."

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nach Tugendgesetzen, sprich: einer (sichtbaren oder unsichtbaren) Kirche/Religionsgemeinschaft zu einer Forderung an unsere Zwangsgemeinschaften" transformieren wollen.140 Kant unterscheidet nicht bloß ausdrücklich die Idee eines "Reiches Gottes" von der "sinnlichen Form" der Kirche: zu beachten bleibt überdies, daß es doch nur der "Begriff des höchsten Guts" als "Reich Gottes" sein soll, "der allein der strengsten Forderung der praktischen Vernunft ein Gnüge tut. Das moralische Gesetz ist heilig . . . und fordert Heiligkeit der Sitten, obgleich alle moralische Vollkommenheit, zu welcher der Mensch gelangen kann, immer nur Tugend ist." (IV 259) Damit wird deutlich: das von Kant so bezeichnete "Reich der Tugend" gewinnt seine Erfüllung (d. i. hat sein "telos") in dem als "Kirche" verstandenen "Reich der Tugendpflicht", seine Mitglieder weiß Kant folglich "verbunden nach principiis der Gleichheit, Einheit und Freiheit, [d. i.] eine moralische Monarchie. Ihre Einheit ist der gemeinsame Zweck, vereint moralische Gesinnung zu befördern und sich hierin als ein Ganzes zu zeigen: ihre Gesetze sind die moralischen oder Gesetze der Freiheit."141 Diese sind freilich nun gemäß dem "obersten Prinzip der Tugendlehre" konzipiert. In dieser Weise wäre mit Kant das so entworfene "Reich Gottes" selbst als "Symbol" der umfassend gedachten "moralischen Vernunftidee" zu fassen, ebenso wie das diesem "Standpunkt der Freiheit" entsprechende "höchste Gut" — auch wenn hier noch eine unaufhebbare Spannung bleibt zu dem über dieses "Reich der Tugendpflicht" zwar zu vermittelnden, jedoch auch von ihm nicht "einzuholenden" (ja gar nicht einmal "schematisierbaren") "Reiche Gottes" als dem dann eigentlich so zu nennenden "Reich der Gnaden" und dem diesem entsprechenden "höchsten Gut" - jenem "übersinnlichen Gegenstand der Vernunft", "in welchem Natur und Sitten in eine jeder von beiden für sich selbst fremde Harmonie durch einen heiligen Urheber kommen, der das abgeleitete höchste Gut möglich macht." (IV 260)

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O. Höffe, Naturrecht ohne naturalistischen FehlschluB . . . 48 f . - Kaum jemand von den Kantinterpreten hat entschiedener die Verkehrung der "Rangordnung der Zwecke" im Sinne Kants kritisiert als Ebbinghaus, der wiederholt auf die Haltlosigkeit —ja die Fatalität — all jener Versuche hingewiesen hat, "wenn eine durch Bruder- oder Nächstenliebe definierte Menschlichkeit das Prinzip einer Gemeinschaft von Menschen unter Gesetzen ihrer Freiheit sein soll." Völlig zu Recht hat Ebbinghaus auf das Mißliche des Standpunktes hingewiesen, "dessen 'Menschlichkeit' das Gesetz der praktischen Nächstenliebe dem Gesetze des Rechts als Prinzip möglicher menschlicher Gemeinschaft vorordnen will", zumal gerade dieser "diese Nächstenliebe in ihrer möglichen Wirksamkeit unter Menschen aller möglichen gesetzlichen Sicherheit beraubt. . . Wer das Recht der Menschen vom Wohlwollen ihrer Mitmenschen abhängig macht, verdient selber nicht, ein Recht zu haben." (Menschlichkeit, Recht der Menschheit.. . 409 f.) Kant, Akademie-Ausgabe 27.2.1.730.

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Im wesentlichen bestätigen diese Überlegungen doch die Ansicht Wildts, daß "bei Kant . . . der Begriff des 'Reichs Gottes' zwischen dem einer moralischen und einer darüber hinausgehenden Utopie" schwanke, sofern dieses eben einerseits "die Utopie allgemeiner Moralität, das von dem Reich Gottes qua 'unsichtbarer Kirche' antizipiert wird" meint, anderseits aber auch der "Name [ist] für die Verwirklichung des höchsten und vollständigen Gutes, das auch bei Kant nicht nur die Verwirklichung der moralischen Zwecke der Menschheit enthält."142 Dies trifft zweifellos auch zu für Kants Auszeichnung der "civitas dei": "Der mundus intelligibilis als ein Gegenstand der Anschauung ist eine bloße unbestimmte Idee: aber als ein Gegenstand des praktischen Verhältnisses unserer Intelligenz zu Intelligenzen der Welt überhaupt und Gott als das praktische Urwesen derselben, ist er ein wahrer Begriff und bestimmte Idee: civitas dei."143 Wesentlich weiter als Wildt — und im Grunde auch nur von seiner grundsätzlichen Position her verständlich zu machen — greift Cohens Interpretation der kantischen Idee des "Reiches Gottes", in der sich nun erwartungsgemäß auch die schon vorhin angeführten Probleme wiederholen: Cohen erwähnt nicht nur den insbesondere durch Troeltsch herausgestellten Sachverhalt, daß der zu Kants Zeit durch Semler und Herder neu aufgekommene Begriff "Reich Gottes" dem "sonst herrschenden Jenseitsgedanken entgegengestellt werde" und dieses ~ "in seinem jüdischen Ursprung durchaus weltlichen Charakters" — sei nunmehr "die Erde und die Menschheit unter der Herrschaft Gottes". Cohen begrüßt nun die angeblich in dieser Weise "neu gewonnene Prägnanz eines geschichtlich-religiösen Begriffs", der deutlich mache: "Das Gottesreich ist die sittliche Welt: die Menschheit unter der Vorsehung Gottes." Damit erweist sich dem Urteil dieses prominenten Neukantianers zufolge, daß das "Reich Gottes zusammenfällt mit der Gemeinschaft moralischer Wesen", womit der sachliche Bezug zum "Reich der Zwecke" für Cohen ganz offenkundig sei: "Wir kennen den tiefen und vollen Gehalt dieses Reichs der Zwecke: es ist die Gemeinschaft moralischer Wesen, in welcher die Autonomie als Autotelie sich objektiviert. Die Gemeinschaft der moralischen Wesen realisiert die Idee der Menschheit, die Idee autonomer Menschen als Selbstzwecke und Endzwecke.

142 143

A. Wildt, Autonomie und Anerkennung . . . 189. Reflexion 1162 (Akademie-Ausgabe XV 514.) - Deshalb ist es gar nicht so unproblematisch, wenn M. Riedel einfachhin feststellen will: "Die letzte Bestimmung des Menschengeschlechts, 'moralische Vollkommenheit, sofern sie durch die Freiheit bewirkt wird, wodurch alsdann der Mensch der größten Glückseligkeit fähig ist', fallt zusammen mit der Bestimmung des weltgeschichtlichen Zieles: wenn die Menschen das Maximum an Moralität, das höchste Gut realisiert haben werden, dann bedeutet das die Gründung des Reiches Gottes auf Erden (civitas dei in mundo)." (M. Riedel, Einleitung zu: I.Kant, Schriften zur Geschichtsphilosophie 14)

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Wenn aber nun das Reich der Zwecke nur [!] der methodisch begründete Ausdruck für das Reich Gottes ist, was bleibt alsdann für das letztere übrig, wodurch es sich vom Reich der Zwecke, von der Gemeinschaft moralischer Wesen unterscheiden könnte und unterscheiden dürfte?"144 Diese Sicht Cohens resultiert mit einiger Konsequenz aus seiner mangelnden Rücksicht auf verschiedene Differenzierungsstufen und führt so immer wieder zu unübersehbaren Einseitigkeiten und Mißverständnissen. Cohens Verweis auf die angebliche "religiöse Befangenheit" als den vermeintlich "tiefsten Grund in dieser Frage"-- sie soll klären, wie "der Begriff vom Reiche Gottes verhängnisvoll für die Religion" werden müsse, so "daß ohne seine Unterscheidung von der ethischen Gemeinschaft die Selbständigkeit und die Existenz der Religion überhaupt in Frage gestellt werde"145 ~ vermag die hier einstehenden Probleme nicht einmal ausreichend in Sicht zu bringen. Die Gründe für den von Cohen völlig richtig konstatierten Plan Kants, "das Reich Gottes, als den religiösen Stand der Menschen, höher zu stellen als das Reich der Zwecke, welches nur den sittlichen Stand der Menschen in Recht und Staat bedeutet"146, liegen denn auch wohl anders als Cohen es wahrhaben will. Auch verhält es sich nicht so, daß der von seiner "Vollendung im Staatenbund" aus gedachte Staat als das "Ideal eines Ganzen aller Menschen" es ermöglichen solle, "dieses Moment des Ganzen aller Menschen zur Begründung der Religion hinfällig" zu machen147 — ganz abgesehen noch von dem sehr zweifelhaften Urteil Cohens, "daß Kant diesen seinen Staatsbegriff rein ethisch überhöht." —

144 145 146 147

H. Cohen, H. Cohen, H. Cohen, H. Cohen,

Kants Kants Kants Kants

Begründung der Begründung der Begründung der Begründung der

Ethik Ethik Ethik Ethik

... ... ... ...

474 f. 475. 479. 480.

3.

Menschheit, Person und Persönlichkeit. "Autonomie" in Abgrenzung zu bloßer Autarkie und Autokratie.

Im Kontext dieser hier zu verfolgenden thematischen Zusammenhänge verdient doch auch Beachtung, daß Kant den Begriff "Person" ("das der Zurechnung fähige Wesen") offenkundig als Rechtsbegriff 148 entwirft und diesen sodann jedoch noch einmal von dem Begriff der "Persönlichkeit" unterscheidet. Dem scheint freilich, wenigstens auf den ersten Blick, zu widersprechen, wenn Kant doch in seiner Rechtslehre ausdrücklich betont: "Person ist dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind. Die moralische Persönlichkeit ist also [!] nichts anderes, als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen [!]" (IV 329) — was vorläufig einmal noch gar nichts anderes besagt, als daß damit eben wesentlich jene "sittliche Verantwortlichkeit" zur Sprache gebracht ist, die allein als Grundlage menschlicher Würde gelten darf. Anders und kürzer noch gesagt: Person-sein ist nach Kant entscheidend durch den Bezug zu Verbindlichkeit und Herrschaft des Sittengesetzes konstituiert.149 Wiederum zeigt sich in dem vorhin angeführten Zitat die unübersehbare Zweideutigkeit dieses unterschiedlich weit gefaßten "moralischen Gesetzes", die in der Tat auf das von Kersting aufgewiesene Problem führen muß: "Wenn 'schon der Begriff eines praktischen Gesetzes mit dem der gesetzgebenden Form der Maxime als des unmittelbaren Bestimmungsgrundes der Willkür, also doch mit der Vorstellung der Idee der Pflicht als Triebfeder, unzertrennlich verbunden ist': Wie kann es dann eine

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Kant steht hier doch zweifellos der Auffassung Hegels nahe: *Die Persönlichkeit enthält überhaupt die Rechtsfähigkeit und macht den Begriff und selbst abstrakte Grundlage des abstrakten und daher formellen Rechtes aus. Das Rechtsgebot ist daher: sey eine Person und respektiere die anderen als Personen." (Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts § 36) So gesehen kann Heidegger ganz zu Recht mit Blick auf Kant dies folgende feststellen: "Praktisches Handeln ist die Seinsart der Person als Person. Personalität ist das eigentliche Wesen des Menschen. Erfahrung der Person ist zugleich die wesentliche Erfahrung des Menschen, die Art von Wissen, in der sich der Mensch in seiner eigentlichen Wirklichkeit offenbar wird." (M. Heidegger, Vom Wesen der menschlichen Freiheit . . . 272) Ähnlich heiBt es bei Heidegger in "Die Grundprobleme der Phänomenologie" (S.196): "Was die Natur der Person, ihre essentia, ausmacht und alle Willkür einschränkt und das heiBt als Freiheit bestimmt, ist Gegenstand der Achtung. Umgekehrt, das in der Achtung Gegenständliche, d. h. in ihr Offenbare, bekundet die Personalität der Person. Ihr ontologischer Begriff sagt kurz: Personen sind 'objektive Zwecke, d. i. Dinge [!], deren Dasein an sich selbst Zweck ist.'"

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Vernunftgesetzgebung geben, die wie die juridische auf die Pflichtidee als Exekutionsprinzip verzichtet?"150 Es ist auch wichtig zu sehen, wie jedenfalls der spätere Kant ganz ausdrücklich "Tierheit", "Menschheit" und "Persönlichkeit" des Menschen (wenn auch vielleicht nicht immer in der gewünschten Deutlichkeit, aber auch der sachlich gebotenen Konsequenz) auseinanderhält: "Menschheit" impliziere lediglich "Lebendigkeit" und bloße "Verständigkeit", während der Mensch als "Persönlichkeit" erst als "vernünftiges" und der "Zurechnung fähiges" Wesen ausgezeichnet zu werden verdient. Dank seiner Teilhabe an der "Menschheit" ist demzufolge der Mensch, dies ist für den vorläufigen Gehalt von "vernünftig" auf dieser Stufe nun zu beachten, als Kulturwesen anzusehen: so gesehen ist folglich "Persönlichkeit" nicht "schon in dem Begriffe der vorigen [der Menschheit] enthalten, sondern man muß sie notwendig als eine besondere Anlage betrachten." ((IV 673: vgl. IV 550)151 Denn die "Menschheit in sich" in den Stand der "Persönlichkeit" (oder zur "Idee der Menschheit ganz intellektuell betrachtet": IV 675) erst "aufzuheben", dies ist nun für Kant die eigentliche "praktische Bestimmung" des Menschen — ein Aspekt, der bekanntlich auch für Kants kultur- und geschichtsphilosophische Überlegungen bestimmend war.152 Die lediglich nach Maßgabe der "Menschheitsidee" als "vernünftiges Wesen" verstandene Person wäre jedoch weder eines "moralischen Urteils" fähig, in dem "die Freiheit des Willens als Zusammenstimmung des letzteren mit sich selbst nach allgemeinen Vernunftgesetzen gedacht" wird (V 462), und erst recht natürlich entbehrte es der "sittlichen Triebfeder" sowie der diese Persönlichkeit allein auszeichnenden "Selbstverantwortlichkeit."

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W. Kersting, Neuere Interpretationen . . . 290. Es ist wohl selbstverständlich, daß diese Version des rechtlichen Personbegriffes und natürlich auch der Begriff der "moralischen Persönlichkeit" nicht mit dem Begriff der Person aus der Paralogismenlehre zu verwechseln ist. Vgl. schon IV179: "Denn im Werte über die bloße Tierheit erhebt ihn das gar nicht, daß er Vernunft hat, wenn sie ihm nur zum Behuf desjenigen dienen soll, was bei Tieren der Instinkt verrichtet; sie wäre alsdenn nur eine besondere Manier, deren sich die Natur bedient hätte, um den Menschen zu demselben Zwecke, dazu sie Tiere bestimmt hat, aus zurüsten, ohne ihn zu einem höheren Zwecke zu bestimmen." Nur ganz beiläufig sei hier als Frage vermerkt, ob nicht der Ausgang von der "Menschheit" (als bloß theoretisch-vernünftigem "Vermögen") oder der "Persönlichkeit" entsprechend auch die Gottesfrage (die Gottesidee) ganz unterschiedlich thematisch werden läßt. Entspricht nicht auch dem besagten Unterschied zwischen "Menschheit" und "Persönlichkeit" recht genau Kants Forderung, "die mangelhafte Vorstellung einer physischen Teleologie, von dem Urgründe der Zwecke in der Natur, bis zum Begriffe einer Gottheit zu ergänzen"? (V 562) Und hat denn die diese ra rt nun geforderte "Aufhebung" eines bloß dem "theoretischen" Vernunftgebrauch entstammenden Gottesbegriffes nicht eine präzise Entsprechung auch in der geforderten Aufhebung der "bloßen Menschheit" in die "Persönlichkeit"? (S. dazu noch einmal V 604 f u. 614 ff!)

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Nun ist nicht zu übersehen, daß Kant jedoch in der frühen Grundlegungsschrift diese hier angesprochenen Unterscheidungen (wenigstens in dieser Deutlichkeit) noch nicht vollzogen hat. So spricht Kant in dem (viele Interpretationsprobleme aufgebenden) Abschnitt betreffend die Frage, "wie reine Vernunft praktisch sein könne", bekanntlich auch davon, daß als Bedingung der Möglichkeit eines kategorischen Imperativs evidenterweise Freiheit vorausgesetzt werden müsse, was freilich "zum praktischen Gebrauche der Vernunft, d. i. zur Überzeugung von der Gültigkeit dieses Imperativs, mithin auch des sittlichen Gesetzes, hinreichend" sei. (IV 99) Diese "Beilegung" der Freiheit ist nicht bloß durch die Auflösung der dritten Antinomie (Kausalität der Freiheit und "Naturkausalität") zugestandenermaßen theoretisch möglich, "sondern auch, sie praktisch, d.i. in der Idee allen seinen willkürlichen Handlungen, als Bedingung, unterzulegen, ist einem vernünftigen Wesen, das sich seiner Kausalität durch Vernunft [!], mithin eines Willens (der von Begierden unterschieden ist) bewußt ist, ohne weitere Bedingung notwendig." Nun ist allerdings den späteren Differenzierungen Kants zufolge erst und ausschließlich die "Persönlichkeit" durch das "Faktum apriori der Vernunft" des unabweislichen Bewußtseins des Sittengesetzes ausgezeichnet: die dem entsprechende "Autonomie" ist somit natürlich "der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur" wie auch der Auszeichnung des Vernunftwesens Mensch als "Subjekt des moralischen Gesetzes", den eigentlichen "Zweck an sich selbst". Der harmlos-belanglose Umstand, daß "jeder Mensch sein Dasein notwendig in dieser Weise vorstelle", wie es noch in Kants schon angeführtem anderen einschlägigen Begründungszusammenhang geheißen hat (IV 61, vgl. dazu o. 3 ff.), reicht hiefür offensichtlich nicht aus, was Kant nun aber schon in der Grundlegungsschrift zu der der ethischen Perspektive angemesseneren, korrigierenden Forderung veranlaßte, "Moralität" als jene "Bedingung" zu reklamieren, "unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein kann." (IV 68) Dem widerspricht nun keineswegs, wenn es in der späten Tugendlehre "von den Tugendpflichten gegen andere Menschen aus der ihnen gebührenden Achtung" heißt: "Die Menschheit selbst ist eine Würde: denn der Mensch kann von keinem Menschen (weder von anderen noch sogar von sich selbst) bloß als Mittel, sondern muß jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden, und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit), dadurch er sich über alle anderen Weltwesen, die nicht Menschen sind und doch gebraucht werden können, mithin über alle Sachen erhebt." (IV 600) Kants Begründung dafür liefert gleichfalls ein Passus der Tugendlehre, der nicht nur schon Gesagtes noch einmal bestätigt, sondern auch das Problematische der ursprünglichen Argumentation Kants bezüglich des Ranges des Menschen als "Zweck an sich selbst" hervortreten läßt: "Selbst daß er [der Mensch] vor diesen [den übrigen Tieren] den Verstand voraus hat, und sich selbst Zwecke setzen kann, das gibt

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ihm doch nur einen äußeren Wert seiner Brauchbarkeit . . . , nämlich eines Menschen vor dem anderen, d. i. ein Preis, als einer Ware, in dem Verkehr mit diesen Tieren als Sachen, wo er doch noch einen niedrigeren Wert hat, als das allgemeine Tauschmittel, das Geld, dessen Wert daher ausgezeichnet. . . genannt wird. Allein der Mensch als Person betrachtet, d. i. als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben, denn als ein solcher (homo noumenon) ist er nicht bloß als Mittel zu anderen ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d. i. er besitzt eine Würde (einen absoluten inneren Wert), wodurch er allen andern vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnötigt, sich mit jedem anderen dieser Art messen und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann." (IV 568 f.)1S3 Demgemäß bleibt nun aber Kants späte Unterscheidung von Tierheit, Menschheit und Persönlichkeit154 noch insofern zu ergänzen, als ja nicht nur der Begriff "Persönlichkeit" eine Erweiterung des "Menschheits"-Begriffes (und nicht nur eine Erläuterung desselben) darstellen soll, sondern vielmehr diese "Persönlichkeit" selbst (ausgezeichnet durch die "Fähigkeit der Zurechnimg": IV 673 und die "Verpflichtimg gegen sich selbst") noch einmal abzugrenzen bleibt von jener durch den tatsächlich "guten Charakter" ausgezeichneten Persönlichkeit, deren Freiheit durch das moralische Gesetz bestimmt ist.155

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Vgl. dazu aber auch noch Kants (späte) Unterscheidung zwischen Vernunftwesen und "vernünftigem Wesen" (IV 550: nur ersteres ist seiner "Person nach, d. i. ein mit innerer Freiheit begabtes Wesen" auszuzeichnen als "ein der Verpflichtung fähiges [!] Wesen und zwar gegen sich selbst (die Menschheit in seiner Person)". — Auch in der Kritik der praktischen Vernunft ist des Menschen Existenz als "Zweck an sich selbst" in der "Persönlichkeit" begründet, als welcher er als "Subjekt des moralischen Gesetzes" anzusehen ist, eben "vermöge der Autonomie seiner Freiheit", das sich erst so in den Stand der "moralischen Persönlichkeit" versetzt. Allein der "positive" Begriff der Freiheit als die "Spontaneität, oder das Vermögen, . . . sich selbst durch die Vernunft zu determinieren, ohne Triebfedern von der Natur zu bedürfen" (Akademie-Ausgabe 27.1.494), vermag die menschliche Würde zu begründen. J. Schwartländer bemerkt zwar die "Zweideutigkeit", die aus der bloßen Beachtung der "Zweiteilung" Tierheit/Menschheit erwächst, ohne dabei jedoch auf die Eigenständigkeit des Begriffes der "Persönlichkeit" näher einzugehen. Stünde dies doch andernfalls in unübersehbarem Widerspruch dazu, daß "eben die Schicklichkeit seiner Maximen zur allgemeinen Gesetzgebung" den Menschen als "Zweck an sich selbst auszeichnet." Es reicht zweifellos nicht aus, wenn Beck mit Bezugnahme auf Kants (zugegeben dunkle) Lehre von den "Kategorien der Freiheit" (genauer : die "Kategorien der Relation") feststellen will: "Da nur eine Person Zwecke setzt, so ist sie selbst demnach Zweck an sich oder Selbstzweck. Moralische [!] Werte sind stets Werte einer Person." (Kommentar zu Kants Kritik der praktischen Vernunft 145) Vgl. auch Becks einschlägige irreführende Argumentation S. 212.— Es ist einsichtig, daß diese angefühlten Differenzierungen ganz entscheidend als nachhaltige Spätwirkung des besonderen Einflusses Rousseaus bestimmt sind und sonach auch als Selbstkorrektur

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Diese hier wenigstens kurz angezeigten Probleme sind nicht als nebensächliche, im Grunde aber doch unfruchtbare Spitzfindigkeiten abzutun, erweisen sie sich doch ~ bis hin zu einem erst ausreichend differenzierten Verständnis des "höchsten Guts" ( s. o. 54 ff.) — für Kants Systematik als überaus folgenreich. Die dem Menschen nach Kants Urteil ursprünglich zueigene "Empfänglichkeit der bloßen Achtung für das moralische Gesetz als moralisches Gefühl" (IV 674) ist in ihrem "unerforschlichen Ursprung" als bloß "ästhetischer Vorbegriff der Empfänglichkeit des Gemüts für Pflichtbegriffe überhaupt" (IV 530)1S6 zwar Ermöglichungsgrund sowohl des Bewußtseins von der Nötigung, "die im Pflichtbegriff liegt"-- und damit wohl auch des "Interessenehmens" an dem "moralischen Gesetz"--, sie bleibt jedoch selbst von der "Autonomie" als jenem "Vermögen" noch abzuheben, "keinem Gesetze zu gehorchen, als dem, das es zugleich selbst gibt" (IV 67) - und dieses bleibt wiederum von der tatsächlichen Befolgung des moralischen Gesetzes noch zu unterscheiden. Dieses faktische "Sich-dem-Gesetz-unterstellen" ist aus den beiden genannten "Vermögen" eben noch nicht abzuleiten — dennoch scheint aber für Kant die eigentliche Würde in ihnen selbst gerade begründet zu sein.157 Wenn also, streng genommen und bei Beachtung der angeführten (terminologischen) Unterschiede, nicht schon die "Menschheit selbst" als heilig

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Kants (gegenüber seinen früheren Auffassungen vor dem "Rousseau- Erlebnis") angesehen werden dürfen. — So zeigt auch Schmucker in seiner Arbeit über "Die Ursprünge der Ethik Kants in seinen vorkritischen Schriften und Reflektionen", daß schon in den einleitenden Sätzen der frühen "Nova Dilucidatio" die Betrachtung der vernünftigen Wesen als "Zweck der Schöpfung" Thema ist, "womit ein doppeltes ausgedrückt ist: daß die geistigen Naturen der Zweck der Schöpfung sind, und ferner, daß die theoretische Erkenntnis das ist, was sie zum Zweck der Schöpfung macht." (J. Schmucker, Die Ursprünge . . . 33) Jedenfalls in dieser frühen Zeit sieht der durch Rousseau noch nicht "zurechtgebrachte" Kant "in der theoretischen Erkenntnis, in der Entfaltung des Denkvermögens, den eigentlichen Sinn und das eigentliche Ziel der geistigen Natur, durch das sie zugleich den Zweck des ganzen geschaffenen Universums darstellt." (ebd. S. 35) "Empfänglichkeit der freien Willkür für die Bewegung derselben durch praktische reine Vernunft (und ihr Gesetz)" (IV 531). Von einem "intuitionistischen" Grundzug des kategorischen Imperativs zu sprechen (T.C.Williams, The Concept . . . 135) dürfte doch mißverständlich sein. Dagegen aber steht freilich Reflexion 6856: "Die Würde der menschlichen Natur liegt bloß in der Freiheit: durch sie können wir allein irgend eines Guten würdig werden. Aber die Würde eines Menschen (Würdigkeit) beruht auf dem Gebrauch der Freiheit, da er sich alles Guten würdig macht. Er macht sich aber dessen würdig, wenn er sich, so viel in seinem Naturtalent liegt und als äußere Einstimmung anderer Freiheit erlaubt, auch teilhaftig macht." (Akademie-Ausgabe XIX 181)

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angesehen werden muß (so freilich noch in der zweiten Kritik, wo diese Unterscheidung noch fehlt: IV 210) : was denn im Menschen fordert, was gebietet — und wovor? ~ eigentlich schuldige Achtung und Anerkennung?158 Und auch die dem "sittlich Minderwertigen" (vergleichsweise mit anderen Menschen) entgegengebrachte relative Geringschätzung darf freilich auch nach Kant -- und natürlich erst recht gilt dies bei gebührender Rücksichtnahme auf seine eigenen vorgetragenen Bedenken (s. u. 358 ff.) ~ nicht einfach dessen Verachtung bedeuten: "Nichtsdestoweniger kann ich selbst dem Lasterhaften als Menschen nicht alle [!] Achtung versagen, die ihm wenigstens in der Qualität eines Menschen [genau genommen: der "Persönlichkeit"] nicht entzogen werden kann: ob er zwar durch seine Tat sich derselben unwürdig macht." (IV 601) Kant kennt demzufolge also eine "dem Menschen überhaupt schuldige Achtung", deren Verweigerung also pflichtwidrig" sei.1Ä Demgegenüber urteilt Kant noch in dem berühmten § 86 "Von der Ethikotheologie" (V 567 ff.) der dritten Kritik wesentlich rigoroser — interessant auch für die Fundierung des Ranges des "Zwecks an sich selbst"! —, wenn er den zwar durchaus kultivierten und sich dem Gemeinwesen auch nutzbar machenden Menschen, der jedoch "keinen guten Willen besitzt", nur als ein "verachtungswürdiges Objekt, wenn man ihn nach seinem Inneren betrachtet", anzusehen vermag. Kant hat bekanntlich in ähnlichem Kontext die Unterscheidung "zwischen dem Menschen selbst und seiner Menschheit" empfohlen, die gerade auch bezüglich des Gebotes der Feindesliebe und der Haltung gegenüber dem "Bösewicht" bedeutsam sei. (IV 600 f.) Wie es mit der Antwort auf die Frage im einzelnen auch stehen mag, ob Kant darin nicht doch einer schlechten Disjunktion "Einzelnes-Allgemeines" verfällt ~ jedenfalls ist es nach Kant die Liebe als "intellectuelles Wohlgefallen", die eine Antwort auf die Frage finden lassen soll: "Wie kann man aber lieben, wenn der andere nicht liebenswürdig ist?": "Hier ist diese Liebe nicht eine Neigung, sondern ein Wunsch, damit der

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Vgl. auch die Reflexionen 6669 und 6672. — Dies bleibt zu beachten bezüglich der Feststellung Kants, die "Menschheit in seiner [des Menschen] Person ist das Objekt der Achtung, die er von jedem anderen Menschen fordern kann; deren er aber auch sich nicht verlustig machen muß." (IV 569) In einem "Zusatz zur Erörterung des Strafrechts" (IV 487) fragt Kant, "ob die Strafarten dem Gesetzgeber gleichgültig sind, wenn sie nur als Mittel dazu taugen, das Verbrechen . . . zu entfernen, oder ob auch noch auf die Achtung für die Menschheit, in der Person des Missetäters (d. i. für die Gattung [!] Rücksicht genommen werden müsse." Dies gibt Cohen zu den Fragen Anlaß: "Nur für die Gattung soll in der Person des Missetäters Rücksicht genommen werden? Bleibt die Achtung nicht auch trotz allem für seine eigene Person eine unerlässliche Pflicht? Und zwar auch eine solche der Menschheit? Bedeutet die Menschheit nach dem kategorischen Imperativ nicht 'in deiner Person, wie in der Person eines j e d e n andern'? Wie kommt hier auf einmal die Gattung allein in Frage?" (Kants Begründung der Ethik . . . 425 f.)

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andere des Wohlgefallens würdig wäre. Wir sollen geneigt sein zu wünschen, den anderen der Liebe würdig zu finden . . . Man soll des anderen Glück wünschen, aber man soll auch wünschen, ihn liebenswürdig zu finden."160 Auch Funke161 nimmt Bezug auf diese Fragen: "In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten wird Achtung als grundlegendes Gefühl bezeichnet, in der Metaphysik der Sitten aber stellt sie ein Gefühl dar, welches die Ausübung ζ. B. der beiden 'Liebespflichten gegen andere Menschen' auftretenden Pflichten nur begleitet. Der Andere wird, sofern er nur selbst 'aus Pflicht und aus Achtung fürs Gesetz' handelt, eben deshalb geachtet werden können: das heißt, es kann somit 'Achtung nie einen anderen als einen moralischen Grund' haben. Die in der Metaphysik der Sitten breit abgehandelte Achtung, die die 'Pflicht des Menschen gegen sich selbst bloß als Menschen' usw. begründet, ergibt sich einfach und konsequenterweise aus der 'Rücksicht, die der Mensch in seinen Beurteilungen aufs moralische Gesetz nimmt.' Ohne solche Rückbeziehung besitzt die Achtung keine Berechtigung, aber auch keine causa essendi." Nun ist hier jedoch an den für Kant ganz selbstverständlichen Sachverhalt zu erinnern, daß nämlich die den moralischen Wert des Handelns schlechterdings entscheidende "Gesinnung" überhaupt nicht in Beobachtung "abzulesen" ist ~ eine nicht geringe Verlegenheit wohl aber dann, wenn der Andere doch nur im Falle seines Handelns "aus Pflicht und Achtung fürs Gesetz" im strengen Sinn geachtet werden kann? Niemand wäre so je "zweifelsfrei" achtungswürdig: den anderen Menschen sonach gewissermaßen "hypothetisch" zu achten bedeutete natürlich (weil unmöglich), ihm überhaupt jede Achtung zu versagen, ganz abgesehen einmal von der augenfälligen Unmöglichkeit, hiebei "verifizierend" oder "falsifizierend" je sicheren Boden zu erreichen, so daß permanentes Mißtrauen (eben der "Verdacht") die im Grunde einzig mögliche Haltung bliebe. Diese Probleme stehen nun zweifellos auch im Hintergrund der Ausführungen der Grundlegungsschrift, ihre Beantwortung durch Kant freilich vermag jedoch nicht wirklich zu befriedigen. Aufs Ganze gesehen erweckt Kants einschlägige Argumentation einen offenbar widersprüchlichen Eindruck: zum einen sei "Würde" doch nur demjenigen zuzuerkennen, "was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann" (IV 68) dies ist nach Kant eben die Moralität; zum anderen bleibt Kants Antwort auf die Frage nach dem Grund der Würde zu beachten, die offensichtlich als bloße Konsequenz aus dem letztangeführten Zitat resultieren soll: "Also [!] ist die

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P. Menzer, Eine Vorlesung Kants . . . 252. Es ist doch eine ganz unverkennbar religiös bestimmte Perspektive, die hier in Kants Gedankenführung leitend ist und ihn in etwa sagen läßt: anerkenne den anderen Menschen in seiner geschöpflich-kontingenten Wirklichkeit gleichsam im Lichte der Augen und der Absichten seines Schöpfers. G. Funke, Achtung fürs moralische Gesetz . . . 59.

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Sittlichkeit und die Menschheit, sofern sie derselben fähig [!] ist, dasjenige, was allein Würde hat."162 Die bloße Befähigung zur Autonomie vermag für sich genommen eben noch nicht die Würde zu begründen, soll es doch erst die in der Ausführung des durch das Sittengesetz Gebotenen wirkliche "Moralität" sein, "was den Menschen erst zum Menschen macht, also Menschheit begründet." Es ist folglich keineswegs so selbstverständlich und eindeutig, wenn Kant feststellt: "Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur." (IV 69)163 Die bloße Handlungsfreiheit ist Voraussetzung der "moralischen Freiheit" und der in ihr erst zu begründenden Würde. Ohne Zweifel ist es auch bezüglich dieser Frage von Interesse zu sehen, daß sich zufolge der Grundlegungsschrift diese Achtung als "Achtung vor dem Gesetz" erweist und diese sich — folgenreich natürlich für den maß-gebenden Autonomiebegriff ~ als "Achtung vor sich selbst als demjenigen Selbst" entpuppt, "das nicht durch Eigendünkel und Eigenliebe bestimmt wird."164 Noch Kants Notiz: "Der moralische Zwang ist also der höchste Grad der Freiheit"165 ist in dieser Hinsicht bezeichnend und dient als Beleg für die diesbezügliche Engführung Kants, zielt dies doch auf gar nichts anderes als auf die Bestimmung der Tugend als "Stärke in der Selbstbeherrschung und Selbstüberwindung in Ansehung der moralischen Gesinnung."166 Evidenterweise ist

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Nagl bemerkt dazu: "Die Potenzierung des hypothetischen Kalküls, des äquivalenzfähigen 'Preises', zum dimensionierungsbedürftigen Moment am menschlichen Verkehr (d. h. also gerade nicht zu seiner universellen Bestimmungsform) wird erst am Individualitätsbegriff der 'Würde' möglich, nicht sogleich im Begriff der Kommunikation, der die Übertölpelung von Alter durch die Lüge und die Hinterhältigkeit von Ego ebenso enthält, wie die anerkennende Wahrhaftigkeit." (Gesellschaft und Autonomie . . . 287) Wildt bemerkt ebenfalls die mit diesem Autonomiebegriff (als Grund der Würde) verbundenen Probleme, auch wenn er die hier diskutierten Fragen nicht eigens aufnimmt. (Autonomie und Anerkennung 177 f.) G. Krainer, Beitrag zur Analyse . . . 51 f. Kant, Akademie-Ausgabe 27.1,132. Kant, Akademie- Ausgabe 27.1, 300. - Es liegt durchaus auf dieser Linie auch Kants Feststellung, "Autokratie" sei das "principium der Pflichten gegen uns selbst und eben dadurch aller übrigen Pflichten." (Akademie-Ausgabe 27.1, 364) Vgl. dazu auch noch Kants Charakterisierung der "inneren Freiheit" (IV 539; 513). Mit Recht merkt Elsigan an: "Verdienstliche Größe der tugendhaften Haltung 'im Kampfe' fällt auch für Kant nicht schlechthin zusammen mit dem Inbegriff menschlicher Autonomie, was ja schon das (unerreichbare, aber in Annäherung angestrebte) Ideal des heiligen Willens nahelegt." (A. Elsigan, Das Rigorismusproblem . . . 224) — Nun nennt Kant jedoch in seinen interessanten früheren Vorarbeiten zur Tugendlehre (Akademie-Ausgabe XXIII411) die "Autokratie der Gesetze" selbst schon die "größte eigene Vollkommenheit" und meint damit doch nichts anderes als die als "moralische Stärke" verstandene Tugend. In der Tugend allein besitze der Mensch ganz sich selbst, sei darin "frei, gesund, reich" (IV 537), ist doch nur ihr die "Liberalität der Denkart" zueigen, das "Prinzip der Unabhängigkeit

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es der bloße Begriff der "Autarkie" und der "Autokratie"167 bzw. die diesen entsprechende (und für sich noch ungenügende) Konzeption der Freiheit, die Kant dieser Gedankenführung zugrunde legt. Die "Achtung" in diesem Sinne und das ihr gemäße Verständnis von "Autonomie" besagte in diesem Falle gar nichts anderes als den Verlust des persönlichen Werts im Falle bloßer Fremdbestimmung. (IV 200) Lediglich den "Neigungen Abbruch gebietend" erschöpfte sich Achtung in dieser negativen Funktion, und dennoch soll darin, als "Erhebung der Subjektivität im Bewußtsein ihrer Unabhängigkeit von Neigungen", eine "positive Beziehung zur Vernunft"168 sich Ausdruck verschaffen! Dann liegt freilich die Frage nahe, wie die bloße "Einschränkung der Sinnlichkeit" zugleich schon als "Erweiterung der Vernunft" zu verstehen sein soll?169 Auch wenn manche Formulierungen Kants ein solches Verständnis vielleicht nahezulegen scheinen, so ist Kants eigene Ansicht doch zweifellos dies, daß die bloße Distanzierung von Eigendünkel und Eigenliebe im Sinne von

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von allem anderen, außer von dem Gesetz". (IV 568) Vgl. auch P.Menzer, Eine Vorlesung Kants . . . 308. — Kritisch zu Kants Autonomie-Konzeption äußert sich auch Ross (Kants Ethical Theory). Vgl.P. Menzer, Eine Vorlesung Kants . . . 176 ff: "Die Gewalt, die die Seele über alle Vermögen und den ganzen Zustand hat, denselben unter ihre freie Willkür, ohne daß sie dazu genötigt ist, sich zu unterwerfen, ist eine Autokratie." Das "Selbstbewußtsein" der Autarkie und Autokratie ist jenes, das in der Abwehr vernunftfremder Bestimmungsgründe seine "Gewißheit seiner selbst" (besser: sein "Selbstgefühl") erlangt und behält. — Wie sehr dieser Begriff der Freiheit bei Kant tatsächlich weithin bestimmend ist, dies verrät auch ein Passus aus dem "Bruchstück eines moralischen Katechismus" aus der späten Tugendlehre: ".. . und daß du durch deine Vernunft deine Neigung einschränken und überwältigen kannst, das ist die Freiheit deines Willens." (IV 621) D. Henrich, Das Problem der Grundlegung . . . 373. Auch Fichtes Gedankenführung an zentraler Stelle bliebe daraufhin zu prüfen, ob nicht auch in ihr "Autarkie" lediglich "im Dienste der Demonstration eigener Vollkommenheit, nicht als Verbindlichkeit, sondern als Würde" (G. Krainer) steht, so wenn es etwa heißt: "Es ist der zwar zu keiner Zeit zu erreichende, jedoch unaufhörlich zu befördernde Zweck unseres ganzen Daseins und alles Handelns, daß das Vernunftwesen absolut und ganz frei, selbständig und unabhängig werde von allem, das nicht selbst Vernunft ist. Die Vernunft soll ihr selbst genügen. Diese unsere Bestimmung kündigt sich uns eben an durch jenes Sehnen, das durch kein endliches Gut zu befriedigen ist. Diesen Zweck sollen wir schlechthin, wenn wir uns selbst [!] treu bleiben wollen, uns setzen." Problematisch wird dies nicht zuletzt offenkundig in Anbetracht des Verbindlichkeitsstatus der Tugendpflicht, wenn es im weiteren heißt: "die besondere, durch Zeit und Lage bestimmte Pflicht, ohnerachtet sie im gemeinen Bewußtsein als etwas Unmittelbares erscheint, wollen wir doch nur, wie sich bei einer gründlichen philosophischen Untersuchung des gesamten Bewußtseins ergibt, als Teil und als Mittel jenes [oben genannten, auf bloße Autokratie und die ihr gemäße "Würde" hinauslaufenden] Endzweckes." (Fichte, Akademie-Ausgabe 1,5.426)

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Autokratie und Autarkie keinesfalls dazu ausreicht, um den Menschen als "Subjekt des moralischen Gesetzes" und als "Zweck an sich selbst" auszuzeichnen. Kant selbst hat die Möglichkeit eines solchen Mißverständnisses recht deutlich gesehen, wie auch die von ihm aufgeworfene "kasuistische Frage" verrät (IV 571): "Ist nicht in dem Menschen das Gefühl der Erhabenheit seiner Bestimmung, d. i. die Gemütserhebung (elatis animi) als Schätzung seiner selbst, mit dem Eigendünkel (arrogantia), welcher der wahren Demut . . . gerade entgegengesetzt ist, zu nahe verwandt, als daß zu jener aufzumuntern es ratsam wäre: selbst in Vergleichung mit anderen Menschen, nicht bloß mit dem Gesetz? Oder würde diese Art von Selbstverleugnung nicht vielmehr den Anspruch anderer bis zur Geringschätzung unserer Person steigern, und so der Pflicht (der Achtung) gegen uns selbst zuwider sein?" Wenn Autonomie sich nicht in der bloß negativen Distanzierung aller materialen Bestimmungsgründe erschöpft und ihr Moment der Unbedingtheit der Form selbst nur in der Freiheit (als der in allem Handeln notwendigen "Materie") Genüge finden kann, dann bedeutet dies erst das "In-Erscheinung-treten" der Autonomie als positive Freiheit (und zwar) im Sinne der "Selbstgesetzgebung", indem dieses "Unbedingte der Form" als Moment der Freiheit selbst nur in der Freiheit je Anderer ihren notwendigen und adäquaten Inhalt zu finden vermag.170 Diese "Unbedingtheit der Form" hat als Moment der Selbstbezüglichkeit dieser Freiheit für sich genommen lediglich die bloße Distanzierung aller materialen Bestimmungsgründe zu ihrem Inhalt ~ und sonst nichts: sie lebt lediglich als "Negation" der andernfalls resultierenden Unfreiheit, ohne damit freilich selbst schon einen anderen adäquaten (d. i. positiven) Inhalt, der freilich selbst nichts anderes als Freiheit sein kann, gefunden zu haben. Dies leistet so erst die Selbstbestimmung der Freiheit, die sich aus Freiheit auf Freiheit bezieht, d. i. diese zu ihrem Inhalt hat, mit Kants Worten: die "freie Aufnahme des Willens eines anderen unter seine Maximen." In einem Zusatz zu § 7 seiner Rechtsphilosophie171 formuliert Hegel wünschenswert klar einen Gedanken, der sich wenigstens in einer ganz prinzipiellen Hinsicht als durchaus kantisch erweist: "Ich ist zuvörderst als

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Auf in diese Richtung weisende Überlegungen von H. Krings kann hier nicht näher eingegangen werden. Vermutlich weisen — in einer auch für die Fichte-Interpretation erhellenden Weise - auch die folgenden Sätze eben da hin: "Im Akt der transzendentalen Freiheit ist mit dem Sich-öffnen für andere Freiheit nicht nur die eigene Freiheit gesetzt, sondern auch die andere Freiheit bejaht. Dadurch wird bestätigt, daß Freiheit als Selbstbestimmung der Grund für Sittlichkeit ist und dies nicht nur im Sinne der Kantischen Vernunftautonomie: daß der Wille rein durch Vernunft bestimmt sein soll, hat inhaltliche Implikate, vor allem eben dieses, daß Freiheit darin sich begründet, daß sie andere Freiheit bejaht." (System und Freiheit 126) Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts § 7.

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solche reine Tätigkeit, das Allgemeine, das bei sich ist, aber dieses Allgemeine bestimmt sich, und insofern ist es nicht mehr bei sich, sondern setzt sich als ein Anderes und hört auf, das Allgemeine zu sein. Das Dritte ist nun, daß es in seiner Beschränkung, in diesem Anderen bei sich selbst sei, daß, indem es sich bestimmt, es dennoch bei sich bleibe und nicht aufhöre, das Allgemeine festzuhalten: dieses ist dann der konkrete Begriff der Freiheit, während die beiden vorigen Momente durchaus abstrakt und einseitig befunden worden sind. Diese Freiheit haben wir aber schon in der Form der Empfindungen, z. B. in der Freundschaft und Liebe. Hier ist man nicht einseitig in sich, sondern man beschränkt sich gern in Beziehung auf ein Anderes, weiß sich aber in dieser Beschränkung als sich selbst. In der Bestimmtheit soll sich der Mensch nicht bestimmt fühlen, sondern indem man das Andere als Anderes betrachtet, hat man darin erst sein Selbstgefühl." Nun ist aber, wie sich zeigen wird, von Kant nicht nur alle bloße "Form der Empfindung" überschritten und auch Freundschaft und Liebe auf einen beständigeren Boden gestellt (IV 608 ff.), sondern noch mehr: "den anderen Menschen sich zum Zwecke zu machen" ("Heil und Wohl des Anderen sich zum Zwecke zu machen") — so wird sich zeigen ~ weiß sich in solcher "Beschränkung" nicht bloß bei sich selbst, sondern tatsächlich beim Anderen.172 Erst mit dem solcherart präzisierten Begriff der "Autonomie des vernünftigen Wesens", so soll sich noch genauerhin erweisen, ist auch ein umfassender Begriff der "Persönlichkeit" in Sicht zu bringen, "dadurch allein sie [die Menschen in einem umfassenden Sinne] Zwecke an sich selbst sind." (IV 210) Wiederholt hat Kant auch recht deutlich das Bemühen der Autarkie lediglich als eine "Veranlassung" dafür bezeichnet, "der über die Tierheit erhabenen Anlage der Talente in uns inne zu werden" (IV 298), was nun allerdings keineswegs schon mit dem "Interesse an den Handlungen und ihrer Moralität selbst" gleichzusetzen ist. Die bloße "Souveränität der über die Tierheit erhabenen Anlage" bleibt demnach zwar zu würdigen als ein "gewisser Heroismus des über die tierische Natur des Menschen sich erhebenden Weisen" (IV 258) und ermöglicht so auch ein "Erhabenheitserleben", das den Menschen dem stoischen Ideal der Autarkie nahekommen läßt, ohne daß dies jedoch mit einem unverkürzten Begriff der Autonomie zu identifizieren wäre. Es ist bekanntlich das "Erhabene", das nach Kant dazu nötigt, etwas "wider unser (sinnliches) Interesse hochzuschätzen"; insbesondere ist es eben das Sittengesetz, "welches selbst ein Gefühl des Erhabenen erweckt" (V 357), denn

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Interessant ist — und zwar sowohl mit Blick auf Kant wie auch auf Hegel — eine Anmerkung Fichtes aus seinem "Naturrecht": "Das Sittengesetz fordert, daß man sich in andern vergesse; die Liebe gibt sich selbst hin für den andern." (Akademie-Ausgabe I, 4.100) Allerdings bleibt darauf zu achten, daß diese Bemerkung im Kontext der Fichteschen "Deduktion der Ehe" steht.

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"Bezwingung seiner Leidenschaften durch Grundsätze ist erhaben": in "moralischen Eigenschaften ist wahre Tugend allein erhaben."173 Kant zufolge ist es nun freilich so, daß das "Wohlgefallen am Erhabenen nicht sowohl positive Lust, als vielmehr Bewunderung und Achtung enthält, d. i. negative Lust genannt zu werden verdient", denn: "Erhabenes nennen wir das, was schlechthin groß ist", "was über alle Vergleichungen groß ist", mit dem verglichen also somit alles klein ist. (V 333) Erhaben zu sein über jedwede "Naturbestimmtheiten" ist bloße Voraussetzung für die Autonomie, nicht aber schon diese selbst. "Freiheit im negativen Verstände" ist Ermöglichungsgrund der Erhabenheit, erst "Freiheit im positiven Verstände" begründet menschliche Würde, und darin wird für uns das "Erhabene unserer eigenen Bestimmung" doch offenbar, zumal auch nach Kant allein so die Wirklichkeit dieses "übersinnlichen Vermögens in uns" (V 80; 86 f; 160; 209 ff; 246; 250; 257) sich zur Erscheinung bringt, denn: "Die Freiheit der Willkür ist jene Unabhängigkeit ihrer Bestimmung durch sinnliche Antriebe: dies ist [nur] der negative Begriff derselben. Der positive ist: das Vermögen der reinen Vernunft für sich selbst praktisch zu sein." (VI 213 f.)174 Und allein diese "positive Freiheit" führt somit auf den umfassenden Begriff der Autonomie und macht es auch erst sinnvoll, von "Gesetzen der Freiheit" zu sprechen. So ist es wohl zu verstehen, wenn Kant auch den Begriff der "Persönlichkeit" in einem zweifachen Sinne bestimmt und dabei die Unterscheidung von Autokratie und Autonomie wie ganz selbstverständlich unterlegt: das "Vermögen eines Wesens . . ., welches eigentümlichen, nämlich von seiner eigenen Vernunft gegebenen, reinen praktischen Gesetzen" unterworfen ist (IV 210), setzt die "Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanismus der ganzen Natur" notwendig voraus.175 Jedenfalls stimmt dazu auch Kants frühe Fest-

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R. Eisler, Kant-Lexikon 133; vgl. auch IV 209 ff. Vgl. Reflexion 6076 (Akademie-Ausgabe XVIII443): "Der negative Begriff der Freiheit ist Independent der positive Begriff: Autonomie durch Vernunft". Und Reflexion 6077: "Praktische Freiheit ist das Vermögen, aus bloßer Vernunft zu handeln." Schon in Reflexion 6000 (Akademie-Ausgabe XVIII420) hatte es geheißen: "Praktische Freiheit ist das Bewußtsein der absoluten Selbsttätigkeit." Es entspricht vermutlich dieser Unterscheidung Kants, wenn Cohen Freiheit und Autonomie unterschieden wissen will: "Bei der Freiheit handelt es sich um den Ursprung der Handlung; dieser soll einen absoluten Anfang der Handlung bedeuten, der jede andere Art von Ursache ausschließt. Ein solcher absoluter Anfang der Handlung kann nur gedacht werden im Zusammenhang mit dem absoluten Ich der handelnden Person . . . Bei der Autonomie dagegen handelt es sich um den Ursprung des Gesetzes. Das Gesetz erst macht die Handlung zur Handlung; nicht die Person, nicht das Ich. Damit ist auch das Interesse am Problem geändert. Es hängt nicht mehr an dem undurchdringlichen Dunkel eines freien Anfangs der Handlung, sondern es wird gerichtet auf . . . die Frage des Gesetzes. Und wenn die Möglichkeit der Ethik, wie Kant dies vornehmlich feststellt, auf der Möglichkeit des Sittengesetzes beruht, so wird dies von

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Stellung: "In der Unabhängigkeit nämlich von aller Materie des Gesetzes (nämlich einem begehrten Objekte) und zugleich doch Bestimmung der Willkür durch die bloße allgemeine gesetzgebende Form, deren eine Maxime fähig sein muß, besteht das alleinige Prinzip der Sittlichkeit. Jene Unabhängigkeit aber ist Freiheit im negativen, diese eigene Gesetzgebung aber der reinen, und, als solche, praktischen Vernunft ist Freiheit im positiven Verstände. Also drückt das moralische Gesetz nichts anders aus, als die Autonomie der reinen praktischen Vernunft, d. i. der Freiheit, und diese ist selbst die formale Bedingung aller Maximen, unter der sie allein mit dem obersten praktischen Gesetze zusammenstimmen können." (IV 144) Selbstverständlich darf diese angeführte "Bestimmung der Willkür durch die bloße allgemeine gesetzgebende Form" nicht mit der "bloßen Gemeingültigkeit" (im Unterschied zur "Allgemeinheit des Prinzips") verwechselt werden. All dies bleibt zu beachten176, wenn man beispielsweise Wildts kritische Anmerkung zu Kants Begriff der Achtung in ihrer doch nur partiellen Berech-

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jetzt ab zur Frage: welche Bedeutung die Freiheit annimmt aus dem nunmehr gewonnenen Zentrum des Gesetzes. So entsteht aus dem Begriffe der allgemeinen Gesetzgebung die Selbstgesetzgebung, die Autonomie." (Ethik des reinen Willens 321) — Es fügt sich dem hier versuchten Interpretationsvorschlag, wenn Cohen als Ausdruck des "Fortschrittes" von der Selbstgesetzgebung zur "Selbstbestimmung" anmerkt, "daß es sich bei der Autonomie nicht um ein schon vorhandenes, sondern schlechterdings nur um ein erst zu erzeugendes Selbst handelt" (ebd. 349), weil erst in dieser Bestimmung das Selbst seine "Realisierung" erlangt. Cohen meint allerdings gegen Kant einwenden zu müssen, ihm sei "die Autonomie im Grunde doch nur die Freiheit der Vernunft gegenüber der Sinnlichkeit. In der Vernunft liegt das Selbst." Aber genau diese Verwechslung dürfte Metzgers Sichtweise begründen, die ihm in der Folge auch den kantischen Autonomie- und Moralitätsbegriff damit doch lediglich reduktionistisch zu bestimmen erlaubt: "Nur gegebene Willensrichtungen . . . in die richtige Form und Verfassung zu bringen, in das Verhältnis 'allseitiger Einstimmung', 'systematischer Einheit' zu setzen, kann Aufgabe der Imperativischen Ethik sein. Für die hier behauptete Tatsache aber, daß die Negation positiv bestimmender Willensziele, die Statuierung eines bloßen Willensverhältnisses — und zwar eines eminent rationalen, systematischen Verhältnisses . . . für Kants Begriff der (ethischen) 'Form' den wesentlichen Inhalt bildete, spricht vor allem die noch kaum genügend beobachtete Erscheinung, daß Kant in den Schriften der neunziger Jahre diesen Begriff 'Form' in strengste Beziehung zum 'Rechte' setzte." (W. Metzger, Gesellschaft, Recht und Staat. . . S3.) Metzgers Ansicht entspricht freilich recht genau dem auch von Henrich mit guten Gründen beklagten Mißverständnis, "daß man den kategorischen Imperativ bisher stets für ein Auswahlprinzip unter schon gegebenen Maximen gehalten hat. Wäre er dies, so würde er von zwei Maximen des empirisch bedingten Willens eine verwerfen und eine andere legitimieren. Im gegebenen Fall wäre dann die berechnende Maxime legitim, die sich die Hilfe im Notfall durch hilfreiche Rücksicht auf andere erkauft. Sie hält aber ebensowenig der Probe der Verallgemeinerung stand wie die andere. Denn ich kann nicht wollen, daß mir andere in der Not nur dann helfen, wenn ihr eigenes Interesse ihnen dies gebietet." (D. Henrich, Die Grundlegung . . . 362)

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tigung einigermaßen sachgerecht beurteilen will: "Einen eigentümlich autoritären, also heteronomen Charakter zeigt Kants Achtungslehre auch da, wo Kant die Achtung nicht auf die Macht des Gesetzes über die Sinnlichkeit bezieht. Achtung empfinden wir nicht nur gegenüber dem Gesetz selbst, also richtig verstanden gegenüber dem legitimen Willen anderer, sondern insbesondere gegenüber einem anderen Willen, der aus Achtung vor dem Gesetz will, d. h. gegenüber einem Handeln aus moralischer Motivation. Dabei kann man mit Kant zwar sagen: 'Alle Achtung für eine Person ist eigentlich nur Achtung fürs Gesetz (der Rechtschaffenheit etc.), wovon jene uns das Beispiel gibt' (IV 28 Anm.). Denn wir achten andere Personen als moralische Subjekte wegen deren Achtung fürs Gesetz. Kant sagt jedoch darüber hinaus: 'Eigentlich ist Achtung die Vorstellung von einem Werte, die [im Kant-Text heißt es allerdings: d e r ! ] meiner Selbstliebe Abbruch tut'(IV 28). Achtung sei insofern Hochachtung (IV 198, 201, 206), Bewunderung (IV 300) und Ehrfurcht (IV 300, 534, 669/70 Anm.) Die Achtung vor der Moralität anderer ist jedoch keineswegs notwendig mit dem Gefühl des eigenen Unwerts verbunden. 'Achtung* ist mit dem Bewußtsein von Gleichheit sehr wohl vereinbar, wenn nicht sogar notwendig verknüpft."177 Wildts kritische Bedenken, die sich auf die bei Kant selbst nicht zureichend unterschiedenen Bedeutungsnuancen des Begriffes "Autonomie" beziehen, sind nicht einfach von der Hand zu weisen. So sieht Wildt diesen Begriff bei Kant auch dadurch belastet, daß dieser "Autonomie nicht nur auf moralische Willensbestimmung einschränkt, sondern diese in einen prinzipiellen Gegensatz zu vormoralischer Motivation bringt", Autonomie also "auf den Bereich der moralischen Gesetzgebung und Willensbestimmung eingeschränkt" habe.178

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A. Wildt, Autonomie und Anerkennung 94 Anm. 136.— Wildt bezieht sich an späterer Stelle (S. 158) auch auf Schillers Unterscheidung zwischen "Achtung" und "Hochachtung", die auch den zuvor angesprochenen Fragen gerecht werden soll: "Man darf die Achtung nicht mit der Hochachtung verwechseln. Achtung (nach ihrem reinen Begriff) geht nur auf das Verhältnis der sinnlichen Natur zu den Forderungen reiner praktischer Vernunft überhaupt, ohne Rücksicht auf eine wirkliche Erfüllung [ . . .] Hochachtung hingegen geht schon auf die wirkliche Erfüllung des Gesetzes und wird nicht für das Gesetz, sondern für die Person, die demselben gemäß handelt, empfunden. Daher hat sie etwas Ergötzendes weil die Erfüllung des Gesetzes Vernunftwesen erfreuen muB. Achtung ist Zwang, Hochachtung schon ein freieres Gefühl. Aber das rührt von der Liebe her, die ein Ingredienz der Hochachtung ausmacht. Achten muß der Nichtswürdige das Gute, aber um denjenigen hochzuachten, der es getan hat, müßte er aufhören, ein Nichtswürdiger zu sein." A. Wildt, Autonomie und Anerkennung 173. — In prinzipiell ähnlichem Sinne versteht sich wohl auch die Stellungnahme von Prauss zu der dogmatischen Engführung, die in der Alternative "pathologische" oder "praktische" Liebe zum Ausdruck komme: "In einem damit . . . wird auch deutlich, wo der außerordentliche Nachdruck dieser Dogmatik bei Kant nun eigentlich herstammt: was ihn hier in dieser Gestalt dieser 'Liebe' irritiert, ist

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Ein weiteres noch ist bezüglich des kantischen Begriffes von "Autonomie" gewiß von einigem Interesse: gelegentlich nennt Kant ausdrücklich die "Autonomie des Willens" das "oberste Prinzip der Sittlichkeit" und bestimmt dieses so: "nicht anders zu wählen als so, daß die Maximen seiner Wahl in demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz mit begriffen seien." (IV 74 f.) Demnach wäre dieses Prinzip der Autonomie eben gar nichts anderes als jenes fundamentale Prinzip des "guten Willens", was sich sodann auch für den Sinn der vielumrätselten Formel des kategorischen Imperativs als ganz entscheidend erweist: "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch [!] die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde." (IV 51) Den sorgfältigen Analysen von Ebbinghaus ist es zu verdanken, daß auf diese tatsächlich dunkle Formel erhellendes Licht fällt, verbieten doch Ebbinghaus' Überlegungen nicht nur die weithin zu beobachtende Umgehung (Nichtbeachtung) dieser Formel, sondern geht es doch überhaupt erst um die Freilegung dessen, "wodurch die Formel erst ihre größte Präzision erhält. Du mußt den Gesetzescharakter 'durch' die Maxime wollen können — d. h. der Grund der Möglichkeit, die Maxime als Gesetz zu wollen, muß in der Maxime selbst und nicht in irgendwelchen durch die Maxime gar nicht bestimmten äußeren Umständen, in denen der Wollende sich befinden mag, liegen."179 Daß diese Formel des kategorischen Imperativs jedoch auch in der gegenwärtigen Kantliteratur vergleichsweise recht selten gebührend beachtet wird, ist freilich nicht so ganz zufällig: wird durch sie doch ein für allemal klargestellt, daß Gehalt und Anspruch des kategorischen Imperativs als Moralprinzip sich nicht in dem "Universalisierungstest" von Maximen (in dem heute üblichen Wortsinn) und auch nicht in einem bloßen "Kriterium des Sittlichen" im gängigen Sinne eines "Tests unserer sittlichen Pflichten"180 erschöpft. Sie macht deutlich, daß jede Reduktion des kategorischen Imperativs als Moralprinzip auf ein ledigliches "Dijudikationsprinzip", d. h. aber: auf ein bloßes "Auswahlprinzip vorgegebener Maximen", das in ihr angesprochene "Prinzip des Sittlichen" geradewegs verkennen muß. Wesentlich ist vielmehr die darin ausgesprochene "Autonomie des Willens" als "oberstes Prinzip der Sittlichkeit" : "Das Prinzip der Autonomie ist also: nicht anders zu wählen als so, daß die Maximen seiner Wahl in demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz mit begriffen seien"; dieses "Prinzip der Autonomie" muß als das "alleinige Prinzip der Moral" gelten. (IV 74 f.) Freilich: dieses Moment der "Gesetzmäßigkeit" der "Form" der Maxime ist für sich genommen, wie noch zu zeigen

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abermals nichts anderes als jene moralneutrale Freiheit von moralneutraler Autonomie, die er nur deshalb so dogmatisch abwehrt, weil er sie in seiner Konzeption aus prinzipiellen Gründen nicht unterzubringen vermag." (Kant über Freiheit. . . 252) J. Ebbinghaus, Deutung und MiBdeutung . . . 291. So der Titel eines bekannten Aufsatzes von N. Hoerster.

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sein wird (s. u. 157 ff.), schon deshalb evidenterweise unzureichend, weil damit (a) das spezifisch Sittliche noch gar nicht berührt wäre, zumal doch solches "Kriterium" bloß auf den Aufweis logischer Konsistenz (Inkonsistenz) des "Nicht-als-allgemeines-Gesetz-denken-könnens" hinausliefe; jedoch wäre (b) auch übersehen, daß diese Gesetzmäßigkeit der Form der Maxime, die Frage nach der Möglichkeit der "Allgemeinheit der Maxime als Gesetzes", schon deshalb nicht isoliert zu entscheiden ist, weil doch jede Maxime auf Zwecke zielt, ohne deren Berücksichtigung diese Frage wohl auch nicht zu entscheiden ist; und auch (c) die Unbedingtheit der Gesetzmäßigkeit der Form deshalb ohne das korrelative materiale Moment (die "Materie", den "Zweck") nicht zu denken ist. Damit kommt in der Folge schon an dieser Stelle über jede bloß "einschränkende Bedingung aller bloß relativen und willkürlichen Zwecke" hinaus auch die notwendige Einheit des Momentes der "Form" und des "Inhaltes" wenigstens als Problem zu Bewußtsein, in dem es sodann freilich um anderes und um mehr zu tun sein muß als um die bloß negativ-ausgrenzende Forderung, "daß alle Maximen aus eigener Gesetzgebung zu einem möglichen Reiche der Zwecke, als einem Reiche der Natur, zusammenstimmen sollen." (IV 70) Davon soll in einem eigenen Kapitel noch die Rede sein. (s. u. 157 ff.)

3.1. Beispiele für reduktionistische Bestimmungen des kantischen Autonomiebegriffes (auch) in der jüngeren Kantliteratur. Im folgenden seien im Anschluß an voranstehende Ausführungen in primärer Bezugnahme auf Stellungnahmen der neueren Kantliteratur einige repräsentative Beispiele für verkürzende Fehldeutungen des kantischen AutonomieBegriffs vorgestellt, die jedenfalls schon angeführten Motiven nicht wirklich gerecht zu werden vermögen. 1. So ist beispielsweise auch die Charakterisierung des kantischen Autonomie-Prinzips durch W. Marx wenigstens unvollständig: "Autonom sein heißt, sich von jeder Determination durch die in der Sinnlichkeit wurzelnden zufälligen, wechselnden Begehrungen lösen zu können zugunsten der Vernunft, die für alle gleich akzeptabel ist. Im Kantischen Autonomiebegriff sind also die Freiheit von unkontrollierter Fremdbestimmung und die Einsicht in die allgemeinen logischen Bedingungen von Freiheit streng verbunden: sich unter die Gesetze der Vernunft stellen, ihren Zwang walten lassen, das bedeutet die Ausschaltung aller subjektiv-sinnlichen Handlungsmotivationen, es bedeutet aber auch, daß das Subjekt, weil es sein Vernunftpotential in die Beziehimg auf das vernünftige Gesetz ganz einbringen kann, darin und dadurch bei sich selbst bleibt. Der Begriff der moralischen Person, der diesem Autonomiebegriff implizit ist, ist zweifellos ausschließlich mit Beziehung auf die intellek-

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tuellen Fähigkeiten des Menschen konzipiert worden."181 Nicht zu übersehen ist dabei aber doch dies, daß bei Kant allerdings auch die durch reine praktische Prinzipien apriori bestimmte Vernunft deren "Zweck" formuliert — und dies schon deshalb, weil der Wille eben doch mittels des Verstandes als dem "Vermögen der Zwecke" notwendig auf diese bezogen ist, d. h. der Zweck "zum objektiven Grunde seiner Selbstbestimmung" dient und "dieser, wenn er durch bloße Vernunft [!] gegeben wird, muß für alle vernünftigen Wesen gleich gelten." Nur so ist er "objektiver Zweck (d. i. derjenige, den wir haben sollen)", weil er "uns von der bloßen Vernunft als ein solcher aufgegeben wird." (IV 653 Anm.) 2. Auch Krüger scheint Kants Autonomieverständnis auf den Gehalt bloßer Autokratie und Autarkie zu reduzieren: "Bei Kant drückt der Begriff der Autonomie nichts [!] als die unbedingte Vorbehaltlosigkeit der Unterwerfung aus. Das 'Selbst' im Begriff der Selbstgesetzgebung meint nicht die unbedingte, nur sich selbst gehorchende 'schöpferische' Freiheit, die sich selbst nach einem Gesetze treu sein will, sondern die unbedingte Verantwortlichkeit gegen das Gesetz, der sich gerade die Freiheit selbst nicht entziehen darf. . . Die Würde der Menschheit findet Kant nicht in ihrer spontanen Selbständigkeit, sondern in ihrer moralischen Dienstbarkeit."182 Diese Sicht Krügers widerspricht nun nicht bloß der kantischen Auszeichnung des Begriffes der "positiven praktischen Freiheit", sondern dürfte auch nicht so ohne weiteres damit vereinbar sein, daß nach Kants These doch unser "eigener Wille, so fern er, nur unter der Bedingung einer durch seine Maximen möglichen allgemeinen Gesetzgebung, handeln würde, dieser uns mögliche Wille in der Idee, . . . der eigentliche Gegenstand der Achtung" ist "und die Würde der Menschheit besteht

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W. Marx, Über Notwendigkeit und Struktur . . . 441. G. Krüger, Philosophie und Moral. . . 103. Ähnliches gilt auch vermutlich für K. Löwiths Urteil: "Moralisch ist die Achtung, indem sie die sinnlichen Naturneigungen restringiert; diese Negation ist aber gerade deshalb an ihr selbst positiv. Was sie als ein Modus des Selbstzwanges an natürlichen Widerständen hinwegräumt, ist zugleich eine positive Beförderung der Kausalität der Freiheit; indem sie den Anspruch der Neigungen abschlägt, verschafft sie der vernünftigen Natur des Menschen Ansehen . . . Aus Achtung handeln ist also dasselbe, wie aus Pflicht handeln . . . denn beide bestimmen sich als Einschränkung der natürlichen Geneigtheit in Rücksicht auf den Menschen als Selbstzweck." (Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen 164) - Unrichtig ist sonach Wildts Auskunft, bei Kant sei das "BewuBtsein von Pflicht . . . eine Folge des Antagonismus von reinem und empirischem Wollen" — denn, so Wildts Schlußfolgerung: "Verpflichtungen haben dann nämlich keinen anderen Inhalt als den, das empirische Wollen zu beherrschen, ganz gleich, was dessen Gehalt ist." (Autonomie und Anerkennung 92) Auch von dem kantischen Prinzip der Achtung läßt sich nicht sagen, sie gehe "gar nicht auf den Gehalt des Sittengesetzes, sondern lediglich auf dessen Macht über die Sinnlichkeit"; wäre dem so, so müßte freilich der Vorwurf einer "Verzerrung" der "Intention des moralischen Bewußtseins" (Wildt 93) als berechtigt erscheinen.

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eben in dieser Fähigkeit, allgemein gesetzgebend, obgleich mit dem Beding, eben dieser Gesetzgebung zugleich unterworfen zu sein . . . Autonomie des Willens ist die Beschaffenheit des Willens, dadurch derselbe ihm selbst (unabhängig von aller Beschaffenheit der Gegenstände des Wollens) ein Gesetz ist." (IV 74)183 3. Angemessener ist doch wohl das Urteil Schmuckers: "Das Sollen ist. . . nicht die grundlegende, sondern eine abgeleitete, sekundäre Form des Sittengesetzes, die lediglich durch die Unvollkommenheit unserer sinnlich affizierbaren Willkür bedingt ist. Primär ist es ein Seinsgesetz, das Seinsgesetz des reinen Vernunftwillens als solchen, und folglich ist auch das Sollen in uns eigentlich eigenes notwendiges Wollen, d. h. das Bewußtsein einer Tätigkeit der reinen praktischen Vernunft, die nur deshalb ihre Wirkung nicht in Handlungen äußert, weil subjektive, 'pathologische' Ursachen sie daran hindern."184 Auch daraus geht recht deutlich hervor, daß "Autokratie" und "Autarkie" als bloße "Vorbedingungen" der Autonomie nicht selbst schon das Prinzip der Autonomie formulieren. Auch Riedel145 macht in ähnlichem Problemkontext zwar darauf aufmerksam, daß der Begriff der "praktischen Freiheit" bei Kant in seiner "kritischen Philosophie ursprünglich negativ, [d. h.] als [bloße] Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit" konzipiert gewesen sei und auch aus diesem "Vorverständnis, trotz späterer Korrektur, niemals ganz herausgeführt worden ist." Noch am ehesten korrigiert sieht Riedel selbst diese Engführung jedoch etwa in jenem Passus aus Kants zweiter Kritik (IV 218), "wo die praktische Freiheit als 'Unabhängigkeit des Willens von jedem anderen außer allein dem moralischen Gesetz' definiert wird."186 Riedel urteilt an dieser Stelle offenkundig wesentlich zurückhaltender und damit auch in sachlicher Hinsicht zweifellos angemessener als in einer früheren Arbeit 187, der zufolge Kant wie auch Fichte "das praktische Verhalten . . . auf das innere

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Treffend kommentiert diesen Sachverhalt B. Liebrucks: "Gesetzcharakter ist ein solcher, dem ich mich als Knecht unterstelle. Aber ich bleibe darin nicht mehr Knecht, weil ich ein Gesetz bejahe, das ich mir als Herr gegeben habe. Erst die Vereinigung beider macht mich zum Menschen. Als Mensch und sittlich handelndes Wesen bin ich weder Herr noch Knecht, sondern die Einheit beider in meiner Person." (Imperativische Ethik, Wertethik und Sittlichkeit 365) J. Schmucker, Der Formalismus . . . 164. M. Riedel, Freiheit und Verantwortung . . . 115. M. Riedel, Freiheit und Verantwortung . . . Anm. 15 (S. 464) - Kant hatte freilich ein recht sensibles Bewußtsein darüber, daB die als "Vehikel" der Moral gedachten Instanzen sich allzu rasch selbst an deren eigene Stelle setzen — und d. h. sich zum Selbstzweck verkehren: "Die véhicula des reinen Willens sind Ehre, Geselligkeit und Sympathie." (Akademie-Ausgabe XV 527) M. Riedel, Objektiver Geist und praktische Philosophie . . . 27.

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Wirken der moralischen Subjektivität" beschränkt, "die nur ihre eigene Sinnlichkeit sich gegenüber hat" ~ im Unterschied zur Tradition, die das "praktische Verhalten . . . auf den Begriff des mitmenschlichen Handelns" beziehe ~ aber auch im Unterschied etwa zu Hegel, der das "praktische Verhalten in die Dimension der Auseinandersetzung von Mensch und Natur" einbeziehe. 4. Die soeben genannten Schwierigkeiten berührt auch das schon mehrfach eingeführte Buch Wildts (s. Anm. 189): "Verpflichtungen haben dann" ~ wenn nämlich das Bewußtsein von Pflicht als "Folge des Antagonismus von reinem und empirischem Wollen" zu verstehen sein soll — "keinen anderen Inhalt als den, das empirische Wollen zu beherrschen, ganz gleich, was dessen Gehalt ist. Die Schwierigkeiten im Pflichtbegriff wiederholen sich bei Kants Lehre von der 'Achtung fürs Gesetz'. Kant will mit dem Begriff der 'Achtung fürs Gesetz' oder 'reinen Achtung*. . . das Spezifische der moralischen Pflichtintention und -motivation fassen. Er definiert sie jedoch lediglich als das Bewußtsein der Unterordnung meines Willens unter einem Gesetze, ohne Vermittlung anderer Einflüsse auf meinen Sinn'. . . Die Achtung bezieht sich hier also gar nicht auf den Gehalt des Sittengesetzes, sondern lediglich auf dessen Macht über die Sinnlichkeit. . . Auch die 'positive' Seite der Achtung bezieht sich . . . nicht auf die Legitimität und Wert sittlicher Prinzipien, sondern auf deren dynamische Überlegenheit über die Sinnlichkeit . . . Es geht nur um die Überlegenheit über Sinnlichkeit überhaupt, nicht mehr um die legitimen Wünsche und Ansprüche anderer." Unschwer zu erkennen, daß und wie sich Wildts diesbezüglicher Einwand in die Reihe der einschlägigen Einwände gegen Kant einordnet, ohne damit jedoch überzeugender zu sein als diese. Wäre Wildts Interpretation nämlich tatsächlich im Recht, so fiele Kants Autonomie- Konzeption auf den Rang einer bloßen Angelegenheit von Disziplinierung und Zivilisierung zurück: von "Moralisierung" wäre jedenfalls in einem präzisen Sinne gar nicht zu reden. So wäre freilich übersehen, daß "Kants praktisches Ideal der Vernunft" (die "Idee des Vollkommensten in seiner Art", d. i. das "Ideal der moralischen Vollkommenheit") zweifellos solches Anspruchsniveau distanziert.188 In plausibler Weise bezeichnet es Wildt als "von vornherein aussichtslos", "das Phänomen der rationalen Motivation aus Achtung zu verstehen, wenn man zunächst Achtung 'negativ' als Einschränkung der Neigungen versteht.

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S. dazu M. Benedikt, Kant und die materiale Wertethik 255.- In beispielhafter Klarheit ist dieses Mißverständnis des kantischen Autonomieprinzips von Kiilpe auf die Formel gebracht: "Der Held, dem es gelingt, trotz vorübergehender Irrungen und Anfechtungen seinem Gewissen zu folgen und seinem schlimmsten Gegner, die eigene tierische Natur, dauernd zu besiegen, ist das persönliche Ideal der Kantischen Moral." (O. Külpe, Immanuel Kant. Darstellung und Würdigung. Leipzig 1912,116)

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Darüber hinaus ergibt sich [bei Kant] eine autoritäre Einengung des Achtungsbegriffes durch den Kontext, in dem Kant diesen Begriff einführt, nämlich dem einer 'Achtung fürs Gesetz."189 Ein Blick auf die bei Kant einfachhin vorausgesetzte Interpersonalitätsthematik scheint diesen Einwand Wildts noch zu bestätigen. (S.u. 105 ff.) Dennoch hätte Kant wohl kaum dem kritischen Hinweis widersprechen wollen: "Die moralische Intention ist vor allem die aus Achtung vor dem Recht anderer, weil er gesetzmäßig ist, bzw. die Intention aus Achtung vor der Gesetzmäßigkeit dieses Anspruchs, nicht jedoch aus Achtung vor dem kantischen 'Gesetz', etwa dem formellen Prinzip 'Handle gerecht.' Solch ein Prinzip kann man nicht eigentlich achten, sondern seine Gültigkeit nur anerkennen und akzeptieren."190 5. Weil die Achtimg im negativen Sinne als Einschränkung der unerlaubten Ansprüche der Sinnlichkeit (d. i. als Freiheit der Autarkie und Autokratie) notwendig von dem "positiven Moment der Achtung" abzuheben bleibt, so läßt sich nun in diesem Sinne zwar sagen, daß "kommunikativer Sinn real wird erst in der durch Achtung begründeten [!] mutuellen Anerkennung: das praktische Selbstverhältnis des individuell Handelnden, das das Selbst in der handelnden Verfolgung verallgemeinerungsfähiger Intentionen von sich rein zu machen strebt, fundiert erst die wechselseitige Anerkennung von Kommunikationspartnern als Glieder jenes 'allgemeinen Reichs der Zwecke', das bei Habermas transformiert als 'ideale Kommunikationsgemeinschaft' wiederkehrt."191 Die näheren Ausführungen Nagls zeigen freilich erst genauer, wie dies im genaueren zu verstehen sein soll: "Die Fähigkeit, sich selbst unter einer verallgemeinerungsfähigen Maxime zu bestimmen, ist Voraussetzung^] der wechselseitigen Anerkennung der Kommunikationspartner als frei."192 Nagl unterscheidet (und trennt?) demnach also offensichtlich die " Achtung vor dem Gesetz" von der Achtung (Anerkennung) der anderen Person und bestimmt erstere eben als "Voraussetzung" der letzteren. Auch unterscheidet er mit Kant zwar die Achtung als "Abbruch aller Neigungen, sofern sie jenem Gesetz zuwider sein könnten", von der positiven Entgegensetzung, "indem das autonome Handeln durch ein Gefühl der Achtung begleitet wird, welches aus der Gegenwendung gegen die Selbstsucht, dem Absehen von sich selbst, resultiert" und indem das Gesetz sich als "Grund eines positiven Gefühls, das nicht empirischen Ursprungs ist, und apriori erkannt wird" (IV 194), erweist. Nagls daraus abgeleitete Folgerung dürfte indessen (weil für sich noch unzureichend) keineswegs so selbstverständlich sein: "Praktische Selbstreferenz ist konstituiert

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A. Wildt, Autonomie und Anerkennung... 92 f. A. Wildt, Autonomie und Anerkennung . . . 94. L. Nagl, Gesellschaft und Autonomie . . . 286. L. Nagl, Gesellschaft und Autonomie . . . 286.

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in der Gegenwendung zur bloß naturischen Bestimmtheit. Erst die Möglichkeit dieses Absehens von seiner partikulären Natur (nicht einfach deren glückstechnische Stabilisierung, das soziale Bedürfnismanagement) macht den Menschen zur Person: die Gegenwendung in der praktischen Selbstreferenz ist als mögliche somit jeder mutuellen Anerkennung anderer als potentiell gleicher im intersubjektiven Diskurs vorgelagert."193 Und in unmittelbarem Rekurs auf Kant merkt Nagl an: "Achtung, als der vernunftgewirkte unmittelbare Ausdruck praktischer Selbstreferenz, wird somit als Voraussetzung intersubjektiver Anerkennung zum 'Gelenk zwischen praktischer Vernunft und sozialer Lebenswelt'." Eben diese Behauptung eines "Doppelbezug(s) der praktischen Selbstreferenz, welcher der Anerkennung des anderen als Person vorgelagert ist"194, scheint schon deshalb nicht so unproblematisch zu sein, weil damit doch die Einheit von Selbstbezug und Fremdbezug, wie diese sich für die Interpersonalitätsthematik auch bei Kant als sachlich bedeutsam erweisen wird (s.u. 110 ff.), nicht mehr wirklich zu denken ist. Diese Schwierigkeit in Nagls diesbezüglicher Kantinterpretation bleibt auch dann (und aus noch näher auszuführenden Gründen erst recht) bestehen, wenn Nagl sich auf den schon zitierten Passus aus der Grundlegungsschrift Kants berufen will: "Der Gegenstand der Achtung ist also lediglich das Gesetz, und zwar dasjenige, das wir uns selbst und doch als an sich notwendig auferlegen. Als Gesetz sind wir ihm unterworfen, ohne die Selbstliebe zu befragen: als uns von uns selbst auferlegt ist es doch eine Folge unseres Willens, und hat in der ersten Rücksicht Analogie mit Furcht, in der zweiten mit Neigung. Alle Achtung für eine Person ist eigentlich nur [!] Achtung fürs Gesetz . . . wovon jene uns das Beispiel gibt'". Eben diese Trennung der Achtung vor dem Gesetz (als Voraussetzung, und damit gleichsam "vorgelagert") von der Anerkennung des Anderen scheint nicht so ohne weiteres aufrechtzuhalten sein und dürfte letztlich auch die Ansicht als fragwürdig erscheinen lassen, die "praktische Selbstreferenz" sei "jeglicher Anerkennung präsupponiert."195 Insbesondere auch mit Blick auf Kants Nachfolger wird vielmehr doch zu fragen sein, ob sich nicht diese qualifizierte praktische Selbstreferenz der gleichursprünglichen "Fremdreferenz" als der Bedingung ihrer eigenen Möglichkeit verdankt, auch wenn gewiß nicht zu bestreiten sein mag, daß die von Nagl vorgeschlagene Interpretation bei Kant selbstverständlich Anhaltspunkte zu finden vermag ~ so etwa auch, wenn es in Kants Vorlesung zur Moralphilosophie196 heißt:

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L. Nagl, Gesellschaft und L. Nagl, Gesellschaft und L. Nagl, Gesellschaft und Kant, Akademie-Ausgabe

Autonomie . . . 292. Autonomie . . . 293. Autonomie . . . 293. 27.1., 510.

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"Nehmen wir indeß auf die Pflichten gegen uns selbst Rücksicht, so stellt sich der Mensch in seiner physischen Natur, d. i. insoweit er den Gesetzen der Natur unterworfen ist, als der verpflichtete und recte dar, personificiert man aber den verpflichtenden als ein idealisches Wesen, oder als eine moralische Person, so kann es kein anderes, als die Gesetzgebung der Vernunft seyn: dies ist also der Mensch als intelligibles Wesen allein betrachtet, das hier den Menschen als Sinnenwesen verpflichtet, also ein Verhältnis des Phänomenon gegen ihn als Noumenon. — In ähnlicher Art [!] ist es bei Verbindlichkeiten gegen Andere." Vorausschauend auf das der Interpersonalitätsthematik bei Kant gewidmete nächste Kapitel sei an dieser Stelle noch Kants Hinweis aufgenommen, daß doch erst die "Moralität, und nicht der Verstand" es sein soll, "was den Menschen erst zum Menschen macht." (VI 344) Wird nun aber, einem berühmten Wort Fichtes197 zufolge, "der Mensch erst unter Menschen ein Mensch", dann ist in der Folge ~ und auch Kant wollte sich dieser Folgerung wohl kaum entziehen - diese Moralität ohne (bzw. "außer") diesen konstitutiven Bezug zu der von ihm immer schon vorausgesetzten interpersonalen Welt nicht zu denken, ja genauer noch: sie ist überhaupt nur innerhalb dieser Interpersonalitätsdimension möglich. Qualifiziert die Beziehung auf andere Personen die praktische Intentionalität überhaupt erst als sittlich relevant und gibt erst der andere, als "Selbstzweck" existierende Mensch dem Gewissen Maß, so läßt sich mit Ritzel dann auch geltend machen: "Hat der Mensch erst in der Beziehung auf seine vernünftigen Mitgeschöpfe einen objektiven Grund zur Selbstbestimmung, so ist die Mit- und Zwischenmenschlichkeit ein Merkmal der Sittlichkeit."19® Das angeführte Wort Fichtes wäre demgemäß gar nichts anderes als bloß die folgerichtige Erläuterung bzw. Weiterführung des kantischen Satzes, daß der Anspruch der Moralität allein es doch ist, der "den Menschen erst zum Menschen macht." Damit resultieren im weiteren aus Kants (im folgenden zu zitierenden) Feststellung ganz besonders auch bezüglich des Verhältnisses von "Erkennen und Anerkennen" (damit implizit auch betreffend die Frage der Notwendigkeit von theoretischem und praktischem Erfahrungsbegriff) und die damit verbundene Thematik der Interpersonalität neue Probleme, zumal in dieser Bemerkung Kants diese Interpersonalitätsdimension als Fundierungsprinzip der Moralität ganz unberücksichtigt

197 198

Fichte, Akademie-Ausgabe 1,3.347. W. Ritzel, Kant und das Problem der Individualität 230. -Ähnliches hat wohl Paton mit dem auf Kant gemünzten Hinweis vor Augen, "daB es der Zweck des Menschen ist, die Vernunft im Denken und Handeln zu verwirklichen, und zwar nicht als auf sich gestelltes Individuum, sondern als Mitglied einer Gemeinschaft vernünftiger Wesen. UnterläBt es der Mensch, nach der Verwirklichung dieses Zwecks zu streben, so muß daraus unweigerlich ein Gefühl des Unerfülltseins entspringen." (Der kategorische Imperativ328)

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Menschheit, Person und Persönlichkeit

und auch der entsprechende Freiheitsbegriff im "Negativen" der bloßen Autarkie befangen bleibt: "So sehr auch der Verstand ein völlig aktives und insofern selbständiges Vermögen ist, so bedarf er doch zu seiner Aktion der Außendinge, und ist auch zugleich auf sie beschränkt: da hingegen der freie Wille völlig unabhängig [!] ist und einzig durch das innere Gesetz bestimmet werden soll: d. h., der Mensch bloß durch sich selbst, sofern er sich nur zu seiner ursprünglichen Würde und Unabhängigkeit von allem, was nicht das Gesetz ist, erhoben hat. Wenn also dieser unser Verstand ohne diese seine Außendinge nichts, wenigstens nicht d i e s e r Verstand sein würde, so bleiben Vernunft und freier Wille dieselben, ihr Wirkungskreis sei, welcher er wolle." (VI 344) Bezüglich des für das Verständnis der Wirklichkeit der Moralität wesentlichen "praktischen Erfahrungsbegriffes" wäre in augenfälliger Analogie zu dem soeben angeführten Kant-Zitat schon an dieser Stelle (vorgreifend) zu fragen, ob und wie in Analogie zu dem im theoretischen Erfahrungsbegriff vorausgesetzten "außer uns" (des "äußeren Sinnes": II 71, d. i. des Raumes) als dem Ermöglichungsgrund dieser Erfahrung für die praktische Vernunft ein - nun eben nicht bloß räumliches! — "außer uns" maßgebend, d. h. praktische Vernunfterfahrung ermöglichend, wird? Fällt von hier aus gesehen nicht auch ein recht bezeichnendes Licht auf die vielfachen ~ und eben nicht zufällig auch unterschiedlichen — Hinweise Kants, denen zufolge zum einen zwar "Gegenstand der Achtung" das "moralische Gesetz" sein soll und es doch auch wiederum heißt: "Alle Achtung geht jederzeit nur auf Personen"? (IV 197) Läßt sich jedoch bei Berücksichtigung der hier vorläufig einmal nur angedeuteten Fragen dann so ohne weiteres, und ohne die genannten Probleme durch zu glatte Disjunktionen aus den Augen zu verlieren, noch behaupten: "Alle Achtung für eine Person ist eigentlich nur Achtung fürs Gesetz (der Rechtschaffenheit etc.) wovon jene nur [!] das Beispiel gibt"? (IV 28) Diese erst im nächsten Kapitel (s. u. 110 ff.) noch näher zu verfolgenden Problemaspekte eröffnen allerdings nunmehr auch schon einen ersten Blick auf ein zweifellos fundamentales, der gesamten Systematik Kants zugrunde liegendes, wenn auch von ihm nicht explizit vermitteltes (und mit seinen Mitteln vielleicht auch gar nicht zu vermittelndes?) Problem — eine Voraussetzung, die seiner gesamten Moral- und Rechtsphilosophie zugrunde liegt und die recht deutlich auch in einem Passus seiner späten "Anthropologie in pragmatischer Absicht" (VI 411) zutage tritt, ganz offenkundig jedoch auch den kantischen Bestimmungen der "moralischen Welt", dem "Reich der Zwekke", dem "ethischen gemeinen Wesen", immer schon innewohnt bzw. vorausliegt: "Wenn nämlich bloß die Frage wäre, ob ich, als denkendes Wesen, außer meinem Dasein noch das Dasein eines Ganzen anderer, mit mir in Gemeinschaft [!] stehenden, Wesen (Welt genannt) anzunehmen Ursache habe, so ist sie nicht anthropologisch, sondern bloß metaphysisch." Wie nun aber, wenn das "außer uns" der Interpersonalst dieser "metaphysischen Frage" eben nicht so

Reduktionist. Bestimmungen des Autonomie-Begriffes

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ohne weiteres zu subsumieren ist, sondern vielmehr selbst schon das eigentliche Fundierungsproblem des "Anthropologischen" und "Anthroponomischen" betrifft? Berührt dies jedoch sodann nicht auch Kants Bestimmung der "äußersten Grenze aller praktischen Philosophie"? (Vgl. IV 91 ff.)

4.

Mit Vorblick auf Fichte gefragt: (Verborgene) Ansätze zu einer Interpersonalitätstheorie bei Kant?

Mit Vorblick auf Kants Nachfolger Fichte und Hegel bleibt an dieser Stelle vielleicht auch noch anzumerken, daß der seit Hegel geläufige Einwand gegen Kant, das "Sinnliche" sei bei ihm "die Bedingung des moralischen Selbstbewußtseins" und die Freiheit bliebe deshalb "zunächst leer", das "Negative alles Anderen", wohl primär — und insofern mit einigem Recht — auf Kants Begriff der "negativen Freiheit" zu beziehen ist. Schon Kants Kennzeichnung der Freiheit als "Unabhängigkeit des Willens von jedem anderen außer allein dem moralischen Gesetze" (IV 218) erschöpft sich jedoch darin nicht. Verweist nicht Kants Begriff der positiven Freiheit und damit sein unverkürzter Begriff von "Autonomie" wenigstens in unverkennbaren Ansätzen auf wesentliche Motive Fichtes, — etwa das bei ihm so zentrale Thema der "Anerkennung" --und tritt dies nicht auch in nuce in Kants Bemühen um die Begründung der Möglichkeit des kategorischen Imperativs (sowie des "Bewußtseins des moralischen Gesetzes") zutage? Wenn Henrich völlig zu Recht anmerkt: "Die Begriffe 'Faktum der Vernunft' und 'Achtung fürs Gesetz' sind die zentralen Begriffe der zweiten Kritik. Der eine kann nicht ohne den anderen konzipiert werden. Jeder der beiden verweist auf den anderen und ist ohne ihn sinnlos"199, so verweist dies schon Gesagtem zufolge in noch grundsätzlichere Zusammenhänge, steht doch in der Frage nach der Bedingung der Möglichkeit des (Bewußtseins des) Sittengesetzes die Interpersonalitätsthematik implizit immer schon mit auf dem Spiel. Ist es für die Problemlage nicht geradezu bezeichnend und deshalb auch überaus aufschlußreich, wenn Kant die im folgenden anzuführenden Bestimmungen der "Achtung" als im Grunde gleichbedeutend ansehen möchte? Der "Achtung fürs moralische Gesetz" steht die "Achtung fürs Recht" zur Seite (IV 521; VI 172; 250), ebenso die "Achtung fibdie Pflicht", die "Achtung für die Idee der Würde des Menschen" (IV 675), die "Achtung für den Menschen" (IV 584), "Achtung für die Menschheit" (IV 606), im weiteren auch noch "Achtung für Person und Persönlichkeit", "Achtung für den anderen" (VI 90), die "Achtung erweckende Idee der Persönlichkeit, welche uns die Erhabenheit unserer Natur (ihrer Bestimmung nach) vor Augen stellt" (IV 211). Diesen Fragen bleibt nachfolgend nun noch ein wenig genauer nachzuspüren. Dabei soll sich u.a. auch eine Antwort darauf finden lassen, ob nicht auch Kants gelegentlich erwähnte Metapher, daß die Vernunft dem Menschen

199

D. Henrich, Der Begriff der sittlichen Einsicht

. 249.

Interpeisonalitätstheorie bei Kant?

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"im moralischen Gesetz den Spiegel vorhält" (VI 324), ganz besonders im engeren Kontext der Frage nach dem vorausgesetzten Ermöglichungsgrund der "Identität des moralischen Selbstbewußtseins" einen recht präzisen Sinn und auch ihr ganz besonderes Gewicht zu gewinnen vermag. Nicht zuletzt soll sich so auch die Ansicht als unhaltbar erweisen, der zufolge "der Kantische Begriff der Personalität (d. h. der Verantwortlichkeit der Freiheit) nichts von Sozialität" enthalte.200 Kants Feststellung: "die Sozialität mit anderen Menschen setzt Freiheit voraus" (VI 565), steht dem nämlich keineswegs entgegen, wenn doch die Vieldimensionalität des kantischen Freiheitsbegriffes zu beachten bleibt. Ist es aber nicht diese "Sozialität", die ihrerseits als Voraussetzung sittlicher Freiheit deshalb und in dem bestimmten Sinne anzusehen ist, weil allein sie es doch ist, die diese Freiheit in ihrer sittlichen Relevanz erst konstituiert und qualifiziert? Freilich: bei gebotener Rücksichtnahme auf diese vorausgesetzte Interpersonalitätsdimension und das entsprechende Verständnis von "Autonomie" ergibt sich als notwendige Folge, daß natürlich in diesem "moralischen Verhältnisse des Menschen gegen den Menschen" (IV 632) auch dasjenige "Verhältnis" zum Anderen als bloßes Mittel keineswegs lediglich peripher den solcherart "strategisch Handelnden" selbst betrifft, zumal dieser Handelnde in der Folge solcher Motivation eben ein ganz bestimmtes "Verhältnis zu sich selbst" schon deshalb gewinnt, weil er doch in diesem "moralischen Verhältnis" zum Anderen zugleich sich in den praktischen "Stand" der Freiheit (bzw. der Unfreiheit) versetzt. Es bestätigt sich so nur noch einmal, daß der Mensch den Rang des "Zwecks an sich selbst", der "Persönlichkeit", nur durch den ganz bestimmten Standpunkt der Freiheit gewinnt. In diesem Sinne läßt sich auch sagen, daß "vor" allem Handeln vorgängig "das vernünftige Subjekt sich selbst gewählt haben" muß: "das geschieht gemäß dem letzten pragmatischen Zweck, indem der Mensch sich selbst als vernünftiges Sinnenwesen wählt, es geschieht gemäß dem moralischen Endzweck, indem der Mensch sich selbst als bloß vernünf-

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Κ Alpheus, Kant und Scheler, 132. — Das Bewußtsein der Identität der Person als dem "der Zurechnung fähigen Wesen" und das ihm entsprechende Selbstbewußtsein ist freilich eben ein solches, das sich konstituiert und erhält ausschließlich durch sein Anerkanntsein und sein "Sich-als-anerkannt-wissen", das damit Ermöglichungsgrund des praktischen Selbstbewußtseins als Rechtsperson ist. Dabei erweist sich — in für Kants System der Freiheit recht aufschlußreicher Weise - als bedeutsam, was E. Düsing allerdings erst mit Blick auf Fichte geltend machen will: "Die Konstitution eines freien individuellen Selbstbewußtseins, also die Bildung eines in sich einheitlichen und damit handlungsfähigen praktischen Subjekts, das zum Bewußtsein seiner selbst gelangt, bedeutet . . . für Fichte zugleich die Konstitution von intersubjektiver Beziehung durch Akte wechselseitiger Anerkennung, die zunächst von formaler rechtlicher und in höherer Entwicklung von sittlicher Bedeutung ist." (InterSubjektivität und Selbstbewußtsein 375 f.)

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Interpersonalitätstheorie bei Kant?

tiges Wesen wählt."201 Eben darauf zielt im Grunde nun auch der Hinweis Cohens auf den von ihm bei Kant konstatierten Fehler in dem "Begriff der Autonomie", daß "das Selbst dabei als gegeben, als schon vorhanden, als seiend angenommen und vorausgesetzt wird: daß es sich in den sittlichen Handlungen, als seinen Manifestationen nur darzulegen und darzutun habe", wenn dieses Selbst aber doch vielmehr erst sich konstituieren müsse, d. i. "sich selbst erst zu erzeugen" habe: "Und es kann sich nur erzeugen in der Gesetzgebung . . . Also die Selbstgesetzgebung ist nicht etwa die Gesetzgebung aus dem Selbst, sondern zum Selbst. Auf die Gesetzgebung kommt es an: in ihr erst bezwingt sich das Selbst: in ihr erzeugt es sich. Der Gedanke der Autonomie geht also nicht dahin, daß das Gesetz vom Selbst ausgehen müsse." Daher: "Selbst und Gesetzgebung bilden eine notwendige Korrelation."202 Mit Kaulbach läßt sich sagen, daß sich erst "das Subjekt die Stellung des Selbstzwecks gibt und den Sachen ihre Stellung als Mittel anweist. Selbstzweck sein heißt: sich zum Selbstzweck machen"203 ~ was gar nichts anderes besagt als dies, daß Kant "die Idee der Existenz als Zweck an sich selbst, der Würde und der Autonomie . . . speziell mit der moralischen Motivation verknüpft."204 Ein lediglich durch das "Vermögen, sich beliebige Zwecke zu setzen" ausgezeichnetes "Subjekt der Zwecke" (so hat sich erwiesen: s. o. 3 ff.) vermag allein die Stellung des Menschen als "Zweck der Natur" zu begründen und ließe so den Weltumgang mit "Seinesgleichen" auf den dürftigen Status einer bloß verständig-"äußeren Zweckmäßigkeit" herabsinken: "Unter der äußeren Zweckmäßigkeit verstehe ich diejenige, da ein Ding [!] der Natur einem anderen als Mittel zum Zwecke dient." (V 545) Überdies bleibt darauf zu achten, "daß die äußere Zweckmäßigkeit (Zuträglichkeit eines Dinges für andere) nur unter der Bedingung, daß die Existenz desjenigen, dem es zunächst oder auf entferntere Weise zuträglich ist, für sich selbst Zweck der Natur sei, für einen äußern Naturzweck angesehen werden könne." (V 479) Damit hätte der Mensch sich selbst, und zwar gemessen an seiner "praktischen Bestimmung" und seinem "moralischen Zweck", in einen "Stand" der Unfreiheit versetzt, während umgekehrt sich erst seine moralische Identität konstituiert, weil "er sich in ihm

201 202

203 204

G. Krüger, Philosophie und M o r a l . . . 73. H. Cohen, Ethik des reinen Willens 341. Vgl. diesbezüglich M. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie 191 f: Heidegger bemerkt mit unmittelbarem Blick auf Kant: "In der Achtung vor dem Gesetz muß das achtende Ich zugleich sich selbst in bestimmter Weise offenbar werden, nicht nachträglich, zuweilen, sondern die Achtung vor dem Gesetz . . . ist als solche zugleich ein bestimmtes Offenbarwerden meiner selbst als des Handelnden [ . . . ] Ich unterwerfe mich in der Achtung vor dem Gesetz mir selbst als freiem Selbst. In diesem Mich-Unterwerfen bin ich mir offenbar, d. h. bin ich als ich Selbst. Die Frage ist: als was oder genauer als wer?" F. Kaulbach, Das Prinzip Handlung... 184. A. Wildt, Autonomie und Anerkennung . . . 178.

Interpersonalitätstheorie bei Kant?

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[d. i. im Akt der Anerkennung] der perspektivischen Betrachtlingsweise seines Gegenstandes entäußert."205 Fällt das "moralische Verhältnis" auf eine bloße Relation gemäß der "äußeren Zweckmäßigkeit" herab, so bedeutet dies jedoch notwendig den Rückfall auf das Mangelniveau des "Tiermenschen", "weil Selbstbewußtsein und Selbstgefühl. . . über den Organisationskreis der inneren und äußeren Zweckmäßigkeit der Natur in nichts hinaus auf etwas verweisen, das selbst nicht Mittel, sondern nur Zweck ist. Zweck aber und nicht einfach absoluter Wert ist die Vernunft, Zweck an sich selbst ist das Vernunftsubjekt, weil die Vernunft von endlichen Vernunftwesen um ihrer selbst willen gegen innere Widerstände gewollt und handelnd durchgesetzt werden muß."206 Es ist zweifellos eine prinzipiell kantische Perspektive, wenn es bei Schelling heißt: "Seine absolute Freiheit als Ich . . . gewinnt der Mensch lediglich darin, daß er nur den Gesetzen seines eigenen Wesens [und das ist das moralische Gesetz] gemäß handelt und von nichts anderem weder in noch außer ihm bestimmt ist."207 Wie nun aber, wenn dieses so bestimmte sittliche Selbstbewußtsein des Ich nur vom Anderen her - genauer noch: nur in dieser Einheit von Selbstbezug und Fremdbezug ~ eröffnet und getragen ist, d. h. darin seinen Ermöglichungsgrund hat und dieser Andere sodann aber keinesfalls bloß Schranke der Willkürfreiheit, sondern vielmehr selbst Ermöglichungsgrund der qualifizierten sittlichen Freiheit sowie der entsprechenden praktischen "Selbsterfahrung" und der "Anerkennung" ist? Kants Anmerkung betreffend das Verhältnis von "Freiheit und unbedingtem praktischen Gesetz" gewinnt erst in dieser Perspektive ihren genau bestimmten Sinn: "Freiheit und unbedingtes praktisches Gesetz weisen also wechselweise aufeinander zurück. Ich frage hier nun nicht: ob sie auch in der Tat verschieden seien, und nicht vielmehr ein notwendiges Gesetz bloß das Selbstbewußtsein einer reinen praktischen Vernunft, diese aber ganz einerlei mit dem positiven Begriff der Freiheit sei." (IV 139) Ist dieser so ausgezeichnete qualifizierte "Selbstbezug" nun jedoch überhaupt ohne die Gleichursprünglichkeit des Fremdbezuges angemessen zu denken?208 Und wie paßt denn nun zu dieser eben angeführ-

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J. Simon, Sprachphilosophie 96. — Dies gilt offensichtlich auch noch für den den Weltumgang des Menschen ausschließlich bestimmenden Horizont bloßer (mehr oder weniger geschickt getarnter) Klugheit als der "Geschicklichkeit", "Menschen (freye Wesen) als Mittel zu seinen Absichten zu brauchen". (Kant, Akademie-Ausgabe XXIII 346) P. Baumanns, Rezension zu G. Prauss, Kant über Freiheit als Autonomie 75. Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit 101. Stuttgart 1968. (Reclam Nr. 8913.) Vgl. J. Heinrichs, Reflexion-Intersubjektivität-Zeit . . . 575.- In diesem Kontext der Fundierung der Interpersonalitätsthematik und der Frage nach der Konstitution "praktischen Selbstbewußtseins" (und ihres notwendigen Zusammenhanges!) scheinen doch Schellings Sätze überaus bedenkenswert: "Auch ist offenbar, daß ich von einem Leben und Selbstseyn außer mir nur p r a k t i s c h überzeugt werde. Ich muß

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Interpersonalitätstheorie bei Kant?

ten Verhältnisbestimmung von "Freiheit und unbedingtem praktischen Gesetz" der schon zitierte Satz: "Die Sozialität mit anderen Menschen setzt Freiheit voraus" (VI 565) ~ verweist dies denn nicht augenfällig auf ein ganz entscheidendes Voraussetzungsproblem besonderer Art? Ist nicht auch mit besonderem Blick auf die einschlägigen Lehrstücke Kants die Frage zu stellen: "die für menschliches Selbstbewußtsein konstitutive Reflexion kann nicht rein innersubjektiv verstanden werden, sondern nur als durch gegenständliche und personale Andersheit vermittelte Reflexion: die intersubjektive (und gegenstandsvermittelte) Reflexion ist gleichursprünglich mit der innersubjektiven. Das heißt, Selbstbewußtsein ist nicht ohne Intersubjektivität möglich, und Intersubjektivität ist ihrerseits ganz und gar Reflexionsverhältnis".209 Daß Kant selbst indessen diese hier zutage tretende Dimension der Interpersonalität als den apriorischen Ermöglichungsgrund des Bewußtseins des Sittengesetzes fraglos voraussetzt und auch in seiner Begründung des kategorischen Imperativs darauf einfachhin rekurriert, eben dies verrät ~ neben der für ihn offensichtlich ganz selbstverständlichen Rede von dem "moralischen Verhältnisse des Menschen gegen den Menschen" (ζ. Β. IV 632) ~ auch eine wichtige Stelle der Grundlegungsschrift: "Die praktische Notwendigkeit nach diesem Prinzip [d. i. "daß der Wille durch seine Maxime sich selbst zugleich als allgemein gesetzgebend betrachten könne"] zu handeln, d. i. die Pflicht [!] beruht gar nicht auf Gefühlen, Antrieben und Neigungen, sondern bloß auf dem Verhältnisse vernünftiger Wesen zu einander, in welchem der Wille eines vernünftigen Wesens jederzeit zugleich als gesetzgebend betrachtet werden muß, weil es sie sonst nicht als Zweck an sich selbst denken könnte." (IV 67) Und wie könnte Kant denn anders auch von einer "systematischen Verbindimg verschiedener vernünftiger Wesen" sprechen? Im folgenden soll nun die Auffassung vertreten und auch begründet werden, daß Kants Überlegungen der Sache nach durchaus in gewisser Hinsicht

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praktisch dazu g e n ö t i g t seyn, Wesen, die mir gleich seyen, außer mir anzuerkennen. Wäre ich nicht genöthigt, mit Menschen außer mir in Gesellschaft und in alle praktischen Verhältnisse, die damit verbunden sind, zu treten; wüßte ich nicht, daß Wesen, die der Erscheinung der äußeren Gestalt nach mir ähnlich sind, nicht m e h r Gründe haben, Freiheit und Geistigkeit in mir anzuerkennen, als ich habe, dieselbe in ihnen anzuerkennen; wüßte ich endlich nicht, daß meine moralische Existenz erst durch die Existenz anderer moralischer Wesen außer mir Zweck und Bestimmung erhält [!], so könnte ich, der bloßen Spekulation überlassen, allerdings zweifeln, ob hinter jedem Antlitz Menschheit und in jeder Brust Freiheit wohne." (Schelling, Ausgewählte Werke. Schriften von 1794 - 1798. Darmstadt 1967, 376 f.) Kant selbst spricht ja auch von den moralischen Gesetzen als "gemeinschaftlichen objektiven Gesetzen" bzw. davon, daß "diese Gesetze eben die Beziehung dieser Wesen aufeinander, als Zweck und Mittel, zur Absicht haben". (IV 66) J. Heinrichs, Reflexion-Intersubjektivität-Zeit . . . 582.

Interpersonalitätstheorie bei Kant?

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die Einsicht Fichtes antizipieren (ohne sie aber entfaltet zu haben), der zufolge der Mensch als vernünftig-moralisches Wesen sich als solches weder erkennen noch praktisch bestimmen kann ohne die "Aufforderung zu solcher qualifizierten Selbstbestimmung" im Sinne des "du sollst". Daß der "Mensch nur unter Menschen ein Mensch wird" — dieser berühmte Satz Fichtes wäre nicht zuletzt eingedenk des normativen Begriffes der Menschheit bei Kant auch für ihn selbst "eine aus dem Begriff des Menschen streng zu erweisende Wahrheit."210 Gewinnt nicht auch in dieser Sicht Kants Unterscheidung zwischen Vernunftwesen und "vernünftigem Wesen" einen recht präzisen Sinn, zumal doch mit letzterem Begriff prinzipiell eben immer auch schon die Dimension der Interpersonalst (Intersubjektivität, "Gesellschaftlichkeit") miteingesprochen wäre? Somit erhält nun freilich, noch einmal auf Kants Person-begriff gesehen, die von Höffe an die Adresse Apels ~ gegen Kant nur anders zu akzentuierende ~ gerichtete Kritik auch in diesem Kontext Bedeutung: "Die Kommunikation besteht aber, recht verstanden, nicht vor und abseits der Subjekte, sondern in einem Sich-öffnen der Subjekte füreinander, in einem gegenseitigen Anerkennen, und umgekehrt sind wahrhaft kommunizierende Subjekte nur solche Wesen, die sich erst im wechselseitigen Sich-öffnen und Anerkennen als Personen konstituieren, so daß Anerkennung der Kommunikation und die Konstitution der Person zu ein und demselben Vorgang werden."211

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Fichte, Akademie-Ausgabe I, 3. 347. O. Höffe, Kantische Skepsis . . . S3S. — Hier ist — was sich für den nachfolgend interessierenden Zusammenhang zwischen "praktischem Selbstbewußtsein" und "Interpersonalität" als bedeutsam erweist — auch an Kants Bemerkung über jenen "archimedisch-festen Punkt" zu erinnern, "woran die Vernunft ihren Hebel ansetzen kann, und zwar, ohne ihn weder an die gegenwärtige, noch eine künftige Welt, sondern bloß an ihre innere Idee der Freiheit, die durch das unerschütterliche moralische Gesetz, als sichere Grundlage darliegt, anzulegen, um den menschlichen Willen . . . durch ihre Grundsätze zu bewegen." (III 393) Auch wären hier besonders die §§ 6-8 der Kritik der praktischen Vernunft einer sorgfältigen Analyse zu unterziehen — nicht zuletzt Kants Verwerfung der "reinen Anschauung" als Grund des "Bewußtseins dieses Grundgesetzes" als "Faktum der Vernunft". Fichtes Behauptung war bekanntlich freilich gerade dies, daß ohne den Rekurs auf die "intellektuelle Anschauung" das "Bewußtsein des Grundgesetzes" (als kategorischer Forderung) nicht zu begreifen sei — Problemaspekte, die ohne die f ü r die Interpersonalitätstheorie entscheidende "Aufforderungstheorie" Fichtes ("Aufforderung zur Selbsttätigkeit") nicht zu verstehen sind. Wie aber stimmt Fichtes Fundierung des unmittelbaren "Bewußtseins des Grundgesetzes" in der "intellektuellen Anschauung" im genaueren wiederum damit zusammen, daß das "Bewußtsein der Individualität" doch unter der Möglichkeitsbedingung der Interpersonalität steht (Fichte 1,4. 225 U.229), ohne die gemäß der Aufforderungstheorie jedoch "Moralität" nicht zu begründen ist?

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Inteipersonalitätstheorie bei Kant?

Es kann kein Zweifel darüber bestehen: Kant geht in der Regel von der ganz "unproblematischen" Voraussetzung einer eben wie ganz selbstverständlich gegebenen interpersonalen Welt aus. Denn tatsächlich ist nicht zu übersehen, daß die "Ausgangssituation der praktischen Philosophie Kants die interpersonale Welt darstellt mit ihrer Gemeinschaft autonomer und frei handelnder Subjekte. Ohne diese Voraussetzung ist die Sollens-Formel des kategorischen Imperativs ["praktisch solipsistisch"] sinnlos. Ohne eine Gleichursprünglichkeit anderer Subjekte mit mir, ohne ihre autonome praktische Vernunft ist weder jene Sollens-Formel noch dieser Gedanke eines Selbstzwecks sinnvoll."212 Nun ist freilich unschwer zu erkennen, daß in der Tat diese "fundamentale Voraussetzung der Kantischen Theorie . . . jedoch innerhalb der transzendentalen Überlegung fragwürdig" werden muß. Es soll sich in den nachstehenden Ausführungen in Ansätzen zeigen, daß diese Problemzusammenhänge bei Kant natürlich auch auf die Frage nach dem inneren Verhältnis von Erkennen und Anerkennen und auf damit zusammenhängende überaus schwierige Probleme führen, wobei gewiß Zweifel darüber erlaubt sind, ob diese Probleme mit den von Kant selbst dargereichten Mitteln letztendlich auch tatsächlich befriedigend zu lösen sind.213 Es geht in dieser Sphäre des Praktischen notwendig um das Problem eines konstitutiven Anerkennens, das als solches sich eben weder in der (nur) theoretischen Gegenstandskonstitution, noch in einem bloß regulativen "als ob" erschöpfen kann. Nicht zufällig waren es auch ganz besonders Fragen eben dieser Art, die das Interesse von Kants unmittelbaren Nachfolgern herausforderten und sie sodann auch veranlaßten, in Aufnahme wesentlicher Motive von Kant in den Begründungsfragen doch über ihn hinauszugehen ~ d. h. aber: in diesen von Kant ohne Zweifel doch vernachlässigten Voraussetzungsfragen, nicht zuletzt betreffend die Möglichkeit des praktischen Selbstbewußtseins, hinter die kantischen Fragen noch zurückzugehen. In dem erwähnten Unterschied zwischen theoretischer Erfahrungsrelation und dem "praktischen Verhältnis" des "Anerkennens" bleibt somit jedoch, auch Kants Position betreffend, zur Vermeidung einer Vermengimg verschiedener

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W. Lütterfelds, Private Sprache und Bewußtsein. Zur Logik "meiner Sprache" bei Wittgenstein und Fichte. Habilitationsschrift Wien, Masch.Manuskript 40 f. Vgl. dazu W. Lütterfelds, Die monologische Struktur des kategorischen Imperativs . . . Nicht ohne Grund stellt Lütterfelds fest: "Kants Übertragungstheorie steckt im Zirkel von Du-Apriori und Du-konstitution." (S.93) Inwieweit genau diese Problematik freilich schon in dem für Kants Konzeption des kategorischen Imperativs so maßgeblichen Prinzip des "allgemeinen Willens" impliziert ist, kann hier nicht verfolgt werden. Man wird Krügers Einwand so gesehen wohl zustimmen müssen: "Die bloß deskriptive Behandlung des Phänomens der Mitwelt in der Anthropologie [aber auch sonst!] ist . . . der eigentliche Grund aller Aponen der Kantischen Lehre von Rechtsgesetz und Rechtsschema". (Philosophie und Moral . . . 96)

Interpersonalitätstheorie bei Kant?

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Problemaspekte darauf zu achten, daß ohne Zweifel die Frage nach einem Erkennbarkeitskriterium des Fremdpersonalen von der fundamentaleren Problematik der transzendentalen Begründung der Interpersonalitätsdimension genau abzugrenzen bleibt ~ auch in dem Sinn, daß natürlich (was andernfalls ohnehin sich in einer Zirkularität der Ableitung verfinge) diese Interpersonalität nicht aus Kants "Übertragungstheorie" erst abzuleiten wäre.214 Nicht nur kann solche "Übertragung" selbstverständlich keine "bewußte" Handlung sein, "weil ich bereits . . . in der interpersonalen Situation stehe, ja von ihr existentiell anhänge und andernfalls nicht kriterienlos beliebigen Objekten Selbstbewußtsein 'unterschieben' könnte: setze ich mich aber nur an die Stelle jener Objekte, die als personales Gegenüber vor anderen Dingen ausgezeichnet sind, werden sie durch meine Handlung nicht erst zu einem Anderen konstituiert."215 Die beträchtlichen Probleme können hier nicht im einzelnen in der gebotenen Ausführlichkeit zur Sprache kommen, die notwendigerweise aus Kants Konzeption der Erkenntnis des Fremdpersonalen, aus seiner "Übertragungstheorie" ~ dem "Sich an die Stelle des Anderen - Setzen" (vgl. II 365: VI 549), sowie auch der "Unterschiebung des eigenen Subjekts" (II 365), der "Übertragung dieses meines Bewußtseins auf andere Dinge, welche nur dadurch als denkende Wesen vorgestellt werden" (II 345) — schon deshalb resultieren, weil dieser "Andere" auch als kategorial konstituierte Erscheinungswirklichkeit aufzufassen ist und damit nun das Problem der Interpersonalität solcherart bloß zu einer Variante der Frage nach dem "Dasein der Gegenstände im Räume außer mir" herabgesetzt (d. h. darein subsumiert) wird — solchen "Gegenständen" eben, auf die dann "sekundär" das "Ich" übertragen und denen Freiheit "geliehen" wird (IV 83). Die so zu denkende Synthese von "transzendentaler Konstitution" dieses "alter ego" und der Anerkennimg als Persön-

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Auch diesbezüglich bliebe ja die von A. Schöpf gegenüber Theunissens Buber — Interpretation erhobene Frage ebenfalls noch einmal zu beachten: "Wie soll denn überhaupt ein Bewußtsein meiner selbst und seiner 'Verandeningen' angesetzt werden können, wenn es sich nicht zugleich immer schon aus der realen Beziehung zu einem Du versteht. Die Vermittlung müßte konsequenterweise als gleichzeitiges An- und Miteinander von Ich- und Selbstwerdung verstanden werden." (A. Schöpf, Zwischen Intersubjektivität und Dialogik 26. In: Philosophische Rundschau 15 (1968) 15-28.) - H. Girndt möchte, obwohl der Titel seines Aufsatzes "Ansätze zu einer Interpersonalitätstheorie bei Kant" lautet, in Kants "ethischen Schriften einen bedeutenden Beitrag zur Interpeisonalitätsfrage" erkennen; im Grunde bleibt die vorhin genannte Unterscheidung zwischen dem Erkenntniskriterium des Anderen und der transzendentalen Begründung der Interpersonalitätsdimension aber doch unbeachtet. (H. Girndt, Ansätze zu einer Interpersonalitätstheorie . . . 38) W. Lütterfelds, Ist die empirische Sprache des transzendentalen Subjekts kommunikabel? 148.

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Inteipersonalitätstheorie bei Kant?

lichkeit (und als "Du") stellt nun Kant jedenfalls vor recht schwierige und von ihm selbst auch wohl kaum zureichend gelöste Probleme216, die gewiß auch nicht durch Kants bloßen Hinweis in seiner späten "Anthropologie in pragmatischer Absicht" schon aus der Welt zu schaffen sind, sondern vielmehr doch selbst lediglich als Problemverweis fungieren: "Dem Egoism kann nur der Pluralism entgegengesetzt werden, d. i. die Denkungsart: sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen bloßen Weltbürger zu betrachten und zu verhalten. ~ So viel gehört davon zur Anthropologie. Denn, was diesen Unterschied nach metaphysischen Begriffen betrifft, so liegt er ganz außer dem Felde der hier abzuhandelnden Wissenschaft. Wenn nämlich bloß die Frage, ob ich, als denkendes Wesen, außer meinem Dasein noch das Dasein eines Ganzen anderer, mit mir in Gemeinschaft stehender Wesen (Welt [!] genannt) anzunehmen Ursache habe, so ist sie nicht anthropologisch, sondern bloß [!] metaphysisch." (VI 411)-

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Nicht zuletzt resultiert eine fundamentale Schwierigkeit in diesem Zusammenhang unverkennbar auch daraus, daß Kant diese seine grundsätzliche Einsicht in die Konstitutionsproblematik praktisch-moralischer Subjektivität mit seinem gelegentlichen Rekurs auf das empirisch-anthropologische Datum untergräbt — genauer die Begründung dieser Interpeisonalitätsdimension lediglich daraufhin abspannt: "weil der Erdboden eine nicht grenzenlose, sondern in sich selbst schließende Fläche ist", d. h. wegen der "Einheit aller Plätze auf der Erdfläche als Kugelfläche: weil, wenn sie eine unendliche Ebene wäre, die Menschen sich darauf zerstreuen könnten, daß sie in gar keine Gemeinschaft miteinander kämen, diese also nicht eine notwendige Folge von ihrem Dasein auf Erden wäre." In solch bloß harmlosem Rekurs auf die kontingente Beschaffenheit dieses "Schauplatzes der Welt", "auf den wir als Gäste von der Natur gesetzt sind" ( Menzer, Eine Vorlesung . . . 243), ist natürlich keineswegs die (von Kant durchaus geteilte) Einsicht Fichtes zu begründen, daß "der Mensch nur unter Menschen ein Mensch wird." Freiheit fiele in diesem Sinne doch zu einer bloß akzidentellen Bestimmung herab. Wäre so in einer prinzipiellen Hinsicht aber von dem Menschen als einem "für die Gesellschaft bestimmten Geschöpf" und von der Geselligkeit als "Erfordernis des Menschen" zu reden, oder von dem "apriori vereinigt gedachten Willen aller" als Rechtsprinzip? — Dieser unauflösliche Zusammenhang von "qualifizierter Freiheit" ("moralischer Identität") und Gesellschaftlichkeit ist von Kant auch wenigstens prinzipiell angedeutet, wenn er von der "Neigung zur Sittsamkeit" spricht, "durch guten Anstand . . . Anderen Achtung gegen uns einzuflößen"; denn diese Neigung "als die eigentliche Grundlage aller wahren Geselligkeit, gab überdem den ersten Wink zur Ausbildung des Menschen als eines sittlichen Geschöpfs". (VI 89 f.)— Kant hat es allerdings versäumt, im Rahmen der in dieser Schrift vorgestellten Entwicklung der Konstitutive menschlicher "Weltoffenheit" - von der "Vormundschaft der Natur" in den "Stand der Freiheit" — den inneren Zusammenhang des "Bewußtseins der Freiheit" mit der Konstitution von "Ich-Identität", der "überlegte(n) Erwartung des Künftigen" (und damit den "Zweck-entwurf") und der Konstitution der Dimension der "Interpersonalität" (sowie deren Differenzierungs- und Organisationsformen) näher zu entfalten. (S. VI 87 ff.) Diese von Fichte aufgenommenen Aspekte sind hier nicht näher zu verfolgen.

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Dieser "Unterschied nach metaphysischen Begriffen" ist indessen schon deshalb evidenterweise von ganz besonderem Interesse, weil die Interpersonalitätsdimension eben nicht unterschiedslos dieser "bloß" metaphysischen Frage ("mit in Gemeinschaft stehender Wesen, Welt [!] genannt") ohne weiteres subsumiert werden kann. Damit resultieren (freilich in analoger Weise) bezüglich dieser "Übertragungstheorie" ganz ähnliche Probleme wie diejenigen, die bekanntlich Schellings Kritik an dem bloß regulativen "als ob" des "Naturzwecks" herausgefordert haben.217 Daß Kant mangels gebotener Sorgfalt auch hier, betreffend also die Interpersonalitätsthematik, Problemnivellierungen unverkennbar begünstigt, dies zeigt wohl auch der Hinweis Kants, dem zufolge aus unserer Verbundenheit "mit anderen Dingen" als "Weltwesen" die Aufgabe abzuleiten sei, auf diese Dinge "entweder als Zweck oder als Gegenstände, in Ansehimg deren wir selbst Endzweck sind, unsere Beurteilung zu richten eben dieselben moralischen Gesetze uns zur Vorschrift machen." (V 573) Man darf doch Zweifel darüber haben, ob hier, über die genannte Naturzweck-Thematik noch hinausweisend, der zentrale Unterschied zwischen verschiedenen Intentionalitätsformen, aber auch der Unterschied zwischen theoretischem und praktischem Selbstbewußtsein, auch nur als Problem zu formulieren ist. Allerdings führt Kant diese Fragestellung mit einem Hinweis vor Augen, der das Problem des Verhältnisses (der Einheit und des Unterschiedes) von Erkennen und Anerkennen betrifft218 und sodann auch auf die notwendige Differenzierimg des Erfahrungsbegriffes verweist: Kant weiß natürlich darum, daß den Menschen als "Vernunftwesen (nicht bloß vernünftiges Wesen, weil die Vernunft nach ihrem theoretischen Vermögen wohl auch die Qualität eines lebenden körperlichen Wesens sein könnte), . . . kein Sinn erreicht und das sich nur in moralisch-praktischen Verhältnissen, wo die unbegreifliche Eigenschaft der Freiheit sich durch den Einfluß der Vernunft hier auf den innerlich gesetzgebenden Willen offenbar macht, erkennen [!] läßt." (IV 550) Gleichwohl bleibt doch auch noch darauf zu achten, daß das hier wesentliche Problem einer transzendentalen Konstitution von Interpersonalst der Frage nach dem Erkennbarkeitskriterium doch noch vorausgesetzt ist. Während in dem angeführten Zitat der für den theoretischen Bereich bestimmende und auf den durch die notwendige "Korrespondenz" von Anschauung und Verstand limitierte Bereich der Erscheinungen klar eingegrenzt ist, bliebe in entsprechender Weise bezüglich des "praktischen Verhältnisses" der Anerkennung ein Erfahrungsbegriff zu denken, der nun auf die Persönlichkeit selbst, als dem von Kant so genannten "Wesen selbst", erst noch zu beziehen wäre. Kant teilte

217 218

Schelling, Schriften von 1794-1798, 367. S. dazu H. Girndt, Ansätze zu einer . . . 47 f.

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wenigstens implizit die Ansicht Fichtes: "Vernunft und ein freies Wollen anderer außer mir sehe, höre, fühle ich nicht, sondern ich denke und schließe auf dieselben bloß aus einer Wahrnehmung in der Sinnenwelt . . . Vernunft, Freiheit, vernünftige Wesen gehören daher unter die intelligible Welt oder unter die Noumene."219 Dennoch, und obwohl diese Themen natürlich auch hinsichtlich der Begründungsfragen seiner Moralphilosophie und Ethik (und nicht zuletzt betreffend die Frage der Möglichkeit des praktischen Selbstbewußtseins) von besonderer Wichtigkeit sind, hat Kant diese Fragen im Grunde doch nie wirklich zum ausdrücklichen Gegenstande seines Nachdenkens gemacht. In diesem Sinne nimmt Kant tatsächlich an (d. h. aber: er setzt voraus), "daß es viele selbstbewußte und zur Erkenntnis befähigte Wesen gibt. Insofern sie von ihrer Identität wissen, weiß jedes von seiner realen Unterschiedenheit von anderen selbstbewußten Wesen - auch wenn es den Grund dieses Unterschieds nicht zu begreifen vermag. Also muß jedes Erkenntnissubjekt auch eine Ordnung denken, in der es von anderen unterschieden ist." Und auch diese "Ordnung der selbstbewußten Wesen . . . kann Kant so wie die Ordnung der natürlichen Welt [nicht] aus den Bedingungen der Erkenntnis herleiten. Denn man kann nicht umhin, sie als in aller Erkenntnis real vorausgesetzt zu denken."220 Es leuchtet auch ohne weiteres ein, daß die genannte Dimension der "Anerkennung" nicht aus der transzendentalphilosophisch gedachten Konstituierung des Anderen (und zwar eben als "Synthesis" von bloßem "Ding" und "Selbstbewußtsein") gemäß der zuvor genannten Übertragungsvorstellung des "projizierten Ich" — was ohnehin nur zu einem defizienten Begriff des "anderen Subjekts" führen kann221 — herzuleiten ist oder auch nur als ein daraus folgender "sekundärer Akt" aufzufassen wäre. Ist dann für diese praktische Dimension der Anerkennung des Vernunftwesens "in moralisch- praktischen Verhältnissen" aber nicht ein kommunikatives Apriori immer schon so vorausgesetzt (als "ursprünglich erworben"), das es erlaubt, für den in diesem Problemkontext sich als relevant erweisenden Erfahrungsbegriff analog die berühmten Einleitungssätze der Kritik der reinen Vernunft in entsprechender Weise (und schon in Berücksichtigung des kantischen Idealismus-Arguments) für diese Anerkennungsproblematik fruchtbar zu machen: "Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel: [. . .] wenn aber gleich alle unsere Erkenntnis m i t der Erfahrung anhebt, so entspringt

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220 221

Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo 1798 476 f. In: Nachgelassene Schriften Bd.2. Hg. v. H. Jacob.Berlin 1937. D. Henrich, Kant und Hegel 195. S. dazu auch W. Lütterfelds, Ist die empirische Sprache . . . 249.

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sie darum doch nicht eben alle a u s der Erfahrung" (II 45) Î222 Schon für Kants Position — und nicht erst für Fichte ~ bliebe somit wenigstens im grundsätzlichen festzuhalten, daß "aus prinzipiellen Gründen das Erfassen des fremden Ich nicht als ein theoretischer Akt des Vorstellens für sich isoliert werden" kann, "denn der systematische Ort der Gewißheit fremdpersonaler Existenz ist die praktische Vernunft."223 Wäre in dieser Weise aber nicht wenigstens ansatzweise ein Weg gewiesen, der es nunmehr erlaubte, die Konstitution des "Anderen" (als "Erscheinung") doch auch damit zusammenzudenken, "daß der Andere auch eine nichtkonstituierte An-sich-Existenz und deshalb mir gegenüber denselben Konstitutionsvorrang besitzt"224 -- was es im weiteren sogleich erforderlich machte, für diese Wirklichkeit der "Anerkennung" das Verständnis des idealistischen "praeter nos" entsprechend zu modifizieren? Dies bedeutete nun gar nichts anderes als dies, zugleich damit eben bezüglich dieser "moralisch-praktischen Verhältnisse" Kants Idealismus-Argument aus der Kritik der reinen Vernunft noch zu erweitern und zu modifizieren. Wie ist nun jedoch im weiteren in Anbetracht des praktischen Anerkennungsverhältnisses dieses Idealismus-Argument angemessen zu bestimmen, wenn diese kantische "Widerlegung des Idealismus" aus Kants erster Kritik einerseits bekanntlich doch auf diesen Versuch des Aufweises zielt, "daß die Existenz äußerer Gegenstände zur Möglichkeit eines bestimmten Bewußtseins unserer selbst erfordert wird"? (II 257) Darin liegt für Kant bekanntlich der Ermöglichungsgrund des empirischen Selbstbewußtseins: d. h. dafür, daß "das denkende Subjekt ihm selbst, in der inneren Anschauung [bloß] Erscheinung" ist. Wie steht es nun aber, wenn doch das reine Selbstbewußtsein des "Wesens an sich selbst", in dem das "Subjekt. . . auch seiner, als Dinges an sich selbst, bewußt" ist (IV 223), und damit auch dessen transzendentaler Ermöglichungsgrund in Frage steht? Ist doch die im Anerkennungsverhältnis bestimmende praktische Intentionalität nun notwendig auf das andere Subjekt als "Ding an sich selbst" (als "Wesen selbst") bezogen, das die theoretische Intention in sich

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Vgl. dazu Kants Gedanken der "Ich-Verleihung" an andere "Subjekte" [!] als "Ermöglichungsgrund dafür, diese vorstellen zu können." (Akademie-Ausgabe XVII679) E. Düsing, Intelsubjektivität und Selbstbewußtsein 286. Dies stellt Düsing freilich mit Blick auf Fichte fest. Für diesen gelte: "Das Wissen von einem alter ego ist für Fichte somit ein Wissen von besonderer und unvergleichlicher Qualität. Hier schließt jedes Erkennen notwendig schon ein Anerkennen ein." (ebd) Und: "vollständige Anerkennung erweist er [Fichte] als praktischen Akt wechselseitiger Konstitution von personaler, freier, individueller Identität, der zugleich ein inteisubjektivitätskonstituierender Akt ist." (ebd.289, vgl. auch 375 f.) Kann dies aber übersehen lassen, daß Fichte in transzendentaler Perspektive den personalen Fremdbezug doch auch den Voraussetzungen des "zweiten Grundsatzes" der Wissenschaftslehre subsumiert? W. Lütterfelds, Ist die empirische Sprache . . . 250.

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"aufhebt", aber auch bezüglich der Erkenntnisproblematik zu gelten hat, daß die "Kausalität durch Freiheit immer außer der Sinnenwelt im Intelligiblen gesucht werden muß. Andere Dinge, außer den Sinnenwesen, sind uns aber zur Wahrnehmung und Beobachtung nicht gegeben." (IV 232)225 Wenn jedoch "innere Erfahrung selbst nur mittelbar und nur durch äußere überhaupt möglich" ist (II 256) und damit eben empirisches Selbstbewußtsein darin die Bedingung seiner Möglichkeit hat: wie steht es dann um den transzendentalen Ermöglichungsgrund des moralischen Selbstbewußtseins des Subjekts als eines "Dinges an sich selbst" und den diesem entsprechenden Erfahrungsbegriff?226

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Gilt denn aber nicht auch hier in entsprechendem Sinn: "Nur durch das, was der Verstand selbst macht, versteht das Subjekt seinen Gegenstand"? (Kant, Akademie-Ausgabe X X I 578) — Was bedeutet dann aber Kants gewiß denkenswerter Satz: "Ich kann einen anderen niemals überzeugen als durch seine [!] eigene Gedanken"? (Akademie- Ausgabe X X 32) Ist aber in diesem Satz nicht auch ein Bedingungsverhältnis — und zwar eben als Einheit von Fremdbezug und dem Ermöglichungsgrund der logischen "Identität" — wenigstens als ein Problem mitangesprochen? Und gewährt so nicht allein dies erst ein Standnehmen "gleichsam [!] in der Persönlichkeit der Vernunft" (Akademie-Ausgabe X I X 103; 279) und die ihr eigene "Unparteilichkeit" und Verbindlichkeit? Auch Kants Lehrstück von dem "Gemeinsinn" in der Kritik der Urteilskraft bedürfte hier einer ausführlichen Analyse.- "Denken" nennt Kant gelegentlich auch "nach zusammenhängenden Begriffen sprechen". (VI 86 f.). S. auch u. Anm. 289. Vgl. dazu die in der Tat unabweisbaren Anfragen Heideggers an die einschlägigen Überlegungen Kants, im besonderen betreffend die Eigenart des moralischen Selbstbewußtseins (und den entsprechenden Erfahrungsbegriff) (M.Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie 186 f.), den "wesentlichen Mangel des Ich-problems bei Kant" bezüglich des ungelösten Problems der "Einheit des theoretischen und praktischen Ich", sowie des "ontologischen Zusammenhanges zwischen personalitas moralis und personalitas transcendentalis" und zwischen "beiden in ihrer Einheit einerseits und der personalitas psychologica andererseits." (ebd. 207 f.) Diese schwerwiegenden Bedenken Heideggers sind jedoch im prinzipiellen auch nicht durch den — in sich freilich berechtigten - Hinweis Düsings (im Anschluß an Heimsoeth) zu beseitigen: "Kant hat darauf hingewiesen, daß das Ich der reinen transzendentalen und das der empirischen Apperzeption — der Struktur nach ähnlich wie die spätere Zweieinheit von intelligiblem und empirischem Charakter — nur für die Vorstellungsart, nicht aber an sich etwas Verschiedenes zu denken sind. 'Das Subjekt-Ich jenes Ich-denke ist also der Sache nach dasselbe wie das individuell-reale Ichobjekt der inneren Wahrnehmung." (E. Düsing, InterSubjektivität und Selbstbewußtsein . . . 40) — Kant spricht freilich genau besehen ausdrücklich von dem Bewußtsein [!] des "doppelten Ich", ist doch keinesfalls eine "doppelte Persönlichkeit" gemeint, auch wenn dieser Unterschied "vielen . . . zwei Subjekte in einer Person vorauszusetzen" scheint. (III 599; 601) — Es ist offenkundig, daß mit diesen Fragen nicht zuletzt das Problem der "Einheit der Subjektivität" (D. Henrich), das Verhältnis von theoretischem und praktischem Selbstbewußtsein unmittelbar mitangesprochen ist. Die damit verbundenen Schwierigkeiten werden allerdings auch durch den Hinweis Heinrichs' nicht geringen daß nämlich Kants "transzendentale Apperzeption . . . als Einheit von Selbstbezug und

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Dieser wäre nun, auf den "positiven Begriff der Freiheit des Willens" zielend, notwendigerweise auf das Bewußtsein dieses "moralischen Grundgesetzes" als dem "Faktum der reinen Vernunft" zu beziehen und verdiente auch nur so als "innere Erfahrung" (freilich in einem strengen, und nicht bloß "komparativen Sinne") bezeichnet zu werden. Bezüglich dieses Begriffs der "praktischen Erfahrung" bliebe nun natürlich mit Fichte die unabweisbare Frage zu stellen, ob nicht in der Tat "im Kantischen System sich ganz genau die Stelle nachweisen" läßt, "an der von ihr [der intellektuellen Anschauung] gesprochen werden sollte. Des kategorischen Imperativs ist man nach Kant sich doch wohl bewußt? Was ist denn dies nun für ein Bewußtsein? Diese Frage vergaß Kant sich vorzulegen, weil er nirgends die Grundlage a l l e r Philosophie behandelte, sondern in der Kritik der r. V. nur die theoretische, in der der kategorische Imperativ nicht vorkommen konnte: in der Kritik der praktischen Vernunft nur die praktische, in der es bloß um den Inhalt zu tun war, und die Frage nach der Art des Bewußtseins nicht entstehen konnte. ~ Dieses Bewußtsein [des kategorischen Imperativs] ist ohne Zweifel ein unmittelbares, aber kein sinnliches: also gerade das, was ich intellektuelle Anschauung nenne: und, wenn es in der Philosophie keinen klassischen Autor gibt, mit demselben Rechte so nenne, mit dem Kant etwas anderes, das Nichts ist, so nennt: mit demselben Rechte fordere, daß man sich mit der Bedeutung meiner Bezeichnung bekannt mache, ehe man mein System richtet."227 Es ist zu fragen, ob Kants eigene Argumentation diese Sicht Fichtes wenigstens in sachlicher Hinsicht nicht eher bestätigt, als diese zu widerlegen in der Lage ist: denn wenn doch "der Wille eines vernünftigen Wesens, das, als zur Sinnenwelt gehörig, sich . . . im Praktischen . . . , nämlich

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Fremdbezug gedacht werden" müsse. (J. Heinrichs, Dialektik und Dialogik 433) Bleiben so die zuvor genannten Fragen aber nicht vielmehr gerade verdeckt? — Fichtes bekanntes Diktum: "Kein Du, kein Ich; kein Ich, kein Du" (Akademie-Ausg.1,2.337) bezieht sich natürlich auf das "individuelle Ich". "Selbsterkenntnis" und "praktisches Selbstbewußtsein" (und der entsprechende Erfahrungsbegriff) wären so erst herzuleiten. S. dazu o. Anm. 211! Fichte, Akademie-Ausgabe 1,4.225. Gilt dies in der Folge nicht auch bezüglich Kants Feststellung: "Was ich unmittelbar als Gesetz für mich erkenne, erkenne [!] ich mit Achtung"? (IV 401 , s. dazu auch noch einmal die in Anm. 223 zitierte Bemerkung Düsings.) Gerade mit Blick auf Fichtes Argumentation bleibt freilich darauf zu achten, daß das "Bewußtsein des Grundgesetzes" (als "Faktum der Vernunft") im Sinne des "kategorischen Sollens" von dem durch den kategorischen Imperativ gebotenen "Sollen" zu unterscheiden ist, sofern letzteres nämlich bloß auf das durch "Sinnlichkeit affizierte Wesen" zielt. In einer genaueren Analyse dieser Fragen blieben, wie erwähnt, die wesentlichen (wenn auch dunklen) Gedanken Kants über die Möglichkeit des "Selbstbewußtseins einer reinen praktischen Vernunft" und damit das Bedingungsverhältnis von "Freiheit und unbedingtem praktischen Gesetz" zu beachten. S. dazu §§ 5 ff. der "Kritik der praktischen Vernunft".

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als Wesen an sich selbst, seines in einer intelligiblen Ordnung der Dinge bestimmbaren Daseins bewußt ist, zwar nicht in einer besonderen Anschauung seiner selbst, sondern gewissen dynamischen Gesetzen gemäß, die die Kausalität desselben in der Sinnenwelt bestimmen können." (IV 155) Kant selbst steht zweifellos vor dem Problem eines "praktischen Selbstverhältnisses", das nun eben das Thema der "intellektuellen Anschauung" unumgehbar macht. Ist es doch dabei notwendig um ein "Selbstverhältnis" zu tun, dem man nicht durch den Hinweis darauf gerecht wird, "daß sogar das denkende Subjekt ihm selbst, in der inneren Anschauung, bloß Erscheinung sei". (IV 110)(S. dazu IV 141 f.)228 Kant unterscheidet bekanntlich zwischen

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Nicht uninteressant ist auch Kants Hinweis auf Möglichkeit und Reichweite der rationalen Psychologie als einer "Anthropologie des inneren Sinnes, d. i. Kenntnis unseres denkenden Selbst im Leben", welche so "als theoretisches Erkenntnis auch bloß empirisch bleibe". (V 590) Vgl. auch Kants Unterscheidung zwischen "reiner" und "empirischer" Apperzeption (VI 417 Anm; VI 428 f Anm.), sowie auch den so bezeichneten Unterschied zwischen "empirischer Erkenntnis" und dem "Erkennen an sich selbst" als dem "Bewußtsein reiner Spontaneität (der Freiheitsbegriff.)": VI 427 A n m . - Es dürfte doch mißverständlich sein, wenn Heinrichs fordert, Kants "transzendentale Apperzeption" sei als "Einheit von Selbstbezug und Fremdbezug" zu denken (s. Anm. 226), denn dieses so bedachte Ursprungsverhältnis, das "Entsprungensein" von Selbstbezug und Fremdbezug aus dem "daß ich bin" als dem Ermöglichungsgrund aller "Bezüge", scheint doch so eher noch verdeckt zu bleiben, was mit dem Problem der "Einheit der Subjektivität" auch für das Verhältnis von "epistemischem" und "praktischem" Selbstbewußtsein von Bedeutung ist. Auf Fichte gesehen scheint es doch so zu sein, daß Heinrichs solcherart das Problem der "Deduktion" der Individualität als der "Ichheit" überspringt, d. h. gerade nicht die (allerdings auch für Fichte "heikle") Frage Fichtes stellt, wie denn das individuelle Ich aus dem "allgemeinen reinen Ich" herzuleiten ist bzw. sich zu diesem verhält. Tritt denn eben genau dieses Problem nicht in aller wünschbaren Deutlichkeit auch an jener Stelle aus Fichtes "Zweiter Einleitung in die Wissenschaftslehre" zutage, in der Fichte wiederum auf Kants "reine Apperzeption" Bezug nimmt und es sodann in überaus aufschiußreicher Weise heißt: "Auch kann Kant unter dieser reinen Apperception nicht das Bewusstseyn unserer Individualität verstehen, noch das letztere mit dem erstem vermischen; denn das Bewusstseyn der Individualität ist nothwendig von einem andern Bewusstseyn, dem eines Du begleitet, und nur unter dieser Bedingung möglich." (Akademie-Ausgabe 1.4, 229). Widerspricht diesem eben vorhin genannten Interpretationsvorschlag Heinrichs' aber nicht auch schon Kants ausdrücklicher Verweis darauf, daß dieses in der "transzendentalen Apperzeption" gemeinte "Bewußtsein seiner selbst [jedoch] . . .noch lange nicht [als] ein Erkenntnis seiner selbst" gelten dürfe? - Es bestätigt sich jedenfalls insofern in all diesen Fragen letztlich nur noch einmal Patons Ansicht, daß "Kants Ausführungen über Selbsterkenntnis der unklarste und schwierigste Teil seiner ganzen Philosophie" darstellen. (Der kategorische Imperativ 290) — Ganz irreführend ist zweifellos auch die Auskunft von Jürgen Heinrichs, das "Faktum des ursprünglichen Bewußtseins des Sittengesetzes" werde "erfahren als ein ursprüngliches unabweisbares Datum des inneren Sinnes [!], das aber nicht empirisch zu begründen ist, sondern apriori auf Vernunft beruht." (Das Problem der Zeit . . .46) Das Sittengesetz wird nach Kant niemals "ein Datum des inneren Sinnes", sodaß damit auch unrichtig ist: "Die Faktizität

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jenem Selbstverhältnis, in dem das "Subjekt der Freiheit zum Noumenon" sich bestimmt, von demjenigen, "in dem es sich in Absicht auf die Natur zum Phänomen in seinem eigenen empirischen Bewußtsein" macht. Allerdings versäumt es Kant, zu klären, wie dieser Unterschied im einzelnen zu denken ist und was daraus im weiteren zu folgern bleibt. Daß das "praktische Vermögen" als die "innigste Wurzel des Ich" zu gelten habe, entspräche so ohne weiteres Kants Lehre vom eigentlichen "unsichtbaren Selbst" (IV 300). Auch für Kants Position soll sich, was noch zu verfolgen sein wird, als gültig erweisen, daß der in der Dimension der Interpersonalität vorausgesetzte "Fremdbezug" selbst als "Grund seines Selbstseinkönnens"229 aufzufassen ist. Dann fällt freilich auch ein recht bezeichnendes Licht auf die Feststellung Kants: "Was ich unmittelbar als Gesetz für mich erkenne, erkenne [!] ich mit Achtung". (IV 28) Es ist in sachlicher Hinsicht ohne Zweifel ein kantischer Satz, wenn es in der zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre bei Fichte heißt: "Nur durch dieses Medium des Sittengesetzes erblicke ich mich."230 Die nicht auf empirischen Prinzipien beruhende Willensbestimmung nach dem moralischen Gesetz (IV 71) ist nach Kant nichts anderes als das "Faktum der reinen Vernunft", das nach vorhin Gesagtem erst von der Interpersonalitätsdimension aus (gemäß der Einheit von Selbst- und Fremdbezug) die Erklärung seines Ermöglichungsgrundes findet. Schon im Ausgang von Kant wäre infolgedessen wenigstens in einer problemorientierten Perspektive Heinrichs' These zu verstehen: "Die Einheit von Selbstbezug und Fremdbezug läßt sich in der Tat nur streng denken, wenn ursprünglich und letztlich der Selbstbezug als solcher zugleich Fremdbezug ist, wenn im inhaltgebenden Anderen das Selbst sich fmdet und seine formale Selbstbezüglichkeit realisiert. Die Einheit von Form der Selbstbezüglichkeit und ihrem Inhalt ist die Einheit von Selbst und Anderem, und zwar einem seinerseits selbstbezüglichen, also personal Anderen." Auch für Kant hätte gewiß Gültigkeit, "daß das SB-Problem zum Intersubjektivitätsproblem geworden ist, weil deutlich werden muß, wie Selbstbezug mit Fremdbezug eine

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des Gegebenseins verbürgt den apodiktischen Anspruch und die Geltung für jedermann." S. dazu noch einmal IV 141 f! E. Düsing, InterSubjektivität und Selbstbewußtsein . . . 267. Es geht damit um das Problem der "Gegebenheitsweise des fremden Ich, das mehr ist als ein Teil der materiellen Außenwelt." (ebd.182) Fichte, Akademie-Ausgabe 1,4.219.- Nach Kant (II 361) wird erst durch das "Bewußtsein des moralischen Gesetzes" "unsere Wirklichkeit bestimmbar* — ohne die "Bedingung der empirischen Anschauung." S. dazu o. Anm. 211!

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innere, das SB erst fundierende Einheit bilden kann."231 Das Problem freilich bleibt — gerade wiederum mit Blick auf Fichte --, daß das "Verhältnis" (die Einheit) von "allgemeinem reinen Ich" und Individualität dabei nicht eingeebnet werden darf ~ eine Schwierigkeit Fichtes, die in seinem Werk immer wieder begegnet. Kants Systematik erlaubt es nun durchaus, verschiedene Weisen und Differenzierungsstufen von Intentionalitätsformen im einzelnen zu unterscheiden und aufeinander zu beziehen. Ihre Notwendigkeit ergibt sich aus der auch von Kant wenigstens grundsätzlich geteilten Einsicht, daß das "Problem einer Einheit von Selbstbezug und Fremdbezug . . . im Hinblick auf den Gegenstandbezug allein nicht lösbar" ist.232 Wäre denn, so bliebe noch einmal anzumerken, in einem genauen Sinn ohne diese Einheit von Selbst- und Fremdbezug überhaupt noch vom Menschen zu behaupten, er sei "durch seine Vernunft [!] bestimmt, in einer Gesellschaft mit Menschen zu sein, und in ihr

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J. Heinrichs, Reflexion und soziales System 543.— Auch Girndt möchte schon Kant die von seinen Nachfolgern freilich erst entfaltete Einsicht zuerkennen, "daß grundsätzlich nur unter der Voraussetzung eines freilassenden Aufgefordertseins so etwas wie personales Selbstsein denkbar und möglich ist.* (Ansätze zu einer Interpersonalitätstheorie . . . 43) Freilich: in seiner Rezension des zweiten Teils von Herders "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" (VI 797, aus dem Jahr 1785, das ist bekanntlich das Erscheinungsjahr der Grundlegungsschrift) scheint Kant ganz ausdrücklich in Polemik gegen Herder geltend zu machen, "den Ursprung der Bildung des Menschen als eines vernünftigen und sittlichen Geschöpfes, mithin den Anfang aller Kultur" doch ganz "in dem eigenen Vermögen der Menschengattung" und nicht, wie Herder, "in einer Belehrung und Unterweisung von andern Naturen zu suchen" (VI 802); dabei dürfte es doch so sein, daß in solch (nur vermeintlich) alternativem Ansatz die eben nicht zuletzt für das Verständnis des "Menschen als eines vernünftigen und sittlichen Geschöpfes" notwendig vorausgesetzte "Einheit von Selbstbezug und Fremdbezug" unberücksichtigt bleibt, zumal das bezüglich des qualitativen praktischen Selbstbezuges unabdingbare "auBer uns" als Konstitutivum der Dimension der Anerkennung, das "kommunikative Apriori", noch außerhalb des kantischen Blickfeldes liegt. Darauf zielt ohne Zweifel auch die wiederholt gegen Kant erhobene Kritik Apels: "Tatsächlich wird bei Kant der ethisch relevante Bezug des kategorischen Imperativs auf alle anderen Personen qua Vernunftwesen, für die ein allgemeingültiges Sittengesetz verbindlich sein muß, entweder als vorphilosophische Selbstverständlichkeit oder in der Form einer metaphysischen Hypostasierung — ζ. B. als 'Reich der Zwecke' — vorausgesetzt. Es gibt für Kant kein transzendentales Apriori der Intersubjektivität, d. h. der realen und der darin kontrafaktisch antizipierten idealen Kommunikationsgemeinschaft." (K. O. Apel, Diskurs und Verantwortung . . . 447) J. Heinrichs, Reflexion als soziales System . . . 48. Dessen ungeachtet dürfte die Behauptung wenigstens fragwürdig sein, "daß Objektivität ursprünglich und grundsätzlich in intersubjektivem Zusammenhang steht: sinnanalytisch betrachtet, hat es kein Subjekt für sich allein mit Objektivität zu tun" (ebd.): wird hier nicht ganz unbefragt Objektivität mit "Geltung" einfach gleichgesetzt?

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sich durch Kunst und Wissenschaften zu kultivieren, zu zivilisieren und zu moralisieren"?(VI 678) In den hier interessierenden Problemkontext gehört zweifellos auch eine höchst aufschlußreiche Anmerkung aus der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft, die sich auf Kants "neue Widerlegung des psychologischen Idealismus" bezieht.233 Hier findet sich nicht nur der Hinweis darauf, daß das "empirische Bewußtsein meines Daseins . . . nur durch Beziehung auf etwas, was, mit meiner Existenz verbunden, außer mir ist, bestimmbar i s t . . . " (II 38) — d. h. daß so der "äußere Sinn . . . schon an sich Beziehung der Anschauung auf etwas Wirkliches außer mir" ist; zu der hier interessierenden Thematik heißt es sodann noch weiter: "Wenn ich mit dem intellektuellen [!] Bewußtsein meines Denkens, in der Vorstellung Ich bin, welche alle meine Urteile und Verstandeshandlungen begleitet, zugleich eine Bestimmung meines Daseins durch intellektuelle Anschauung verbinden könnte, so wäre zu derselben das Bewußtsein eines Verhältnisses zu etwas außer mir nicht notwendig gehörig." (II 39) Dies ist nämlich doch wohl deshalb zu bestreiten, weil die Möglichkeit praktisch-moralischer Selbsterfahrung als "Wesen an sich selbst" — und das ist diejenige der "positiven Freiheit" — auf ein notwendig vorauszusetzendes ("gesetzt als nicht-gesetzt"), freilich nicht bloß als "extra nos" verstandenes "außer uns" (ein eben nicht bloß "empirisch außer mir": III 208) verweist, mit welchem unzertrennlich dieses "Bewußtsein eines Verhältnisses zu etwas außer mir identisch verbunden" ist (II 38 f.) und ohnedem also qualifizierte praktische "Selbsterfahrung" auch nicht gedacht werden kann. Kants These, "der Begriff: außer uns, bedeutet nur die Existenz im Räume" (III 209), wäre so gesehen zu korrigieren, wenn doch damit offensichtlich das für praktische Vernunftintentionalität konstitutive "außer uns" unberücksichtigt bliebe, welches auch nicht aus der Intentionsform theoretischer Erfahrung ("SubjektObjekt") ableitbar (oder dieser einfachhin subsumierbar) ist. Kants Hinweis, daß wir auch die bloße "Möglichkeit" der positiven Freiheit nicht einsehen können, wäre auch unter diesem Aspekt zu sehen, entspricht dies doch lediglich der auch von ihm behaupteten "Unerklärlichkeit" und Unableitbarkeit des "Faktums der reinen praktischen Vernunft". Dieses ist, mit der sie ermöglichenden Erfahrung, notwendig "ein Noumenon in positiver Bedeutung", wie Kant in seiner zweiten Kritik dies ja ebenfalls darlegen will. Die Erfahrung der "Freiheit im positiven Verstände" und der ihr "eigenen Gesetzgebung . . . der reinen . . . praktischen Vernunft" als dem "einzigen Faktum der reinen Vernunft . . . , die sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend . . . ankündigt" (IV 142), ist ohnedem gar nicht möglich und versetzt damit den Menschen erst in den Stand qualifizierter (moralischer)

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Vgl. auch Kants Hinweis in der Paralogismenlehre II 346 ff.

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Freiheit. Sie fungiert damit also als Ermöglichungsgrund qualifizierter (moralischer) Ich-Identität. Mit Blick auf Kant wäre demnach nur so Fichtes Einwand zu verstehen: "Der Begriff eines Reichs vernünftiger Wesen, und überhaupt irgendeines vernünftigen Wesens außer mir darf nicht vorkommen. Er kann demnach nur aus dem bloßen Ich, er kann nur so geführt werden: Ich selbst kann mich nicht denken, ohne vernünftige Wesen außer mir anzunehmen."234 Die Wirklichkeit des "Noumenons im positiven Verstände" (in dem "positiven Begriff der Freiheit") wäre eine solche Selbst-setzung, die schon in ihrer Möglichkeit ohne den konstitutiven Bezug zu Anderen — genauer noch: von diesen her! -- gar nicht zu denken ist. Dieser "Andere" fungierte so keinesfalls als bloße "Schranke" ("Wider-Stand"), sondern wäre vielmehr selbst Ermöglichungsgrund der positiven Freiheit, zumal im Absehen davon (und d. h. bloß "negativ", "einschränkend") es den positiven Freiheitsbezug gar nicht eröffnen und tragen könnte und nur so aber auch "als die von Grund auf positive Ermöglichung des Selbstseins verstanden werden darf.B23S Dieser (positive) Ermöglichungsgrund der "positiven Freiheit" und damit des "Selbstseins" ist schon deshalb anderes als bloße "Schranke", weil doch im "Aufforderungsbewußtsein . . . es sich um eine positive Ermächtigung der einen Freiheit durch die andere" handelte.236 In dieser zweifellos notwendigen Erweiterung (Modifikation) des kantischen Idealismus-Argumentes bleibt folglich zu vermuten, daß schon bei Kant der

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Fichte, Akademie-Ausgabe III.2.385. — Es erweist sich als ein im Grunde (d. i. in sachlicher Perspektive) genuin kantisches Problem, das E. Diising mit Blick auf Fichte dahingehend formuliert: "Wie komme ich dazu, das Dasein anderer Personen nicht nur 'anzunehmen', wozu . . . ein rein theoretischer Akt hinlänglich ist, sondern auch noch diese als vernünftige Wesen 'anzuerkennen'. Das theoretische 'Annehmen' fremdpersonaler Existenz ist im Sinne der Entwicklung von Fichtes Gedankengang nur ein notwendiges Moment für die Ermöglichung des 'Anerkennens' derselben. Mit der Rede von vernünftigen Wesen 'außer' mir legt sich zwar die räumliche Bedeutung dieses Ausdrucks nahe, doch meint er primär damit die Möglichkeit einer anderen, von mir unterschiedenen Freiheit und Vernünftigkeit." (E. Düsing, InterSubjektivität und Selbstbewußtsein 227) Es ist der Sache nach ein Gedanke Kants: "die Idee eines anderen freien Vernunftwesens entsteht gerade nicht aus kategorial geordneter Erfahrung und Beobachtung; sie entspringt vielmehr als - empirisch wohl zu bewährendes — Postulat aus dem Vernunftinteresse des praktischen Ich." (ebd. 229) J. Heinrichs, Fichte, Hegel und der Dialog . . . 105. Auch Girndt möchte diesen in dem Imperativ artikulierten Anspruch auf Anerkennung über alle Einschränkung hinaus als "Forderung nach Selbstbeschränkung sowohl als auch der Einräumung von Bedingungen fremder vernünftiger Existenz" verstehen. (H. Girndt, Ansätze . . . . 47) — Es wird sich bestätigen, daß schon Kants Bestimmung der bürgerlichen Gesetze als "Einschränkungen unserer Freiheit auf Bedingungen, unter denen sie durchgängig mit sich selbst zusammenstimmt" (II 313), der Sache nach auf den inneren Zusammenhang des Anerkennungsprinzips, Interpersonalität und "qualitative Ich-Identität" verweist. J. Heinrichs, Fichte, Hegel und der Dialog . . . 109.

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von Fichte sodann erst entfaltete Gedanke wenigstens in Ansätzen grundgelegt ist, "daß das Ich nur durch die Aufforderung, den Anruf anderer Freiheit zur Konstitution der Andersheit überhaupt bewegt werden kann."237 Davon unterscheidet sich nun aber wohl auch für Kant das Bewußtsein vom Anderen als einer bloßen "Schranke" und das dem entsprechende Selbstverständnis. Dies impliziert somit schon bei Kant den Gedanken einer Stufung des Anerkennungsverhältnisses, das sich auch für ihn natürlich nicht in der formalrechtlichen Anerkennung (und damit der praktischen Wirklichkeit des "Reichs der Zwecke") erschöpfen kann. Daß das "andere Du ursprünglich als positive Ermöglichung meines Selbstvollzuges"238 anzusehen ist — dieser weiteren Forderung wäre jedoch damit noch keineswegs entsprochen. In der weiteren Folge zeigt sich nun aber, über das Problem des in transzendentalistischer Konzeption des Du lediglich "veränderten Ich" noch hinausgehend, daß dieser Andere indessen auch nicht zu einem bloßen (wenn auch konstitutiven) Moment des praktischen Selbstbewußtseins oder gar etwa nur, in "genetischem Aspekt", als bloßer "Anstoß" zur Selbstfindung, d. i. zur "Aktualisierung seines Selbstbezugs", herabgesetzt werden kann.239 Mit Blick auf Kants Unterscheidung verschiedener Weisen der Pflicht sowie deren verschiedenes Verbindlichkeitsniveau bleibt bezüglich der von ihm zwar nicht ausgeführten, aber in verschiedenen Aspekten motivlich vorbereiteten Interpersonalitätsthematik (der in ihr notwendig zu vermittelnden Einheit von reflexivem Selbstbezug und Fremdbezug) auch darauf zu sehen, daß diese Dimension der Interpersonalst auch bei Kant, entsprechend dem Status der unterschiedlichen Pflichten bzw. dem Gehalt und der "Reichweite" der "Imperative", sich auf verschiedenen Ebenen wenigstens als Problem zum Ausdruck bringt: so wäre im Kontext dieser der Interpersonalitätsthematik immanenten notwendigen Unterscheidung praktischer Intentionalitätsformen

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J. Heinrichs, Fichte, Hegel und der Dialog . . . 108. J. Heinrichs, Dialektik und Dialogik... 437. — Auf Heinrichs' interessanten Hinweis, daß in einer "dialogischen Dialektik die aufeinander unrückführbare Gleichursprünglichkeit von denkendem Subjekt . . . , anderer Subjektivität . . . , Gegenständlichkeit . . . und Sinnmedium . . . kennzeichnend" seien, ist hier nicht näher einzugehen (Dialektik und Dialogik . . . 438); die Thematik erinnert augenfällig an die besonders von B. Liebrucks im Anschluß an Humboldt herausgestellte "Dreistrahligkeit der semantischen Relation". J. Heinrichs, Reflexion-Intersubjektivität-Zeit . . . 575. Mit ausdrücklichem Bezug auf Hegel heißt es auch: "Es wäre möglich, . . . die Notwendigkeit eines zweiten Ich oder Selbstbewußtseins für das Erwachen des einen, also damit die Notwendigkeit einer Mehrzahl von Selbsten im geistigen Sinn darzutun . . . Es wäre zu zeigen, daß das Erwachen e i n e r Freiheit, ihre Selbstsetzung, nur als Selbstempfängnis von einer anderen Freiheit her möglich ist." (Sinn und InterSubjektivität 171) — Dahingehend wäre nun sinngemäß Kants Fragestellung, "ob dieses Bewußtsein meiner selbst ohne Dinge außer mir . . . gar möglich sei" (II 347), zu erweitern bzw. auch zu transformieren.

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etwa darauf hinzuweisen, daß bezüglich der auf die Handlungsebene bezogenen (und beschränkten) Rechtspflichten dieser Andere (dessen Handlungen) lediglich als "Schranke" fungiert und mit dem darin möglichen Absehen von aller moralischen (gesinnungsmäßigen) Intention auch diese Einheit von Fremd- und Selbstbezug in ganz bestimmter Weise qualifiziert. Mit guten Gründen und wohl auch ganz im Sinne Kants weist deshalb Heinrichs gegenüber den bekannten sozialromantischen Einwänden gegen Kant darauf hin: "Das Recht sucht die Interessen sowie die Freiheit des Einzelnen mit deijenigen aller Einzelnen in Einklang zu bringen. Recht ist Regel der Zusammenstimmung der Freiheiten, nur dort, wo sie sich negativ begrenzen: im äußeren Handeln und in bezug auf Dinge. Dort aber können sie sich auch zwingen, und dabei ist wirksames Recht mit Zwang verbunden. Die Gesinnungen und Wertungen als solche interessieren im Recht, streng genommen, nicht. . . Aber sie gehören selbst einer tieferen Sphäre der sozialen Freiheit an."240 Kant selbst hatte durchaus ein recht deutliches Bewußtsein davon, daß die Rechtssphäre keineswegs für sich genommen schon als "konkrete Totalität" der Sozialität selbst gelten darf.241 Für die spezifisch moralische Intention ("aus Pflicht", und sei es die bloß negative "Achtungspflicht") ist der andere Mensch natürlich niemals lediglich "Schranke" (so nämlich geschähe schon "dem Menschen Abbruch in Ansehung seines gesetzmäßigen Anspruchs": IV 603), sondern dieser ist vielmehr immer schon "mehr" in dem ganz bestimmten Sinne, daß die "moralische Intention" schon als Achtung doch auf diesen Anderen als moralisches Subjekt (als "Wesen selbst", als "Noumenon") gerichtet und auch nur als solches intendierbar ist. Erst auf dem solcherart bestimmtem Standpunkt der Anerkennung vermag der Mensch sich selbst als "moralisches Wesen" in einem strengen Sinne zu gewinnen (sich zu erhalten) und auch dem Anderen als einem solchen gerecht zu werden. Anders wäre es auch gar nicht zu verstehen, daß "das andere Du ursprünglich als positive Ermöglichung meines Selbstvollzuges in Erscheinung tritt." Selbstverständlich gilt dies sodann in entsprechender Weise auch bezüglich jener konkreten "Einheit des Selbst- und Fremdbezuges", die nunmehr im Zeichen des Anspruches des "obersten Prinzips der Tugendlehre" und dessen Imperativ steht. In all diesen Aspekten ist der Stellenwert des Anderen immer ein anderer als derjenige einer "Schranke", nämlich Ermöglichungsgrund des je bestimmten

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J. Heinrichs, Reflexion als soziales System . . . 131. Nicht zufällig führt Heinrichs im engeren Problemkontext eine Briefstelle (Kant an Jung-Stilling, s. Anm.39) an, die Kant allerdings offensichtlich am ehesten doch als einen "Liberalisten alter Prägung" ausweisen soll: "Die Modalität der Gesetze ist, daß die Freiheit nicht durch willkürliche Zwangsgesetze, sondern nur die, ohne welche die bürgerliche Vereinigung nicht bestehen kann und die also schlechthin notwendig sind, eingeschränkt werde." S. dazu J. Heinrichs, Dialektik und Dialogik . . . 440 ff.

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qualifizierten Freiheitsstandes, ohne sich darin jedoch schon zu erschöpfen. Eben auch schon bezüglich Kants Moralkonzeption ist Heinrichs' Anliegen aufzunehmen: "Die unmittelbare Positività! der Freiheiten zueinander läßt sich nicht als negierte (höherentwickelte) Negativität verstehen. Sie ist nicht Reflexionsprodukt, sondern Voraussetzung für gegenläufige Reflexivität sowie für das Gegenstandsverhältnis (Ich-Nichtich). Wir behaupten die Unrückführbarkeit von Andersheit auf Negativität und somit auf die subjekteigene 'absolute Negativität'-- welche seine Reflexivität ist."242 Allerdings hat Kernt diesem berechtigten Anliegen in sachlicher Hinsicht (wenn auch nicht in der eigentlichen Begründung der vorausgesetzten begründenden Dimension und auch nicht in der systematischen Entfaltung) Rechnimg getragen, so daß ~ wie aus der die vorliegende Arbeit leitenden Überzeugung hervorgehen soll ~ letztlich Heinrichs' Urteil in mehrfacher Hinsicht doch als zu hart erscheinen will: "Kant hat Sozialität, Kommunikation, Liebe, selbst Sittlichkeit nicht adäquat thematisiert. Man kann ihm mit Recht Individualismus und Formalismus vorwerfen."243 Im Ausgang von diesen Fragen legt sich nun im weiteren tatsächlich die Frage nahe, "welche Kategorie des Verstandes das Thema der Kantischen Ethik kennzeichnet. Für die Frage nach der Freiheit ist es die Kategorie der Kausalität, die den praktischen Grundbegriffen zugrunde liegt, und damit die Autonomie der Person in ihrem Gegensatz zur Naturkausalität. Für die Frage der sittlichen Bestimmung des Menschen und ihrer besonderen Prinzipien ist es die Kategorie der Gemeinschaft, die 'wechselseitige' Relation zwischen der Person des einen und dem Zustand des anderen, die sein 'Dasein auf Erden' bestimmt."244 Nichtsdestoweniger bleibt überdies darauf zu sehen, daß bezüglich des Rechtsverhältnisses für Kant ganz selbstverständlich auch die Kategorie der Limitation maß-gebend ist, die die "Begrenzung der einander begegnenden Freiheiten als ursprüngliche Möglichkeit gibt. Hier ist der Ort der durch Gegenständlichkeit vermittelten Freiheitsbeziehung als mittelbarer und somit des Rechtsverhältnisses, von dem Fichte . . . handelt. Denn wo Freiheiten sich gegeneinander abgrenzen, ist ihre Grenze der genannte Gegenstand: als das Nicht zugleich meiner wie der anderen Freiheit." Gleich-

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J. Heinrichs, Reflexion als soziales System . . . 54. J. Heinrichs, Reflexion als soziales System . . . 131 f. Diese Ansicht scheint ebenso korrekturbedürftig wie die nicht seltene Einwendung, "daß bei Kant vom echten Gegenüber nur noch das Gespenst des leeren Dings an sich bleibt", zumal die "reine Vernunft... also den Mitmenschen nicht" erreiche. (So J. Böckenhoff, Die Begegnungsphilosophie. Ihre Geschichte — ihre Aspekte. Freiburg 1970) I. Heidemann, Prinzip und Wirklichkeit in der kantischen Ethik 250. Als die "bedeutsamste Kategorie einer Ethik" erweist sich für Heidemann einer früheren Stelle zufolge die "Kategorie der Gemeinschaft", (ebd. 244)

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wohl bleibt darauf zu achten, daß diese Relation - den Qualitätskategonen entsprechend ~ keinesfalls lediglich auf die limitative Funktion einzuschränken ist, wenn so doch offenbar alle notwendigen Differenzierungen, im Rahmen dieser durchaus mehrstufigen Anerkennungsverhältnisse, eingeebnet wären -und nicht zuletzt eben auch dies, daß Kant selbst dieses Rechtsverhältnis als sittlich fundiert ausweisen will! Auch ist es für diesen hier relevanten Themenbereich von ganz besonderer Wichtigkeit, darauf zu sehen, daß diese diskutierte Idee der Interpersonalität natürlich auch den vorausgesetzten Rahmen darstellt, in dem Kant den "Begriff des Rechts" bestimmt: "Der Begriff des Rechts, sofern er sich auf eine ihm korrespondierende Verbindlichkeit bezieht (d. i. der moralische Begriff desselben) betrifft erstlich nur das äußere und zwar praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere . . . Drittens in diesem wechselseitigen Verhältnis der Willkür" ist nur die "Form im Verhältnis der beiderseitigen Willkür" von Belang, "sofern sie bloß als frei betrachtet wird, und ob dadurch die Handlung eines von beiden sich mit der Freiheit des anderen nach einem allgemeinen Gesetze zusammen vereinigen lasse." (IV 337) Nun ist zu diesem "äußeren und zwar praktischen Verhältnisse" zum einen daran zu erinnern, daß "praktisch" in seinem wesentlichen (und d. i. der moralisch-praktische) Aspekt eben das "Praktische nach dem Freiheitsbegriffe" meint (V 243); zum anderen aber bleibt nun bezüglich dieses "äußeren und zwar praktischen Verhältnisses einer Person gegen eine andere" doch auch darauf zu achten, daß dieses "praktische Verhältnis" damit notwendig von einer bloßen "Erkenntnisrelation" und der ihr eigenen (für sie spezifischen) Intentionalitätsform und auch von jedem "Bewandtniszusammenhang" zu unterscheiden (wenn auch natürlich von ihr nicht so ohne weiteres abzutrennen) ist. Mit Blick auf dieses Anerkennungsverhältnis bleibt sodann betreffend die Kategorien der Freiheit, als den auf die Willensbestimmung bezogenen "praktischen Elementarbegriffen apriori" (die keines Anschauungsbezuges bedürfen, wenngleich sie doch notwendig auf das im Sinne der Interpersonalitätsdimension verstandene "außer uns" bezogen sind), auf deren augenfälligen Vorzug zu achten: diese Kategorien gewinnen Bedeutung schon "aus diesem merkwürdigen Grunde" allein, "weil sie die Wirklichkeit dessen, worauf sie sich beziehen (die Willensgesinnung), selbst hervorbringen, welches gar nicht die Sache theoretischer Begriffe ist." Dies bedeutet aber doch gar nichts anderes als dies, daß demzufolge diese "Kategorien der Freiheit" selbst erst jene praktische Wirklichkeit des "mundus intelligibilis" konstituieren und deren

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"Standpunkte" und "Verhältnisse" in ihrer jeweiligen Bestimmtheit begründen.245 Ohne sie ist "die Idee einer anderen Ordnung und Gesetzgebung als die des Naturmechanismus" (TV 96) nicht zu denken, zumal sie doch eben diese praktische Dimension der "Anerkennung" auf ihren verschiedenen Ebenen erst konstituieren. Für dieses "praktische Verhältnis" nun, also für das Verhältnis der "Anerkennimg", sind gewiß in erstrangigem Sinne diese "Kategorien der Relation" konstitutiv, in ganz prinzipieller Weise natürlich "diejenige auf die Persönlichkeit". Bei hinreichend genauer Beachtung des Status dieser Relationskategorien, die demnach auch in dem Horizont der praktischen Vernunft eine ganz besondere Rolle spielen, scheint es also keineswegs so zu sein, daß erst "die Kategorien der Modalität den Übergang von praktischen Prinzipien überhaupt zu denen der Sittlichkeit, aber nur problematisch, einleiten, welche nachher durchs moralische Gesetz allererst dogmatisch dargestellt werden können." (V 185) Und neben der Idee des "Praktischen nach dem FreiheitsbegrifP (V 243) ist hier natürlich auch an die von theoretischer und spekulativer Erkenntnis noch unterschiedenen "praktischen Erkenntnisse" (III 517 f.) zu erinnern, damit jedoch auch an ihre interessante Unterschiedenheit als "Imperative" und "Gründe zu möglichen Imperativen" ("die doch theoretisch sein können, sofern aus ihnen Imperative können abgeleitet werden"). Ohne diese durch die "praktischen Kategorien" konstituierte Wirklichkeit ist deshalb die Dimension der Sittlichkeit als das "schlechthin oder absolut Praktische" ebensowenig zu verstehen wie das "Standnehmen" in ihr. Es ist die fundamentale Kategorie der Relation, welche die "Kausalität des Gesetzes der Freiheit" konstituiert (die "Begriffe des Guten und Bösen" sollen so nach Kant lediglich "modi" dieser "einzigen Kategorie"

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Hier hätten so auch Heinrichs' dialogische Kategorien als die "Grundmöglichkeiten, die sich aus dem bloßen Gegenübersein von Freiheiten (rein formal und als solche genommen)" ihren eigentlichen systematischen Ort gefunden. (J. Heinrichs, Sinn und Intersubjektivität. . . 183) - Es hat sich aber freilich auch schon erwiesen, daß Kant nicht immer in der gebotenen Sorgfalt unterschieden hat: etwa dann, wenn er "uns, als Weltwesen,. . . mit anderen Dingen in der Welt verbunden" weiß und daraus die Aufgabe ableitet, auf diese Dinge "entweder als Zwecke oder als Gegenstände, in Ansehung deren wir selbst Endzweck sind, unsere Beurteilung zu richten, eben dieselben moralischen Gesetze uns zur Vorschrift zu machen." (V 573) Ist damit jedoch der wesentliche Unterschied der beiden Intentionalitätsformen von Erkennen und Anerkennen, die Differenz zwischen theoretischem und praktischem Selbstbewußtsein und natürlich auch die voraus-gesetzte Interpeisonalitätsdimension auch nur einigermaßen angemessen in Sicht zu bringen? Wie könnte sich der Mensch so tatsächlich verbunden wissen, "die Würde der Menschheit an jedem anderen Menschen praktisch anzuerkennen [!], mithin ruht auf ihm eine Pflicht, die sich auf die jedem anderen Menschen notwendig zu erzeigende Achtung bezieht"? (IV 601)

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sein: IV 183) und als "sittlich" qualifiziert - und zwar so, daß diese Idee der Freiheit selbst gemäß der genannten, nach Kant notwendigen Voraussetzung (IV 82 f.) dieses "andere Ding" erst in den Status eines Gliedes der intelligiblen (interpersonalen) Welt erhebt. Die Frage nach der Möglichkeit des Bezuges dieser "realitates noumena" aufeinander ist in der Folge unabweisbar, damit aber auch diejenige nach der Einheit von empirischem und intelligiblem Charakter und im weiteren auch noch jene, wie "agere" und "operari" in ihrer Einheit und Unterschiedenheit zu denken sind.246 Auch Kants Behauptung, daß es "unsere Vernunft selber" sei, "die sich durchs höchste und unbedingte praktische Gesetz, und das Wesen, das sich dieses Gesetzes bewußt ist (unsere eigene Person), als zur reinen Verstandeswelt gehörig, und zwar sogar mit Bestimmung der Art, wie es als ein solches tätig sein könne, erkennt [!]" (IV 233), ist letztlich nur in dem so skizzierten Problemzusammenhang zu verstehen. So wie (Kants "Widerlegung des Idealismus" zufolge) ganz im Sinne der genannten Einheit des reflexiven Selbstbezuges und des "Fremd"bezuges das "Dasein der Gegenstände im Räume außer mir" bekanntlich erst die Möglichkeit eines empirischen Selbstbewußtseins ermöglicht - wobei aber diese Selbsterkenntnis allerdings nicht nach Art der äußeren Erfahrung verstanden werden darf, sondern die unmittelbare Einheit von denkendem und anschauendem Subjekt erfordert - , so wäre gemäß dem genannten Einheitsgedanken nach der Bedingung der Möglichkeit des reinen praktischen Selbstbewußtseins und seiner "Erfahrung" zu fragen, und zugleich damit auch nach der praktischen Wirklichkeit der "Anerkennung". Und so wie Anschauung und Begriff doch erst "Gegenständlichkeit" apriori konstituieren und dem "transzendentalen Objekt" (als dem "Begriff von dem Gegenstand einer sinnlichen Anschauung überhaupt") somit die Funktion eines notwendigen "Correlatimi der Einheit der Apperzeption zur Einheit des Mannigfaltigen in der sinnlichen Anschauung" zukommt, das damit "nur die Vorstellung der Erscheinungen, unter dem Begriff eines Gegenstandes überhaupt, der durch das Mannigfaltige derselben bestimmbar ist" (II 280 f.) meint —, so wäre nun, analog dazu, nach den apriorischen Bedingungen der Möglichkeit praktischen Selbstbewußtseins als dem "kommunikativen Apriori" und damit eben nach einem nicht bloß gegenständlich-räumlichen "außer uns" zu fragen, das die so bestimmte praktische Selbsterfahrung und damit Anerkennung selbst erst möglich macht. Offenkundig ist dieser Erfahrungsbegriff zu unterscheiden von demjenigen der reflexiv-theoretischen Erfahrung, zielte er doch auf die notwendig in dem "Faktum der reinen praktischen Vernunft" wirkliche und ihrem Imperativ vorausgesetzte Selbsterkenntnis als

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Zum Begriff der Handlung bei Kant vgl. F. Kaulbach, Das Prinzip Handlung in der Philosophie Kants.

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"Noumenon in positiver Bedeutung", d. i. aber das "Objekt einer nichtsinnlichen Anschauung" (II 277), für welche als solche eben die "intellektuelle Anschauungsart" im besonderen konstitutiv ist und die damit freilich, im Gegensatz zu Kants Versicherung, um der Möglichkeit der Erfahrung der praktischen Wirklichkeit des "Sollens" willen "die unsrige" sein muß: "Doch muß man, um dieses Gesetz ohne Mißdeutung als gegeben [!] anzusehen, wohl bemerken: daß es kein empirisches, sondern das einzige Faktum der reinen Vernunft sei, die sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend . . . ankündigt". (IV 142) In diesem "intelligiblen Bewußtsein seines Daseins" (d. i. der Freiheit) hat das (praktische) "Ich an sich" (IV 87), das "eigentliche Selbst" (IV 95), seine Wirklichkeit, erst darin steht sonach, über das Problem der numerischen Identität des Selbstbewußtseins noch hinaus, die Frage nach der Möglichkeit einer qualifizierten praktischen Ich-Identität auf dem Spiel. Fichte wäre in dieser so bestimmten Perspektive die Aufgabe zugefallen, in freilich doch von Kant selbst schon vorgezeichneten Bahnen dasjenige zu explizieren, was im Grunde als wenigstens implizite Einsicht Kants selbst zu gelten hätte: nämlich "daß Moralität notwendige Bedingung von 'Ichheit', 'Selbständigkeit' oder 'Individualität' ist."247 Es erweist sich im weiteren in sachlicher Hinsicht als eine für die angemessene Beurteilung des genauen Stellenwerts und auch der Begründungsordnung der unterschiedenen Formeln des kategorischen Imperativs entscheidende (und ohne Zweifel kantische) Frage: "Kann es ~ und damit kommen wir zugleich auf Fichtes Imperativ zur Selbständigkeit zurück —, abgesehen von einem Anruf durch andere Freiheit, überhaupt einen unbedingten sittlichen Imperativ geben?"248 Ist anders denn das "Kategorische" dieses Imperativs auch bei Kant überhaupt stringent zu vermitteln? Heinrichs' kurze, aber kritische Anmerkung scheint so gesehen durchaus konseqent und bedenkenswert: "M.E. führen die transzendentalen Grundlagen der Sittlichkeit seit Kant nur zu der Alternative: sittliches Handeln oder innerer Selbstwiderspruch der Vernunft. Aber warum soll ich mir und soll sich die Vernunft nicht widersprechen, warum soll ich vernünftig sein? Im strengen Sinne sind diese Aufweise gerade nicht kategorisch, sondern hypothetisch: 'wenn du dir nicht

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A. Wildt, Autonomie und Anerkennung . . . 260. — Ähnliches bliebe sodann festzustellen zu Wildts an sich zweifellos berechtigter Bemerkung: "Fichte war . . . der eiste Theoretiker, der versucht hat zu zeigen, daß sich Personen nur in wechselseitiger Anerkennung konstituieren, sich und andere als solche erkennen, ein Bewußtsein von Rechten und Pflichten entwickeln und ihre 'Ichheit', 'Selbständigkeit' und 'Individualität' herausbilden können." (ebd.267) J. Heinrichs, Fichte, Hegel und der Dialog.. . 111. Dies meint freilich nicht die Form des "Sollens", soweit dies für ein durch "Sinnlichkeit affizierbaies Wesen" konstitutiv ist. Darauf läuft doch wohl auch die in Anm. 211 angeführte Bemerkung Schellings hinaus!

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selbst widersprechen w i l l s t , dann handle so, daß . . . ' Nichts scheint aber den Selbstwiderspruch verbieten zu können! Einen kategorisch-sittlichen Imperativ kann allein der Anruf anderer Freiheit begründen."249 Heinrichs' bedenkenswertem Hinweis zufolge bedeutet dies im weiteren, daß die "intersubjektive Einheit . . . sofort in die Grundlegung der Sittlichkeit eingehen" müsse, "indem gezeigt würde, wie zum sittlichen Charakter des Handelns konstitutiv (und nicht nur als Material der Anwendung) der andere und die anderen gehören, weil es immer bereits Antwort auf Anspruch ist, auch da noch, wo es einsam zu geschehen scheint; daß somit jeder sittliche Akt (in unzähligen Abstufungen und Vermittlungsweisen) kommunikationsbildend ist; daß ferner nur in diesem Kommunikationsmedium . . . die Rede von der Selbständigkeit eine mehr als formalvoluntaristische Bedeutung erlangen kann."230 Schon bei Kant wäre somit freilich grundgelegt, daß die Erfahrung des kategorischen Sollensanspruches erst durch das personale Gegenüber eröffnet und die Entfaltung des praktischen Selbstbewußtseins als Freiheitsbewußtsein möglich wird - was es sonach als unerlaubte Simplifikation erscheinen läßt, Kants Position auf die Ansicht eines lediglich "vor-intersubjektiven Selbstbewußtseins" festschreiben zu wollen.231 Fichtes Satz: "Ich selbst kann mich nicht denken, ohne vernünftige Wesen außer mir anzunehmen"252, erwiese sich sonach also als eme wenigstens prinzipiell der kantischen Begründungsstruktur des Moralischen implizite Einsicht — ebenso dies: "Nur durch dieses Medium des Sittengesetzes erblicke ich mich."253 Wenn Kant nun die dem "Pluralism" entsprechende Denkungsart: "sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen bloßen Weltbürger zu betrachten und zu verhalten", als den anthropologischen Aspekt von der erwähnten lediglich "metaphysischen" Frage unterschieden wissen will, "ob ich,

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J. Heinrichs, Fichte, Hegel und der Dialog . . . 111. J. Heinrichs, Fichte, Hegel und der Dialog . . . 112. Vgl. dazu E. Düsing, InterSubjektivität und Selbstbewußtsein 240: "Denn das persönliche Freiheitsbewußtsein des konkreten menschlichen Ich . . . vermag nicht aus der Vollmacht eines autarken Selbstbezugs des Ich auf sich von allein zu beginnen; die Genese des individuellen Selbst- und FreiheitsbewuBtseins ist vielmehr abhängig von realen intersubjektiven Beziehungen des Menschen." Demzufolge kann das "individuelle Ich . . . sich nur als reales SelbstbewuBtsein konstituieren, wenn es die Gleichursprünglichkeit des alter ego so wie den wesentlichen Sinn eines wechselseitigen Anerkennungsverhältnisses mit dem anderen erfaßt." (ebd. 279) Mit Fichte gesprochen: "Meine Ichheit und Selbständigkeit überhaupt ist durch die Freiheit des anderen bedingt; mein Trieb nach Selbständigkeit kann sonach schlechthin nicht darauf ausgehen, die Bedingungen seiner eigenen Möglichkeit, d. i. die Freiheit des anderen zu vernichten." (Akademie-Ausgabe I, 5.201) Fichte, Akademie-Ausgabe 111,2.385. Fichte, Akademie-Ausgabe 1,4.219.

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als denkendes Wesen, außer [!] meinem Dasein noch das Dasein eines Ganzen anderer, mit mir in Gemeinschaft [!] stehender Wesen (Welt [!] genannt) anzunehmen habe" (VI 411) ~ so zeigt sich nun aber doch ein unverkennbarer Zusammenhang der beiden Fragen, der eine Isolation beider voneinander notwendigerweise verbieten muß. Im Vorblick auf die Kant nachfolgenden Denker ließe sich schon für Kant selbst ~ bei entsprechendem Einschluß des modifizierten und ins Praktische erweiterten "Idealismus-Argumentes" ~ die implizite Einsicht reklamieren, daß die Möglichkeit praktischen Selbstbewußtseins (d. i. im Sinne moralischer Ich-Identität entsprechend dem strengen Begriff von Autonomie) mit dem "Begriff von wirklichen vernünftiger Wesen außer mir"254 unmittelbar und unzertrennlich zusammenhängt, so daß sich, freilich ohne einseitige Abspannung und d. h. in Wahrung der Gleichursprünglichkeit von praktischem Selbstbezug und Fremdbezug, folglich im Grunde auch schon von Kants Position aus sagen läßt: "Aufgrund eigenen praktischen Selbstbewußtseins habe ich zwar nicht Gewißheit von der Existenz bestimmter anderer Personen, aber Gewißheit davon, daß es überhaupt andere Personen gibt."255 So wäre es nun freilich in diesem ganz bestimmten Sinne zu verstehen, daß Kant den Abschnitt "Freiheit muß als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden" (IV 82 ff) ausdrücklich als notwendige "Vorbereitung" zur Klärung des Problems der "Möglichkeit eines kategorischen Imperativs" ansehen möchte. Die aus der transzendentalen Konstitutionsproblematik resultierende Vorstellung der "Verleihung der Idee der Freiheit" wäre damit in dieser Hinsicht wenigstens durchbrochen, weil sich das vorausgesetzte "kommunikative Apriori" als Ermöglichungsgrund des qualifizierten praktischen Selbstbezuges erwiesen hätte. Ein weiteres verdient nun in diesem Problemkontext noch genauere Beachtung: Kant hat bekanntlich die Frage nach der Möglichkeit des kategorischen Imperativs in doch recht unterschiedlicher Weise zu beantworten versucht: zum

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Fichte, Akademie-Ausgabe 1,5.203. A. Wildt, Autonomie und Anerkennung 273. Für Wildt ergibt sich bezüglich Fichte das allerdings auch für Kants Problemsicht interessante Resultat: "Da für jede Ichidentität im sozialen Lebenszusammenhang die wechselseitige Anerkennung von Rechten und Pflichten vorausgesetzt ist, diese Anerkennung jedoch implizit die Anerkennung des Prinzips rationaler Moral bedeutet, ist die Anerkennung autonomer moralischer Normen notwendige Bedingung für jede qualitative Ichidentität", (ebd. 282) Vgl. auch Heimsoeths diesbezüglichen, Kants Position betreffenden Hinweis, "daß das BewuBtsein des Sittengesetzes (aus dem die Freiheit sich ja erst ergeben soll) durchaus nicht das Gegebensein einer abstrakt- idealen, vom individuellen Subjekt abgelösten Wahrheit und Wertinstanz für Kant darstellt, sondern eine unmittelbare Sollensbeziehung auf mich als existierendes Intelligenz- und Willenswesen sichtbar macht." (H.Heimsoeth, Persönlichkeitsbewußtsein und Ding an sich 252)

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einen solle etwa, dem Gedankengang der Grundlegungsschrift folgend, die "Deduktion des Begriffs der Freiheit aus der reinen praktischen Vernunft . . . auch die Möglichkeit eines kategorischen Imperativs begreiflich machen" (IV 82), indem die Möglichkeit des kategorischen Imperativs dadurch erwiesen werden soll, "daß die Idee der Freiheit mich zu einem Gliede einer intelligiblen Welt macht". (IV 90) Im Grunde war dieser Aufweis doch auch schon die Intention der Auflösung der dritten Antinomie der ersten Kritik, die freilich für sich genommen die bloße "Handlungsfreiheit" betrifft: es versteht sich von selbst, daß ohne die vorausgesetzte Idee der Freiheit Moralität nicht zu denken ist. In der Tat scheint dies nicht mehr als eine Trivialität zu sein. Es ist aber auch nicht zu übersehen, daß diese als "kosmologische Idee" qualifizierte Freiheit freilich auch gar nicht jene Ursprünglichkeit einzuholen (abzudecken) vermag, die hier für diese Idee der "positiven Freiheit" bestimmend und ~ prinzipiell aber auch allein — maß-gebend ist. Nun gibt Kant in dieser Grundlegungsschrift allerdings noch eine andere Antwort auf die Frage nach dem "Grund eines möglichen kategorischen Imperativs, d. i. praktischen Gesetzes", und zwar im Kontext der Frage nach dem Zweck als dem "objektiven Grunde" der Selbstbestimmung des Willens: wenn freilich "alle . . . relativen Zwecke nur der Grund von hypothetischen Imperativen" sein können ~ wie verhält es sich sodann mit der möglichen Begründung des kategorischen Imperativs und dem hiefür sodann doch notwendigen "objektiven Zweck" als "Prinzip des Willens"? Kants Antwort ist bekanntlich die: "Gesetzt aber, es gäbe etwas, dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Wert hat, was, als Zweck an sich selbst, ein Grund bestimmter Gesetze sein könnte, so würde in ihm, und nur in ihm allein, der Grund eines möglichen kategorischen Imperativs, d. i. praktischen Gesetzes, liegen. Nun sage ich: der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen, sowohl auf sich selbst, ills auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden." (IV 59 f.) Es eröffnet sich hier jedoch eine überraschende Perspektive: wird dieser berühmte Passus nämlich auf die Interpersonalitätsthematik hin betrachtet (d. h. von ihr her verstanden), so besagte nun diese Antwort Kants auf die Frage nach dem Möglichkeitsgrund des kategorischen Imperativs gar nichts anderes als die kantische Version des zitierten Satzes Fichtes: "Ich selbst kann mich nicht [in qualifiziertem Selbstbezug, d. i. im Innewerden des Anspruches des kategorischen Imperativs] denken, ohne vernünftige Wesen außer mir anzu-

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nehmen"256 - denn es ist im dargelegten Sinne die Existenz anderer vernünftiger Wesen, "die ursprünglich als positiver Ermöglichungsgrund meines Selbstvollzuges"257 gilt: eben darauf miißte somit Kants angeführte Antwort auf die Frage nach dem alleinigen "Grund eines möglichen kategorischen Imperativs, d. i. praktischen Gesetzes", zielen! Damit gewänne freilich auch Kants Satz: "Freiheit muß als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden" gerade einen nicht-trivialen Sinn ~ deshalb nämlich und dann, weil damit offenbar gar nichts anderes als jener "Aufforderungscharakter" ausgesprochen wäre, der dieser "Gleichursprünglichkeit von Selbstbezug und Fremdbezug" folglich innewohnte! Anders ist die Selbsterkenntnis "auch durch bloße Apperzeption und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er gar nicht zum Eindrucke der Sinne zählen kann" (II 498), eben auch nach Kant nicht zu verstehen, weil doch nur so das Innewerden als "intelligibler Gegenstand" in praktischer Selbsterfahrung zu denken ist. Diese hier versuchte Interpretation zu dem in Kants Gedankenführung impliziten Ermöglichungsgrund des kategorischen Imperativs ist sodann ~ in Verkennung des soeben angesprochenen Grundproblems ~ eben auch nicht zu dem im sich doch viel zu harmlosen Argument herabzusetzen: "nur weil vernünftige Wesen existieren, kann es überhaupt etwas wie einen kategorischen Imperativ geben. Weil diese Wesen vernünftig sind, muß ihr Wille sich in allgemeinen Gesetzen manifestieren. Weil sie nur unvollkommen vernünftig sind, müssen diese allgemeinen Gesetze als kategorische Imperative erscheinen. Der kategorische Imperativ hat seinen Grund in dem Willen vernünftiger handelnder Wesen, die nicht vollkommen vernünftig sind." Es scheint aber zweifelhaft zu sein, daß darin die "tiefste Begründung dafür, daß der Mensch ein derartiger Grund sein kann", nunmehr zu erkennen sein soll ~ was auch

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S. dazu o. Anm. 252.— Im "System der Sittenlehre" heißt es bezüglich der Möglichkeit der "Aufforderung zur Selbstbestimmung" ausdrücklich: "Ich kann diese Aufforderung zur Selbstthätigkeit nicht begreifen, ohne sie einem wirklichen Wesen außer mir zuzuschreiben, das mir einen Begriff, eben von der geforderten Handlung, mittheilen wollte; das sonach des Begriffs vom Begriffe fähig ist; ein solches aber ist ein vernünftiges, ein sich selbst als Ich setzendes Wesen, also ein Ich. (Hier liegt der einzige zureichende Grund, um auf eine vernünftige Ursache außer uns zu schließen; und nicht etwa nur darin, daß die Einwirkung sich begreifen lasse, denn dies ist immer möglich . . . Es ist Bedingung des Selbstbewufitseyns, der Ichheit, ein wirkliches vernünftiges Wesen außer sich anzunehmen. Ich setze diesem vernünftigen Wesen mich, und dasselbe mir entgegen; dies aber heißt, ich setze mich als Individuum in Beziehung auf dasselbe, und jenes als Individuum in Beziehung auf mich. Sonach ist es Bedingung der Ichheit, sich als Individuum zu setzen." (Akademie-Ausgabe I, 5.201) Fichte kann deshalb von diesem Fremdbezug der "Aufforderung" als gleichsam der "Wurzel meiner Individualität" (ebd. 202) sprechen. S. dazu aber o. Anm.211! J. Heinrichs, Fichte, Hegel und der Dialog . . . 108.

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durch Patons angeschlossene Erläuterung nicht plausibler wird: "Weil nämlich der kategorische Imperativ seinen Ursprung in seinem vernünftigen Willen hat, sollte dieser vernünftige Wille keinem geringeren Zweck untergeordnet werden, sondern ist selbst ein Zweck, den der kategorische Imperativ uns zu befördern und nicht zu behindern gebieten muß."258 Die in der Interpersonalitätsthematik demnach voraus-gesetzte Dimension eines nicht-gegenständlich zu denkenden "außer-uns" ist in der hier relevanten Intentionalitätsform als "personale Differenz" natürlich prinzipiell nicht der bloßen theoretischen Intentionalitätsform der in der "Gegenstands-Welt" bestimmenden gegen-ständlichen Differenz einer bloßen "Andersheit" zu subsumieren ~ was in dieser Hinsicht gar nichts anderes besagt als die Unableitbarkeit (und Nichtsubsumierbarkeit) der praktischen Dimension der Anerkennung aus der "theoretischen" Erfahrung, sowie auch die Notwendigkeit der Unterscheidung (und der Einheit!) des theoretischen und praktischen Erfahrungsbegriffes und damit auch des theoretischen und praktischen Selbstbewußtseins. Tatsächlich ist es wesentlich um die nur solcherart zu gewährleistende "Unmittelbarkeit der anderen Freiheit" zu tun, d. i. nun eben um die "Unmittelbarkeit eines Andersseins, das von grundlegend anderer logischer (und das heißt hier zugleich existentieller) Struktur ist als der Gegenstand."29 Dies eröffnet nun in der damit sich manifestierenden Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen "gegenständlicher und freier Andersheit" den Blick darauf, die "Bewußtseinsdifferenz primär als dialogische Freiheitsdifferenz" anzusehen, "in der also die Andersheit eine ursprünglich und unmittelbar positive Bedeutung für das Selbstsein des Ich (als Ich-Du) hat."260 Schon in Kants erster Kritik hatte es doch geheißen: "Allein der Mensch . . . erkennt sich selbst auch durch bloße Apperzeption, und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er gar nicht zum Eindrucke der Sinne zählen kann,

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H. J. Paton, Der kategorische Imperativ 206. J. Heinrichs, Fichte, Hegel und der Dialog . . . 115. J. Heinrichs, Fichte, Hegel und der Dialog. . . 129. — Es ist wohl nicht ganz zufällig, wenn A. Pieper in unmittelbarem Rekurs auf Kant meint, Freiheit müsse als "sittliche Apperzeption gedacht werden, in der sich das (sich praktisch bestimmende) Ich handelnd über andere Freiheit zur Einheit des Subjekts mit sich selbst vermittelt", sich zur Stützung (und auch als Beleg dafür) auf die Menschheitsformel des kategorischen Imperativs bezieht und sodann unmittelbar anschließend feststellt: "Der Prozeß der sittlichen Willensbildung ist somit nach Kant kein solipsistischer Vollzug — was immer das sein mag —, sondern ein interpersonales Geschehen, in welchem sich Freiheit ursprünglich mit Freiheit verbindet und dadurch die Verbindlichkeit sittlicher Praxis begründet. Sittliche Willensbestimmung ist somit ein Akt freier Anerkennung anderer Freiheit, in welchem das Ich im anderen Ich zugleich sich selbst anerkennt . . . Der Akt der sittlichen Selbstbestimmung ist somit eine durch kommunikative Vermittlung seiner selbst hindurch zu vollziehende Leistung des Ich . . . " . (A. Pieper, Ethik als Verhältnis . . . 327)

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und ist sich selbst freilich eines Teils Phänomen, anderen Teils aber, . . . ein intelligibler Gegenstand, weil die Handlung desselben gar nicht zur Rezeptivität der Sinnlichkeit gezählt werden kann." (II 498)261 Nur bei sorgfältiger Berücksichtigung dieser Zusammenhänge dürfte demzufolge auch allein die Gleichursprünglichkeit von Fremd- und Selbstbezug — letzterer verstanden nun als "Selbstbewußtsein einer reinen praktischen Vernunft" (IV 139) --, sowie die Bedingung der Möglichkeit dieses "Selbstbewußtseins" zu vermitteln sein. Denn anders ist doch wohl auch Kants Vermutung nicht zu verstehen, daß ein "unbedingtes Gesetz bloß das Selbstbewußtsein einer reinen praktischen Vernunft, diese aber ganz einerlei mit dem positiven Begriffe der Freiheit sei" (IV 139) — und auf gar nichts anderes zielt doch Fichtes diesbezüglicher Verweis auf die "intellektuelle Anschauung".262 Weil also dieses "Selbstbewußtsein einer reinen praktischen Vernunft" sich als das Faktum des "Bewußtseins dieses Grundgesetzes" und somit auch als "ratio cognoscendi" der Freiheit erweist, ist — folglich zugleich ~ offenkundig auch die Frage nach dem Ermöglichungsgrund des kategorischen Imperativs doch auch im grundsätzlichen schon mitbeantwortet. Genauer besehen wäre der Mensch erst in solcher Weise als das "eigentliche Selbst" vor sich gebracht, denn dieses "Bewußtsein seiner selbst als Intelligenz" ist eigentlich dasjenige seiner selbst als "Wille", und dies ist die "als vernünftige und durch Vernunft tätige, d. i. frei wirkende Ursache". (IV 94 f.) Dies verdeutlicht nur noch einmal, daß Kant den Menschen wesentlich und ursprünglich als "praktische Intelligenz" eben im Unterschied zu einem bloß "selbst-losen Vernunftwesen" bestimmt. Das Sittengesetz ist Kant zufolge ganz

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Vgl. H. Heimsoeth, Persönlichkeitsbewußtsein . . . bes. 254 f. Es scheint demnach so zu sein, als ob sich (auch) in diesem Zusammenhang — noch dazu besonders eindrucksvoll — ein Wort Fichtes bestätigte: "Kanten . . . kann man nie fassen in dem, was er sagt, sondern nur in dem, was er nicht sagt. . .; doch aber, um zu dem von ihm zuerst Gesagten zu kommen, es stillschweigend voraussetzen mußte." (Brief an Jacobi zit. η. M. Zahn, Fichtes Kant-Bild SOS. In: Erneuerung der Transzendentalphilosophie. (Hg. K.Hammacher u. A. Mues), Stuttgart 1979) Tatsächlich scheint es so zu sein, daß Kant die hier entscheidende Frage nach den "Gründen der moralischen Natur des Menschen oder des sittlichen Prinzips" (Fichte, Akademie-Ausgabe 1,33) in expliziter Weise nicht stellt. Nichtsdestoweniger ist es jedoch einsichtig, daß auch in Kants Denken implizit diese Interpersonalitätsthematik in einem engen und unauflöslichen Bezug zur Frage nach dem Ermöglichungsgrund des "Faktums der Vernunft" steht. Fichtes Vorwurf gegen Kant ist aber wohl nicht so unbegründet: Kant habe sich über den Grund der Annahme der von ihm vorausgesetzten Interpersonalitätsdimension niemals wirklich erklärt, so daß "daher . . . auch sein kritisches System nicht vollendet" sei. (Fichte, Akademie-Ausgabe IV.2.142) Daß Kant diese Interpersonalität tatsächlich lediglich voraussetzt, zeigt sich nicht zuletzt auch dort, wo er (wie oft im Kontext der Bestimmung des Menschen als "Angehörigem der intelligiblen Welt") von dem "Ganzen vernünftiger Wesen" (vgl. etwa IV 157) spricht.

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ausdrücklich "unserem Willen als Intelligenz, mithin [!] aus unserem eigentümlichen Selbst entsprungen." (IV 98)2S3 In wünschenswerter Klarheit äußert sich Kant zu dieser Wirklichkeit praktischen Selbstbewußtseins auch in einer schon angeführten Notiz zu seiner späten Anthropologie (VI 429): "Das Erkenntnis seiner selbst nach deijenigen Beschaffenheit. . . was er an sich selbst ist kann durch keine innere Erfahrung erworben werden und entspringt nicht aus der Naturkunde vom Menschen sondern ist einzig und allein das Bewußtsein seiner Freiheit welche ihm durch den kategorischen Pflichtimperativ also nur durch den höchsten praktischen Vernunftfgebrauch?] kund wird". Dies verdient gewiß Beachtung, wenn nicht Heinrichs' Auskunft als mißverständlich erscheinen soll: "Zumindest das menschliche Selbstbewußtsein . . . ist faktisch immer mit einem Bewußtsein von Inhalten verbunden, das verschieden ist vom reinen Bewußtsein seiner selbst. Kant unterscheidet das Bewußtsein des 'Ich denke' (Selbstbewußtsein) als die formale Erkenntnis, 'daß ich bin', von allem inhaltlichen Bewußtsein. Dies geht so weit, daß er eine inhaltliche Selbsterkenntnis über jenes formale Selbstbewußtsein hinaus nicht für möglich hielt, alle inhaltliche Selbsterkenntnis vielmehr zur empirisch-phänomenalen Erkenntnis rechnete und eine noumenale Selbsterkenntnis bestritt. Wie immer diese Frage der inhaltlichen Selbsterkenntnis zu beantworten sei — Kant löste jedenfalls nicht das Problem, wie der Bezug auf Anderes, das Gegenstandsbewußtsein, in eine Einheit mit dem reflexiven Selbstbezug des Selbstbewußtseins treten kann."264 Dieser Einwand scheint wenigstens in der vorgetragenen Form nicht nur wegen der darin unberücksichtigt gebliebenen Differenz zwischen "Identität des

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Auch Prauss möchte bei Kant den Versuch erkennen, "nicht nur das theoretische Selbstverhältnis des Menschen als 'Selbstbewußtsein", sondern auch sein praktisches Selbstverhältnis auf "einen Begriff zu bringen." Besonders auf Kants Gebrauch von "eigen" — etwa die "eigene Gesetzgebung des Willens", das "Eigenbewußtsein als Selbstbewußtsein der Vernunft", den "Eigenwillen" ("Selbstwillen") - möchte Prauss seine Ansicht gestützt wissen. (S. die Anmerkung 31 des Prauss'schen Aufsatzes "Kants Problem der E i n h e i t . . . 296) — Nur nebenbei sei angemerkt, daß Kants schon erwähnte Unterscheidung zwischen "Vernunftwesen" und "bloß vernünftigem Wesen" (IV 550; vgl. aber auch VI 407) bei Fichte keine Rolle (mehr) spielt, denn: "Nun aber bin ich Ich, lediglich in wie fern ich meiner als Ich, das ist als frei und selbständig, bewußt bin. Dieses Bewußtsein meiner Freiheit bedingt die Ichheit. (Dadurch wird das, was wir deducieren werden, allgemein gültig; indem sich zeigt, daß ein vernünftiges Wesen, ohne alles Bewußtsein dieser Freiheit, mithin auch ohne die Bedingungen desselben, und da unter diese das Bewußtsein der Sittlichkeit gehört, ohne dieses Bewußtsein überhaupt gar nicht möglich sey: daß also auch dieses keineswegs etwas zufälliges, und eine fremde Zuthat ist, sondern wesentlich, zur Vernünftigkeit gehört.") (So im "System der Sittenlehre": Akademie-Ausgabe 1,5.131 f; vgl. dazu auch schon den § 1 der "Grundlage des Naturrechtes"!) J. Heinrichs, Dialektik und Dialogik . . . 433.

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Subjekts" und der "Identität der Person" (II 346 f.) problematisch zu sein: war es denn nicht vielmehr eine Kants Theorie (seinem "Idealismus'-Argument) wenigstens prinzipiell implizite Einsicht, "daß die Selbstbezüglichkeit des Selbstbewußtseins nur zugleich mit der Beziehung auf Anderes überhaupt sowie auf anderes Selbstbewußtsein wirklich und denkbar ist"265 - eine in der Tat weitreichende Einsicht, die Heinrichs freilich für Fichte und Hegel reservieren will? Fichtes Satz: "Die Realität der Welt — es versteht sich für uns, d. h. für alle endliche Vernunft — ist Bedingung des Selbstbewußtseyns; denn wir können uns selbst nicht setzen ohne etwas außer uns zu setzen, dem wir die gleiche Realität zuschreiben müssen, die wir uns selbst beilegen"2"6, hätte gewiß Kants Zustimmung gefunden; und schon Kant wußte überdies, mit Hegel gesprochen267, darum, daß der Mensch nur in dem "Selbstgefühl" des "Sich-anerkannt-wissens" eine "qualitative Ich-Identität", d. i. nun eben als "Persönlichkeit", auszubilden vermag.268 Denn im Grunde teilte doch schon Kant in sachlicher Hinsicht die ebenfalls von Heinrichs vorgetragene Ansicht: "Die Einheit von Selbstbezug und Fremdbezug läßt sich in der Tat nur streng denken, wenn ursprünglich und letztlich der Selbstbezug als solcher zugleich Fremdbezug ist und umgekehrt: wenn im Anderen das Selbst sich findet und seine formale Selbstbezüglichkeit inhaltlich realisiert. Die Einheit von Form der Selbstbezüglichkeit und ihrem Inhalt ist die Einheit von Selbst und Anderem, und zwar einem seinerseits selbstbezüglichen, also personalem Anderen. Die inhaltliche Bestimmtheit sowie Abschließbarkeit kann nur durch die Andersheit selbstreflexiver Partner vermittelt sein, so ζ. B. in sozialen Normen und anderen 'Definitionen' der reziproken Beziehung."269 Heinrichs meint allerdings Kants Leugnung einer "was-haften, inhaltlichen Selbsterkenntnis des noumenalen Ich überhaupt" (mit Bezugnahme auf den hier wesentlichen § 25 der ersten Kritik) dahingehend kritisieren zu müssen: "In der

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J. Heinrichs, Dialektik und Dialogik . . . 433. - Vgl. dazu auch Schelling (III 542): die geforderte Handlung kann "erfolgen, sobald dem Ich der Begriff des Wollens entsteht, oder sobald es sich reflektiert, sich im Spiegel einer anderen Intelligenz erblickt." Fichte, Akademie-Ausgabe 1,3.348. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts f 7 Zusatz; § 147. Hegel wußte jedoch nicht nur (wie auch Fichte) darum, daß das "Selbstbewußtsein . . . seine Befriedigung nur in einem anderen Selbstbewußtsein" erreicht, sondern ebenso auch dies: "Das Selbstbewußtsein ist an und für sich, indem und dadurch [!], daß es für ein Anderes an und für sich ist; d. h. es ist nur als ein Anerkanntes." (Hegel 2,145) J. Heinrichs, Dialektik und Dialogik 434 f.— Kant selbst wäre der hier vorgeschlagenen Interpretation zufolge wenigstens auf dem Weg zu der auch von Wildt erst für Hegel reklamierten Einsicht, "daß die Schwierigkeiten im Begreifen des Anerkennungscharakters moralischer Einsicht, die bei Kant in die Sackgasse der Lehre vom 'Faktum der Vernunft' geführt hatten, aus der Struktur intersubjektiver Anerkennung aufgeklärt werden können." (A. Wildt, Autonomie und Anerkennung 19)

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formalen reflexiven [!] Selbsterfassung ('nur daß ich bin': KrV § 25) durch Reflexion findet Kant . . . keine Schwierigkeit. Die Unmöglichkeit einer inhaltlichen [!] Selbsterkenntnis folgt bei Kant aber konsequenterweise daraus, daß er den Selbstbezug inhaltslos [!], also nicht in dialektischer Einheit mit dem Fremdbezug versteht. Wie durch solche dialektische Einheit inhaltliche Selbsterkenntnis von anderen her möglich ist, wird uns . . . beschäftigen. Erst die andere Freiheit ermöglicht dem Ich eine Selbst- 'Vergegenständlichung* im gemeinsamen Sinn."270 Freilich bleibt zu fragen, ob Heinrichs den genauen Stellenwert dieses berühmten "daß ich bin" nicht doch verkennt: ist diese "synthetische ursprüngliche Einheit der Apperzeption" denn tatsächlich als "formale reflexive Selbsterfassung" (und sei es auch nur dem Anspruch nach) zu fassen, und läßt sich denn überhaupt von diesem auf solchem Wege von Kant nur "ausgrenzend" (grenzbegrifflich) bestimmten "transzendentalen Ich" tatsächlich sagen, die diesbezüglich behauptete "Unmöglichkeit einer inhaltlichen Selbsterkenntnis" resultiere "konsequenterweise [!] daraus, daß er den Selbstbezug inhaltslos, also nicht in dialektischer Einheit mit dem Fremdbezug versteht"? Steht denn aber diese mit der berühmten "ursprünglichen synthetischen Einheit der Apperzeption" angesprochene ursprüngliche, nur grenzbegrifflich bestimmbare (und reflexiv uneinholbare) "Wirklichkeit" nicht "jenseits" dieser von Heinrichs angeführten Disjunktionen? Man darf doch bezweifeln, ob Heinrichs' Kritik an der angeblich kantischen "Unmöglichkeit einer inhaltlichen Selbsterkenntnis" tatsächlich noch der nach Kant notwendig zu denkenden Differenz und Einheit des empirischen und des transzendentalen Ich (dem "unbezweifelbaren Faktum" des zweifachen Ich), damit aber der nur so zu denkenden "Einheit der Persönlichkeit" gerecht zu werden vermag. Ergibt sich nicht erst von hier aus überhaupt die Möglichkeit und auch die Notwendigkeit, den "Selbstbezug... in dialektischer Einheit mit dem Fremdbezug" zu denken, die es nunmehr erlaubt, "inhaltliche Erkenntnis [als] vom anderen her" ermöglicht zu denken und in dieser Weise die Dimension von Intersubjektivität (Interpersonalität) erst zu eröffnen? Erst damit vermag doch auch verständlich zu werden, daß "washaftes Selbstsein von der Begegnung mit Anderem abhängig" ist, d. h. "die Inhaltlichkeit des Selbst mit seinem Bezug auf Anderes gegeben ist."271 Dies ist wiederum doch nicht ohne Bezug darauf zu denken, daß das Ich sein Selbstbewußtsein und seine moralische Identität nun gerade nicht zu gewinnen und auszubilden vermag ohne Rücksichtnahme darauf, wie es für anderes Selbstbewußtsein zur Erscheinung gelangt, anerkannt wird und sich auch als aner-

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J. Heinrichs, Reflexion als soziales System . . .171 Anm.46. J. Heinrichs, Reflexion als soziales System . . . 30.

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kannt weiß. Dann — und nur dann ~ gewinnt aber auch Kants Reflexion272 in diesem Problemkontext einen keineswegs lediglich trivialen Sinn: "Lebe so, daß deine Handlimgen auch aus dem Gesichtspunkt anderer gut scheinen." Heinrichs' Ansinnen scheint nur in solcher Hinsicht verständlich zu sein, es gehe "einschlußweise um die Möglichkeit einer inhaltlichen Selbsterfassung durch Reflexion, die nicht nur psychologisch ist und die Erscheinung betrifft, also, wenn man so will, um eine durch (freie, sinnaktive) Andersheit vermittelte 'intellektuelle Anschauung1. Der Unterschied zu Kant . . . ergibt sich aus dem Weitertreiben der Reflexionsthematik in die Richtimg: gestufter Selbstbezug im Fremdbezug."273 Gewiß ist es von einigem Interesse zu bemerken, daß eben diese angeführte Unterscheidung zwischen empirischem und praktischem Selbstbewußtsein bei Kant recht genau seiner späteren Abhebung des "Persönlichkeitsbegriffes" von dem "Menschheitsbegriff offenkundig entspricht: das Selbstbewußtsein sei gegenüber der Tierheit die auszeichnende Eigenschaft des Menschen als einem "vernünftigen Tier" (III 406) und vermöge dieser "Menschheit" ist er ein "lebendes und vernünftiges Wesen". (IV 672) Erst durch die "Anlage für die Persönlichkeit" und infolge des ausschließlich ihr zukommenden "praktischen Selbstbewußtseins" ist der Mensch durch die "Empfänglichkeit der Achtimg für das moralische Gesetz" überhaupt "vernünftiges und zugleich der Zurechnung fähiges Wesen". Diese "Idee des moralischen Gesetzes" nennt Kant, was auch für die hier interessierende Interpersonalitätsthematik gewiß von Wichtigkeit ist, "die Persönlichkeit selbst (die Idee der Menschheit ganz intellektuell betrachtet)." Eben diese Unterscheidung zwischen "Menschheit" und "Persönlichkeit" und damit diejenige zwischen empirischem und praktisch-moralischem Selbstbewußtsein soll nichts anderes erkennen lassen als dies: "es folgt daraus, daß ein Wesen Vernunft hat, gar nicht, daß diese ein Vermögen enthalte, die Willkür unbedingt... zu bestimmen, und also für sich selbst praktisch zu sein [...] Wäre dieses Gesetz nicht in uns gegeben, wir würden es, als ein solches, durch keine Vernunft herausklügeln, oder der Willkür aufschwatzen: und doch

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Kant, Akademie-Ausgabe XIX 241.— Mit Recht betont Sommer (fortlaufend Kant zitierend) in ähnlichem Zusammenhang den dem HandlungsbewuBtsein impliziten "Fremdbezug": "Im Handeln inszeniert der Handelnde immerauch die 'Darstellungseiner eigenen Person'; insofern gilt: 'Menschen sind Schauspieler*. Sie können nicht Worte sprechen oder Taten vollbringen ohne eine reflexive Optik: 'sie hören sich sprechen, sie sehen sich selbst mit fremden Augen'. Der Mensch kann nichts tun, ohne daß er imaginitiv 'sich in den Standpunkt anderer versetzt'; um von dort aus auf sich und sein Tun zu blicken." (M. Sommer, Identität im Übergang: Kant 83) Auch Kants Notiz wird von Sommer angeführt: "Man muß die Neigungen, die so nahe mit der Moralität zusammenstimmen, exzitieren; Ehrliebe, Geselligkeit, Freiheit". (Akademie-Ausgabe XIX 287) J. Heinrichs, Reflexion als soziales System . . . 173 Anm. 58.

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ist dieses Gesetz das einzige, was uns der Unabhängigkeit unsrer Willkür von der Bestimmung durch alle anderen Triebfedern (unrer Freiheit) und hiermit zugleich der Zurechnungsfähigkeit aller Handlungen bewußt macht." (IV 673) Damit stimmt die in der Analyse des "Charakters der Gattung" (VI 672 ff.) ausgesprochene Unterscheidung zwischen dem empirischen und intelligiblen Charakter genau überein: ersterem zufolge hat er jenen, "den er sich selbst schafft; indem er vermögend ist, sich nach seinen von ihm selbst genommenen Zwecken zu perfektionieren, wodurch er, als mit Vernunfttätigkeit begabtes Tier (animal rationabile) aus sich selbst ein vernünftiges Tier (animal rationale) machen kann." (IV 673)274 Kants Behauptung ist dies: dieses "Faktum der reinen Vernunft" sei "nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft, z. B. dem Bewußtsein der Freiheit (denn dieses ist uns nicht vorher gegeben), heraus[zu]vernünfteln", d. h. aber es sei "auf keiner weder reinen noch empirischen Anschauung gegründet", zumiti doch sein "Gegebenheitscharakter" eben "kein empirisches, sondern das einzige Faktum der reinen Vernunft" sei, "die sich dadurch als ursprünglich [!] gesetzgebend . . . ankündigt." (IV 141 f.) Dieser wichtige Hinweis Kants zielt deutlich auf die von den nachkantischen Idealisten ausgeführte Auffassung, der zufolge nämlich das in dem praktischen Selbstbewußtsein sich artikulierende Selbstverhältnis als Freiheitsbewußtsein nun in die Richtung weist, daß in dieser Weise der Reflexionscharakter des Selbstbewußtseins auf den "thetischen" "Selbstproduktionscharakter" hin weitergeführt wird.275 Die in dem "Faktum der reinen praktischen Vernunft" verwirklichte Weise des "Sich- -

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Interessant ist die anmerkungsweise notierte Bemerkung Kants: "Der Mensch ist sich aber seiner selbst nicht bloß als vernünftiges Tier. . . sondern auch seiner Tierheit ungeachtet als Vernunftwesen . . . bewußt und in dieser Qualität erkennt er sich nicht durch Erfahrung denn die . . . kann ihm nie die . . . unbedingte Notwendigkeit... dessen was er sein soll lehren, sondern er erkennt an sich selbst . . . aus reiner Vernunft (apriori) . . . nämlich das Ideal der Menschheit welches mit ihm . . . als einen Menschen vergleichen . . . durch die Gebrechlichkeiten seiner Natur als Einschränkungen jenes Urbildes den Charakter seiner Gattung kann erkennen und zeichnen lassen. Diesen aber zu würdigen ist die Vergleichung mit einem MaBstab nötig d e r . . . nirgend anderswo als in der vollkommenen Menschheit angetroffen werden kann." (VI 673 Anm.) Wollte man freilich diese späten Bezüge zum "praktischen Ideal" mit denjenigen aus Kants erster Kritik in der Weise zusammenbringen, daß man im weiteren beide auf die wesentlichen Aspekte der Ethik und Religionsphilosophie bezieht, so resultierten ganz aufschlußreiche weiterführende Perspektiven, deren Entfaltung ein Hauptinteresse der vorliegenden Arbeit gewidmet ist. Vgl. dazu K. Gloy, Kants Theorie des Selbstbewußtseins,. . . 43 f f . - Zu dem unauflöslichen Zusammenhang von Bewußtsein der Freiheit und Selbstbewußtsein, "absoluter Selbsttätigkeit" und dadurch konstituierter "Selbstachtung" und der darin fundierten qualifizierten "Ich-Identität" s. bes. auch den § 10 aus Fichtes "System der Sittenlehre"!

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selbst-gegeben-seins" erweist sich als die Erfahrung des "Sich-aufgegeben-seins" im Sinne des Anspruchs des moralischen Sollens. Dieses "Sollen" i s t - das nun freilich erst noch mit der besonderen "Gegebenheitsweise" des empirischen Selbstbewußtseins zu vermitteln bleibt. Daß für die "Menschwerdung des Menschen" der Raum der Interpersonalst notwendige Voraussetzung ist, dies steht nun freilich in innerem Zusammenhang mit Kants (keinesfalls als bloß pathetisch-erbaulich abzutuenden) Bemerkung: "Diese Moralität, und nicht der Verstand ist es also, was den Menschen erst zum Menschen macht." (VI 344) Dies verweist doch offenkundig auf das Problem der "persönlichen Identität" (der qualifizierten" Ich-Identität") und deren Ermöglichungsgrund.276 Auch ist gewiß nicht zu übersehen, daß Kants Bestimmung des "Postulates des öffentlichen Rechtes" zufolge die Auszeichnung des Menschen als Rechtssubjekt ~ gegründet freilich in dem lediglich anthropologisch-kosmologischen Datum des "unvermeidlichen Nebeneinanders" — eine im Grunde doch bloß akzidentell-beiläufige Qualifikation und Begründung erfährt277, die für sich genommen auch noch nicht erkennen läßt, daß dieser Status als Rechtssubjekt konstitutiv für den Freiheits-Stand und Rang als vernünftig-praktisches Wesen ist. Die qualifizierte Ich-Identität der Persönlichkeit bliebe damit natürlich notwendigerweise verfehlt (s. 142 ff.), der Raum der Interpersonalität erwiese sich keineswegs als konstitutiv für die "Vernünftigkeit" des menschlichen Wesens und dessen "praktisches Selbstbewußtsein" sowie die darauf gegründete "Identität der Persönlichkeit". Eben darauf (wie auch auf den Zusammenhang von "Vernünftigkeit" und "Gesellschaftlichkeit") bleibt nun noch zu achten, wenn Kant schon in seiner "Grundlegung..." anmerken will: "Die praktische Notwendigkeit, nach diesem Prinzip zu handeln, d. i. die Pflicht, beruht gar nicht auf Gefühlen, Antrieben und Neigungen, sondern bloß auf dem Verhältnisse vernünftiger Wesen zu einander, in welchen der Wille eines vernünftigen Wesens jederzeit zugleich als gesetzgebend betrachtet werden muß, weil es sie sonst nicht als Zweck an sich selbst denken [!] könnte." (IV 67? (s. o. 107 ff.) Im Grunde ist doch in dieser Wendung der auch bei Kant der Sache nach zwar vorhandene Gedanke der notwendigen Einheit und Gleichursprünglichkeit von Selbstbezug und Fremdbezug in unübersehbarer Weise (also schon in dieser "Grundlegung") ausgesprochen. Der im Bewußtsein des Sittengesetzes erfahrene moralische Anspruch ist in Absehung von dem

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Gewiß hätte Kant dem berühmten Wort Fichtes zugestimmt, dem zufolge "der Mensch nur unter Menschen ein Mensch wird". So heifit es in Kants Pädagogik: "Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht." (VI 699) Gleichwohl ist es geboten, die pädagogischen Aspekte dieser Ausführungen von den eigentlichen, die Grundlegung einer Moralphilosophie und Ethik betreffenden Fragen noch einmal abzuheben. S. o. Anm. 216.

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interpersonalen Bezug nicht zu verstehen, wenn doch wiederum die Gleichursprünglichkeit von Selbst- und Fremdbezug nicht in ein Nach- und Nebeneinander aufzulösen ist. Dies verdeutlicht nun auch ~ wenigstens der Sache nach und ohne daß Kant dieses Problem ausdrücklich entfaltet hätte — eine Anmerkung Kants zu den "Tugendpflichten gegen andere Menschen aus der ihnen gebührenden Achtung": denn diese "Achtung, die ich für andere trage, oder die ein anderer von mir fordern kann . . . ist also die Anerkennung einer Würde . . . an anderen Menschen, d. i. eines Werts, der keinen Preis hat, kein Äquivalent, wogegen das Objekt der Wertschätzung . . . ausgetauscht werden könnte." (IV 600)278 Treten nicht auch hier wesentliche, von Kant nicht eigens thematisierte, Voraussetzungen seiner praktischen Philosophie zutage? In all diesen Thesen Kants zeigt sich ganz unverkennbar, wie unauflöslich die Fundierungsproblematik des moralisch-praktischen Selbstbewußtseins in sachlicher Hinsicht schon bei Kant mit dieser hier verfolgten Thematik der Interpersonalität verbunden ist, wenn doch jenes ohne diese gar nicht in seiner Wirklichkeit begriffen werden kann.

4. 1. Moralität als Ermögiichungsgrund praktischer Ich-Identität bei Kant?

Die voranstehenden Ausführungen versuchten wenigstens in Ansätzen plausibel zu machen, daß bei hinreichender Achtnahme auf das modifizierte und ins Praktische gewendete "Idealismus-Argument" so durchaus schon für Kants Sicht wenigstens doch in systematisch-problemorientierter Perspektive die üblicherweise erst seinen Nachfolgern zugeschriebene Einsicht geltend zu machen ist, "daß die Selbstbezüglichkeit des SB [Selbstbewußtseins] nur zugleich mit Beziehung auf Anderes, also als Selbstbezug im Fremdbezug,

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Vgl. dazu auch den unmittelbar anschließenden § 38 und die darin unüberhörbar anklingende Menschheitsformel; auch der § 40 läßt keine Zweifel darüber offen, daß Kant die "Achtung vor dem Gesetz, welche subjektiv als moralisches Gefühl bezeichnet wird", mit "der Achtung vor dem Menschen als moralischen (seine Pflicht hochschätzenden) Wesen" gleichsetzt, denn deshalb sei "die Beziehung der Achtung vor dem Menschen als moralischen (seine Pflicht hochschätzenden) Wesen selbst eine Pflicht, die andere gegen ihn haben, und ein Recht, worauf er den Anspruch nicht aufgeben kann." (IV 602) Aus diesem Grunde geschieht nach Kant auch durch Unterlassung der Achtungspflicht "den Menschen Abbruch in Ansehung seines gesetzmäßigen Anspruches." (IV 603) Vgl. auch "Kants Bemerkungen im Handexemplar der Kritik der praktischen Vernunft" (G. Lehmanns kurzer Aufsatz mit diesem Titel, in: Kantstudien 1981, 132 -139, S.138): "Würde wohnt nur einem Gegenstand der Achtung bey. Dieser ist kein anderer als der, der Gesetzgebung ist, in Beziehung auf den, der ihm gehorcht."

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denkbar ist"279, wenn doch in dieser kantischen Perspektive letztlich wiederum nur in solcher Weise auch die Frage nach dem Ermöglichungsgrund des unbedingten sittlichen Imperativs ("Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich?") beantwortet werden kann. Es ist infolgedessen freilich auch noch von ganz besonderem Interesse zu sehen, daß Kant selbst die These: "Freiheit muß als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden" (IV 82), ganz ausdrücklich als notwendige Vorbereitung zur Klärung dieser Frage der "Möglichkeit eines kategorischen Imperativs" ausweisen möchte; interessant ist dies nämlich insbesondere dann, wenn diese vorausgesetzte Freiheit, gemäß dieser Idee der Gleichursprünglichkeit von Fremdbezug und Selbstbezug, eben die Freiheit des Anderen meint — eine Voraussetzung im Sinne des genannten "kommunikativen Apriori", die sich nicht selbst erst aus der sinnlichen Erscheinung als möglichem Zeichen ("Wirkung") der Vernunft ableiten läßt, ohne damit nämlich einem ganz offensichtlichen Voraussetzungszirkel zu unterliegen. Mit Iking wäre so durchaus schon für Kants Position geltend zu machen, "daß die Probleme der Moralität, die Kant in seiner Moralphilosophie untersucht und dargestellt hatte, . . . auf ein bestimmtes Verhältnis des moralischen Subjekts zu anderen moralischen Subjekten zurückgehen", d. h. nun jedoch, daß Kants Moralitätsbegriff immer schon "Sittlichkeit meine."280 Kants systematisch bedeutsame Bemerkung, der "Begriff eines jeden vernünftigen Wesens" führe auf den "ihm anhängenden sehr fruchtbaren Begriff. . . eines Reichs der Zwecke" (IV 66), gewinnt damit (wie sich schon gezeigt hat) aber den ganz bestimmten Sinn, daß dieses moralisch-praktische Selbstverhältnis eben ohne Fremdbezug gar nicht zu denken ist - anders gesagt: daß die vorausgesetzte Dimension der Interpersonalität apriorischer Ermöglichungsgrund der vernünftig-moralischen Identität des Menschen ist. Liegen diese Überlegungen nun tatsächlich in der Konsequenz der kantischen Begründungszusammenhänge (wie schon Fichte zu zeigen bestrebt war), so fällt natürlich auch ein erhellendes Licht auf sehr wesentliche Lehrstücke der Moralphilosophie Kants. So stellt beispielsweise auch noch Kants Ableitung, Bestimmung und Abgrenzung der "Pflichten des Menschen gegen sich selbst" in ihrem Unterschied zu den "Pflichten gegen andere" vor nicht unwesentliche Probleme. Es ist dem Gesagten zufolge nämlich - und mit besonderem Blick wiederum auf Fichte ~ die Argumentation Kants betreffend die Möglichkeit und den Status dieser "Pflichten gegen sich selbst" keineswegs

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J. Heinrichs, Reflexion und soziales System . . . 542. H. Ilting, Die Struktur der Hegeischen Rechtsphilosophie 60.

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Interpersonalitätstheorie bei Kant

so plausibel281, wie Kant dies nun doch beanspruchen möchte: "Denn setzet: es gebe keine solche Pflichten, so würde es überall gar keine, auch keine äußere Pflicht geben. Denn ich kann mich gegen andere nicht für verbunden erkennen [!], als nur so fern ich zugleich [!] mich selbst verbinde; weil das Gesetz, kraft dessen ich mich für verbunden achte, in allen Fällen aus meiner eigenen praktischen Vernunft hervorgeht, durch welche ich genötigt werde, indem ich zugleich der Nötigende in Ansehung meiner selbst bin." (IV 549) Zu fragen bliebe dabei doch, ob nicht - wenn man Kants Auffassung konsequent weiterdenken will und diese so auf Fichtes Ansatz hin öffnet - diese von Kant angeführte Selbstverpflichtung die Bedingung ihrer Möglichkeit in der vorausgesetzten Dimension der Interpersonalität und dem entsprechenden (nun eben nicht bloß räumlichen) "außer uns" selbst hat, d. h. : diese die Bedingung der Möglichkeit der ersteren sei? Ließe sich nicht unter Aufnahme einer von Kant gelegentlich gebrauchten Unterscheidung die sich hier anmeldende Frage vielleicht auch dahingehend formulieren, ob diese S e l b s t Verpflichtung durch "das Gesetz, kraft dessen ich mich für verbunden erachte", nicht genau genommen gleichsam "ratio cognoscendi" dafür ist, sich gegen andere für "verbunden" zu erkennen" [!], dieses Gesetz jedoch selbst seine letztlich allein zureichende "ratio essendi" in der Existenz vernünftiger Wesen "außer uns" hat?282 Kants Begründung: "weil das Gesetz, kraft dessen ich mich für verbunden achte, in allen Fällen aus meiner eigenen praktischen Vernunft hervorgeht, durch welche ich genötigt werde", ist wohl nicht so improblematisch — und zwar nicht nur wegen der von Kant damit doch nahegelegten schiefen Unterscheidung zwischen "eigener" und "fremder" praktischer Vernunft als

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Fichte hat bekanntlich den Begriff einer "Pflicht gegen sich selbst" durch denjenigen einer "Pflicht auf mich selbst" ersetzen wollen und hat diese "mittelbare und bedingte Pflichten" genannt: "mittelbare, weil sie das Mittel alles unseres Wirkens zum Objekte haben; bedingte, weil sie sich nur durch den Satz ableiten lassen: will das Sittengesetz das Bedingte, die Realisation der Vernunftherrschaft außer mir durch mich, so will es auch die Bedingungen, daß ich ein taugliches und geschicktes Mittel zu diesem Zwecke sey." (Akademie-Ausgabe I, 5.232) So bleibt das Verhältnis der "Pflichten gegen sich selbst" und der "Pflichten gegen andere" daraufhin zu befragen, ob nicht letztere selbst als "ratio cognoscendi" der ersteren fungieren; es ist dann eben nicht so selbstverständlich, wenn Kant geltend machen will: "Wer die Pflicht gegen sich selbst übertritt, wirft die Menschheit weg, und dann ist er nicht mehr imstande Pflichten gegen andere auszuüben." (Menzer, Eine Vorlesung Kants . . . 147.) - Problematisch ist wohl auch der von Alpheus (zur Stützung seiner These, daß der "kantische Begriff der Personalität nichts von Sozialität" enthalte) vorgetragene Hinweis: "auch die Kantische Lehre von den Pflichten gegen sich selbst — im Unterschiede von den Pflichten gegen andère — gilt ja gerade nicht von der sozialen Person, und ebenso gelten die (Kantischen) Tugendpflichten gegen andere zwar von der sozialen, aber gerade nicht von der rechtlichen, geschweige denn von der staatsbürgerlichen Person." (K. Alpheus, Kant und Scheler 132)

Moralität und praktische Ich-Identität

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bestimmten "Vermögen". Diese angebliche Begründung Kants ist vermutlich auch nicht so ohne weiteres zu vereinbaren mit seinem Hinweis aus der Darstellung der "Amphibolie der moralischen Reflexionsbegriffe: Das, was Pflicht des Menschen gegen sich selbst ist, für Pflicht gegen andere zu halten": "Das nötigende (verpflichtende) Subjekt muß also erstlich eine Person sein, zweitens muß diese Person als Gegenstand der Erfahrung gegeben sein, weil der Mensch auf den Zweck ihres Willens hinwirken soll, welches nur in dem Verhältnis zweier existierender Wesen zueinander geschehen kann." (IV 577 f.) Verträgt sich denn damit so ohne weiteres Kants Feststellung über die behauptete angebliche Verhältniseinheit- und -unterschiedenheit zwischen dem "verpflichtenden" und "verpflichteten" Ich, der zufolge nach Kant "der Mensch (in zweierlei Bedeutung betrachtet), ohne in Widerspruch mit sich zu geraten (weil der Begriff vom Menschen nicht in einem und demselben Sinn gedacht wird), eine Pflicht gegen sich selbst anerkennen kann"? (IV 550) Und was bedeutet es denn genauerhin, daß es die "Idee der Menschheit in unserer Person" sein soll, die "das Subjekt des moralischen Gesetzes" und damit die qualitative Ich-Identität konstituiert und so als letzter zureichender Grund und Gegenstand der Achtung fungiert? Kants gelegentlich gebrauchte Metapher, die Vernunft halte dem Menschen "im moralischen Gesetz den Spiegel vor" (VI 324), gewinnt nunmehr in dieser Frage nach der notwendigen Voraussetzung dieser Interpersonalst und dem Ermöglichungsgrund "moralischer Identität" ihr ganz besonderes Gewicht. (S. dazu Anm. 272) Es ist deshalb in Anbetracht der bei Kant vorliegenden Problemsituation wohl nicht zufällig, sondern eben doch recht genauer Ausdruck dieser Problemlage, daß Kants Sätze: "Alle Achtung für eine Person ist eigentlich nur Achtung fürs Gesetz. . . wovon jene nur [!] das Beispiel gibt" (IV 28) und: "Alle Achtung geht jederzeit nur auf Personen" (IV 197) einander — widersprüchlich? — gegenüberstehen, und auch noch der späten Tugendlehre zufolge der Mensch "sonst keine Pflicht gegen irgend ein Wesen haben" könne, "als bloß gegen den Menschen". (IV 577) Der Eindruck der Zirkelhaftigkeit in Kants Argumentation liegt schon deshalb nahe, zumal ja Achtung für eine Person "eigentlich" "Achtung vor dem moralischen Gesetz" sein — bzw. erstere darauf zurückführbar sein ~ soll. Dieses "praktische Gesetz" wiederum soll den Grund seiner Möglichkeit im Dasein des Menschen als "Zweck an sich selbst" haben ~ jenem Wesen, "dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Wert hat." Kant versuchte seine These über die Selbstverpflichtung als dem Erkenntnisgrund der Verpflichtung gegen die Anderen in folgender Weise plausibler zu machen: "Wenn das verpflichtende Ich mit dem verpflichteten in einerlei Sinn genommen wird, so ist Pflicht gegen sich selbst ein sich widersprechender Begriff"; auflösbar scheint diese "scheinbare Antinomie" nach Kant dennoch zu sein: denn der Mensch, eben "als ein mit innerer Freiheit begabtes Wesen . . . gedacht, ist ein der Verpflichtung fähiges Wesen, und zwar gegen sich

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Interpersonalitätstheorie bei Kant

selbst(die Menschheit in seiner Person) betrachtet; so daß der Mensch (in zweierlei Bedeutung betrachtet), ohne in Widerspruch mit sich zu geraten, (weil der Begriff vom Menschen nicht in einem und demselben Sinn gedacht wird) eine Pflicht gegen sich selbst anerkennen kann." (IV 550) Die Frage bleibt, ob in dieser Weise nicht wiederum der voraus-gesetzte Raum der Interpersonalität (und zwar eben in dem "verpflichtenden Ich" als dem "allgemeinen Ich" bzw. der "Idee der Menschheit") im Grunde immer schon mitangesprochen ist, genauer noch: diese Idee der Menschheit doch gar nichts anderes als die vorausgesetzte Interpersonalst selbst artikuliert — ja in Wahrheit sogar nur die hypostasierte und verinnerlichte praktische Idee selbst darstellt? Ist dies nicht auch der eigentliche Sinn jener schon zitierten Wendung, daß die "Idee der Menschheit in unserer Person" es ist, die "das Subjekt des moralischen Gesetzes" sein soll?283 Diese von Kant ganz stillschweigend vorausgesetzte Thematik der Interpersonalität tritt natürlich recht deutlich schon in der bloß negativ - einschränkenden Menschheitsformel und der "Reich der Zwecke"-Formel zutage, wo doch in den "gemeinschaftlich objektiven Gesetzen" "diese Gesetze eben die Beziehimg dieser Wesen auf einander als Zwecke und Mittel zur Absicht haben." (IV 6Ó)284 Es scheint doch so zu sein, daß auch der Gedanke der

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So ist wohl die Ansicht Löwischs zu verstehen, bei Kant sei "die Menschheitsidee das eigentlich sinnstiftende Element für das Sittengesetz", weil diese "Idee der Menschheit dem Sollen des kategorischen Imperativs in seiner blassen Allgemeinheit und Formelhaftigkeit erst seinen wahren Sinn", weil "Inhaltlichkeit und Zielgerichtetheit", geben könne. (Kants Begründung der Gemeinschaft . . . 188) Muß es dann nicht als problematisch, ja als Verkehrung des Begründungsverhältnisses erscheinen, wenn Kersting nun mit Blick auf das von Kant behandelte "Recht der Menschheit" feststellen will: "Das in der äußeren Vernunftgesetzgebung begründete rechtliche Verpflichtungsverhältnis ist die Abbildung [!] der die scheinbare Antinomie der ethisch-formalen wie auch ethisch-materialen Selbstverpflichtung auflösenden transzendentalidealistischen Ich-Doppelung auf ein äußeres, intersubjektives Verhältnis; der mich verpflichtende andere ist quasi [!] mein alter ego: dem rechtlich Verpflichteten begegnet im ihn verpflichtenden anderen immer die eigene Vernunft: jede rechtliche Fremdverpflichtung ist stets mögliche Selbstverpflichtung. Vor dem Hintergrund der Konzeption einer äußeren Vernunftgesetzgebung nimmt das grundlegende Rechtsverhältnis die Gestalt einer äußeren Verpflichtung an, deren Subjekt und Objekt die im Rechtsverhältnis verknüpften polaren Positionen des Berechtigten und des Verpflichteten besetzen." (W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit... 89) Noch die Argumentation des "kritischen" Kant scheint sachlich gesehen auf jener Voraussetzung zu beruhen, die in den "Träumen eines Geistersehers" unverkennbar zutage tritt: "Sollte es nicht möglich sein, die Erscheinungen der sittlichen Antriebe in den denkenden Naturen, wie solche sich aufeinander wechselweise beziehen, gleichfalls als die Folge einer wahrhaft tätigen Kraft, dadurch geistige Naturen ineinander fließen, vorzustellen, so daß das sittliche Gefühl diese empfundene Abhängigkeit des Privatwillens vom allgemeinen Willen wäre und eine Folge der natürlichen und allgemeinen

Moralität und praktische Ich-Identität

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Überschreitung der bloß partikulären Subjektivität hin auf das bestimmende Prinzip des allgemeinen Willens (der universalitas, nicht bloß der generalitas) und der so zu nennenden Vernünftigkeit diesen Raum der Intersubjektivität impliziert. Auch die Kants Argumentation leitende Idee der "Einheit" von besonderem und allgemeinem Willen ist doch wohl nur in diesem Sinne angemessen zu fassen. Gegenstand der Achtung ist so gesehen folglich das ins Blickfeld getretene "Vernünftig-Allgemeine"; daß "die Person . . . , als zur Sinnenwelt gehörig, ihrer eigenen Persönlichkeit unterworfen ist, sofern sie zugleich zur intelligiblen Welt gehört" (IV 210), sowie die so bestimmte Idee des "homo noumenon" (die "Menschheit in seiner Person": vgl. etwa IV 555) ~ dies meint vermutlich gar nichts anderes als diese gleichsam nach innen gekehrte Idee der "allgemeinen Vernünftigkeit". Dazu stimmt auch die Bestimmung der "moralischen Persönlichkeit" als der "Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen" (IV 329).285 Als eine bloße Folgerung hegt darin nunmehr allerdings dies beschlossen, daß die "Pflicht der rechtlichen Ehrbarkeit" als "Verbindlichkeit aus dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person" (IV 344) demnach von der "Verbindlichkeit aus dem Recht der Menschheit in der Person des Anderen" auch gar nicht abtrennbar ist, und nur deshalb ist das Menschheitsrecht "nicht nur ein mit dem Rechtsgesetz zusammenfallender Verbindlichkeitsgrund äußerer, fremdadressierter Rechtspflichten, sondern auch der Quell einer selbstgerichteten, und folglich inneren rechtlichen Verbindlichkeit."286 Ein überaus interessantes Problem tritt nun im Kontext dieser wesentlichen Themen der kantischen Moralphilosophie und Ethik auch noch zutage, wenn

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Wechselwirkung, dadurch die immaterielle Welt ihre sittliche Einheit erlangt". (I 944) Vgl. Reflexion 1179 (Akademie-Ausgabe XV 521) : "Das Wesentliche bei einem guten Charakter ist der Wert, den man in sich selbst (in die Menschheit) setzt, sowohl in Ansehung darauf sich selbst bezogenen Handlungen, als im Verhältnis auf andere. Denn der Charakter bedeutet, daß die Person die Regel ihrer Handlungen aus sich selbst und der Würde der Menschheit entlehnt." W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit.. . 101. Diese Formulierung legt freilich selbst die Abtrennbarkeit beider nahe und ist deshalb mifiverständlich. Selbstbezug und (der von Kersting so genannte) "Alteritätsbezug" sind ohne Zweifel nicht in dieser doch äußerlichen (und einander ausschließenden) Weise einander gegenüberzustellen. Es muß deshalb gewiß als sachlich angemessener erscheinen, wenn Kersting wenig später bemerkt: "Die praktische Notwendigkeit, einander äußerlich als Rechtsperson zu respektieren, findet in der Pflicht, sich anderen als Rechtsperson zu präsentieren, ihr notwendiges Komplement. Sagt die Vernunft, daß Recht sein soll, dann sagt sie zugleich auch: sei eine Person, honeste vive." (Wohlgeordnete Freiheit . . . 106) Dies besagt so nun aber gar nichts anderes als die grundlegende Einsicht, daß der Mensch in solchem praktischen Verhältnis seine Identität als Rechtsperson eben nicht unter Absehung davon zu gewinnen vermag, wie er "für Andere" ist (in Erscheinung tritt), von diesen anerkannt ist — und sich darin auch als anerkannt weiß!

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Interpersonalitätstheorie bei Kant

man Kants Satz über die Notwendigkeit der "Gesetzmäßigkeit seiner Freiheit" so als Problemaspekt der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit "personaler Identität" ins Auge faßt: "Und so zerstört Freiheit im Denken, wenn sie so gar unabhängig von Gesetzen der Vernunft verfahren will, endlich sich selbst." (ΠΙ 282) Wird dieser ursprünglich jedenfalls auch auf die ebenso zentralen wie schwierigen Themen der transzendentalen Analytik zurückverweisende (bzw. diesen selbst entstammende) Problemaspekt nun mit der Frage nach der Möglichkeit des praktischen Selbstbewußtseins ~ die Möglichkeit seiner Konstitution und seiner Einheit, Kontinuität und "Totalität" ~ und der Möglichkeit vernünftiger (sittlicher) Praxis in Beziehung gesetzt, so gewinnt dieser schwierige Fragenkomplex auch im Zusammenhang dieser hier beschäftigenden Probleme noch einmal ganz besondere Bedeutung. Es resultierte so bei Kant selbst die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit der Identität "praktisch-selbstbewußten" Wissens auf freilich von einander zu unterscheidenden "Stufen", auf welchen sich so die "praktische sich selbst verpflichtende Vernunft" in je verschiedener Weise konstituiert und konkretisiert, aber auch nur darin — in so begründetem, je unterschiedlichem Anspruchsniveau ~ sich selbst erhält, ohne daß dies auf bloße Selbsterhaltung einer bloß abstrakten Identität — in Wahrheit Identitätsverlust287 - hinausliefe. Es kann jedoch auch nicht so sein, daß dieses Problem "praktischer Identität" sich in dem Aufweis der Möglichkeit und der Notwendigkeit der "Integration und Bändigung der Triebe durch die Einheit des praktischen Ich" erschöpfen sollte.288 Von einem "Prinzip Autonomie" wäre solcherart gewiß nicht zu reden ~ d. h. auch nicht so, daß in Neuauflage und bestimmter Variante des alten Chorismos-Problems der "intelligible Charakter" in ein schlechtes "Außerhalb" ("Jenseits") zum "empirischen Ich" geriete und nur in solcher Abtrennung gar die Identität der sittlichen Person sich formierte. So ist nämlich das "Bewußtsein unseres Daseins in der intelligiblen Welt" (IV 265) zweifellos nicht zu denken. Gewiß spielt bezüglich dieser "personalen Identität" in freilich verschiedener Weise Kants frühe Unterscheidung zwischen "Nicht-als-allgemeines- Gesetz- denken-können" und "Nicht-als allgemeines-Gesetz-wollen-können" (dies meint bekanntlich der Kanon der moralischen Beurteilung betreffend die sogenannten Rechts- und Tugendpflichten) eine wesentliche Rolle, verweist diese doch darauf, daß ~ von der menschlichen "Selbsterhaltung in seiner tierischen Natur" (des "Tiermenschen") einmal abgesehen ~ ohne "liberalisierte und erweiterte Denkungsart" das Vernunftwesen Mensch (IV 569) unweigerlich seine Identität als "moralisches Wesen" verlieren müßte, weil seine "moralische

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So mit Recht Adorno, Negative Dialektik 175. Darauf läuft bekanntlich ein gängiger Vorwurf Hegels gegen Kant hinaus.

Moralität und praktische Ich-Identität

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Selbsterhaltung" als Person und Persönlichkeit ohnedem nicht zu denken ist.289 Es scheint deshalb die Behauptung gar nicht so unproblematisch zu sein, daß "also Moralität in nichts anderem besteht als in dem, was Kant die 'Selbsterhaltung der Vernunft' . . . nennt."290 Nicht nur bleiben wohl berechtigte Zweifel darüber, ob damit Kants Differenzierung zwischen

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Vgl. zu diesen zentralen Fragen auch D. Henrich, Der Begriff . . . - Der schon angeführte Kanon ist, als maßgebend für die Problematik des Ermöglichungsgrundes "personaler Identität", auch nicht auf ein bloßes "Konsistenzprinzip" - weder von Handlungen noch von "Maximen" — zu reduzieren, ohne daß sich das Problem der "Einheit der Person" nicht verflüchtigte. Im Grunde sind doch folgende Reflexionen nur in diesem Sinne zu verstehen: "Das erste, was der Mensch tun muß, ist, daß er die Freiheit unter Gesetze der Einheit bringt; denn ohne dieses ist sein Tun und Lassen lauter Verwirrung" (Akademie-Ausgabe XIX 280); diese Freiheit müsse als "verständige" unter der "Bedingung der allgemeinen Regelmäßigkeit stehen" (Reflexion 7220), deshalb formulieren ihre Gesetze die "Bedingungen der Einheit im Gebrauch der Freiheit überhaupt" (Reflexion 7063) — die Bedingungen, "unter denen allein die Freyheit mit sich selbst stimmen kann" (Reflexion 7197) - und fungieren infolgedessen notwendig als ihre "Konstitutionsprinzipien" (vgl. auch Reflexion 6859). Zur "Bedingung der Möglichkeit richtigen Denkens" s. auch III 280 f! — "Allein, wie viel und mit welcher Richtigkeit würden wir wohl d e n k e n , wenn wir nicht gleichsam [!] in Gemeinschaft mit andern, denen wir unsere und die uns ihre Gedanken m i t t e i l e n , dächten!" (Vgl. auch o. Anm. 22S) S. dazu aber auch Kants Hinweis auf die Notwendigkeit der Sprache, "um nicht allein andern, sondern uns selbst verständlich zu werden"! (Reflexion 3444, Akademie- Ausgabe XVI, 839) - Unmißverständlich ist diese Thematik auch in Reflexion 7204 angesprochen: diese Gesetze gewähren erst "die Identität meines Wollens der Form nach . . . Ich kann nur, wenn ich nach principien apriori handle, immer eben derselbe in der Art meiner Zwecke sein, innerlich und äußerlich." — Mit guten Gründen stellt Kersting diesbezüglich fest: "Wie die analytische theoretische Selbstbewußtseinseinheit eine synthetische Einheit voraussetzt, so steht auch die analytische praktische Selbstbewußtseinseinheit unter der Bedingung einer synthetischen Einheit apriori." (Wohlgeordnete Freiheit.. . 21) Es ist jedoch überdies zu fragen, ob die in den zitierten Reflexionen angestellte formale Charakterisierung der Regelmäßigkeit ohne weitere Differenzierungen für eine Qualifizierung der moralischen Identität schon ausreicht: muß ihr nicht (und einer solcherart "begründeten" Identität) auch ein "Bösewicht" genügen? Natürlich setzt selbst "das Bewußtsein eines kontinuierlichen Hanges zur Übertretung" des moralischen Gesetzes (IV 259) sowie das Bewußtsein der Möglichkeit, sich die Freiheit des "Sich zur Ausnahme machens" zu eigen zu machen (und so die "Allgemeinheit des Prinzips" in bloße "Gemeingültigkeit" zu verkehren: IV 55) die Identität des praktisch-moralischen Selbstbewußtseins voraus. M. Sommer, Die Selbsterhaltung der Vernunft 12. Diese "Selbsterhaltung der Vernunft" ist aber "Maxime der Aufklärung" (VII 283). Vgl. auch M. Forschner, Moralität und Glückseligkeit in Kants Reflexionen (S. 358): "Kant definiert also Moralität ausschließlich in Termini der Identität und Selbsterhaltung von Freiheit. Abgeblendet wird auch inhaltlich alles, was in irgendeiner Form durch Natur vorgegeben ist." Sommer wie auch Forschner dürften jedenfalls der Sache nach gewiß anderes und mehr als "Selbsterhaltung als Überlebensprinzip" vor Augen haben, geht es doch um die mögliche Identität im Sinne eines vernunftbestimmten Wollens, ohne das humane Existenz unmöglich ist.

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Interpeisonalitätstheorie bei Kant

"Vernunftwesen" und "vernünftigem Wesen" berücksichtigt ist; jedenfalls muß dabei aber doch eine "Selbsterhaltung von ganz anderer Art" auf dem Spiele stehen, "als diejenige ist, die von der Natur außer uns angefochten und in Gefahr gebracht werden kann". (V 350) Evidenterweise ist das hier interessierende Problem "personaler Identität" von der Problematik der in der Paralogismenlehre der ersten Kritik beschäftigenden Thematik der "Person" notwendig zu unterscheiden: denn dieser letzteren zufolge meint "Person" nur dasjenige, "was sich der numerischen Identität seiner selbst in verschiedenen Zeiten bewußt ist." (III 370) Auch der von Kant zu Beginn seiner "Anthropologie in pragmatischer Absicht" betonte Sachverhalt: "Daß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle andere auf Erden lebende Wesen. Dadurch ist er eine Person und, vermöge der Einheit des Bewußtseins, bei allen Veränderungen, die ihm zustoßen mögen, eine und dieselbe Person, d. i. ein von Sachen, dergleichen die vernunftlosen Tiere sind, mit denen man nach Belieben schalten und walten kann, durch Rang und Würde ganz unterschiedenes Wesen" (VI 407) ~ auch dies reicht wohl nicht zu, um den hier entscheidenden Grund auch nur in Sicht bringen zu können. Was freilich nicht unwesentlich ist: auch in dieser Anthropologie unterscheidet Kant das "Ich als Subjekt des Denkens", d. i. als "intellektuelles Bewußtsein" (als "bloße Apperzeption"), natürlich von dem "Ich als Objekt der Wahrnehmung" (des "inneren Sinnes": VI 417), d. i. der bloß "empirischen Selbsterkenntnis". Kant unterscheidet überdies beide notwendigerweise von der "Selbsterkenntnis seiner an sich selbst" als dem "Bewußtsein der reinen Spontaneität (den Freiheitsbegriff) . . . /, dem/ Bewußtsein der Regel seines Tuns und Lassen ohne dadurch ein theoretisches (physiologisches) Erkenntnis seiner Natur erworben zu haben." (VI 427 Anm.) Kants Begründung ist die: "Das Erkenntnis seiner selbst nach derjenigen Beschaffenheit [. . .] was er an sich selbst ist kann durch keine innere Erfahrung erworben werden und entspringt nicht aus der Naturkunde vom Menschen, sondern ist einzig und allein das Bewußtsein seiner Freiheit welche ihm durch den kategorischen Pflichtimperativ also nur durch den höchsten praktischen Vernunft kund wird." (VI 429 Anm.)291 Formuliert dies nicht im Grunde am ehesten Kants unverkennbare Einsicht in die theoretisch-reflexive Uneinholbarkeit der praktischen "unbedingten" -"urständlichen" ~ Wirklichkeit des ursprünglichen "daß ich bin",

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Mit Recht bemerkt Oelmüller "'Das Vermögen der Freyheit' und 'die moralische Persönlichkeit' gehören für Kant gerade in ihrem Unterschied zur '(transzendentalen) logischen Persönlichkeit' zu den Fragen der praktischen Philosophie, und da er sie zu den Grundfragen des Menschen zählt, ist für ihn nicht der theoretische, sondern 'der praktische Philosoph . . . der eigentliche Philosoph'". (Die unbefriedigte Aufklärung 116) S. dazu allerdings o. Anm. 226.

Moralität und praktische Ich-Identität

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als deren reflexiv-explizierende (!) Artikulation sich sodann das "Dijudikations"-Prinzip der Moral als "kategorischer Imperativ" in seinen wesentlichen Momenten — "Unbedingtheit", "Apriorität", "schlechthinnige Notwendigkeit", "Allgemeingültigkeit" — erweist, welches dann erst, in einem weiteren Schritt, noch auf die Problematik des "Typus" und der "Regel" verweist? Ohne auf die damit im einzelnen verbundenen Schwierigkeiten einzugehen, die sich sodann für die genaue Bestimmung des "Faktums der reinen Vernunft", des "Sittengesetzes", des "kategorischen Imperativs" und dessen "Typik" (und nicht zuletzt bezüglich ihres Verhältnisses zueinander) ergeben, ist hier vorläufig lediglich festzuhalten, daß selbstverständlich auch das genannte "Bewußtsein der Spontaneität" es ist, das den "praktischen" Personbegriff und denjenigen der Persönlichkeit (im Unterschied zur "numerischen Identität der Person" in der Paralogismenlehre der ersten Kritik) fundieren muß. Es ist deshalb auch ein weiteres und vergleichsweise doch nur abgeleitetes Problem, ob nicht auch Kants Bestimmimg und Begründung unterschiedlicher Pflichten (den "engen" und den "weiten" Pflichten) ein wohl auch unterschiedlich bestimmter Personbegriff zu ihrer eigenen Fundierung zugrunde liegt. Freilich bedarf auch diese eben vorhin angesprochene Thematik der Selbsterhaltung einer recht sorgfältigen Differenzierung, die im weiteren natürlich auch den verschiedenen Konkretisierungsstufen freiheitlicher Selbstverwirklichung Rechnung zu tragen hat, wenn nicht ein Wort Fichtes als handfester kritischer Einwand sofort Aktualität gewinnen soll: "Selbsterhaltung ist allerdings erstes Gesetz des Menschen wenn man ihn von seinem niedrigsten Theile zu betrachten anfängt; insofern er nemlich [lediglich] vegetiert; sein Pflanzenleben lebt. Das Moos hat diesen Trieb mit ihm gemein, und eine solche Moral erhebt sich nicht über das Moos."®2 Kant teilte diese Ansicht Fichtes, weiß er doch um die "wenn gleich nicht vornehmste, doch erste Pflicht des Menschen gegen sich selbst, in der Qualität seiner Tierheit, . . . die Selbsterhaltung in seiner animalischen Natur." (IV 553) Es ist deshalb wohl

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Fichte, Akademie-Ausgabe 11,3.262. Auch Kant kannte freilich eine "Erhaltung der Person", die lediglich als "Liebe zum Leben" von der "Natur selbst" ermöglicht und getragen ist und so natürlich gar nichts mit jener "Selbstgewinnung" als Person und Persönlichkeit zu tun hat, die sich keinesfalls in dem "Naturinstinkt, sich selbst zu erhalten", erschöpfen kann. (Akademie-Ausgabe XV 491) Schon Aristoteles wußte jedenfalls darum, daß die "Selbsterhaltung" natürlich kein Spezifikum des Menschen ist, wenn doch die Erhaltung des Lebensprozesses (das Streben danach) Kennzeichen im Grunde alles Lebendigen ist, ja darin sich das Plansoll allen sensitiven und animalischen Lebens aktualisiert und auch erschöpft. (S. dazu De anima II und III) - Interessant ist bezüglich dieser Thematik auch die Reflexion 7204 (Akademie-Ausgabe XIX 283 f:)"Gleichwie die Identität der Apperzeption ein principium der synthesis apriori für alle mögliche Erfahrung ist, so ist die Identität meines Wollens der Form nach ein principium der Glückseligkeit aus mir selbst, wodurch alle Selbstzufriedenheit apriori bestimmt wird."

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Interpersonalitätstheorie bei Kant

ebenso überzogen wie auch mißverständlich zu behaupten: "Kant macht das Prinzip der Selbsterhaltung zum fundamentalen Prinzip seiner Philosophie, um die Freiheit zu sichern und um damit [!] die Möglichkeit der Erfüllung menschlichen Glücksverlangens offenzuhalten." Auch reicht es keineswegs aus, wenn Sommer überdies an späterer Stelle feststellen will: "Moralität heißt daher: das ganze Leben als eine einzige umgreifende Handlung zu vollziehen und ihm dadurch eine spezifische und irreduzible Kontinuität zu verleihen."2'3 Schon für eine detailliertere Entfaltung von Kants "System der Freiheit" müßte sich als bedeutsam erweisen, was E. Düsing freilich erst mit Blick auf Fichte geltend gemacht hat: "Die Konstitution eines freien individuellen Selbstbewußtseins, also die Bildung eines in sich einheitlichen und damit handlungsfähigen praktischen Subjekts, das zum Bewußtsein seiner selbst gelangt, bedeutet... für Fichte zugleich die Konstitution von intersubjektiver Beziehung durch Akte wechselseitiger Anerkennung, die zunächst von formaler rechtlicher und in höherer Entwicklung von sittlicher Bedeutung ist."294 Denn gewiß auch für Kant ist die Ausbildung und Erhaltung der personalen Identität wesentlich rückverwiesen auf das "Sich-als-Allgemeines-anerkannt-wissen", das dieses praktische Selbstbewußtsein doch erst konstituiert. Person-sein (Persönlichkeit) ist, so hat sich vorhin gezeigt, Kant zufolge primär eben durch den Bezug zur Verbindlichkeit und Herrschaft des Sittengesetzes begründet. Während jedoch die "Selbsterhaltung der Person" an das Verbindlichkeitsniveau der Rechtssphäre gebunden ist und die Selbsterhaltung als "moralisches Wesen" ohne die Tugendhaftigkeit prinzipiell nicht zu erreichen ist ~ moralische Selbsterhaltung ist freilich nicht ohne das permanente Bemühen um das Fortschreiten der Tugend möglich, weil diese andernfalls "unvermeidlich sinkt" (IV 542) —, ist es nun, über die sich durch "liberalisierte und erweiterte Denkungsart" zwar erhaltende Identität als "vernünftig-moralisches Wesen" ("Persönlichkeit") noch hinaus, ausschließlich die "revolutionierte Denkungsart", die mit dem ihr vorbehaltenen Bezug auf den "ganzen moralischen Zweck" und die darin mögliche "Erhöhung seiner moralischen Vollkommenheit" (IV 582) die "Identität" des Menschen als "Endzweck der Schöpfung" erst konstituiert. Und das hier maß-gebende, unverkürzte Prinzip der "Selbsterhaltung" erweist sich somit eigentlich als dasjenige ermöglichender Selbst-gewinnung als "Zweck an sich selbst", die allein über diesen letztgenannten Stand der Freiheit eröffnet ist. Ohne diese "moralische Vervollkommnung", die anderes meint als eine bloße "große moralische Zierde der Welt" (IV 595), ist der "ganze praktische Endzweck" des Menschen nicht zureichend zu bestimmen, das Verfehlen seines

793 294

M. Sommer, Die Selbsterhaltung der Vernunft 79 u. 201. E. Düsing, Intersubjektivität und Selbstbewußtsein . . . 375 f.

Moralität und praktische Ich-Identität

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Anspruches bringt notwendig mit sich den Verlust seines Ranges als "letzter Zweck der Schöpfung". Es ist nunmehr lediglich noch ein weiterer Schritt innerhalb der Identitätsthematik: zu sehen, daß die als notwendiges Objekt der reinen praktischen Vernunft "vernünftiger endlicher Wesen" (IV 238) verstandene Idee des "höchsten Gutes" auf folgenden Gedanken führt: die von Kant betonte (subjektiv) moralische Notwendigkeit, "das Dasein Gottes anzunehmen" (IV 256), ist nun dahingehend zu verstehen, daß nur in dieser Weise die Bedingung gesichert ist, "überhaupt Vernunft zu haben", d. i. die Erhaltung vernünftiger, praktisch- moralischer Identität zu gewährleisten.295 Nur um den Preis des Verlustes "vernünftiger Identität" wäre folglich konsequenterweise die ausdrückliche Verwerfung der in allem moralischen Handeln immer schon mitbejahten Implikationen zu denken möglich, die ihre Entfaltung sodann erst in den "theoretischen Positionen" der Postulate finden. Dies bedeutet nun in Kants Wortlaut, "daß, wenn er moralisch konsequent [!] denken will [was freilich Kennzeichen aufgeklärten Bewußtseins ist], er die Annehmung dieses Satzes ["daß ein Gott sei"] unter die Maximen seiner praktischen Vernunft aufnehmen müsse." (V 577 Anm.) Für "vernünftig-endliche Wesen" läßt sich in diesem bestimmten Sinne tatsächlich sagen - ohne daß dies nun 796 schon einfachhin den Messern der Religionskritik ausgeliefert wäre —, daß durch "die Idee von Gott sich die Vernunft selbst erhält."297 Dies heißt bei Kant freilich eben gerade nicht, daß der Gottesgedanke bzw. der "Vernunftglaube" etwa bloß "instrumenten" oder "funktionell" bestimmt werden könne. Es soll sich überdies noch genauer zeigen, daß und wie die durch die maßgebenden Perspektiven der Tugendlehre bereicherte und entsprechend auch erweiterte Postulatenlehre Kants in ihren wesentlichen Problemstellungen nicht zuletzt auch bezüglich dieser "Identitätsfmdung und -erhaltung" auf die Frage führt: "Enthält die Praxis eines kommunikativen Handelns, der die unbedingte Anerkennung des anderen weiterhin zur Bedingung der Möglichkeit seiner eigenen Identität macht, nicht die faktische Weigerung, die Vernichtung des anderen zu akzeptieren?"2'8

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Vgl. III 485: "Die Maxime des Selbstdenkens kann man die aufgeklärte; die Maxime, sich in anderer Gesichtspunkte im Denken zu versetzen, die erweiterte; und die Maxime, jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken, die konsequente oder bündige Denkart nennen." Die aufgeklärte Denkungsart nennt Kant gelegentlich auch die "Maxime der Selbsterhaltung der Vernunft". (III 283 Anm.) Vgl. Akademie-Ausgabe XV 823: "Grundsatz der Vernunft: ihre Selbsterhaltung". Was bei Sommer aber doch der Fall ist? M. Sommer, Die Selbsterhaltung der Vernunft 240. Zur diesbezüglichen "Selbsterhaltung der praktischen Vernunft in Ansehung ihres notwendigen Zwecks" s. III 497 f Anm. H. Peukert, Wissenschaftstheorie . . . 341. S. dazu u. Anm. 62 (Teil III)

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Interpeisonalitätstheorie bei Kant

Entscheidende Motive der dieserart modifizierbaren Postulatenlehre werden sich als Kants Antwort auf diese Frage verstehen lassen, erweist sich doch dieser Postulatenlehre zufolge zweifellos die "anamnetische Solidarität" als die "Bedingung der Möglichkeit der eigenen Identität" ~ und zwar in dem durchaus Kants Lehre impliziten Aulweis, "daß man aus der Solidarität aller endlichen Wesen nur um den Preis des Verlustes der eigenen Identität ausbrechen kann."299 Diese auf Kants religionsphilosophische Konzeption vorausweisenden Themen können freilich erst vor dem Hintergrund des nun folgenden zweiten Teiles dieses Buches genauer verfolgt werden.

299

H. Peukert, Wissenschaftstheorie . . . 355.

II. TEIL

1.

Die Sonderstellung der Menschheitsformel: Die Menschheitsformel im Lichte des "obersten Prinzips der Tugendlehre". Zum Unterschied zwischen dem "kategorischen Imperativ" und dem "Imperativ, der die Tugendpflicht gebietet".

Das von Kant aufgesuchte Moralprinzip hat als der berühmte kategorische Imperativ in der sogenannten "Menschheits-Formel" (oder "Selbstzweck- Formel") seine doch gewiß populärste Formulierung gefunden: "Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest." (IV 61) Diese Formel darf aber wohl nicht nur als die bekannteste der verschiedenen Formulierungen des kategorischen Imperativs gelten, sie wird von zahlreichen Kantinterpreten auch in sachlicher Hinsicht als die bedeutendste angesehen. Ohne hier auf die Frage nach ihrem genauen Ort im Rahmen der anderen Formeln des kategorischen Imperativs und ihrem Verhältnis zu diesen im einzelnen einzugehen1, sei nun im folgenden dennoch der Versuch unternommen, diese Menschheitsformel als jene Formulierung mit dem tatsächlich umfassendsten Gehalt auszuweisen. Daß Kant selbst dieser Menschheitsformel einen ganz besonderen Stellenwert einräumt, wird schon daraus erkennbar, daß ja ganz ausdrücklich alle moralphilosophischen und ethischen Hauptschriften Kants auf sie Bezug nehmen. In der "Kritik der praktischen Vernunft" begründet Kant diese Formel mit dem Verweis auf die Stellung und den Rang des Menschen als "Subjekt des moralischen Gesetzes" und die darin fundierte "Autonomie seiner Freiheit": "Eben um dieser willen ist jeder Wille, selbst jeder Person ihr eigener, auf sie selbst gerichteter Wille auf die Bedingung der Einstimmung mit der Autonomie des vernünftigen Wesens eingeschränkt, es nämlich keiner Absicht zu unterwerfen, die nicht nach einem Gesetze, welches aus dem Willen des leidenden Subjekts selbst entspringen könnte, möglich ist; also dieses niemals bloß als Mittel, sondern zugleich selbst als Zweck zu gebrauchen." (IV 210) In der Grundlegungsschrift hatte Kant noch im Anschluß an die Fundierung der "Zwecke-Formel" die Moralität "das Verhältnis der Handlungen zur Autonomie des Willens, das ist zur möglichen allgemeinen Gesetzgebung durch die Maximen desselben" genannt: "Die Handlung, die mit der Autonomie des Willens zusammen bestehen kann, ist erlaubt; die nicht damit stimmt, ist

1

S. dazu R. Wimmer, Univeisalisierung in der Ethik, bes. 168 ff.

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unerlaubt." (IV 73 f.) Schon die an die "Zweckeformel" der zweiten Kritik geknüpfte Argumentation Kants geht demnach über diejenige der "Grundlegung" durch die ausdrückliche Aufnahme des Gedankens der zu postulierenden "Einstimmung" mit der Autonomie des (anderen!) vernünftigen Wesens hinaus ~ und tatsächlich ist die Frage, ob jemand als "Zweck an sich selbst" anerkannt ist und nicht lediglich als "Mittel" fungiert, nicht ohne die Rücksicht auf die entsprechende "Einstimmung" des Betroffenen zu entscheiden. In der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten spricht Kant von der "Pflicht der freien Achtung gegen andere", die als "nur negative" von Kant ausdrücklich als "Rechtspflicht" bezeichnet wird. Diese "Pflicht der Achtung" weiß Kant nun jedoch schon in der "Maxime enthalten [!], keinen anderen Menschen bloß als Mittel zu meinen Zwecken abzuwürdigen (nicht zu verlangen, der andere solle sich selbst wegwerfen, um meinem Zwecke zu frönen)." Es ist nun im weiteren freilich wichtig und aufschlußreich zu sehen, daß Kants späte Tugendlehre von dieser "im Negativen" verbleibenden "Pflicht der Achtung", die also ziemlich genau mit dem Wortlaut der berühmten Menschheitsformel übereinstimmt, ganz ausdrücklich aber noch die "Pflicht der Nächstenliebe" unterscheidet, als die "Pflicht, anderer ihre Zwecke (so fern diese nur nicht unsittlich sind) zu den meinen zu machen". (IV 586 f.) Eben genau diese späte Unterscheidung Kants wird sich als überaus bedeutsam auch für ein einigermaßen differenziertes Verständnis der Menschheitsformel erweisen. Damit soll folglich auch einsichtig werden, daß, von der letztgenannten Unterscheidung der Tugendlehre aus gesehen, die Tugendlehre über die genannte "Einstimmungsforderung" der zweiten Kritik noch insofern hinausgeht, als - an ihrem Anspruchsniveau gemessen - auch diese "notwendige Ubereinstimmung" noch nicht zu genügen vermag. Dies erst führt im weiteren auf den notwendigen Gedanken des "Zwecks der zugleich Pflicht ist", welcher so selbst die "Übereinstimmungsforderung" noch überhöht. Damit ist auch die Frage nach dem Grund für diese späte Abhebung der Achtungspflicht von der Pflicht der Nächstenliebe berührt, zugleich aber doch auch der eigentliche Grund für die Notwendigkeit angesprochen, von dem "kategorischen Imperativ" noch "denjenigen, der die Tugendpflicht gebietet", zu unterscheiden. Nur die genaue Klärung dieser Probleme mag in weiterer Folge aber auch eine zureichende Bestimmung des "ganzen moralischen Endzweckes" vorbereitend ermöglichen. Aufzuweisen ist nun fürs erste einmal eben dies: der Gehalt der Menschheitsformel kann sich nicht einfachhin darin erschöpfen, daß das "Prinzip der Menschheit und jeder vernünftigen Natur überhaupt, als Zweck an sich selbst" fungiert und somit als die "oberste einschränkende Bedingung der Freiheit der Handlungen eines jeden Menschen" gelten müsse. Die unverkürzt verstandene Menschheitsformel impliziert vielmehr, über alle bloß "negative Übereinstimmung" (die "Erhaltung der Menschheit") und auch die bloße Pflicht der

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"Achtung vor der Persönlichkeit als solcher"2 noch hinausweisend, die wesentlich weiter reichende Forderung der "positiven Übereinstimmung zur Menschheit als Zweck an sich selbst": "Denn das Subjekt, welches Zweck an sich selbst ist, dessen Zwecke müssen, wenn jene Vorstellung bei mir a l l e Wirkung tun soll, auch, so viel möglich, meine Zwecke sein." (IV 63) Von diesem Anspruch nämlich absehen zu wollen liefe nach Kant notwendigerweise darauf hinaus, den anderen Menschen als "Zweck an sich selbst" geradewegs zu verfehlen!3 Erst die letztzitierte Formel, so soll sich im folgenden zeigen, vermag nun Kants umfassend und streng konzipiertem Prinzip der Autonomie als der Einheit von "oberstem Prinzip der Moral" und "oberstem Prinzip der Tugendlehre" zu genügen und erlaubt es, alle Reduktionsformen von "Autonomie" zu distanzieren. (S. o. 80 ff.) Die Menschheitsformel impliziert in ihrem substantiellen Gehalt ~ auch wenn dies in den Schriften vor der Metaphysik der Sitten noch nicht seinen expliziten Ausdruck findet, in dieser selbst sodann aber eine Unterscheidung notwendig macht, — über alle Ansprüche bloß "gesetzprüfender Vernunft" und nur "negativer Verbindlichkeit" (welche bloß "zeigt, was man unterlassen soll") hinaus ganz zweifellos auch eine durchaus "positive (affirmative) Verbindlichkeit", "die da sagt, was geschehen soll".4 Freilich bleiben sodann gegenüber den wiederholt ausgesprochenen Versicherungen Kants Bedenken anzumelden, die verschiedenen Formeln des kategorischen Imperativs seien doch bei allem Unterschied ihrer "Anschaulichkeit" sachlich gesehen "im Grunde einerlei", denn: "Die verschiedenen Formeln unterscheiden sich sowohl als moralische Beurteilungsprinzipien als auch in ihrer Nähe zur moralischen Intention. Sie stellen auch jeweils wesentliche Schritte im Begründungsgang der 'Grundlegung' dar."5 Es ist zu beachten — aber zugleich auch als Indiz für die Notwendigkeit von Differenzierungen innerhalb dieser Menschheitsformel selbst zu werten —, daß Kant erst in dem "objektiven Prinzip": "die vernünftige Natur existiert als Zweck an sich selbst" und in der daraus vermittelten Menschheitsformel den "obersten praktischen Grund" dafür erkennen kann, daß nun fürs erste einmal die Möglichkeit eines kategorischen Imperativs als

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So H. J. Paton, Der kategorische Imperativ 199. Man kann deshalb — weil die wesentliche Differenz einebnend — nicht in der Art Wimmers behaupten: "Letztlich bedeutet solche Rücksichtnahme [Berücksichtigung fremder Zwecksetzungen] die Anerkennung der Anderen als autonomer oder als zur Autonomie wenigstens aufgerufener und deshalb zu fördernder Wesen." (Die Doppelfunktion des kategorischen Imperativs . . . 295) Wimmer selbst möchte freilich andererseits darauf hinweisen, daß Kants Selbstzweckformel aus der Grundlegungsschrift — allerdings die um den Gedanken der "positiven Ubereinstimmung" erweiterte — von Kant "zum obersten Prinzip der Tugendlehre" erklärt werde, (ebd. 303) Kant, Akademie-Ausgabe 27.1, 128. A. Wildt, Autonomie und Anerkennung . . . 81.

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begründbar auszuweisen ist, und aus diesem "obersten praktischen Grunde" sodann auch "alle [!] Gesetze des Willens müssen abgeleitet werden können." (IV 61) Wichtig ist es deshalb auch zu sehen, daß Kant in seiner Abwehr der bloßen "goldenen Regel" als "Richtschnur" das in der Menschheitsformel angeführte praktische Prinzip als jenes ansehen möchte, das als "Grund der Pflichten gegen sich selbst,. . . der Liebespflichten gegen andere . . . , endlich . . . der schuldigen Pflichten gegen einander" (IV 62 Anm.), fungieren soll. Die darin implizierte notwendige Differenzierung des Gehaltes und der Reichweite der Menschheitsformel erlaubt sodann einen unmittelbaren Bezug auf das "oberste Prinzip der Tugendlehre", denn die Formel: "handle in Beziehung auf ein jedes vernünftiges Wesen (auf dich selbst und andere) so, daß es in deiner Maxime [!] zugleich als Zweck an sich selbst gelte", erschöpft sich doch gewiß nicht bloß darin, daß das "Subjekt der Zwecke, d. i. das vernünftige Wesen selbst . . . niemals bloß als Mittel, sondern als oberste einschränkende Bedingung im Gebrauche aller Mittel, d. i. jederzeit zugleich als Zweck, allen Maximen der Handlungen zum Grunde gelegt werden" (IV 71 f.) müsse. Das "oberste Prinzip der Tugendlehre" nämlich lautet ~ und die Übereinstimmung zur zitierten Formel der Grundlegungsschrift ist doch unverkennbar: "handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann.— Nach diesem Prinzip ist der Mensch sowohl sich selbst als anderen Zweck und es ist nicht genug, daß er weder sich selbst noch andere bloß als Mittel zu brauchen befugt ist (dabei er doch gegen sie auch indifferent sein kann), sondern den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen ist an sich selbst des Menschen Pflicht." (IV 526) Der Gehalt der Menschheitsformel gewinnt demzufolge erst mit dem "obersten Prinzip der Tugendlehre" seine nunmehr maßgebliche Erfüllung: während die in der Grundlegungsschrift mit der Menschheitsformel verbundene Forderung lediglich darauf zielt, daß der "objektive Zweck . . . als Gesetz die oberste einschränkende Bedingung aller subjektiven Zwecke ausmachen soll" (IV 63), reicht Kants Bestimmung des "moralischen Zwecks" (d. i. des "objektivnotwendigen Zwecks": IV 509 f.) in der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten darüber in entscheidender Weise hinaus, wenn doch dieser "Zweck, der zugleich Pflicht ist", demzufolge eben auf den Sinngehalt der weiten Tugendpflicht zielt. (IV 512) Die bloße Anerkennung des "Subjekts der Zwecke" als "oberste einschränkende Bedingung im Gebrauche aller Mittel" vermag für sich jedenfalls die Bedeutung dieses Prinzips noch nicht wirklich einzuholen.6 Zwar

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Die also "im Negativen* verbleibende Version der Menschheitsformel verbietet lediglich, "vernünftige Wesen bloß als Mittel zu benutzen und so den vernünftigen Willen sittlich handelnder Wesen zu mißachten . . . Das ist die Grundlage der vollkommenen Pflichten . . . Aber wir müssen unser Prinzip auch positiv auffassen: es gebietet das Handeln nach der Maxime, die Zwecke vernünftiger Wesen zu befördern." (So urteilt auch H. J. Paton,

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mag man Cohens Ansicht teilen, in den Worten der Menschheitsformel sei "der tiefste und mächtigste Sinn des kategorischen Imperativs ausgesprochen"; es ist aber doch zu bezweifeln, ob sich von diesen "Worten der Menschheitsformel" im weiteren sagen läßt: "sie enthalten das sittliche Programm der neueren Zeit und aller Zukunft der Weltgeschichte". Zu fragen bleibt: laufen diese geradezu enthusiastischen Sätze Cohens aber nicht doch Gefahr, wesentliche (und zwar durchaus kantische!) Differenzierungen zu verfehlen? Eben dieser Mangel tritt wohl recht deutlich zutage, wenn Cohen meint: "Daß der Zweck konkreter und lebendiger und persönlicher in jeglichem Menschenantlitze bewährt und verwirklicht werden müsse, das wird durch das Abstraktum der Kultur verschleiert. Jene ewigen Worte [der Menschheitsformel] aber zerreißen diesen Schleier, indem sie die Person von jedermann zum Zweck an sich selbst, zum Selbstzweck und daher zum Träger und zum Bürgen der Menschheit machen. So geht das allgemeine Gesetz der Menschheit über in den Endzweck jedes einzelnen Menschen, als Selbstzweck."7 Cohen scheint damit aber doch ganz grundsätzlich auch den Sinn und die Notwendigkeit derjenigen Unterscheidung zu verkennen, durch die Kant ausdrücklich in der späten Tugendlehre das Prinzip des "kategorischen Imperativs" von demjenigen, der die "Tugendpflicht gebietet", abhebt: "Im moralischen Imperativ, und der notwendigen Voraussetzung der Freiheit zum Behuf derselben, machen: das Gesetz, das Vermögen (es zu erfüllen) und der die Maxime bestimmende Wille alle Elemente aus, welche den Begriff der Rechtspflicht bilden. Aber in demjenigen, welcher die Tugendpflicht gebietet, kommt noch über den Begriff des Selbstzwangs, der eines Zwecks dazu, nicht den wir haben, sondern haben sollen, den also die reine praktische Vernunft in sich hat, deren höchster, unbedingter Zweck (der aber doch immer noch Pflicht ist) darin gesetzt wird: daß die Tugend ihr eigener Zweck und, bei dem Verdienst, das sie um den Menschen hat, auch ihr eigener Lohn sei." (IV 527 f.) Wenn Kant freilich im Kontext seiner Ausführungen über die "Pflicht des Menschen gegen sich selbst als dem angeborenen Richter über sich selbst" (IV 572) wiederum von dem moralischen Gesetz (bzw. der "Idee der Menschheit in uns") als dem "unsere Freiheit einschränkenden Imperativ" spricht, so genügt dies eben dem formulierten Anspruchsniveau der "Tugendpflicht gegen andere"

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Der kategorische Imperativ . . . 208; vgl. 210) Es ist deshalb eine im Grunde doch unerlaubte Reduktion dieses Prinzips, wenn man in ihm (wie Wildt) lediglich "der Sache nach ein Konsensprinzip" erkennen möchte. (Autonomie und Anerkennung... 128; vgl. 80 ff.) Bringt denn nicht gerade der positive Gehalt der Menschheitsformel unmiBveiständlich und nachdrücklich dasjenige zum Ausdruck, was Wildt so nachhaltig bei Kant beanstanden will, nämlich das "Fehlen eines schwachen, nichtrechtsförmigen Begriffs von Verpflichtung"? (ebd. 130) H. Cohen, Ethik des reinen Willens . . . 322 f.

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gerade nicht. Dies bleibt zweifellos auch dann noch zu beachten, wenn dieser Imperativ doch auch wiederum sagen soll, "welche durch mich mögliche Handlung gut wäre", anders noch: daß "jedes praktische Gesetz eine mögliche Handlung als gut und darum fur ein durch Vernunft praktisch bestimmbares Subjekt als notwendig vorstellt". (IV 43) Weder der Unterschied zwischen "erlaubt" und "geboten" wäre damit berücksichtigt, noch wäre gar, wie Kant will, von "gebotenen Zwecken" zu reden. Ein recht aufschlußreicher Passus aus den Vorlesungen Kants dürfte gleichfalls die Auffassimg bestätigen, daß Kants Menschheitsformel erst im Lichte des durch die Tugendpflicht formulierbaren "Zwecks, der zugleich Pflicht ist", ihren wahren (d. i. "erfüllenden") Sinn erkennen läßt: "Die Ethik differiert nun hierin vom jure insoweit, als sie auf einem principio affirmativo beruht, nämlich: gieb dem anderen von dem Deinigen. Dies erfolgt vermöge des Zwecks, der bey der maxime der Tugendpflicht zum Grunde liegt; da diese zum Zweck anderer Menschen dienen soll, so klärt sich vermöge dessen auf, was die Regel sagen will: man soll andere Menschen nicht bloß als Mittel, sondern als Zweck gebrauchen. Dies schränkt indeß die Freiheit und das daher entstehende Recht nicht ein, sondern gehört bloß zur Tugendlehre."8 Erst und

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Kant, Akademie-Ausgabe 27.2.1,589. Es ist auch unverkennbar die "Unteibestimmung" der so verstandenen Formel der "Moral", wenn diese nach W. Marx lediglich meinen soll: "Handle so, dafi alle Handlungsmaximen— als den Bedingungen freier Selbstgestaltung von Personen gemäß - erkennbar und anerkennbar sind." (W. Marx, Über Notwendigkeit und Struktur . . . 440) — Ungeklärt scheint der genauere Stellenwert der Achtungspflichten zu sein, die Kant zu den Tugendpflichten (die freilich "auf einen Zweck gehen") zählt und von ihm zwischen die Rechtspflichten und die Liebespflichten gestellt werden — zumal diese, trotz Kants Hinweis auf eine Analogie, den Unterschied zwischen Rechts- und Achtungspflichten im prinzipiellen nicht erkennen lassen: "Auch wird die Pflicht der freien Achtung gegen andere, weil sie eigentlich nur negativ ist (sich nicht über andere zu erheben) und so der Rechtspflicht, niemandem das Seine zu schmälern, analog, obgleich als bloße Tugendpflicht verhältnisweise gegen die Liebespflicht für enge, die letztere also als weite Pflicht angesehen" werden. (IV 585 f.) In dem auch bezüglich dieser Themen interessanten opus postumum stehen den Rechtspflichten ("Zwangspflichten") nur die Liebespflichten gegenüber. (Akademie-Ausgabe XXII 118) Der in der Metaphysik der Sitten so wesentliche Unterschied zwischen den ethischen Pflichten und den Tugendpflichten bleibt auch in den Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten noch unberücksichtigt. Die "Achtungspflichten" als "Teil der Pflichten gegen andere" dürften hier sowohl auf Rechtspflichten wie auch auf die ethischen Pflichten beziehbar sein: "Die Pflichten gegen Andere sind entweder die der Annäherung der Menschen zueinander (Liebespflichten) oder des Abstandes von einander (Achtungspflichten) — die ersteren gehen auf die Zusammenstimmung zu der Freiheit jedes Anderen. — Nun ist der Grundsatz der Zusammenstimmung der Freiheit jedes Menschen mit der Freiheit von jedermann ein Prinzip des Rechts, der Grundsatz aber der Zusammenstimmung des Zwecks der Menschen mit jedermanns Freiheit d. i. niemand ihn aufzudringen ein Princip der Achtung." (Akademie- Ausgabe XXIII 407.) Uneinsichtig ist auch, weshalb und mit

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allein dies verdiente streng genommen - dabei durchaus Kants Begrifflichkeit folgend, wenn auch genauer differenzierend — "intelligible (moralische) Welt" in einem qualifizierten ("eminenten") Sinn genannt zu werden, ist es doch für die Freiheit der dieser "moralischen Welt" Angehörigen konstitutiv, daß sie — nicht lediglich restringiert durch das Sittengesetz, sondern auch und erst recht durch dieses bewegt! — "selbst die Ursache der allgemeinen Glückseligkeit, die vernünftigen Wesen also selbst, unter der Leitung solcher Prinzipien, Urheber ihrer eigenen und zugleich anderer dauerhaften Wohlfahrt sein würden." (II 680) Überhaupt läßt sonach erst die Tugendlehre der Metaphysik der Sitten den ganzen Passus über die "moralische Welt" in neuem Lichte erscheinen: "Diese wird so fern bloß als intelligible Welt gedacht, weil darin von allen Bedingungen (Zwecken) und selbst von allen Hindernissen der Moralität in derselben . . . abstrahiert wird. So fern ist sie also eine bloße, aber doch praktische Idee, die wirklich ihren Einfluß auf die Sinnenwelt haben kann und soll, um sie dieser Idee so viel als möglich gemäß zu machen. Die Idee einer moralischen Welt hat daher objektive Realität, nicht als wenn sie auf einen Gegenstand einer intelligiblen Anschauung ginge (dergleichen wir uns gar nicht denken können), sondern auf die Sinnenwelt, aber als einen Gegenstand der reinen Vernunft in ihrem praktischen Gebrauche, und ein corpus mysticum der vernünftigen Wesen in ihr, so fern deren freie Willkür unter moralischen Gesetzen sowohl mit sich selbst, als mit jedes anderen Freiheit durchgängige systematische Einheit an sich hat." (II 679) Nun soll sich aber zeigen, daß doch erst und ausschließlich die gemäß dem "Zweck, der zugleich Pflicht ist", entworfene "reine praktische Vernunftidee" eben dieser "Idee der Menschheit" im affirmativen Sinne entspricht, und daß natürlich auch diese Idee zu ihrer "Ausführung" noch eines "Schemas" bedarf. Gewiß kann sich der mit diesem Standpunkt der Freiheit verbundene Anspruch auch nicht damit begnügen, dem Imperativ: "Handle sprachlich!" zu genügen, wenn dies nämlich doch "lediglich" heißen soll: "Handle so, daß du deine Handlung [!] auch dann bejahen kannst, wenn du dich als von ihr

welchem Recht Kant in der Metaphysik der Sitten die Pflicht der freien Achtung überhaupt eine Tugendpflicht (und nicht bloß eine "ethische Pflicht") nennt. (Vgl. IV 600; 603; 607) Wildts Erstaunen darüber, daß Kant "innerhalb der Tugendpflichten Tugenden der Achtung und der Liebe unterschieden wissen will" (Wildt 15), ist gewiß nicht unbegründet — ebensowenig wie sein Zweifel, "wie sich dann Tugenden der Achtung und der Liebe begrifflich unterscheiden lassen." (ebd. 16) Spiegelt sich nicht darin schon die Doppeldeutigkeit der Menschheitsformel (in ihrer "negativen" und "positiven* Bedeutung) wider? Vgl. auch ebd. Anm. 13, wo Wildt meint, daß die "Pflichten der Achtung" bei Kant "zwischen den Rechtspflichten und den Tugendpflichten der Liebe stehen." (S. auch 131 f.) — Der Doppelsinn der Menschheitsformel ist zu Recht in den Arbeiten von Gregor (Laws . . . 82 ff.) und Miller ( K a n t . . . 379 f.) betont.

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behandelter ansiehst"9 - genügte dieser Forderung im Grunde doch schon jener von Kant "Disziplinierung" genannte "Zwang, wodurch der beständige Hang, von gewissen Regeln abzuweichen, eingeschränkt, und endlich vertilget wird." (Π 610) Jedenfalls wäre so die Stufe der Zivilisierung und "Liberalisierung der Denkungsart" noch nicht wirklich überschritten. Die Freiheit einer so (restriktiv) entworfenen Idee der "moralischen Welt" bliebe durch das Sittengesetz restringiert, keinesfalls wären die "Glieder" dieser "intelligiblen Welt" durch es "bewegt" (ΠΙ 680) — und schon gar nicht wäre dem Anspruch des "Imperativs, der die Tugendpflicht gebietet", entsprochen. Soll diese "moralische Welt", wenn auch als "bloße praktische Idee", aber jene sein, "so fern sie allen [!] sittlichen Gründen gemäß wäre (wie sie es denn, nach der Freiheit der vernünftigen Wesen, sein kann, und, nach den notwendigen Gesetzen der Sittlichkeit, sein soll") (II 679) ~ dann genügt indessen die bloße "Schicklichkeit" (Qualifizierung) der "Maximen zur allgemeinen Gesetzgebung" und die solcherart maßgebende Norm selbst dann noch nicht, wenn diese auch "aus Pflicht" (als Triebfeder) befolgt wird, ist doch damit zwar dem der "Liberalität der Denkungsart" genügenden Autonomie-Prinzip, nicht aber demjenigen der wahrhaft "revolutionierten Denkungsart" in zureichender Weise Rechnung getragen. Jedoch steht ganz außer Zweifel, daß die Philosophie in ihrem praktischen Teil auf den "Inbegriff bloß formaler Prinzipien des Freiheitsbegriffes zurückzugehen" hat, "ehe noch vom Zweck der Handlungen (der Materie des Wollens) die Frage ist". (III 414) Daran festzuhalten hindert jedoch keineswegs daran, dennoch anzuerkennen, daß erst mit der Tugendpflicht "das Gesetz der Moralität in Erfüllung geht" und erst dieser Freiheitsstand in solcher Weise "den letzten Zweck aller Dinge, das höchste Gut, wohin der Mensch es nur dadurch, daß er sich dazu tauglich machet bringen kann", erreicht.10 Es soll sich nun erweisen, daß und wie solcherart nicht nur der kantische Gedanke einer wirklich umfassenden Idee der "praktischen Teleologie" zu rekonstruieren ist, sondern sodann auch deren Gegenstand als "Endzweck aller Dinge nach Gesetzen der Freiheit" (III 647) im Rahmen einer modifizierten und erweiterten Postulatenlehre - einer jetzt erst eigentlich so zu nennenden "Ethiko-theologie" — einen reicheren Sinn zu gewinnen vermag.11 Dabei soll

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B. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein Band III, Frankfurt a. M. 1966, 360. Kant, Akademie-Ausgabe 27. 2.1., 652. Eine Unscharfe in der Bestimmung des genaueren Gehaltes von "moralische Welt" und "moralisches Gesetz" ist bei Kant, aber auch in der Kantliteratur, unübersehbar. Daß Kant diesen Terminus "moralische Welt" auch noch in der Spätzeit immer wieder in einem weiten Sinne faßt, dies belegt, in einer auch für das Verständnis des Stellenwerts des "Reichs der Zwecke" bedeutsamen Weise, noch folgender Passus der Tugendlehre: "Wenn von Pflichtgesetzen . . . die Rede ist und zwar im äußeren Verhältnis der Menschen

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deutlich werden, daß und wie die unabweisbare Frage nach der Endabsicht der Vernunft, "nämlich, was zu tun sei, wenn der Wille frei, wenn ein Gott und eine künftige Welt ist" (II 674), letztlich nur über die genaue Rücksichtnahme auf das Lehrstück vom "gebotenen Zweck" und der ihr gemäß modifizierten Postulatenlehre angemessen zu verstehen ist. Daraus resultiert somit die Notwendigkeit einer erweiterten Bestimmung sowohl der "theoretisch betrachteten Weisheit" als der "Erkenntnis des höchsten Guts", wie auch ihrer praktischen Wirklichkeit: der "Angemessenheit des Willens zum höchsten Gute." (IV 262) Weil sich infolgedessen der Sinngehalt dieser Menschheitsformel ohne Reduktionismus nicht auf das bloße Gebot der achtungsvollen Distanz gegenüber dem Anderen herabsetzen läßt, überhöht natürlich die im Sinne der Tugendpflicht gedachte Menschheitsformel aus den schon angeführten Gründen den Bereich der Rechtspflichten auch dann, wenn diese als "Achtungspflichten" aus Pflichtgesinnimg befolgt werden, und die Gesetzgebung folglich also die "ethische" ist.12 Kants Unterscheidung des (auf die Rechtspflichten bezogenen) kategorischen Imperativs von "demjenigen, der die Tugendpflicht gebietet", ist andernfalls auch in keiner Weise zu verstehen. In Entsprechung zu diesem Unterschied zwischen den Rechtspflichten und den Tugendpflichten bleibt nun zwar die Vorstellung in gewisser Hinsicht maßgebend, "daß bloß die Würde der Menschheit, als vernünftiger Natur, ohne

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gegeneinander, so betrachten wir uns in einer moralischen (intelligiblen) Welt, in welcher, nach der Analogie mit der physischen, die Verbindung vernünftiger Wesen (auf Erden) durch Anziehung und Abstoßung bewirkt wird." (IV 585) M. Sommer sieht zwar zum einen mit der von ihm so genannten "Zweck-Mittel-Formel des Moralprinzips" "eine Beziehung von ego und alter ego hergestellt, deren Genese und Struktur nicht nur noch der Aufhellung und Auslegung bedürfen [ . . . ] Es ist gewiß richtig, daß Moral, um es möglichst vage zu formulieren, etwas mit InterSubjektivität zu tun hat; beide stehen aber in einem höchst vertrackten, um nicht zu sagen gebastelten Zusammenhang, den man zerreißt, wenn man den kurzen Weg des scheinbar Einleuchtenden wählt." Nicht nur ist es für Sommer schwer begreiflich, "was dies heißen soll: den anderen als Zweck behandeln"; für die ganze Formel und besonders auch für die "Eigenart einer durch sie ermöglichten InterSubjektivität* sei vielmehr lediglich durch Beachtung des "gesellschaftlichen Zusammenhanges* die eigentliche Stelle dieser Formel zu finden, und dies sei nun zweifellos die Gesellschaft als "bürgerliche Verbindung". (M. Sommer, Die Selbsterhaltung der V e r n u n f t . . . 100 f.) Sommers Interpretation verdankt sich ersichtlich einer doch verkürzenden (einseitig auf den negativen Aspekt eingeengten) Sicht der Menschheitsformel, die aus der Mißachtung der entscheidenden Überlegungen Kants in der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten resultiert, und die so auch seine Verständnisschwierigkeit in dem Punkt erklärt, "was dies heißen soll: den anderen als Zweck behandeln". Ungeachtet seines Insistierens auf der negativen Bestimmung der Menschheitsformel (vgl. 148) läßt sich mit ihm durchaus sagen, daß mit dieser Forme! "Intersubjektivität zum Konstituens der Möglichkeit von Moralität" werde.

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irgend einen anderen dadurch zu erreichenden Zweck, oder Vorteil, mithin die Achtung für eine bloße Idee, dennoch zur unnachlaßlichen Vorschrift des Willens dienen sollte, und daß gerade in dieser Unabhängigkeit der Maxime von allen solchen Triebfedern eine Erhabenheit derselben bestehe, und die Würdigkeit eines jeden vernünftigen Subjekts, ein gesetzgebendes Glied im Reich der Zwecke zu sein, denn sonst würde es nur als dem Naturgesetze seiner Bedürfnis unterworfen vorgestellt werden müssen." (IV 73) Nun hat sich allerdings schon erwiesen, daß das Verbindlichkeitsniveau der Tugendpflicht auch noch jede bloße in der "Unabhängigkeit der Maxime von allen solchen Triebfedern" begründete "Erhabenheit" und "Würde" als eine vorläufige Angelegenheit bloßer "Autarkie" und "Autokratie" distanziert.13 Dies bleibt nun ganz ungeachtet des Umstandes zu bedenken, daß Kant tatsächlich wiederholt Rechtsgesetze wie auch die "ethischen Gesetze" unter dem "allgemeinen Moralgesetze" enthalten sieht 14, dabei jedoch auch noch einen wesentlichen weiteren Unterschied formuliert: "Unter diesem allgemeinen Moralgesetze sind sowohl die Rechtsgesetze, als die ethischen Gesetze enthalten, nemlich mit den Unterschieden, daß bei den ersteren die Handlungen bloß in Rücksicht ihrer Form, bei den letzteren aber in Rücksicht ihres Zweckes als ihres Objects betrachtet werden."15

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Dies besagt auch Reflexion 7209 (vgl. auch Reflexion 6977), der zufolge nämlich "freyheit als ein principium der allgemeinen Glückseligkeit . . . gütigkeit gegen andere" notwendig miteinschließe. Als durchaus kantisch soll sich näherhin die Ansicht erweisen, daß die Intention, "sich über das Erhabene zu erheben", recht verstanden also nicht nur möglich, sondern sogar notwendig ist. Was aber hätte dies sodann - analog dazu — für die in der Gestalt des Erhabenen zur Darstellung gelangenden "Idee des Übersinnlichen" zu bedeuten?Vgl. auch IV 318 f. — Es sei lediglich angemerkt, daß auch Hobbes die seiner Idee des "Vertrages" zugrundegelegten "natürlichen Gesetze" ausdrücklich als "moralische Gesetze" bezeichnet. Damit soll freilich nicht gesagt sein, daß Kant hier sowohl in terminologischer oder gar auch in sachlicher Hinsicht Hobbes folgen wollte. Kants kritische Auseinandersetzung mit Hobbes (gerade auch in der Unterscheidung verschiedener Perspektiven) ist zu differenziert, als daß davon die Rede sein könnte. (Vgl. dazu auch VI 143 ff.) Kant, Akademie-Ausgabe 27.2.1, 526. Ganz ähnlich heißt es wenig später. "Alle Rechtsgesetze, d. i. über Rechte gegen Andere, haben lediglich ihren Bestimmungsgrund in der Freiheit, mithin in der Form der Handlungen, d. i. in denjenigen Bestimmungen, unter welchen alle Handlungen aufgestellt werden müssen, um jeden möglichen Zweck zu erreichen. Sie nehmen daher nie auf objektive Bedingungen der Materie der Gesetze oder den allgemeinen Zweck der Glückseligkeit Rücksicht, wie dies der Fall bei den ethischen Gesetzen ist, die alles Wohl, was dem Menschen möglich ist, zum Zweck haben. Sooft nämlich von rechtspflichtigen Handlungen gegen Andere die Rede ist, so muß die Handlung, es mag dadurch ein Zweck erreicht werden sollen, welcher nur immer wolle, schlechthin unbedingt nach der Maxime eingerichtet sein, daß die Freiheit der Handlung mit der Freiheit von Jedermann nach dem allgemeinen Gesetz übereinstimme."

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Die erwähnten beiden Unterschiede der ethischen Gesetze zum Prinzip der Rechtsgesetzgebung bringt Kant in seinen Vorlesungen nun auch durch folgende Unterscheidung i n n e r h a l b des "Principiums der Ethik" zum Ausdruck. Denn dieses "theilt sich ab in 1. das Principium ethicum, dies ist rein formale, weil es nur die Gesinnung selbst betrifft, aus welcher die Handlung entspringen soll. Es wird das allgemeine Tugendprinzip, oder Tugendpflicht, die demselben gemäße Handlung genannt und besteht generaliter darin: handle dem Gesetz gemäß um des Gesetzes willen oder thue deine Pflicht aus Pflicht, d. i. handle nicht nur nach dem Imperativ des Gesetzes, sondern übe die Handlung auch bloß deshalb aus, weil die Triebfeder deiner Handlung das Gesetz selbst ist. Dies Princip der Handlung ist subjectiv, es geht auf den Bewegungsgrund des Handelnden, der das Gesetz sein soll [...] 2. das Principium Ethices, dies ist materiell, da es die Handlung, die geschehen soll, selbst bestimmt, und also die Ausübung der Tugendpflichten betrifft. Es heißt: Handle so gegen andere Menschen, daß du wollen kannst, daß die Maxime deiner Handlung ein allgemeines Gesetz werde. Hier ist also nicht die allgemeine Freiheit, sondern Wille gegen den allgemeinen Willen das Objekt. Dieser allgemeine Wille besteht in dem allgemeinen Zweck aller Menschen und heißt Liebe gegen andere, das Prinzip des Wohlwollens zum allgemeinen Zweck der Glückseligkeit."16 Erst und ausschließlich von diesem so konzipierten Anspruch der Tugendpflicht und dem ihm angemessenen praktischen Begriff des "höchsten Guts" aus gesehen dürfte also letztlich nach Kant "der strengsten Forderung der praktischen Vernunft ein Gnüge" zu tun sein. (IV 259)17 Dies wiederum bedeutet gar nichts anderes als dies, daß das "Ideal der reinen praktischen Vernunft", d. i. die Idee des "Vollkommensten seiner Art", nicht schon "vor" (ohne) dem "Zweck, der zugleich Pflicht ist", zureichend bestimmt werden kann, wenn doch erst in ihm "die menschliche Vernunft wahrhafte Kausalität zeigt und wo Ideen wirkende Ursachen (der Handlungen und ihrer Gegenstände) werden", sofern diese als "Urbild seiner Handlungen in seiner Seele"

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Kant, Akademie-Ausgabe 27.2.1, 541. — Hölderlins Frage soll sich als durchaus kantische Perspektive erweisen: "Ist irgend ein Sittengesetz, welches mit menschlicher Freiheit mehr bestehen könnte, als das Gesetz der Liebe?" (Predigt zu 2. Joh. 7-9.) Es wäre sodann freilich in einem ganz strengen Sinne Kants Bemerkung aus dem "Gemeinspruch'-Aufsatz zu nehmen, der zufolge ausschließlich der "uneigennützige Zweck" "moralisch genannt zu werden verdient". (VI 132 Anm.) Am allerwenigsten hätte Kant also Grund gehabt, sich gegen Hegels Bemerkung auszusprechen: "Moralisches Gebot kann als Liebe ausgesprochen werden — nicht Recht, sondern Wohlfahrt des Anderen, also Verhältnis zu seiner Besonderheit, meiner Empfindung". (Hegel, Band 5, Ms S3, in: Gesammelte Werke, hg. v. Rheinisch-Westfäl. Akademie der Wissenschaften, zit. η. E. Düsing, Intersubjektivität. . . 372.) Dies nun ist präzis der Anspruch des "Imperativs, der die Tugendpflicht gebietet".

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zugrunde liegen. (II 324 f.) Allein gemäß diesem "obersten Prinzip der Tugendlehre" ist das wahre "Urbild praktischer Vollkommenheit" als die "unentbehrliche Richtschnur des sittlichen Verhaltens" letztendlich zu charakterisieren. (IV 259) "Letzter Zweck der Freiheit" ist ausschließlich die gemäß der "revolutionierten Denkungsart" bestimmte, d. i. dem Anspruch der Tugendpflicht genügende (damit aber noch "jenseits" aller bloßen Kultur stehende) Moralität. In Erinnerung an Kants Unterscheidung zwischen bloßer "Naturvollkommenheit" und der wahren "moralischen Vollkommenheit" (IV 580; 582) wäre zu sagen, daß diese letztere darin allein eine zureichende Bestimmung erfährt.18 Wenn Kant freilich gelegentlich (so in seiner Schrift "Zum ewigen Frieden") die Frage aufgreift, "ob in Aufgaben der praktischen Vernunft vom materialen Prinzip derselben, dem Zweck (als Gegenstand der Willkür) der Anfang gemacht werden müsse, oder vom formalen, d. i. denjenigen (bloß auf Freiheit im äußeren Verhältnis gestellten) darnach es heißt: handle so, daß du wollen [!] kannst, deine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden (der Zweck mag sein welcher er wolle)" (VI 239) — so ist wiederum zu beachten, daß von diesem "Zweck", der eben gerade nicht "sein mag, welcher er wolle", die "ethische Gesetzgebung" eben nicht absehen kann, womit nun aber natürlich auch jede unmittelbare Analogisierung von rechtlicher und ethischer Gesetzgebung als unhaltbar ausgewiesen ist. Daß der von Kant als wesentlich angesehene Unterschied zwischen "als allgemeines Gesetz denken können" und "als allgemeines Gesetz wollen können" — Grund bzw. auch Kriterium für Rechts- und Tugendpflichten - hier offensichtlich keine Rolle (mehr) spielt, sei lediglich angemerkt. In der hier vorgestellten Weise gewinnt nun offenkundig der in "moralischpraktischer Rücksicht. . . unumgänglich" anzuerkennende Endzweck eine noch radikalere Gestalt und vollendet so erst die schon in der Grundlegungsschrift wenigstens angedeutete Idee einer "praktischen Teleologie": weiß doch Kant schon in dieser ersten und grundlegenden moralphilosophischen Schrift von "in der Menschheit (gelegenen) Anlagen zu größerer Vollkommenheit, die zum Zwecke der Natur [!] in Anführung der Menschheit in unserem Subjekt gehören; diese zu vernachlässigen, würde allenfalls wohl mit der Erhaltung [!] der Menschheit als Zwecks an sich selbst, aber nicht der Beförderung dieses Zwecks bestehen können." (IV 62) Nicht mehr als eine bloße Selbstverständlichkeit ist es sonach freilich für Kant, daß die verantwortungsbewußte Mitgestaltung und Bemühung um Verwirklichung des Rechtsstaates eine ständige Aufgabe auch der auf fremde Glückseligkeit ausgerichteten Tugendpflicht bleibt, von der man sich auch nie ~ etwa von einer vermeintlichen

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Zu weiteren Leibnizschen Motiven bei Kant s. u. -358 ff.

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"vornehmen" Warte einer angeblich "höheren Sittlichkeit" ans — dispensiert wissen kann, ohne zugleich damit auch die "Rangordnung menschlicher Zwecke" zu verfehlen. Kants nur allzu berechtigte Mahnung, über dem Bedürfnis des entsprechend breit angelegten Erweises der großartigen eigenen Gütigkeit doch nicht die "Handlungen der Pflicht der Schuldigkeit, die aus dem Recht [!] anderer entspringen"19, zu vergessen, bleibt damit ebenso beherzigenswert wie auch das hier noch in Erinnerung zu bringende Wort Brechts, das Gegenteil von "gut" sei "gut gemeint" — in Kants Worten: "den lebhaftesten Wunsch für das Gute nicht sofort für dessen Wirklichkeit zu halten." (IV 35) Auf das Ganze gesehen läßt sich wohl mit Schmucker festhalten: gegenüber einer vorschnellen (d. i. aber unkritischen) Abwertung des Verbindlichkeitsanspruches der verdienstlichen Pflichten "ist der Gegenstand auch der verdienstlichen Pflichten ein an sich notwendiger Zweck und die Handlung seiner Verwirklichung ist an sich gut und notwendig, wenn auch ihre Erfüllung im Konfliktsfall der der Gerechtigkeitspflicht als der vorrangigen weichen muß, wodurch sie aber selbst keineswegs als sittliche Forderung aufgehoben wird. Die Betonung des in diesem Sinn hypothetischen Charakters der officia meriti bedeutet so wenig eine Abwertung gegenüber den Gerechtigkeitspflichten, daß ihre Erfüllung allein eine positive moralische Vollkommenheit und damit eine Fülle der moralischen Bonität verleiht, die Erfüllung der Gerechtigkeitspflichten dagegen nur eine negative moralische Gutheit und damit ein Minimum an Moralität." Und überdies gilt: "je weniger der Mensch dem moralischen Zwang von Rechtspflichten unterworfen ist, desto mehr kann er sich den bloß ethisch die Willkür bestimmenden Motiven eröffnen und dadurch zu seiner eigentlichen moralischen Vollkommenheit gelangen."20

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Kant, Akademie-Ausgabe 27.1,416. J. Schmucker, Die Ursprünge der Ethik Kants . . . 297 f. — Auch für Alpheus ergibt sich, "daß die weiten Pflichten in Bezug auf den Grundsatz genau so vernunftnotwendig bewegend sind wie die strengen Pflichten, in Bezug auf die einzelne Handlung aber an sich überhaupt nicht vernunftnotwendig bewegend" — was bedeute, "daß den weiten Pflichten keineswegs ein vernunftnotwendiges Bewegendsein zukommt, das niedrigeren Ranges wäre als das vernunftnotwendige Bewegendsein der strengen Pflichten." (K. Alpheus, Kant und Scheler . . . 266) Und auch Kersting bemerkt ganz zu Recht: "die der Ethik eigentümliche Pflicht ist nicht in einem minderen Maße Pflicht, ist von keiner geringeren Verbindlichkeit, von keiner schwächeren Verpflichtungskraft als die der Rechtslehre zugeordnete Handlungspflicht. Die dem Pflichtbegriff als solchem zugehörigen Merkmale der Objektivität, Kategorizität und Notwendigkeit sperren sich gegen jede graduelle Abstufung der Verbindlichkeit." (Wohlgeordnete Freiheit . . . 86) — Unter den berücksichtigten englischsprachigen Arbeiten weisen diejenigen von Downie-Telfer, Gregor und Maclagan in die hier angezeigte Richtung. Ablehnend äußert sich zur Menschheitsformel (wegen ihrer "Überschwänglichkeit") Broad. (Five Types 132)

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Diese voranstehenden Ausführungen sollen nun doch die Auffassung als vertretbar erscheinen lassen, daß die von Kant so genannte (praktische) "Revolution der Denkungsart" (über alle Aufgaben der Kultivierung und Liberalisierung noch hinausweisend) unverkürzt allein innerhalb der Ethik als dem "System der Zwecke" ~ und im genaueren von dem "obersten Prinzip der Tugendlehre" und der mit ihr eröffneten "Ordnimg der Zwecke" aus ~ zureichend bestimmt zu werden vermag. Sie distanziert nicht nur den "letzten Zweck der Natur" (die Kultur), sondern überdies ist auch der "letzte Zweck der Freiheit" nur in diesem Sinne als ihr angemessen auszuweisen. Mit dieser "revolutionierten Denkungsart" ist nun der "moralisch vorgeschriebene Endzweck" (IV 575 f.) in allein zureichender Weise zu qualifizieren, ohne diesen wiederum ist die "ganze Bestimmung des Menschen" (II 701) nicht zu begreifen, wenn der Mensch doch "Endzweck des Daseins der Welt" zu sein letztlich nur in solchem Freiheitsstand der "moralischen Welt" für sich beanspruchen kann. Ganz ohne Zweifel scheint sich eben darauf zu beziehen, daß für das sittliche Handeln "das Ideal . . . zum Urbilde der durchgängigen Bestimmung des Nachbildes" dient. Erst dies macht es möglich zu sagen: "wir haben kein anderes Richtmaß unserer Handlungen, als das Verhalten dieses göttlichen [!] Menschen in uns, womit wir uns vergleichen, beurteilen und dadurch uns bessern, obgleich es niemals erreichen können." (II 513)21 Und es verdient sodann gewiß allergrößte Beachtung, wenn Kant im unmittelbaren Kontext anmerkt, daß das Ideal (als "Idee in concreto und individuo") "noch weiter, als die Idee . . . von der objektiven Realität" lediglich "entfernt zu sein s c h e i n t [!]", vielmehr aber in praktischer Perspektive selbst wirklich ist! (II 513)22 Schon in Menzers "Vorlesung Kants über Ethik" hatte es, wenn auch nicht gerade eindeutig, geheißen: "In der Moral haben die Gesetze eine Beziehung auf die Glückswürdigkeit anderer."23 Und noch ein wenig deutlicher: "Die

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Darauf zielt dann wohl auch noch die Kennzeichnung der "ethischen Pflichten" als diejenigen, die "der Idee der Menschheit gemäß sein sollen." (IV 536)- S. dazu bes. die Albeit v. Gregor (Laws of Freedom); auf sie rekurriert auch R. P. Wolff (The Autonomy . . . 62 ff.). Von hier aus betrachtet wird es nun (in gewisser Hinsicht zwar nur, d. h. ohne dies überbewerten zu wollen) auch verständlich, wenn Kant gelegentlich die Moralität ausdrücklich auf die Liebespflichten bezieht: Legalität meint so, einer Reflexion Kants zufolge, "die Übereinstimmung mit den Regeln des Rechts, aber moralitaet mit den Regeln der Liebespflicht.· (Reflexion 7259, in: Akademie- Ausgabe XIX 2%) P. Menzer, Eine Vorlesung K a n t s . . . 60 u. 62. Es ist wohl auch in diesem Zusammenhang zu verstehen, daß die eigentliche Moral "also das Herz; die Rechte den Verstand" formieren. (Akademie-Ausgabe 27,163; vgl. 413: "Das Wohltun aus Liebe entspringt aus dem Herzen, das Wohltun aus Verbindlichkeit entspringt aber aus Grundsätzen des Verstandes.") S. auch Akademie-Ausgabe 27.1.,8: "Die Ethik redet aber eigentlich nicht

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moralischen Gesetze können aber auch als programmatische Gesetze Gottes angesehen werden, insofern wir nur auf die Handlungen sehen, die im Gesetze geboten sind, z.E. das moralische Gesetz fordert die Glückseligkeit aller Menschen zu befördern; und dieses will auch Gott." Kants Ausführungen in dieser Vorlesung bestätigen unmißverständlich, daß der "ganze praktische Endzweck" — ohne ihn zu einer bloßen "moralischen Zierde" herabzusetzen — nun eben doch allein in der oben vorgeschlagenen Weise zureichend zu vermitteln ist: "In specie ist hier im moralischen Sinn Vollkommenheit die Übereinstimmung aller seiner Vermögen mit dem Zweck der Menschheit, d. i. Glückseligkeit; und sind unsre Handlungen darauf gerichtet, daß wir eigene Vollkommenheit zur Glückseligkeit anderer suchen, so stimmen sie mit dem Zweck der Menschheit überein; ja, wenn hiemit das Gesetz der Moralität in Erfüllung geht [!], so erreichen wir den letzten Zweck aller Dinge, das höchste Gut, wohin der Mensch es nur dadurch, daß er sich dazu tauglich machet, bringen kann . . . Um es nun dahin zu bringen, hat er sowohl Pflichten gegen sich selbst, als gegen andere zu beobachten; welche man officia amoris nennt."24 Durch die allein in dieser Weise adäquat bestimmte "revolutionierte Denkungsart" und die praktische Wirklichkeit dieses "Ideals" weiß sich der Mensch nun in eine "Ordnung der Dinge" versetzt, die sich natürlich noch unterscheidet von jener "intelligiblen Ordnung der Dinge", welcher er schon durch jene Freiheit des Wollens angehört, die "uns in eine intelligible Ordnung der Dinge versetzt." (IV 155) Kant geht gelegentlich so weit zu behaupten: "Wir haben nur alsdenn einen moralischen Werth, wenn unsre Handlungen verdienstlich sind . . . Wenn wir unsre Schuldigkeit thun, so üben wir dabey keine verdienstliche Handlung aus."25 Es läßt sich dem Gesagten zufolge festhalten, daß das "praktische Ideal" somit in der gemäß der Einheit von "oberstem Prinzip der Moralität" und "oberstem Prinzip der Tugendlehre" gedachten "revolutionierten Denkungsart", d. i. in den dieser entsprechend bestimmten "Prinzipien der reinen Vernunft" und dem so qualifizierten "moralischen Gebrauche objektive Realität" besitzt.

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vom Recht, sondern was schön ist: Moralische Schönheit gar nicht vom arbitrio Gottes — vom Gesetz — sondern unmittelbar Gut." Kant, Akademie-Ausgabe 27.2.1.,652. Systematisch gesehen ist diese Sicht der Vorlesung freilich im Grunde erst von der Tugendlehre aus abgedeckt, d. h. als solche legitimierbar. Kant, Akademie-Ausgabe 27.1,133. - Wohl recht genau auf diese thematischen Zusammenhänge darf man auch jenen Passus aus dem an Jacobi gerichteten Brief beziehen, wo Kant von dem "übersinnlichen Vermögen" der Idee der Freiheit zu sagen weiß, daß, wenn "das Evangelium die allgemeine sittliche Gesetze in ihrer ganzen Reinigkeit nicht vorher gelehrt hätte, die Vernunft bis jetzt sie nicht in solcher Vollkommenheit würde eingesehen haben, obgleich, da sie einmal da sind, man einen jeden von ihrer Richtigkeit und Gültigkeit (anjetzt) durch die bloße Vernunft überzeugen kann." (Akademie-Ausgabe XI 73 f.)

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(II 679) Lediglich eine weitere Folge daraus ist es, diese so "revolutionierte Denkungsart" selbst noch einmal als über die vorurteilsfreie, d. i. nach Kant "aufgeklärte" ("Selbstdenken"), die "erweiterte" ("an der Stelle jedes anderen denken") und auch noch über die "konsequente" (aus der "Verbindung beider ersten" gewonnenen) Denkungsart hinausweisend aufzufassen, so daß letztere diese beiden anderen zwar in sich "aufgehoben" hätte, ohne jedoch mit einer von ihnen auch schon identisch zu sein. Auch so bestätigt sich noch einmal, daß jedes auf bloße "Autarkie" und "Autokratie" reduzierte Verständnis von "Autonomie" sich nicht nur als defizient erweist, sondern in bestimmter Hinsicht überdies Gefahr läuft, auf das Niveau eines bloß "hypothetischen Imperativs" herabzusinken, "der die praktische Notwendigkeit der Handlung, als Mittel zur Beförderung der Glückseligkeit vorstellt." (IV 45)* Es geriete dieses Prinzip damit nämlich unversehens in die Nähe eines "sublimen" Prinzips je eigener Glückseligkeit als einem lediglich gut getarnten "empirischen Prinzip", das das gelungene "Herr-sein über sich selbst" genießen läßt und dabei in der Tat die "Sittlichkeit als Gegenstand der Achtung zum [bloßen] Mittel der Selbstliebe verkehrt", so "daß durch Reduktion des moralischen Gesetzes auf Grundsätze überhaupt Moral auf Kultur reduziert wird, die Vernunftaufgabe auf eine Verstandesaufgabe im Zeichen der 'eigenen Freiheit'." Eine so konzipierte "Autonomie" liefe selbst auf eine (noch dazu recht seltsame) "Pflicht gegen sich selbst" hinaus, "seine eigene Würde zu bewahren."27 Die "stoischen Grundsätze verbanden sich aber, um den Willen zu bestimmen (nämlich auch subjektiv), mit dem Antrieb, den die Vorstellungen der je eigenen Seelengröße auf das Subjekt ausübt, als den eigentlichen Bestimmungsgrund."28

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Im Grunde wäre also ein "Ratschlag der Klugheit" das hier insgeheim maßgebende Prinzip, s. IV 45 Anm. Dies hieße freilich nicht einmal, wie Krainer ebenfalls mit Recht bemerkt, "die Würde der Menschheit 'in seiner eigenen Person' zu bewahren." (G. Krainer, Beitrag zur Analyse . . . IIS) Mit guten Gründen bezieht sich Krainer in ähnlichen Zusammenhängen auf die Äußerung Kants, der zufolge "die Tugend der Heyden nicht aus dem Prinzip der Pflicht sondern der bloßen Selbstbeherrschung mithin der eigenen Freiheit abgeleitet war." (Akademie-Ausgabe XXIII435) Denn die "stoische Menschenliebe ist nicht praktisch . . . , sondern selbstbezogen (im Dienste der Demonstration eigener Vollkommenheit, nicht als Verbindlichkeit, sondern als Würde)." G. Krainer, Beitrag zur Analyse . . . 110 f. Krainer rekurriert auch auf die schon erwähnte Bemerkung Kants, "Autonomie" sei der "Grund der menschlichen und jeder vernünftigen Natur" (IV 69), — und möchte darin im weiteren die Problematik erkennen, daß so freilich der Mensch "nicht als verbindlich, sondern als erhaben und von Würde" vorgestellt sei, und eben das "Bewußtsein solcher Würde ist moralische Schwärmerei und Arroganz." Krainer beruft sich auch auf einen Passus der Tugendlehre (IV 570): "Die Überredung von einer Größe ( . . . ) seines moralischen Werts, aber nur aus Mangel der Vergleichung mit dem Gesetz, kann der Tugendstolz (arrogantia moralis) genannt werden."

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Dies ist auch Kants entscheidende Kritik: im Unterschied zu idler im stoischen Denken maßgeblichen Gleichsetzung von "Sittlichkeit und Beherrschung von Sinnlichkeit" ~ "Sittlichkeit war bloße Kultur bzw. Ausübung der Vollkommenheit"29 -- erschöpft sich Kants Begriff der Autonomie keinesfalls in dieser "Kultur der Zucht (Disziplin)", einer bloßen "Disziplin der Neigungen", die doch als (nur) "negative" lediglich "in der Befreiung des Willens von dem Despotism der Begierden" besteht und so wohl verhindert, daß "die Triebe zu Fesseln" werden. (V 554)30 Es wäre freilich nicht nur mißverständlich, sondern recht eigentlich sinnlos, zu sagen: "Zur Tugend wird zuerst [!] erfordert die Herrschaft über sich selbst" (IV 539), wenn Kant diese jedoch ohnehin identifizieren wollte!31 Und auch noch die allein eine "Wiederherstellung der ursprünglichen Anlage zum Guten in ihrer Kraft" (IV 694) ermöglichende, weil sonst "keiner andern Triebfeder . . . als dieser Pflicht selbst" (IV 698) bedürftige Tugendhaftigkeit und die ihr gemäß als Umwandlung des "intelligiblen Charakters" (IV 702) verstandene "Wiedergeburt" — diese nennt Kant in seiner Religionschrift freilich schon (ein wenig vorschnell) "Revolution der Gesinnung", "Umwandlung der Denkart" ~ wäre so, von dem hohen Standpunkt des "obersten Prinzips der Tugendlehre" aus gesehen, noch radikalisiert und überhöht, was nun aber, auf dieser neuen "sittlichen Stufe" (IV 207), erst von einem wahrhaften "Überschritt zu einer neuen Ordnung der Dinge" (IV 786) und einer umfassenderen Konzeption von "Autonomie" zu

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G. Krainer, Beitrag zur Analyse . . . 144. Von den von Kant angeführten drei Merkmalen des Tugendbegriffes: "1) der Begriff der Freiheit, 2) der Begriff der Anhänglichkeit an Regeln (der Pflicht), 3) der Begriff von Überwältigung der Macht der Neigungen, wofern sie jenen Regeln widerstreiten" (ΠΙ460), blieben demnach im Grunde lediglich das erste und das dritte Merkmal maßgebend, während das hier zweitgenannte Merkmal eine ganz untergeordnete Bedeutung hätte. Auch für Hegel war bekanntlich der in solchem Sinne "moralische" Mensch "ein Geiziger, der sich immer Mittel zusammenscharrt und bewahrt, ohne je zu genießen . . . seine Handlungsart nur negativ" (Frühe Schriften 1,307); es entspricht der Kritik Hegels an dem schon genannten Vorschlag, die die "Tugendhaftigkeit" auszeichnende "Liberalität der Denkungsart" noch einmal von der "Revolution der Denkungsart" zu unterscheiden, wenn doch allein diese den Überschritt zu der alle Autarkie und Autokratie überholenden eigentlich-"wahrhaften" Autonomie zu vollziehen vermag. Schon die Kritik des jungen Hegel hatte darin eine besondere Schwachstelle der kantischen Moralphilosophie erkennen wollen: "Die Moralität erhält, sichert nur die Möglichkeit der Liebe und ist daher ihrer Handlungsart nach nur negativ" (Frühe Schriften 307) - und noch die Rechtsphilosophie charakterisiert die "Ansicht der Moralität" so, "daß diese nur als feindseliger Kampf gegen die eigene Befriedigung peienniere" und somit als bloßes Resultat der "abstrakten Reflexion" gelten dürfe, die das "Prinzip der Besonderheit" als das "Recht der Besonderheit des Subjekts, sich befriedigt zu finden" doch "in seinem Unterschiede und Entgegensetzung gegen das Allgemeine" fixiere. (Grundlinien der Philosophie des Rechts § 124)

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sprechen erlaubte. Diese letztere erweist sich folglich, auch von Kants eigener Tugendlehre aus beurteilt, keinesfalls als mit der "Kultur der Zucht" und ihrer "Befreiung des Willens vom Despotism der Begierden", aber auch nicht mit der "bloßen" "Pflicht der Achtung", so ohne weiteres identisch, sondern ist nicht mehr als die notwendige Bedingung für einen Freiheitsstand, der "uns höhere Zwecke, als die Natur selbst liefern kann, empfänglich macht." (V 554) Erst der sich über das bloße "Kulturwesen" erhebende Mensch als der "letzte Zweck der Schöpfung" ist in der wahrhaft so zu nennenden (und deshalb auch nicht mehr zur bloßen "Kultur" gehörigen) Moralität (dem "letzten Zweck der Freiheit") und der dieser entsprechenden "Idee des Vollkommensten seiner Art" (II 325) ~ d. i. dem "Ideal der reinen praktischen Vernunft" ~ demnach über diese sich doch als allzu eng erweisenden Maßstäbe hinaus. Deshalb ist auch ausschließlich die durch das oberste Prinzip der Tugendlehre neu qualifizierte praktische Intentionalität jene Bestimmung der Freiheit, die einen strengen Begriff der Autonomie allein zu begründen vermag. Bliebe der im Grunde doch auf bloße Autarkie und Autokratie reduzierte Freiheitsbegriff ausschließlich bestimmend, so geriete zugleich damit auch das so verstandene "moralische Interesse" (IV 201)32 unversehens wieder in die Nähe eines (lediglich mehr oder weniger gelungen) sublimierten "Interesses an unserem Selbst", von dem sich wohl kaum behaupten ließe, dieses sei "moralisch echt", d. i. "ein reines sinnenfreies Interesse der bloßen praktischen Vernunft". Denn nur der strenge Begriff der Autonomie, jenseits aller bloßen Reduktion derselben auf Autarkie und Autokratie (und d. i. eben als Selbstgenügsamkeit, Selbstverwirklichung, Selbsterfüllung), vermag so den von Kant aber doch wenigstens im prinzipiellen erhobenen hohen Ansprüchen seiner Ethik -- als der "moralischen Zwecklehre" - zu genügen, die damit das "System der Zwecke der reinen praktischen Vernunft" darstellt. (IV 510)33

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In seiner Pädagogik (VI 691 ff.) hat Kant ein dreifaches Interesse unterschieden: "In unserer Seele ist etwas, daß wir Interesse nehmen 1. an unserem Selbst, 2. an andern, mit denen wir aufgewachsen sind, und dann muß 3) noch ein Interesse am Weltbesten Statt finden." (VI 761) Für Kant begründet freilich die "Unabhängigkeit der Maxime von allen solchen [auf Glückseligkeit gerichteten] Triebfedern die Erhabenheit" der Idee der Menschheit "und die Würdigkeit eines jeden vernünftigen Subjekts, ein gesetzgebendes Glied im Reich der Zwecke zu sein." Dies radikalisiert noch einmal den freilich sehr berechtigten Hinweis Klings' darauf, es gehöre wesentlich "zur Struktur der Autonomie, sich zu anderen Menschen ins Verhältnis zu setzen und dadurch selbst zu binden. Autonomie ist wesentlich kommunikative Selbstbindung." (H. Krings, Freiheit als Chance. Kirche und Theologie unter dem Anspruch der Neuzeit. Düsseldorf 1972, 41) Hegels berühmte Wendung, daß allein jene Freiheit "wahre Freiheit" (ihr "Begriff) genannt zu werden verdient, die selbst "Freiheit will" (Grundlinien der Philosophie des Rechts § 21 Zusatz), findet sonach bei Kant nicht nur Platz, sondern gewinnt überdies den ganz besonderen Sinn, daß die "wahre Freiheit"

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Allein der gemäß der Einheit von "oberstem Prinzip der Moral" und dem "obersten Prinzip der Tugendlehre" entworfene, d. i. sowohl das Moment der Unbedingtheit der Form wie auch jenes des adäquaten Inhaltes umfassende Gedanke der Autonomie vermag sodann auch mit dem Kanon der "moralischen Beurteilung" sowie dem Universalisierungsanspruch letztendlich übereinzustimmen ~ was nur noch einmal verdeutlichen soll, daß der auf Autarkie und Autokratie reduzierte Freiheitsbegriff nicht die "Idee der Freiheit" erschöpft, geschweige denn mit dem "Ideal der Freiheit" zu identifizieren ist. Erst ihre Überschreitung macht so überhaupt die dem "Zweck, der zugleich Pflicht ist" genügende Erfahrung möglich, die somit nur in der Distanzierung all solcher Formen bloßer Selbstbezogenheit möglich wird und damit den Bück auf die Wirklichkeit des "praktischen Vernunftideals" (als die Wirklichkeit des "praktischen Erfahrungsgegenstandes") eröffnet. Kants These über die "Autonomie des Willens als oberstes Prinzip der Sittlichkeit" ist infolgedessen notwendig mit Bück auf das "oberste Prinzip der Tugendlehre" noch zu ergänzen. Denn dieser Grundlegungsschrift zufolge ist jedenfalls die "Autonomie des Willens" lediglich bestimmt als die "Beschaffenheit des Willens, dadurch derselbe ihm selbst (unabhängig von aller Beschaffenheit der Gegenstände des Wollens) ein Gesetz ist." (IV 74) Der hier vorgeschlagenen Lesart folgend wäre dies nun aber noch dahingehend zu ergänzen, daß dieser Wille zwar als unabhängig "von aller Beschaffenheit der Gegenstände des Wollens" (als Bestimmungsgrund) aufzufassen, aber dennoch in einem unabdingbaren Bezug ζ u diesen anzusehen wäre, weil doch ohnedem auch der "notwendige Vernunftzweck" (der "Zweck, der zugleich Pflicht ist") nicht zu denken ist. Nur in der so zu vermittelnden Einheit des "obersten Prinzips der Sittlichkeit" mit dem "obersten Prinzip der Tugendlehre" ließe sich näherhin ein letztumfassender Sinn eben dieses Autonomieprinzips formulieren und damit auch die Verbindung des "Pflichtbegriffs mit dem eines Zwecks überhaupt" (IV 514) in seiner besonderen Möglichkeit darlegen. In Vermeidung einschlägiger Mißverständnisse ist noch einmal daran zu erinnern, daß Kant zwar wiederholt und mit allem Nachdruck jede empirische Bedingtheit der "Zwecke der Freiheit" im Zusammenhang der Begründung seiner Moralphilosophie zurückweist ~ genau dann nämlich, wenn "dieser [Freiheit] vorher die Gegenstände des Wollens durch die Natur (in Bedürfnissen und Neigungen) als Bestimmungsgründe gegeben werden müßten, um, bloß vermittelst der Vergleichung derselben unter einander und mit ihrer Summe, dasjenige durch Vernunft zu bestimmen, was wir uns zum Zwecke machen." (V 168)

sich keinesfalls (als Autokratie und Autarkie) in bloßer "Befreiung von sich selbst" erschöpft, zumal sie ausschließlich in ihrer praktischen Intention auf "je andere Freiheit" ("Wohl und Heil des Anderen") ihren unverkürzten Gehalt erst findet.

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Kants eigene Charakterisierung der Ethik als "System der Zwecke" steht damit nicht nur nicht im Widerspruch, sondern formuliert in dem darin maß- gebenden Gedanken des (sogar) "gebotenen Zwecks" den nicht nur legitimen, sondern -- viel mehr noch! ~ den notwendigen und allein adäquaten Zweck. In dem soeben zitierten (aus dem Jahr 1788, also in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft zur Kritik der praktischen Vernunft veröffentlichten) Aufsatz Kants "Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie" (V 139 ff.) heißt es freilich schon von der "zweiten Kritik": "Allein die Kritik der praktischen Vernunft zeigt, daß es reine praktische Prinzipien gebe, wodurch die Vernunft apriori bestimmt wird, und die also apriori den Zweck angeben. Wenn also der Gebrauch des teleologischen Prinzips zu Erklärungen der Natur, darum, weil es auf empirische Bedingungen eingeschränkt ist, den Urgrund der zweckmäßigen Verbindung niemals vollständig und für alle Zwecke bestimmt genug angeben kann: so muß man dieses dagegen von einer Zweckslehre (welche keine andere als die der Freiheit sein kann) erwarten, deren Prinzip apriori die Beziehung einer Vernunft überhaupt auf das Ganze aller Zwecke enthält und nur praktisch sein kann." (V 168) Kants "positive" Bestimmung der Freiheit als "Autonomie durch Vernunft" dürfte nun, wenn die Vernunft nämlich das "Vermögen des Unbedingten" sein soll, doch wohl nicht bloß auf das Moment der "Form" beziehbar sein, sondern müßte sich auch auf den "objektiv- notwendigen Zweck" (IV 509) erstrecken und damit auch auf die "Gegenstände der freien Willkür . . . , welche er sich zum Zwecke machen soll". (IV 515) Daß "die menschliche Moralität in ihrer höchsten Stufe doch nichts mehr als Tugend sein kann", ist damit natürlich nicht geleugnet und bleibt auch aller überschwänglich-schwärmerischen Haltung gegenüber geltend zu machen. Dennoch darf man wohl daran festhalten, daß Kants Aufweis des "Prinzips der Spontaneität der Freiheit" als dem "Prinzip der synthetischen Selbstbestimmung"34, ebenso wie der ihm entsprechende Begriff der "Persönlichkeit", seine letzte zuschärfende Konkretisierung und inhaltliche Erfüllung in der voranstehend vorgeschlagenen Lesart der Autonomiekonzeption erfährt und so auch einen (wie noch zu zeigen sein wird) unmittelbaren und unauflöslichen Bezug zu den wesentlichen Motiven der Postulatenlehre erhält. Kant ist in solchem Autonomieverständnis deshalb auch nicht von der an sich allerdings sehr berechtigten Kritik (D. Henrichs) an iill jenen moralphilosophischen Konzeptionen getroffen, denen es wesentlich um "ein Handeln im Bewußtsein der Kraft des Willens" zu tun ist, "seine Ideale und die Gebote durchzusetzen, denen er sich verpflichtet weiß. Dies Handeln ist wesentlich zweideutig, da es neben dem Handlungsziel immer zugleich die Bestätigung der eigenen Energie und Unabhängigkeit im Auge hat. Darum ist

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So auch in Akademie-Ausgabe XXII131.

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es auch ganz außerstande, das zu vollbringen, was im allgemeinen Urteil am höchsten geschätzt wird: Fröhliche selbstlose Opferbereitschaft ohne jede Neigung zur Demonstration von sittlicher Kraft vor dem Handelnden selbst und vor anderen."35 Nur diese so erweiterte Autonomie-Konzeption erlaubt es nun im weiteren auch, in einem umgreifenderen Sinne (und noch vor allem unmittelbaren Ausblick auf die kantische Postulatenlehre) von der "praktischen Erweiterung der Vernunft" (II 33) zu sprechen. Ohne jene ist folglich genau genommen die von Kant ins Auge gefaßte "Aussicht in eine höhere, unveränderliche Ordnung der Dinge, in der wir schon jetzt sind, und in der unser Dasein der höchsten Vernunftbestimmung gemäß fortzusetzen wir durch bestimmte Vorschriften nunmehr angewiesen werden können" (IV 235), zweifellos auch gar nicht zu verstehen.36Ohne auf die bekannte — und bis in die Gegenwart unterschiedlich beurteilte - Kontroverse zwischen Kant und Schiller hier näher einzugehen, sei wenigstens am Rande folgendes angemerkt: schon in seiner Antwort auf Schillers Vorwurf betreffend Kants angebliche lediglich "karthäuserartige, sklavische Gemütsstimmung" (IV 669 f. Anm.) spricht Kant doch ganz ausdrücklich von dem "fröhlichen Herzen", der "fröhlichen Gemütsstimmung" als einer notwendigen "ästhetischen Beschaffenheit", dem "Temperament der Tugenden" — bliebe doch andernfalls der Anspruch des moralischen Gesetzes letztlich ein der erstrebten Ganzheit menschlichen Strebens notwendig unversöhnt gegenüberstehende Widerpart, der als "verborgener Haß des Gesetzes" es als völlig aussichtslos erscheinen lassen müßte, daß das "Gute liebgewonnen werden" könnte.37 Mit Recht stellt Höffe bezüglich des Rigorismusvorwurfes fest: "Unrichtig ist schließlich die Ansicht, nach dem Prinzip der Autonomie dürfe man zu moralischen Handlungen keine natürliche

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D. Henrich, Selbstbewußtsein. Kritische Einleitung in eine Theorie 282. Gewiß zu Recht verweist Krüger darauf, daß in Kants Betonung der Achtung die zwei Momente "sinnliche Demütigung und intellektuelle Erhebung" (letztere allerdings als bloße "Selbstbilligung") enthalten sind und von Kant "hier entschieden jedes genießende Besitzen der moralischen Würde" abgelehnt wird. (Philosophie und Moral. . . 222) Dennoch ist mit solcher Kennzeichnung der Rang der "Autonomie" noch nicht erschöpft - genauer noch: noch nicht einmal erreicht. Auch Krügers Hinweis überzeugt deshalb nicht, "im Begriff der moralischen Autonomie" berühre Kant "sich mit der 'concientia coram deo' Augustins: durch die Abschwächung der Autonomie zur 'erhabenen' Naturanlage des Menschen eröffnet er den Weg in die Philosophie der Romantik." (Philosophie und M o r a l . . . 231) Vgl. auch Reflexion 8105 (Akademie-Ausgabe XIX 647): "Daß der Mensch tue, was das Gesetz ihm gebietet, kann von ihm gefordert werden. Daß er es gern tue, nicht." Vgl. aber auch Reflexion 6987 (ebd. 220): "also heißt es hier suche auch eine Neigung zum Guten hervorzubringen"; Reflexion 6992: "Wir sollen wohl gerne das Gute tun, aber wir müssen oft gezwungen werden."

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Neigung haben. Schillers berühmtes Wort: 'Gern dien ich den Freunden, doch tue ich es leider mit Neigung/ und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin' läßt schon Kants Überzeugung außer acht, daß 'eine Neigung zum Pflichtmäßigen (ζ. B. zur Wohltätigkeit) . . . die Wirksamkeit der moralischen Maximen sehr erleichtern' kann . . . Nicht deijenige lebt heteronom, der auch seinen Freunden hilft, wohl deijenige, der nur ihnen dient und gegen die Not aller anderen gleichgültig bleibt. Autonom handelt dagegen, wer auch dort an den Maximen der Hilfsbereitschaft, Ehrlichkeit usw. festhält, wo nicht schon die natürliche Neigung oder das gesellschaftlich Übliche dazu auffordern."38 Dies ist zwar zweifellos im Sinne Kants gesagt; zu fragen bleibt nichtsdestoweniger, wie es denn nun im einzelnen zu verstehen sein soll, daß zugestandenerweise eine "Neigung zum Pflichtmäßigen die Wirksamkeit der moralischen Maximen sehr erleichtern kann"; meint diese "Neigung zum Pflichtmäßigen" etwa die Neigung eben zu dem je bestimmten Inhalt, der ganz "zufällig" auch "pflichtgemäß" ist, d. h.: bezieht sich diese "Neigung" auf die je bestimmte "Materie", weil sie doch in dieser "Materie" begründet ist, oder ist es die Qualifikation als "pflichtmäßig", unabhängig davon, was Gegenstand dieser "Geneigtheit" ist? Meint Kant nicht doch den erstgenannten Aspekt, wenngleich (wie erwähnt) auch wiederum davon die Rede ist, eine "Neigung zum Guten" hervorzubringen, es "liebzugewinnen" und jedenfalls nach diesem "Ideal" zu streben? Höffes Zurückweisung des Rigorismusvorwurfes trifft in dieser Hinsicht schon deshalb nicht zu, weil demzufolge Kants angeführte Stellungnahme über die "Neigung zum Pflichtmäßigen" nicht so zu lesen ist, wie Höffe es freilich nahelegt ~ so nämlich, als sei es in diesem Vorwurf gegen Kant primär oder gar ausschließlich darum zu tun, daß man "nach dem Prinzip der Autonomie . . . zu moralischen Handlungen keine natürliche Neigung haben" dürfe. Dagegen bleibt festzustellen, daß keineswegs die moralische Handlung selbst nach Kant an der angeführten Stelle der eigentliche Gegenstand der Neigung ist, sondern die je bestimmte, "zufällige" Materie ist es doch vielmehr, die der "Wirksamkeit der moralischen Maximen" förderlich sein kann. Nun ist es aber ohne Zweifel richtig, daß in dieser Art und Weise der (auch von Henrich) herausgestellte Sonderstatus solcher "Neigung zum Guten" im Unterschied zu jener, "die durch den guten Willen zurückgewiesen wird", bei Kant noch unberücksichtigt bleibt. Henrich interpretiert nun jedoch Schillers Anliegen, über Kant hinauszugehen, dahingehend, daß nach Schiller "die konkrete Subjektivität mit dem Vernunftgesetz durch Neigung, also nicht durch eine Einschränkimg der Sinnlichkeit verbunden" ist: "So ist Liebe eine

38

O. Höffe, Immanuel Kant 201.

Die Sonderstellung der Menschheitsformel

179

Neigung zur Vernunft, die im Anderen zur Erscheinimg kommt. Der Dualismus soll durch eine Vermittlung der Momente beseitigt werden, durch die er bei Kant selbst definiert war: durch die Momente Vernunft und Sinnlichkeit."39 Kant selbst hat diese Eigentümlichkeit dieser spezifischen Motivation eben als solche gekennzeichnet, die, jenseits aller Disjunktion von "Unterwerfung unter das Gesetz" und Freiheit als Bindungslosigkeit, beide in sich aufgehoben hat und so auch einen verwandelten Horizont in solcher neuen Selbstbestimmung dieser Freiheit gewinnen läßt, die allen bloßen "Sklavensinn" ebenso distanziert wie eine bloß "negative Freiheit": "Das Gefühl der Freiheit in der Wahl des [praktischen] Endzweckes ist das, was ihnen [den Menschen] die Gesetzgebung liebenswürdig macht." (VI 188) Zielt es nicht eben darauf, wenn Kant das "höchste, für Menschen nie völlig erreichbare Ziel der moralischen Vollkommenheit endlicher Geschöpfe . . . die Liebe des Gesetzes" nennt? (IV 813) Und ist denn nicht auch damit — und erst recht natürlich bei gebührender Rücksichtnahme auf die in dieser Tugendpflicht gedachte Einheit von "oberstem Prinzip der Moralität" und "oberstem Prinzip der Tugendlehre" — der Forderung Schillers Rechnung getragen, nämlich nach einer "vollständigen [!] anthropologischen Schätzung, wo mit der Form auch der Inhalt zählt"?40 Bringt aber nicht auch Kants "Gnadenlehre" aus der Religionsschrift die Einsicht in jene Grenze zum Ausdruck, daß das dem "Ideal der Heiligkeit" entsprechende "fröhliche Herz" niemals einfach Besitz werden kann, sondern recht verstanden doch in gewissem Sinne unverfügbar bleibt? Dem würde nun doch auch die von Kant angeführte Unterscheidung zwischen dem "christlichen Ideal der Heiligkeit" und dem "stoischen Ideal der Weisheit" noch ohne weiteres entsprechen.41

39

40 41

D. Henrich, Das Problem der Grundlegung . . . 379. Allerdings sind sich nach Henrichs Urteil Kant und Schiller zur Zeit ihrer Auseinandersetzung über den genauen Gehalt und die Eigenart der darin zur Diskussion stehenden Differenz nicht im klaren gewesen: "Ihr Streit erscheint deshalb als ein solcher nur über die Anwendung der Kantischen Theorie und über das Verhältnis von Ethik und Ästhetik." Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 4. Brief. Zu dem bezüglich dieser Thematik interessanten Verhältnis Kants zu dem schottischen Moralphilosophen Hutcheson vgl. wiederum D. Henrich, Hutcheson und Kant bes. 56 ff. Vgl. dazu auch Kants Bemerkung (Menzer, Eine Vorlesung Kants . . . 146): "Man redet nur immer von Gütigkeit und Wohltat, welches das dichterische Steckenpferd ist. Dahin gehört auch Hutcheson." - Erwähnt sei auch Kants frühe Unterscheidung der "schönen" von der "edlen" Tugend. (I 854) — Ohne Zweifel recht interessant ist auch diesbezüglich die Anmerkung Schellings: "Moral in Kants Sinn aus bloßer Achtung gibt es nicht; dazu gehört, wie Luther sagt,.. . 'ein freiwillig lustig Herz.'" (Philosophie der Mythologie I555 Anm.2. In: Ausgewählte Werke. Darmstadt 1966) Und in Anmerkung 3 kommentiert Schelling seine Auffassung, daß das Gesetz unvermögend ist, dem Menschen "ein Herz zu geben, das ihm (dem Gesetze) 'gleich' ist", durch einen sowohl für Schiller als auch für Kants Gedanken aufschlußieichen Hinweis auf Luther: "Aber ein solch Herz gibt niemand,

2.

Zu Kants Begründung und "Erörterung des Begriffes von einem Zwecke, der zugleich Pflicht ist" und der durchaus unterschiedliche Stellenwert der "Beförderung fremder Glückseligkeit" in Kants Schriften.

Wie begründet Kant jedoch eigentlich den für seine Tugendlehre so maßgeblichen Gedanken des "Zwecks, der zugleich Pflicht ist"? In der Einleitung der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten sucht Kant bekanntlich einen Grund dafür anzugeben, "sich einen Zweck, der zugleich Pflicht ist, zu denken" (IV 514) — sei es doch unmöglich, im Handeln von allem Zweckbezug abzusehen: "Weil aber dieser Akt, der einen Zweck bestimmt, ein praktisches Prinzip ist, welches nicht die Mittel (mithin nicht bedingt) sondern den Zweck selbst (folglich unbedingt) gebietet, so ist es ein kategorischer Imperativ der reinen praktischen Vernunft, mithin ein solcher, der einen Pflichtbegriff mit dem eines Zwecks überhaupt verbindet. Es muß nun einen solchen Imperativ geben. Denn, da es freie Handlungen gibt, so muß es auch Zwecke geben, auf welche, als Objekt, jene gerichtet sind. Unter diesen Zwecken aber muß es auch einige geben, die zugleich (d. h. ihrem Begriff nach) Pflichten sind. Denn gäbe es keine dergleichen, so würden, weil doch keine Handlung zwecklos sein kann, alle Zwecke für die praktische Vernunft immer nur als Mittel zu anderen Zwecken gelten und ein kategorischer Imperativ [!] wäre unmöglich; welches alle Sittenlehre aufhebt. Hier ist also nicht von Zwecken, die der Mensch sich nach sinnlichen Antrieben seiner Natur macht, sondern von Gegenständen der freien Willkür unter ihren Gesetzen die Rede, welche er sich zum Zwecke machen soll. Man kann jene die technische (subjektive), eigentlich pragmatische, die Regel der Klugheit in der Wahl seiner Zwecke enthaltende, diese aber muß man die moralische (objektive) Zwecklehre nennen." (V 514 f.) Allein die letzteren verdienen in einem qualifizierten Sinne "Zwecke der Freiheit" genannt zu werden. Nur dieser "Zweck, der zugleich Pflicht ist", vermag nun auch jene Stelle einzunehmen, die es ermöglicht, die Idee einer "Rangordnung der Zwecke" und damit ein letztes, nicht relativierbares "worumwillen" dieser Freiheit zu bestimmen, ohne sich

denn Gottes Geist, der macht den Menschen dem Gesetz gleich, daß er Lust zum Gesetz gewinnet von Herzen.* Dieser Gedanke Schellings dürfte so tatsächlich in Kants eigenen einschlägigen Überlegungen eine Entsprechung finden. Schelling selbst scheint freilich anderer Meinung zu sein: für ihn sieht Kant "die Unvollkommenheit des Gesetzes nicht ein und beraubt sich dadurch des wahren Wegs dahin zu kommen, wohin er will. Es verläßt ihn hier sein kritischer Sinn.* (ebd. Anm. 3)

Zum "Zweck, der zugleich Pflicht ist"

181

damit der Beliebigkeit auszusetzen ~ um so auch das Labyrinth einer schlechten Unendlichkeit von der Art zu vermeiden, daß "alle Zwecke für die praktische Vernunft immer nur als Mittel zu anderen Zwecken gelten". Dieser muß somit, "objektiv" und allein "unbedingt geboten", als der eigentliche Endzweck der sittlichen Praxis bestimmt und begriffen werden, weil er nur so "die unumgängliche und zugleich zureichende Bedingung aller übrigen enthält." (IV 653 Anm.) Es bietet sich fürs erste an, in der folgenden Interpretation der Begründung dieses "Zwecks, der zugleich Pflicht ist", auf die hilfreichen einschlägigen Ausführungen Schmuckers zurückzugreifen. Schmucker hat diesen Zusammenhang treffend so formuliert: Kant gehe "aus von dem Akt der Zwecksetzung als spezifischem Akt der Freiheit und schließt so: Wenn es keine Zwecke gäbe, die ihrem Wesen nach zugleich Pflicht sind, dann wären alle Zwecke der Handlungen für die praktische Vernunft nur Mittel zu anderen Zwecken (d. h. solchen, die außerhalb der Vernunft in der Sinnlichkeit liegen); damit aber wäre die Freiheit als zwecksetzendes Vermögen nur mehr ein Prinzip der Mittel und so selbst bloßes Mittel zu anderen Zwecken, womit aber jede Möglichkeit eines kategorischen Imperativs aufgehoben wäre. Wenn also die Freiheit als Prinzip der Zwecksetzung Selbstzweck bleiben soll, dann muß sie für die Handlungen auch solche Zwecke bestimmen, die vor der reinen Vernunft, d. h. an sich Zwecke sind und letztlich nicht bloß Mittel zu einem anderen Zweck. Diese Begründung geht wesentlich über die Notwendigkeit hinaus, objektive Vernunftzwecke für die spezifisch menschliche Natur anzunehmen; denn sie betrifft j e d e Freiheit als Prinzip der Handlungen. In diesem Sinne bedeutet sie eine wirkliche Ergänzung der Grundlegungsschriften; denn damit rückt das oberste Prinzip der Tugendlehre wenigstens in seiner allgemeinen Form in den Bereich der Grundprinzipien des reinen Willens hinauf, während die nähere Bestimmung desselben jeweils nur durch die spezifische Natur des betreffenden Vernunftwesens erfolgen kann. Die Deduktion des obersten Prinzips der Tugendlehre, die Kant hier durchführt, ist an sich klar, wenn man ausgeht von seiner Definition der reinen praktischen Vernunft als eines Vermögens der Zwecke überhaupt . . . Von einem Widerspruch zur Prinzipienlehre der Grundlegungsschriften kann also nicht die Rede sein, wohl aber von einer Ergänzung, die allerdings nicht darin liegt, daß Kant nun in der Metaphysik der Sitten materiale Zwecke annimmt, die zugleich Pflicht sind, sondern darin, daß er die Freiheit nunmehr als ein spezifisches Vermögen der Zwecksetzung auffaßt und so die Notwendigkeit objektiver materialer Zwecke allgemein begründet, wo durch die Prinzipienlehre des reinen Willens gegenüber den Grund legungsschriften erweitert wird."42

42

J. Schmucker, Der Pormalismus .

198 f.

182

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Anmerkungsweise gibt Schmucker freilich zu bedenken, "ob auf dem Standpunkte Kants hier im eigentlichen Sinn von einer Erweiterung der Lehre vom reinen Willen die Rede sein kann, da nach ihm die Notwendigkeit objektiver materialer Zwecke in der Endlichkeit und Unvollkommenheit der Vernunftnaturen begründet zu sein scheint, während die Prinzipien des reinen Willens auch für den göttlichen Willen Gültigkeit [im Text heißt es offenkundig sinnstörend: Göttlichkeit] haben müssen. Zu einer echten Ergänzung seiner Lehre vom reinen Willen im Sinne einer apriorischen materialen Zwecklehre derselben wäre er erst gelangt, wenn er den selbständigen Zweck der Person der anderen, d. h. ihr Personsein selbst, als notwendigen p o s i t i v e n Zweck des Vernunftwillens als solchen aufgefaßt und damit zum Wesen der personalen Liebe als der eigentlichen sittlichen Vollkommenheit durchgestoßen wäre."43 Schmuckers zurückhaltend-vorsichtige Diktion (daß "die Notwendigkeit objektiver materialer Zwecke in der Endlichkeit und Unvollkommenheit der Vernunftnaturen begründet zu sein scheint[!]") ist nun vielleicht doch nicht ganz unbegründet, ist doch auch nicht so ohne weiteres einzusehen, wie Schmucker triftige Anhaltspunkte für diese Vermutung beibringen will. Erweist sich nun Schmuckers diesbezüglicher Vorbehalt gegenüber Kant als sachlich unbegründet, so liegt als Konsequenz daraus nun doch die Ansicht nahe, daß schon Kant selbst demjenigen Rechnung trägt, was Schmucker als "Ergänzung" der kantischen Lehre intendiert: "den selbständigen Zweck der Person der anderen, d. h. ihr Personsein selbst, als notwendigen positiven Zweck des Vernunftwillens als solchen" anzusehen (besser: "anzuerkennen") und so "zum Wesen der personalen Liebe als der eigentlichen sittlichen Vollkommenheit" vorzudringen. Auch wenn man Schmucker nun in diesem Punkt seiner recht interessanten Kantinterpretation nicht näher folgen will, so kann man aber dennoch seinem Schlußsatz zustimmen, daß "auf das Prinzip des selbständigen Zwecks der Person als negative einschränkende Bedingung der Maxime und auf die in der Einleitung zur Tugendlehre entwickelten positiven materialen (= zu bewirkenden) Zwecke der eigenen Vollkommenheit und der fremden Glückseligkeit . . . sich in der Tat das ganze in der Metaphysik der Sitten entwickelte System seiner inhaltlichen Tugendlehre zurückführen" läßt.44 Zu einer doch ganz anderen Einschätzung dieses Lehrstückes vom "Zweck, der zugleich Pflicht ist" kommt Klein, wenn auch seine Interpretation der Begründung der Notwendigkeit des "gebotenen Zwecks" der zitierten Auskunft Schmuckers ähnlich ist: "Die Methode der praktischen Urteilskraft, zu

43

44

J. Schmucker, Der Formalismus . . . 199. Vgl. auch ders., Die Ursprünge der Ethik Kants . . . 117 f: " . . . eine unmittelbare Beziehung der Liebe auf den Personwert des anderen selbst . . . anerkennt Kant in seinem späteren System nicht mehr, was ohne Zweifel eine Verarmung und u. E. den wesentlichsten Mangel desselben darstellt." J. Schmucker, Der Formalismus . . . 201.

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überlegen 'was ist, wenn jeder das tut', führt in eine unendliche Relativierbarkeit des 'Wenn' und 'Aber' und braucht einen unbedingten Anfang, von dem sie ausgehen kann, der das Gesetz ist, aus dem sie sich fortbestimmt. Wo ist ein solches Unbedingtes zu finden? Diese Frage beantwortet Kant mit seinem Begriff von 'Zwecken, die zugleich Pflichten sind'." Und (nach Anführung des betreffenden Passus "Welches sind die Zwecke, die zugleich Pflichten sind?": IV 515f, heißt es) sodann weiter: "So ist also das Du der unbedingte Zweck, an dem sich die praktische Urteilskraft orientiert. Der unmittelbare Wille kennt kein Du. Der Wille eines anderen Menschen ist ihm Motivlieferant, aber er macht sich die Quelle dieser Lieferungen nicht in ihrer Einheit zum unbedingten Zweck seines eigenen Willens. Dies macht das Gewissen . . . Es distanziert auch das fair play. Wo findet es sein Maß? — Allein darin, den Argumenten Kants folgend, den unmittelbaren Willen des anderen, die Erfüllung seiner Neigung sich zum Zweck zu machen. Das Du ist so mein Gewissen.'45 Dies bedeutet nun aber mit Blick auf Kant doch wohl folgendes: der Andere ist demnach selbst Ermöglichungsgrund dieses genannten "Imperativs, der die Tugendpflicht gebietet", wenn doch anders alle Zwecke für die praktische Vernunft immer nur als Mittel zu anderen Zwecken gelten könnten, d. h. solcherart aber ein schlechter Regreß unvermeidlich wäre. Dies bedeutet nun aber nichts weniger, als daß - recht verstanden und auf den unabdingbaren Zweckbezug der praktischen Vernunft gesehen - dieser Andere (bzw. das praktische Verhältnis zu ihm) den Status des Menschen als "Endzweck" (als moralisches Vernunftwesen) "mitkonstituiert", wenn doch dieser ohne den so bestimmten "moralischen Endzweck" im Grunde undenkbar wäre, weil eben "nur im Menschen, aber auch in diesem nur als Subjekt der Moralität,. . . die unbedingte Gesetzgebung in Ansehung der Zwecke anzutreffen" ist, "welche ihn allein fähig macht ein Endzweck zu sein, dem die ganze Natur teleologisch untergeordnet ist." (V 559) Damit manifestiert sich eine "affirmative" (und nicht bloß die "negative") Anerkennung des Anderen als Du, die so in den "praktischen Stand" versetzt, (auch) sich als existierenden Endzweck der Schöpfung ansehen zu dürfen: "fremde Glückseligkeit" ist so betrachtet zwar nicht einfach "Bestimmungsgrund des Willens", sie bleibt aber insofern für das Praktisch-werden der Vernunft dennoch maß-gebend, weil "je anderer Glückseligkeit mit der je eigenen Vollkommenheit und deren subjektiven Impetus verbunden ist."4*

45 46

H. D. Klein, Vernunft und Wirklichkeit I, 174. M. Benedikt, Zur Möglichkeit des Philosophierens . . . 98. — P. Müller scheint aber jedenfalls den genauen Stellenwert dieses "Zwecks, der zugleich Pflicht ist", und in der Folge also auch des "Imperativs, der die Tugendpflicht gebietet", zu verfehlen, wenn er dessen Anspruch irrigerweise in der Frage ausgedrückt sehen will: "Können

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Damit zeigt sich, daß Kants Bestimmung des Unbedingtheitsanspruches des kategorischen Imperativs, die Auszeichnung des Menschen als "Zweck an sich selbst", sowie auch der "Endzweck der Schöpfung" und auch noch die inhaltliche Bestimmung eines "unbedingten Zweckes" (der als solcher eben zugleich Pflicht ist) in einem engen inneren Begründungszusammenhang stehen, welcher zugleich die Klammer bildet über die frühen Überlegungen der "Grundlegung . . . " bis hin zur bedeutenden Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft und den wichtigsten Motiven der späten Tugendlehre. So wird auch Kants wesentliche Bestimmung der Ethik als "System der Zwecke der reinen praktischen Vernunft" möglich, die sodann in einem nun wirklich umgreifenden Sinne ~ wie Kant selbst in dem Abschnitt über "die Architektonik der reinen Vernunft" behaupten kann — allererst den "Endzweck" "als die ganze Bestimmung des Menschen" im Rahmen des Weltbegriffes der Philosophie als der "systematischen Einheit aus dem Standpunkt der Zwecke" (II 701) zu formulieren erlaubt. Kants Vermittlung der Idee des "Endzwecks der Schöpfung" und auch seine Entfaltung des "Zwecks, der zugleich Pflicht ist", folgen bzw. entsprechen genau derjenigen Vermittlungsfigur, die schon in Kants Qualifikation des sittlichen Imperativs als "kategorisch" sich als leitend erwies: "kategorisch" konnte allein jener Imperativ genannt werden, "welcher eine Handlung als für sich selbst, ohne Beziehung auf einen anderen Zweck, als objektiv-notwendig vorstellte" (IV 43); allein das darin angesprochene "unbedingte Sollen" führt so die gesuchte "unbedingte und zwar objektiv und mithin allgemein gültige Notwendigkeit bei sich" (IV 46), ist damit allererst jeder Relativierung und dem drohenden Begründungsregreß enthoben und artikuliert sich demnach als jener alleinige "Imperativ, der, ohne irgend eine andere durch ein gewisses Verhalten zu erreichende Absicht als Bedingung zum Grunde zu legen, dieses Verhalten unmittelbar gebietet" - nach Kant freilich ausschließlich so, daß solcher Imperativ "nicht die Materie der Handlung und das, was aus ihr folgen soll" betrifft, "sondern die Form und das Prinzip, woraus sie selbst erfolgt, und das Wesentlich-Gute derselben besteht in der Gesinnung, der Erfolg mag sein,

Zwecksetzungen gedacht werden, die zwar nicht aus dem Unbedingten deduzierbar sind, aber als Tugendpflichten in der teleologischen Reflexion auf die Vernunftwirklichkeit und damit als Postulate der Idee der Freiheit geboten sind?" (Transzendentale Kritik und moralische Teleologie.. . 262) DaB Müller den Anspruch und Sinngehalt des "Zwecks, der zugleich Pflicht ist", völlig verkennt, scheint auch folgender Passus zu bestätigen: "Als Zwecke, die in diesem Sinn zugleich Pflichten sind nennt Kant die eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit. Beide zielen auf den letzten Zweck der Natur in Ansehung eines notwendig zu denkenden Endzwecks, auf Kultur, die der Hervoibringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt (folglich in seiner Freiheit) dient." (Transzendentale Kritik . . . 495)

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welcher er wolle." (IV 45) Es wird sogleich näher zu zeigen sein, daß die "metaphysisch"-logische Vermittlungsfigur eben auch bezüglich des "unbedingt-gebotenen Vernunftzweckes", der Begründung der Stellung des Menschen als "Zweck an sich selbst" und damit auch als "Endzweck der Schöpfung" in je ganz analoger Weise bestimmend ist. Dies überrascht auch deshalb nicht, weil doch offenkundig ~ in natürlich entsprechender Weise ~ Kants Hinweis zu beachten bleibt: "Alle Gegenstände der Erfahrung können nur als etwas Bedingtes von uns erkannt werden. Nun strebt die Vernunft unaufhaltbar nach etwas Unbedingten, sonst kann sie [ihre Aufgabe] nie vollenden. Diese Bestrebung hat die Metaphysik hervorgebracht."47 Es ist so ganz offensichtlich, daß Kants Argumentation bezüglich der weiteren Analogata (dem unbedingten Endzweck der Schöpfung und dem "unbedingten" Zweck) ~ und natürlich auch betreffend die unbedingte Notwendigkeit des kategorischen Imperativs ~ lediglich eine weitere Anwendung der aus dem "logischen Gebrauch der Vernunft" resultierenden "Maxime der Vernunft" darstellt, in gleichsam vernunftimmanenter Gedankenbewegung die Reihe von Bedingtem und Bedingungen bis hin zur Idee eines "schlechthin Unbedingten" zu transzendieren. Auch hier gilt doch: "Die Vernunft würde nie vollenden, nie das Erkenntnis nach seiner Möglichkeit ganz umfassen, wenn sie nicht zum Unbedingten überginge, zu dem Grunde, der von keinem andern abhängt."48 Auch die Idee des "unbedingten Vernunftzweckes" wäre so selbst aus der Anwendung der aus dem "logischen Gebrauch der Vernunft" resultierenden Idee des Unbedingten auf die Zweck-thematik (der "materialen" Seite allen Handelns) gewonnen, die sich deshalb ergibt, weil "ohne alle Zweckbeziehung . . . gar keine Willensbestimmung im Menschen stattfmden" kann. (IV 650) Im Ganzen zeigt sich hier eine doch bemerkenswerte, für den Aufbau von Kants Systematik aufschlußreiche Analogie, die ganz besonders auch das Verhältnis zwischen "Endzweck der Schöpfung" und dem "Zweck, der zugleich Pflicht ist", betrifft: nur als "Noumenon betrachtet" darf der Mensch als "Endzweck der Schöpfung" gelten, seine Stellung als "Noumenon" wiederum ist, wenigstens in einem umgreifenderen Sinne, erst in dem "praktisch-moralischen Endzweck" begründet. Ohne die Vernunftidee des "Endzwecks der Schöpfung" vermag die "Kette der einander untergeordneten Zwecke nicht vollständig gegründet" zu werden (V 559), wenn doch nur im Menschen die "unbedingte Gesetzgebung in Ansehung der Zwecke anzutreffen" sein kann, wodurch sein "Dasein . . . den höchsten Zweck selbst in sich hat", d. h. allein seine Existenz eine un-bedingte genannt zu werden verdient. Ausschließlich dieser Begrün-

47 48

Kant, Vorlesungen-Kowalewski 525. Kant, Vorlesungen - Kowalewski 573.

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dungszusammenhang erlaubt es nun nach Kant auch, das selbst noch einmal teleologisch konzipierte "System der Zwecke" der Freiheit gleichsam von einem archimedischen Punkt aus zu fundieren und zu entfalten.49 Ist dies nun offensichtlich einer der wesentlichen (maß-gebenden) Leitgedanken der "Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft", so ist auch noch die berühmte Stelle aus der Vorrede der Religionsschrift wohl in dieser Weise zu verstehen: "Moral also führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert, in dessen Willen dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll." (IV 652) Der Mensch ist Endzweck der Schöpfung lediglich aufgrund seiner "qualifizierten" Freiheit und der aus dieser erst möglichen "Ordnung der Zwecke". Es ergibt sich — bedeutende Perspektive auf ein doch recht wesentliches Motiv der Postulatenlehre ~ daraus als bloße Konsequenz, daß "Endzweck der Weltschöpfung" und praktischer Endzweck des Menschen nicht hoffnungslos auseinanderklaffen können, soll dies nicht letztlich zu Lasten des Menschen (als dem existierenden letzten Zweck der Schöpfung) gehen, wenn doch augenfällig eben auch diese wahrhaft "Rechtschaffenen . . . unangesehen aller ihrer Würdigkeit glücklich zu sein, dennoch durch die Natur, die darauf nicht achtet, allen Übeln des Mangels, der Krankheiten und des unzeitigen Todes, gleich den übrigen Tieren der Erde, unterworfen" sind "und es auch immer bleiben, bis ein weites Grab sie insgesamt . . . verschlingt, und die, die da glauben konnten, Endzweck der Schöpfung zu sein, in den Schlund des zwecklosen Chaos der Materie zurück wirft, aus dem sie gezogen waren . . . Den Zweck also, den dieser Wohlgesinnte in Befolgung der moralischen Gesetze vor Augen hatte und haben sollte [!], müßte er allerdings, als unmöglich, aufgeben". (V 579 f.) Nim hat sich freilich erwiesen, daß diese Idee des "Endzwecks der Weltschöpfung" gerade nicht ohne den (genau bestimmt gedachten) "praktischen Endzweck des Menschen" gedacht werden kann. Diesem Menschen wiederum kann "vernünftigerweise" kein Endzweck durch ein "Gesetz der Vernunft" geboten sein, "ohne daß diese zugleich die Erreichbarkeit desselben, wenn gleich ungewiß, verspreche" (V 603) und das moralische Gesetz nicht überhaupt sich als eine "bloße Täuschung unserer Vernunft" erweisen soll. Es ist der andere Mensch als "Zweck an sich selbst", der so als unbedingter Inhalt

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Freilich gilt: "Das mit sich einstimmige, harmonische 'System der Zwecke', welches der 'höchste Zweck' menschlichen Lebens sein muB, umgreift mit dem Praktischen der Wirklichkeitsgestaltung für Kant immer auch den höchsten Zweck des spekulativen Gebrauchs der Vernunft." (H. Heimsoeth, Transzendentale Dialektik 156 Anm. 80) Dies bleibt zu beachten, wenn die folgende Feststellung Kants nicht einen allzu engen Rahmen markieren soll, der gemäß der Endzweck der Vernunft "kein anderer" sein soll, "als die ganze Bestimmung des Menschen und die Philosophie über dieselbe heißt Moral." (II 701)

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(als "gebotener Zweck") der praktischen Intentionalität anzusehen ist; er ist damit dem "Zweck, der zugleich Pflicht ist", als dessen Ermöglichungsgrund vorausgesetzt und konstituiert damit auch erst das letzte "worumwillen" der sittlichen Praxis. Läßt sich im weiteren jedoch nicht auch in dieser Weise Kants These verstehen, daß nur unter Voraussetzung von "etwas, dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Wert hat, was als Zweck an sich selbst ein Grund bestimmter Gesetze sein könnte, so würde in ihm allein der Grund eines möglichen kategorischen Imperativs, d. i. praktischen Gesetzes liegen"? (IV 59)50 Diese die Argumentation der Menschheitsformel vorbereitende und einleitende Überlegung (an zentraler Stelle der Grundlegungsschrift) scheint von ganz besonderem Interesse schon deshalb zu sein, weil sie sich genauer besehen in einem durchaus produktiven Sinne als mehrdeutig erweist: zum einen nämlich dient sie offenkundig selbst zur Fundierung der Stellung des Menschen als "Zweck an sich selbst", dessen Dasein als "absoluter Wert" anzuerkennen sei; zum anderen ist aber selbstverständlich daran zu erinnern, daß dem berühmten Beginn der Grundlegungsschrift zufolge ausschließlich der "gute Wille" es ist, dem "absoluter Wert" zuzuerkennen sei, der als "Un-bedingtes" seinen Zweck in sich hat. Manifestiert sich nicht auch darin der schon behauptete unauflösbare innere Zusammenhang des Unbedingten der Form mit dem "unbedingten Zweck"51, der nun - ganz unübersehbar ~ also auch auf das für dieses Begründungsverhältnis der sittlichen Vernunft so fundamentale Problem der Interpersonalst verweist?(S. o. 104 ff.) Ohne diese Rücksichtnahme auf die hier bestimmenden (und auch unübersehbaren) "Korrelationsverhältnisse" dürfte aber auch der folgende Hinweis Kants

50

51

GeWiß ist nicht zu übersehen, daß Kants Konzeption des kategorischen Imperativs sowohl in der erwähnten "Doppelfunktion" wie auch in allen seinen Formulieningen vorgängig immer schon von der vorausgesetzten Anerkennung des Anderen getragen ist, ja aus dieser Voraussetzung selbst überhaupt erst möglich wird. Der in ihm ausgesprochene Selbstbezug ist nur in der Gleichursprünglichkeit des Fremdbezuges zu denken. Wenn man freilich der Kritik der praktischen Vernunft zufolge "auch den Willen durch das Vermögen der Zwecke definieren könnte, indem sie jederzeit Bestimmungsgründe des Begehrungsvermögens nach Prinzipien sind" (IV 175), so gestattet dies allerdings ohne weiteres auch eine erweiternde und antizipierende Bezugnahme auf den "unbedingten Zweck" der Tugendpflicht, was wohl schon deshalb von systematischem Interesse wäre, weil damit doch diese Thematik — vermutlich am ehesten im weiteren Rahmen und in der Folge der Bestimmung des "Begriffs eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft" — zur Sprache kommen müßte und letztere sodann nur im Ausgang von den erwähnten Fragen zu bestimmen und zu entfalten wäre. Auch bezüglich des Problems der Entwicklung der kantischen Moralphilosophie und Ethik bliebe dies doch von besonderem Interesse. — Noch einmal: ohne diese zu denkende Einheit von "Unbedingtem der Form" und "unbedingtem Zweck (Inhalt)" ist letztlich die schon in der ersten Kritik angesprochene "Idee der praktischen Vernunft" (II 331 f.) nicht angemessen zu bestimmen.

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mißverständlich bleiben, zumal er für sich genommen der Problemstellung des Ermöglichungsgrundes des moralischen Gesetzes in dieser Weise nicht gerecht zu werden vermag: "Der einzige Begriff der Freiheit verstattet es, daß wir nicht außer uns hinausgehen dürfen, um das Unbedingte und Intelligible zu dem Bedingten und Sinnlichen zu finden. Denn es ist unsere Vernunft selber, die sich durchs höchste und unbedingte praktische Gesetz und das Wesen, das sich dieses Gesetzes bewußt ist . . . als zur reinen Verstandeswelt gehörig . . . erkennt." (IV 233) Bis in den Wortlaut erinnert nun freilich die Kants Begründung des "Zwecks, der zugleich Pflicht ist" (wie offenkundig auch die des absoluten, schlechthin notwendig-praktischen Charakters des kategorischen Imperativs: IV 46) leitende Gedankenführung an die berühmte Bestimmung dieses "höchsten Guts" in der "Nikomachischen Ethik" des Aristoteles. Wenn es dort52 nämlich heißt: "Wenn es nun ein Ziel des Menschen gibt, das wir seiner selbst wegen wollen und das andere nur um seinetwillen, und wenn wir nicht alles wegen eines anderen uns zum Zwecke setzen . . . , so muß ein solches Ziel offenbar das Gute und das Beste sein" ~ so läßt sich dieser Gedanke ohne weiteres mit Kant so fortführen: "Denn gäbe es keine dergleichen ["Zwecke, die zugleich (d. i. ihrem Begriffe nach) Pflichten sind"], so würden, weil doch keine Handlung zwecklos sein kann, alle Zwecke für die praktische Vernunft immer nur als Mittel zu anderen Zwecken gelten und ein kategorischer Imperativ wäre unmöglich; welches alle Sittenlehre aufhebt." (IV 514 f.) Dieses offensichtlich der Argumentationsfigur des Aristoteles analoge Begründungsverfahren -freilich hinsichtlich des "bios praktikos" -- erlaubt es nun eben, den gemäß dem "obersten Prinzip der Tugendlehre entworfenen "praktischen Endzweck" als höchstes (d. i. oberstes) Gut zureichend zu bestimmen. Daß der "reine Wille . . . sein eigener Zweck" ist (d. h. absolut und praktisch notwendig ist), besagt gar nichts anderes als dies, daß Moralität die eigentliche Wirklichkeit der Praxis in einem strengen Sinne ist und so jedenfalls selbst auch kein anderes "worumwillen" kennt. Dabei ist bezüglich der Wirklichkeit der Moralität darauf zu achten, daß auch für Kant nur im Rahmen der vorausgesetzten Interpersonalität, d. i. eben im kommunikativen Raum, jener Teil bestimmt ist, der die "Sphäre der Objekte unsrer Pflichten ausmachte".53

52 53

Aristoteles, Nikomachische Ethik 1094 a 18 ff. Fichte, Akademie-Ausgabe 1.5,77. - Es ist deshalb zu fragen, ob nicht Kants Überlegungen selbst implizit dasjenige zur Sprache bringen, was Heinrichs in folgenden Sätzen formuliert: "Geistige Verwirklichung (Praxis) ist nur im Miteinander von Freiheiten möglich. Freiheit kann sich a 1 s Freiheit nur a u f andere Freiheit und d u r c h diese andere Freiheit, also in der Ent-Sprechung von Freiheiten auswirken. Das aber heißt: der eigentliche (transzendentale) Grundbegriff des Wirkens als Verwirklichung ist dialogischer Art. Denn die Gegenseitigkeit von Freiheiten, die sich einander zur freien Verwirklichung, zur

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Näherhin bleibt (und zwar wieder in Übereinstimmung mit Kant) auch darauf zu sehen, daß diese Idee des höchsten Gutes als letztes "Worumwillen" sittlicher Praxis sich im weiteren eben gemäß dem "obersten Prinzip der Tugendlehre" bestimmt. Mit Recht kann man deshalb diesbezüglich feststellen: "Die sich in der Einheit der höchsten Vernunftzwecke artikulierende Endabsicht der Vernunft ist demnach identisch mit der Reflexion auf das Worumwillen des Daseins des endlichen Vernunftwesens, d. h. menschliche Vernunft findet ihre eigentümliche Bestimmung in einer moralisch-praktischen Reflexion."54 In der Tat: "Im Begriff des Unbedingten stellt die Vernunft also, wenn auch in theoretischer und praktischer Absicht auf unterschiedliche Weise, einen höchsten Orientierungspunkt für die Ausrichtung alles Wissens bereit."55 Es ist dem zufolge doch wohl die Ansicht vertretbar, Kants Rede von den "Zwecken der Freiheit" gewänne ihren präzisen und letzten Sinn erst im Ausgang von dem "obersten Prinzip der Tugendlehre", wenn doch auch Kants Charakterisierung der Ethik als der "reinen Zwecklehre" in sachlicher Hinsicht letztlich genau darauf verweist. Die voranstehenden Überlegungen widersprechen für sich genommen zwar nicht einfach der Auskunft Henrichs, Kants Bestimmung der "Praxis" sei "nicht so sehr im aristotelischen Sinne des Wortes als vielmehr im Sinne der 'Poiesis' als Bewirkung eines Zweckes, die aufgrund einer Vorstellung von bestimmten Prinzipien des Verfahrens, ihn zu bewirken, erfolgt. [...] 'Praktisch' heißt deshalb auch alles, 'was zur Willensbestimmung hinreicht'. Die Vernunft ist also praktisch dann, wenn in ihr hinreichende Gründe für den Willen gelegen sind, einen bestimmten Zweck zu verwirklichen."56 Dessen ungeachtet dürfte jedoch eher die Charakterisierung der Vernunft als das "Vermögen der Prinzipien" (des Unbedingten), wie auch der Gedanke der "Zweckmäßigkeit, die zugleich Gesetz ist (Verbindlichkeit)", die Bestimmung der Vernunft als "Vermögen der Zwecke", sowie auch die "Beziehung einer Vernunft überhaupt auf das Ganze aller Zwecke" die Ansicht stützen, daß doch in dem "Zweck, der zugleich Pflicht ist", die notwendige Einheit des letzten "worumwillen" mit dem poietischen Moment der "Bewirkung eines Zweckes" zum Ausdruck gebracht ist. Dies verweist nun jedoch freilich schon auf weitere Vermittlungs- und Konkretisierungsaufgaben, die erst näher und im einzelnen zur Sprache kommen müssen.

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Auswirkung in anderer Freiheit und somit auch zur Befreiung ihrer eigenen Freiheit (mindestens als Mächtigkeit) verhelfen, ist Dialog." (J. Heinrichs, Sinn und Intersubjektivität. . . 175) K. Konhardt, Die Einheit der Vernunft 175. Vgl. dazu den ganzen Abschnitt "Die Idee des Zwecks" 166 ff. K. Konhardt, Die Einheit der Vernunft 185. D. Henrich, Ethik der Autonomie 11.

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Das folglich auch bezüglich einer notwendigen Näherbestimmung des "obersten Prinzips der Tugendlehre" aktuelle Problem der "Affinität", daß dieser "Zweck, der zugleich Pflicht ist", erst noch mit der Handlungsebene zu vermitteln ist, erlaubt und erfordert noch eine weitere Frageperspektive. In Frage steht somit nämlich noch jene "Vermittlungsaufgabe", die doch präzis jenem Anspruch zu genügen gebietet, "den anderen Menschen überhaupt sich zum Zweck zu machen" (eigentlicher Gehalt des Imperativs der Tugendpflicht); sie aktualisiert sich unter "Aufbietung aller möglichen Mittel" sodann als Intention auf "fremde Glückseligkeit", welche sodann eben nicht anders als das "Wohl und Heil" dieses leiblich-vernünftigen Wesens zu bestimmen ist und deshalb auch nur so dieser unverzichtbaren Vermittlungsforderung genügen kann. Von "allem Unterschied der Person" abzusehen (wie die Rechtspflichten es tun), ist ihr deshalb ebenso unmöglich wie auch ihrer praktischen Intention zuwider. Der "Imperativ, der die Tugendpflicht gebietet", durchbricht auch noch alle Ansprüche "bloßer" Humanität als "wechselseitiges Wohlwollen mit gegenseitiger Achtung verbunden."57 Dieses nunmehr schon näher bestimmte Wollen impliziert natürlich die Akzeptanz der hiefür unentbehrlichen Mittel, ist doch "in dem Wollen eines Objekts als meiner Wirkung . . . schon meine Kausalität als handelnde Ursache, d. i. der Gebrauch der Mittel gedacht und der Imperativ zieht den Begriff notwendiger Handlungen zu diesem Zweck schon aus dem Begriff eines Wollens dieses Zwecks heraus (die Mittel selbst zu einer vorausgesetzten Absicht zu bestimmen, dazu gehören allerdings synthetische Sätze, die aber nicht den Grund betreffen, den Actus des Willens, sondern das Objekt wirklich zu machen.)" (IV 46 f.) Auf die hier interessierende Thematik der Tugendpflicht gesehen erweist sich dies in mehrfacher Hinsicht als bedeutsam: zum einen ist der "gebotene Zweck" der Tugendpflicht näherhin noch auf die Handlungsebene hin zu konkretisieren, d. i. mit dieser erst zu vermitteln. Als "Zweck an sich selbst" im Sinne der Tugendpflicht ist der Andere ja doch überhaupt erst dadurch handelnd intendierbar (d. h. aber: der Anspruch, "den anderen Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen" ist lediglich so einzulösen), weil "Wohl und Heil" dieses Anderen sonach das zu befördernde Gut darstellt, und eben diese Momente die Glückseligkeit eines leiblich- bedürftigen, aber doch vernünftig-moralischen Wesens notwendig bestimmen. Denn eben diese "fremde Glückseligkeit" formuliert als "gebotener Zweck" zwar das "Woraufhin" des tugendpflichtigen Handelns, ohne daß damit auch schon mitentschieden wäre, was nun dieses Handeln selbst zu bewirken hat. Die Frage "Was soll ich tun?" gewinnt also von dem "obersten Prinzip der Tugendlehre" aus betrachtet einen recht spezifischen Sinn und stellt so jedoch

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Reike, Lose Blätter E. 21.

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noch einmal vor neue Schwierigkeiten -- ist es doch wesentlich darum zu tun, daß diese grundsätzliche Intention auch tatsächlich "von der Stelle kommt". Hiebei bleibt nun auch noch darauf zu achten, daß Kant in seiner diesbezüglichen Argumentation der Tugendlehre - allerdings ohne ausweisende Rechtfertigung ~ auf einen doch eher lediglich beiläufigen Hinweis der (im Ganzen doch recht wesentlichen) längere Anmerkung der Vorrede seiner Religionsschrift (vgl. IV 652 ff.) rekurriert, die ganz unverkennbar als Voraussetzung dieser die Tugendlehre im einzelnen leitenden Argumentation fungiert.58 Dieser Stelle zufolge ist nämlich die Erweiterung der "praktischen Vernunft" über das "moralische Gesetz" hinaus allein dadurch gewährleistet, wenn über das moralische Gesetz das "höchste in der Welt mögliche Gut" "auf die Natureigenschaft des Menschen, sich zu allen Handlungen noch außer dem Gesetz noch einen Zweck denken zu müssen", bezogen wird "(welche Eigen-

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Es ist nun in der Tat wichtig zu sehen, daß Kant in genannter Anmerkung der Religionsschrift auch auf die Notwendigkeit des Zweckbezuges verweist, denn "ohne alle Zweckbeziehung kann gar keine Willenbestimmung im Menschen statt finden, weil sie nicht ohne alle Wirkung sein kann, deren Vorstellung, wenn gleich nicht als Bestimmungsgrund der Willkür und als ein in der Absicht vorhergehender Zweck, doch, als Folge von ihrer Bestimmung durchs Gesetz zu einem Zwecke muß aufgenommen werden können . . . , ohne welchen eine Willkür, die sich keinen, weder objektiv noch subjektiv bestimmten Gegenstand (den sie hat, oder haben sollte) zur vorhandenen Handlung hinzudenkt, zwar w i e sie, aber nicht w o h i n sie zu wirken habe, angewiesen, sich selbst nicht Gnüge tun kann." (IV 650) Allerdings ist — im wesentlichen Unterschied zu der angeführten Stelle der Religionsschrift — dieses "Wohin des Wirkens" (d. i. der Zweckbezug) dann nicht sogleich, unserem "natürlichen Bedürfnis entsprechend", auf den "Erfolg unseres Handelns" gemäß der Idee des "höchsten Guts" zu beziehen, sondern dieser Zweckbezug bleibt vielmehr in dem hier relevanten Problemhorizont dem Begriff des "obersten Guts" immanent, weil dieses selbst, und damit die "strengste Beobachtung der moralischen Gesetze" (IV 655 Anm.), ohnedem gar nicht zureichend zu bestimmen ist - damit jedoch in weiterer Folge auch nicht diese bezüglich menschlicher Sittlichkeit zu formulierende "Idee des Vollkommensten seiner Art" als das zum "Urbild" aufgestellte "Maximum". (II 324)— Es ist deshalb in diesem Sinn aber wenigstens problematisch, wenn Kant nun allerdings gelegentlich meint, "das Gesetz, welches die formale Bedingung des Gebrauchs der Freiheit überhaupt enthält, ist ihr [der Moral] genug" — problematisch nämlich dann, wenn man gemäß der "Idee des Vollkommensten seiner Art" die "höchste Stufe der Moralität" zureichend bestimmt. — Kant hätte gewiß Fichte zugestimmt: "Es ist schlechthin unmöglich, daß der Mensch ohne Aussicht auf einen Zweck handle. Indem er sich zum Handeln bestimmt, entsteht ihm der Begriff eines Zukünftigen, das aus seinem Handeln folgen werde, und dies eben ist der Zweckbegriff." (Fichte, Akademie-Ausgabe 1,5.429) Bleibt dabei aber, mit Kant gesprochen, der praktische Zweckbezug gemäß dem "Zweck, der zugleich Pflicht ist", nicht noch einmal von jener Problemdimension zu unterscheiden, die auf die Fragen einer erweiterten und radikalisierten Postulatenlehre verweist? Und markiert nicht dies präzis den wesentlichen Zusammenhang und den Unterschied zwischen dem umfassend bestimmten "praktischen Endzweck" und dem "Endzweck der Schöpfung"? (S.u. 294 ff.)

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schaft desselben ihn zum Gegenstande der Erfahrung macht)". Nur dieser in der Tugendlehre stillschweigend und selbstverständlich zugrunde gelegte Gedanke eröffnet sonach eine berechtigte Aussicht darauf, die praktische Intentionalität der "revolutionierten Denkungsart", "sich den Menschen überhaupt zum Zwecke zu machen", bestimm b a r zu machen ~ und zwar in der Weise, daß dieser letztere nun tatsächlich handelnd intendiert werden kann. Somit resultiert auch bezüglich des "Zwecks, der zugleich Pflicht ist", ein wesentlicher Zusammenhang mit dem (von Kant so genannten "pragmatischen") "praktischen Gesetz aus dem Beweggrunde der Glückseligkeit", das sich nunmehr evidenterweise eben notwendig auf "empirische Prinzipien" gründet: "denn anders, als vermittelst der Erfahrung, kann ich weder wissen, welche Neigungen da sind, die befriedigt werden wollen, noch welches die Naturursachen sind, die ihre Befriedigung bewirken können." (II 677 f.) Die dem "Zweck, der zugleich Pflicht ist", entsprechende Intentionalität der praktischen Vernunft vermag sich also selbst nur über die bestimmende Urteilskraft auf die Handlungsebene hin zu "besondern" und so in der Konkretisierung der aufgehobenen Einheit von intelligiblem und empirischem Charakter ihre letzte Bestimmtheit zu gewinnen.59 Wiederholt wurde schon auf den wesentlichen Unterschied zwischen dem Gehalt des "kategorischen Imperativs" und "demjenigen, der die Tugendpflicht gebietet", hingewiesen. Dies kann jedoch natürlich nicht die entscheidenden Analogien zwischen beiden ~ betreffend die notwendigen Vermittlungs- und

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Die Beachtung dieses gestuften Vermittlungsganges, der sich aus Sinn, Stellenwert und Verbindlichkeitsstatus der Tugendpflicht notwendig ergibt, macht zugleich aber auch die Antwort auf die von Sidgwick beobachtete angebliche Schwierigkeit leicht: "There seems to be a sort of paralogism in the deduction of the principle of Benevolence by means of this conception ["Menschheit als Zweck an sich selbst"]. For the humanity which Kant maintains to be an end in itself is Man (or the aggregate of men) in so far as rational. But the subjective ends of other men, which Benevolence directs us to take as our own ends, would seem, according to Kants own view, to depend upon and correspond to their nonrational impulses — their empirical desires and aversions. It is hard to see why, if man as a rational being is an absolute end to other rational beings, they must therefore adopt his subjective aims as determined by his non-rational impulses." (H. Sidgwick, The Methods of Ethics. London 1913, zit. n. R. Wimmer, Universalisierung . . . 1S9 f.) Es kann auch gar kein Zweifel darüber bestehen: Wimmer distanziert diese Vorwürfe wohl zu Recht; es ist jedoch eine andere Frage, ob bzw. wie Wimmer einerseits angeblich mit Kant daran festhalten will, daB der kategorische Imperativ als das Grundprinzip sowohl der Rechts- wie auch der Tugendlehre (die eben nicht bloß die Rechtspflichten, sondern auch die Tugendpflichten thematisiert) gelten soll; zum anderen ist zu bezweifeln, daB Wimmer so Kants Verständnis der Ethik als "Zwecklehre" gerecht zu werden vermag, wenn doch der von Kant betonte Unterschied zwischen dem kategorischen Imperativ und demjenigen, "der die Tugendpflicht gebietet", im Grunde noch ganz unberücksichtigt bleibt. — Die angezeigte Unstimmigkeit der Argumentation Sidgwicks berührt auch Wolff (175 f.).

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Konkretisierungsaufgaben - übersehen lassen M, vor die Kant sich sowohl bezüglich des "obersten Prinzips der Moralität" als auch des "obersten Prinzips der Tugendlehre" gestellt wußte: der kategorische Imperativ ist von dem Typus der praktischen Urteilskraft" nun zwar notwendig zu unterscheiden, bleibt jedoch ebenso notwendig auf diesen bezogen und angewiesen. Das sich im kategorischen Imperativ für ein endliches vernünftiges Wesen artikulierende Sittengesetz in seiner Un-bedingtheit geht damit zum einen zwar auf den von allem Materialen, Empirischen "unabhängigen Willen", der so "bloß durch die Vorstellung eines Gesetzes überhaupt und dessen Form" (VI 136) bestimmt sein soll. Es gehört in diesem Sinne tatsächlich zu der im kategorischen Imperativ ausgesprochenen Forderung, (nur) um dieses moralischen Gesetzes selbst willen zu handeln.61 Kant stand damit aber doch vor der unabweisbaren Frage ~ die er bekanntlich eben mit dem Lehrstück von der "Typik der reinen praktischen Vernunft" lösen wollte, - wie denn für dieses "Sittlich-Gute" als dem "Objekt des Übersinnlichen", "für das also in keiner sinnlichen Anschauung etwas Korrespondierendes gefunden werden kann" (IV 187), ein "Schema" anzugeben sei, das freilich nicht mit dem "Gesetz der Freiheit" selbst zu verwechseln ist: "Aber dem Gesetz der Freiheit (als einer gar nicht sinnlich bedingten Kausalität) mithin auch dem Begriffe des Unbedingt-Guten, kann keine Anschauung, mithin kein Schema zum behuf seiner Anwendung in concreto untergelegt werden." (IV 188) Es zeigt sich in der weiteren Folge die Notwendigkeit, diesen allein vernunft-bestimmten und in diesem Sinne "reinen" Willen — er ist nichts anderes als die apriori praktische ("reine") Vernunft — mit der durch diesen un-bedingten Bestimmungsgrund bestimmbaren Willkür zu vermitteln, weil doch nur diese als Begehrungsvermögen "in Beziehung auf die Handlung" steht. (IV 317) Sie meint nun gar nichts anderes als die "Autonomie der reinen praktischen Vernunft", deren Gesetz als praktische Idee einer "übersinnlichen Natur" die "urbildliche (natura archetypa)" Welt formuliert, die als Vernunft-Welt notwendig nur in der ihr "nachgebildeten (natura ectypa)" Welt

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Zu einer weiteren leicht erkennbaren Analogie s. u. 294 ff. Mit Recht bemerkt Paton: "Was der kategorische Imperativ uns zu tun gebietet ist: um des Gesetzes an sich willen zu handeln" (Der kategorische Imperativ 156), weil nur so aus Freiheit um der Freiheit willen Freiheit verwirklicht wird. Dies bestätigt nur noch einmal die Notwendigkeit, verschiedene Funktionen des kategorischen Imperativs zu unterscheiden. Wegen der offenkundigen Nichtbeachtung eben dieses ganz wesentlichen Aspektes ist es ungenügend, wenn Kaulbach dies als einen Angelpunkt kantischen Denkens bezeichnet: "Der kategorische Imperativ fordert dazu auf, die Rechtfertigung der eigenen Handlungsmaxime durch ihre Messung an einer als praktische Idee entworfenen kosmischen Rechtsgesellschaft der vernünftigen Wesen (allgemeine Gesetzgebung), die er 'intelligible Natur' nennt, zu vollziehen." (F. Kaulbach, Artikel Natur 473. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. J. Ritter)

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auf Verstandesebene ihre konkretisierende kategoriale Vermittlung (wenn auch nicht ihre Darstellung "in concreto") zu gewinnen vermag — freilich in einer Weise, daß dieserart die Vernunftidee des Unbedingten, Apriorischen darin selbst ihre "Typisierung" erfährt. (IV 157) Die "Natur der Sinnenwelt" fungiert so als "Typus einer intelligiblen Natur" (was "bloß die Form der Gesetzmäßigkeit überhaupt" betrifft) -- dies ist das Thema des so wesentlichen (wenn auch vielmißachteten) Lehrstückes "Von der Typik der reinen praktischen Urteilskraft". (IV 186 ff.) Der Gedanke des Naturgesetzes ("aber nur seiner Form nach") kann und soll nun zwar durch den Verstand [!] dieser Idee der praktischen Vernunft untergelegt werden und die solcherart sich selbst mit der Verstandesebene vermittelnde Vernunftidee kann allein in der Lage sein, einen "Typus des Sittengesetzes" auf dieser Ebene als "Regel der Urteilskraft unter Gesetzen der reinen praktischen Vernunft" zu ermöglichen62, der bekanntlich lautet: "Frage dich selbst, ob die Handlung, die du vorhast, wenn sie nach einem Gesetz der Natur, von der du selbst ein Teil wärest, geschehen sollte, sie du wohl, als durch deinen Willen möglich, ansehen könntest." (IV 188) Kant beantwortet genau besehen die Frage "Was soll ich tun?", "was geschehen soll", erst vermittelst der "Typik der praktischen Urteilkraft", während die Frage nach dem "Moralisch-Guten" im Sinne des "obersten Prinzips der Moralität" ganz wesentlich auf die Beantwortung der Frage nach dem "Wie" des Tuns und damit auf die "Beweggründe, die als solche völlig apriori bloß durch Vernunft vorgestellt werden und eigentlich moralisch sind" (IV 15), gerichtet ist. Kants "Grundlegung" leitete ausdrücklich das primäre Interesse der "Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität" (IV 16) und ist so vorrangig (wenn auch nicht ausschließlich) eben dieser genannten Frage nach dem "Wie" des moralischen Handelns gewidmet. Kant wollte bekanntlich auch dieses Problem, "ob die Handlung objektiv dem moralischen Gesetze . . . gemäß sei", von derjenigen Frage unterscheiden, "ob die Handlung auch (subjektiv) um des moralischen Gesetzes willen geschehen" sei: erstere sei als Frage der "sittlichen Richtigkeit" von der auf den "sittlichen Wert, als Gesinnung" gerichteten Frage zu unterscheiden. (IV 297)(S. dazu u. 230 f.) So wichtig und schlechthin unaufgebbar dieses Moment auch ist, so ist damit allein und für sich genommen keinesfalls die "Freiheit im positiven Verstände" und ihre spezifische Gesetzgebung in einem

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Falsch ist jedenfalls die Ansicht Teichners, daB der kategorische Imperativ unter diesen Umständen folgende Form "annehme": "Frage dich s e l b s t . . . " (IV188) (W. Teichner, Die intelligible Welt 140) Der Unterschied zwischen dem kategorischen Imperativ und dem Typus wird in dieser Weise — ganz gegen die Absicht Kants — freilich völlig eingeebnet. — Wäre die Unterscheidung zwischen der "übersinnlichen Idee des Guten" (das "Gesetz der Freiheit") und seinem Typus" in systematischer Hinsicht nicht notwendig auf Kants Unterscheidung vom Bewußtsein des "zweifachen Ich" zu beziehen?

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umfassenden Sinn einzuholen. Es formuliert dies "lediglich" das freilich notwendige Moment einer "Selbständigkeit" gegenüber allen bloß materialen Bestimmungsgründen, durch die der moralische Wille ausgezeichnet ist und die allein seine "Reinheit" ("Gutheit") zu sichern vermag — mit Fichte gesprochen: das notwendige Streben "zur Selbständigkeit um der Selbständigkeit willen."*3 Natürlich ist hier die Frage nicht zu umgehen, ob denn nun unter entsprechender Rücksicht auf die Ethik als "reine Zwecklehre" und damit eben auch auf den "Imperativ, der die Tugendpflicht gebietet", sich nicht ein ganz analoges Problem bezüglich des "obersten Prinzips der Tugendlehre" darstellt, das Kant selbst zwar nicht explizit anspricht (geschweige denn es entfaltet), das aber in den verschiedenen Formulierungen (die sich eben nicht so zufällig und keineswegs bloß terminologisch voneinander unterscheiden) dennoch wenigstens der Sache nach angesprochen ist. Kant hat bekanntlich von der eigentlichen Pflichtenlehre die "Zwecklehre" unterschieden. Dabei ist nun noch einmal darauf zu achten, daß die Ethik als diese genannte Zwecklehre, "so fern sie auf einen Zweck der reinen [!] Vernunft ausgerichtet ist", im Grunde doch dazu verbindet, sich "den [anderen] Menschen überhaupt zum Zwecke zu machen." (IV 526) Zu fragen ist dann natürlich, wie denn nun aber dieser "unbedingte Vernunftzweck" tatsächlich möglich und auch wirklich sein soll: denn dieser "unbedingte Vernunftzweck" formuliert nun zwar wohl eine notwendige "Idee der Vernunft", sodaß sich das dringliche Problem ergibt, wie denn diese "übersinnliche Idee" nun in concreto "dargestellt" werden kann. Stellt sich denn nicht auch hier sofort das unabweisbare Problem, daß für diesen "unbedingten Vernunftzweck" in keiner "sinnlichen Anschauung etwas Korrespondierendes gefunden werden kann", in ganz ähnlicher Weise? Vielleicht ist diese Frage nun in unmittelbarem Bezug auf die einschlägigen Formulierungen Kants dahingehend beantwortbar: so wie das Sittengesetz selbst von der "Regel der Urteilskraft der reinen praktischen Vernunft" unterschieden, aber doch auf diese notwendig bezogen bleiben muß, ebenso (genauer: in Analogie dazu) wäre nun auch dieser zentrale Abschnitt der Tugendlehre zu interpretieren: die "Beförderung fremder Glückseligkeit" wäre nunmehr selbst schon anzusehen als der Versuch, dem genannten "unbedingten Vernunftzweck" auf der "Verstandesebene" — damit aber auch erst derjenigen wirklichen Handelns — einen "Typus" zu verschaffen, um so dieser "übersinnlichen Idee" ihre Konkretisierung, d. i. einen "Überschritt vom Prinzip zur

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Fichte, Akademie-Ausgabe 1,5.45. - Nur darin kommt somit zum Ausdruck das unaufgebbare Motiv, daß "Freiheit um der Freiheit willen sein soll", d. h. der "praktische Vollzug eines frei und um der Freiheit willen eingegangenes Engagements." (A. Pieper, Ethik als Verhältnis von Moralphilosophie und Anthropologie 315)

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Wirklichkeit"*4, zu eröffnen. Kant zufolge ist die "eigene Glückseligkeit" ohnehin nichts anderes als der selbstverständliche "subjektive Zweck" jedes endlichen, bedürftigen Vernunftwesens; die Beförderung je "fremder Glückseligkeit" wäre sodann gemäß dieser Analogie selbst schon der der Tugendpflicht angemessene "Typus", der sich aber in seiner besonderen Intentionalität auf den je Anderen jetzt noch einmal so bestimmt, "sich Wohl und Heil des anderen Menschen" zum Zweck seines Handelns machen zu müssen, wenn doch diese (des je Anderen) Glückseligkeit nur so in angemessener Weise zu befördern ist. Der ausgewiesene "objektive Vernunfitzweck" hätte so noch seine notwendige Konkretisierung erfahren und erhielte in solcher Vermittlung entsprechend der umfassenden Wirklichkeit der "positiven Freiheit" als "Moralität, und einer ihr untergeordneten Kausalität nach Zwecken" (V 559 Anm.) einen möglichen Bezug auf Wohl und Heil des Anderen; nur solcherart je individuiert, hätte das so bestimmte "praktische Vernunftideal" empirische Bestimmbarkeit gewonnen und wäre somit notwendig auf Befreiung je Anderer als dem wirklichen "Gegenstand praktischer Intentionalität" bezogen. In einem recht präzisen Sinne wäre damit auch der Forderung Fichtes Genüge getan: "Das Sittengesetz geht sonach darauf, jedes Ding nach seinem Endzweck zu behandeln."*5 Ob sich auch Fichtes Hinweis in systematischer Hinsicht eben auf dieses anstehende Problem einer möglichen Schematisierung des "Imperativs, der die Tugendpflicht gebietet", beziehen läßt, — Fichte versteht das Gebot der Nächstenliebe als "Regulativ" "bei allen positiven Pflichten gegen andere" — ist hier jedoch nicht näher zu verfolgen: "Die Gesundheit, Stärke und Erhaltung des Leibes und Lebens anderer soll uns Zweck sein; wir sollen so viel in unseren Kräften steht, diese Erhaltung nicht nur nicht hindern, sondern sie befördern, gerade in dem Grade, wie wir die Erhaltung unserer eigenen Leiber befördern."66 Der "unbedingte Vernunftzweck" hat jedenfalls in der zu befördernden "fremden Glückseligkeit" seinen "Typus" und in der Forderung, sich "Wohl und Heil des Anderen zum Zwecke zu machen", näherhin noch seine notwendige Regel gefunden. G cinz besonders ist bezüglich dieser zutage tretenden Stufung und ihrer Notwendigkeit aber Kants Warnung zu beherzigen, doch genauestens darauf zu achten, daß, "was bloß zur Typik der Begriffe gehört, nicht zu den Begriffen selbst gezählt werde". (IV 190) Eben dies gilt nun ebenso auch für das zuvor dargelegte Sachproblem.

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S. dazu I. Heidemann, Prinzip und Wirklichkeit... Fichte, Akademie-Ausgabe 1,5.160. Fichte, Akademie-Ausgabe 1,5.250. Ist denn dieses Fichtesche Gebot: "Behandle jeden anderen Menschen nach seinem Endzweck!" nicht seine Variation des kantischen "gebotenen Vernunftzwecks"?

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Hier ist nun noch ein wenig genauer zuzusehen, läßt sich doch im Ausgang von diesem "Zweck, der zugleich Pflicht ist", ohne weiteres auch eine Verbindung herstellen zu einem Passus aus der "Kritik der reinen Vernunft", der nämlich lautet: " . . . so kann die Idee der praktischen Vernunft jederzeit wirklich, ob zwar nur zum Teil, in concreto gegeben werden, ja sie ist die unentbehrliche Bedingung jedes praktischen Gebrauchs der Vernunft. Ihre Ausübimg ist jederzeit begrenzt und mangelhaft, aber unter nicht bestimmbaren Grenzen, also jederzeit unter dem Einflüsse des Begriffs einer absoluten Vollständigkeit. Demnach ist die praktische Idee höchst fruchtbar und in Ansehung der wirklichen Handlungen unumgänglich notwendig. In ihr hat die reine Vernunft sogar Kausalität, das wirklich hervorzubringen, was ihr Begriff enthält; daher kann man von der Weisheit nicht gleichsam geringschätzig sagen: sie ist nur eine Idee; sondern eben darum, weil sie die Idee von der notwendigen Einheit aller möglichen Zwecke ist, so muß sie allem Praktischen als ursprüngliche, zum wenigsten [!] einschränkende Bedingung zur Regel dienen." (II 332) Davon einmal abgesehen, daß das "oberste Prinzip der Tugendlehre" jede Beschränkung auf die "einschränkende Bedingung" überschreitet, ist es überdies noch von besonderem Interesse, daß in dieser so qualifizierten praktischen Idee "die reine Vernunft sogar Kausalität" haben soll, "das wirklich hervorzubringen, was ihr Begriff enthält"; denn dieser Begriff der Vernunft "enthält", d. h. zielt notwendig auf die ihm "wesenseigene" Idee des Unbedingten, das "in der Sinnenwelt schlechterdings nicht anzutreffen" (III 630) ist, welches jedoch als dasjenige der reinen praktischen Vernunft gar nichts anderes als das "Unbedingt-Gute" sein kann und für das endlich-sittliche Vernunftwesen Mensch sich so als "absolutes Sollen" manifestiert. Ihm entspricht der "objektive Zweck" als "gesollter", d. i. nun eben "der, welcher uns von der bloßen Vernunft als ein solcher aufgegeben wird." (IV 653 Anm.) Intendiert und damit wirklich "zum Zwecke gemacht" wird folglich in dieser "Kausalität der reinen Vernunft" im wirklichen Handeln eben dasjenige, was dieser "Begriff der reinen Vernunft" als solcher enthält: dies ist nun freilich nichts anderes als dieses Unbedingte selbst, für das allerdings das Problem entsteht, es "schematisierend" zur Anschauung zu bringen, wenn es sich dieser als "Unbedingtes" nämlich notwendig entzieht und lediglich dessen "Symbolisierung" erlaubt. So wie das "Unbedingt-Gute" als "praktische Idee" es ist, die als die "Idee von der notwendigen Einheit [und Ordnung] der Zwecke" fungiert, so ist es genauerhin dieser "unbedingte Zweck", in dem somit das "Unbedingte der Form" allein seine ihr adäquate inhaltliche Entsprechung findet und in ihm "bei sich selbst" ist; und so ist eben "ein kategorischer Imperativ der reinen praktischen Vernunft, mithin ein solcher, der einen Pflichtbegriff mit dem eines Zwecks überhaupt verbindet", möglich ~ der sich damit als jener erweist, "der die Tugendpflicht gebietet". Und erst in dieser so

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gewonnenen Entsprechung des "Unbedingten der Form" und dem "unbedingten Zweck" ist nunmehr dies thematisch geworden, worin nach Kant allein durch die "praktische Kraft" ihrer Ideale (vgl. II 513) "die menschliche Vernunft wahrhafte Kausalität zeigt, und wo Ideen wirkende Ursachen (der Handlungen und ihrer Gegenstände) werden, nämlich im Sittlichen." (II 324) Die Formel: "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch [!] die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde" (IV Sl), fungiert in der darin eigens thematisierten "Selbstbezüglichkeit" der Freiheit als unübersehbares Indiz dafür, daß diese "Unbedingtheit der Form" (als Moment) Freiheit selbst zu ihrem Inhalt hat: Inhalt und Form entsprechen so zwar einander, die Entsprechung bleibt jedoch im Absehen von dem in aller Willensbestimmung notwendigen "materialen Moment" selbst bloß negativ: erst die Tugendpflicht (bzw. die ihrem Imperativ genügende "Menschheitsformel") hat diese Formel als wesentliches Moment so "aufgehoben", daß es in Überwindung jedes bloß reflexiv-negativen Selbstbezuges in ihrer praktischen Intentionalität auf die Freiheit Anderer bezogen ist und darin ihren notwendigen und angemessenen Inhalt (als "materiales Moment") gefunden hat: Freiheit ist so in anderer Freiheit bei sich, ohne lediglich "in sich" bleiben zu müssen. Dieser Inhalt der "positiv-praktischen Freiheit" muß so zwar zum einen von dem Moment der bloßen "unbedingten Form" verschieden sein, zum anderen kann dieser notwendige Inhalt natürlich auch nicht von geringerer "Dignität" als jene sein: nur Anderer Freiheit vermag diese Bedingung zu erfüllen. Daß die "bloße Form der allgemeinen Gesetzmäßigkeit der darnach zu nehmenden Maximen" notwendigerweise als "oberste (selbst unbedingte) Bedingung aller Zwecke" fungieren muß, bleibt dadurch jedoch ohne weiteres in Geltung. Die der "revolutionierten (praktischen) Denkungsart" genügende Idee der Freiheit kann nichts anderes als Freiheit zu ihrem Zweck (Gegenstand) haben. In der Perspektive des "obersten Prinzips der Tugendlehre" heißt das freilich gar nichts anderes als dies, daß somit die praktische Intentionalität solcher freiheitlichen Selbstbestimmung ~ darin nun erst den Begriff der Autonomie erfüllend — dabei auf Freiheit Anderer (und zwar in allen ihren Konkretisierungsstufen) gerichtet ist, zumal doch nur so dem Anspruch, "sich den Menschen überhaupt zum Zwecke zu machen", zu genügen ist; ohnedem ist die spezifische praktische Intentionalität dieser Autonomie im Unterschied zu Autarkie und Autokratie gar nicht zureichend zu bestimmen.67

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Damit scheint Kant selbst durchaus dem Anliegen Henrichs Rechnung zu tragen (wenn auch gegen Henrichs Ansicht), daB die Liebespflichten doch als "Einheit der Intention auf den Anderen und der Intention auf Pflicht" anzusehen seien. (Ethik der Autonomie . . . 44) Henrichs diesbezüglicher Einwand verliert so doch an Gewicht.

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Wenn aber nach Kant das "Prinzip der Autonomie" dem "Prinzip der Moral" zugrunde liegt, so bleibt nun —in genauer Entsprechung dazu ~ erst noch dem Anliegen Rechnung zu tragen, daß freilich erst mit dem Anspruch der Tugendpflicht die "höchste Stufe der Moralität" zureichend bestimmt erscheint. Andernfalls bliebe dieses Autonomie-Prinzip tatsächlich in verhängnisvoller Weise in der bloßen "selbstbezogenen Weisheit des Stoikers" befangen, als dem doch nur vorläufigen "Vermögen, Neigungen in Befolgung von Grundsätzen zu überwinden"; sie erwiese sich selbst lediglich als ein "subtiles Prinzip eigener Glückseligkeit, nämlich in dieser Überwindung zum erhebenden Gefühl eigener Seelengröße zu gelangen."68 Nur aus eben diesem Grund kann Kant gelegentlich auch bemerken, daß die "Tugend der Heyden nicht aus dem Prinzip der Pflicht sondern der bloßen Selbstbeherrschung mithin der eigenen Freiheit abgeleitet war."69 Damit fällt nun natürlich auch auf Kants Wort über die "Pflicht gegen sich selbst in Erhöhimg seiner moralischen Vollkommenheit, d. i. in bloß sittlicher Absicht" ein neues Licht, wo doch Kant ("in Ansehung des ganzen moralischen Zwecks, der die Vollkommenheit, d. i. seine ganze Pflicht und die Erreichung der Vollständigkeit des moralischen Zwecks in Ansehung seiner selbst betrifft") diese "Pflicht gegen sich selbst" zu bestimmen sucht. Für die hier maß-gebende Idee der "wahrhaften Autonomie" ist nämlich für sich genommen der einfache Rekurs (lediglich) auf die "Lauterkeit . . . der Pflichtgesinnung" (IV 582) deshalb noch nicht ausreichend, weil das "Ideal der moralischen Vollkommenheit" auch nicht einfachhin mit dem "Urbild der sittlichen Gesinnung in ihrer ganzen Lauterkeit" (IV 713) zu identifizieren ist, wie Kant dies allerdings selbst gelegentlich will. Auch die Bezugnahme auf die "objektive Nötigung durchs Gesetz" als den "moralischen, unsere Freiheit einschränkenden Imperativ", ist damit also aus hinlänglich diskutierten Gründen selbstverständlich noch ganz unzureichend. Im weiteren bleibt freilich noch darauf hinzuweisen, daß auch diese "höchste Stufe der Moralität" — jetzt entsprechend dem "obersten Prinzip der Tugendlehre entworfen — doch eine "Vollkommenheit" meint, "deren kein vernünftiges Wesen in keinem Zeitpunkt seines Daseins fähig ist", wenn doch wohl auch hier mit Kant in Vermeidung eines nunmehr drohenden "prakti-

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G. Krainer, Beitrag zur Analyse . . . 108; vgl. Kant selbst IV 258 Anm. S. o. Anm. 27. Gewiß hätte Kant auch den harten Worten Fichtes zugestimmt, sind sie doch ganz in seinem Geist geschrieben: "Diejenigen, welche die Vollkommenheit in fromme Betrachtungen, in ein andächtiges Brüten über sich selbst setzen, und von da her die Vernichtung ihrer Individualität und ihr Zusammenschließen mit der Gottheit erwarten, irren gar sehr. Ihre Tugend ist und bleibt Egoismus; sie wollen nur s i c h vollkommen machen. Die wahre Tugend besteht im Handeln; im Handeln für die Gemeine, wobei man sich selbst gänzlich vergesse." (Fichte, Akademie-Ausgabe 1,5.231.)

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sehen Überschwanges" daran zu erinnern bleibt: "Einem vernünftigen, aber endlichen Wesen ist nur der progressus ins Unendliche, von niederen zu höheren Stufen der moralischen Vollkommenheit möglich." (IV 252 f.)70 Kant wußte nur zu gut um die Möglichkeit einer "moralischen Philautie, wo der Mensch in Ansehung seiner [vermeintlichen] moralischen Vollkommenheiten eine hohe Meinung von sich hat"71 und so im Überschwang des sittlichen Selbstgenusses steht: ". . . moralisch gut sein können: unsere menschliche Würde und Größe soll Triebfeder seyn — nicht der sensitive Stachel der Gewogenheit, der sympathetischen Theilnehmung: Dieses macht schöne Moralität, jenes wahre ernsthafte Moral — Schuldigkeit nicht Gnade; diese ist den Menschen sehr eingepflanzt; da sie doch nichts weniger als das ist. Es war nicht eine gute Handlung, die gleichsam überflüßig gethan wurde, sondern die kaum Schuldigkeit erfüllte: -- Und die ganze Summe unserer Moralität ist nichts über die Schuldigkeit überfließendes: sondern auch schon vor dem foro interno uns zu unnutzen knechten macht etc. etc." Nur unter diesem Vorzeichen ist so auch Kants Forderung richtig zu verstehen, "das Weltbeste an uns und an anderen [zu] befördern". (II 687) Und keineswegs lediglich aus Gründen des gebotenen Taktes mag es Kant sodann allein als angemessen erscheinen, "die Wohltätigkeit gegen andere mehr wie eine Schuldigkeit ids wie eine Großmut und Gütigkeit" anzusehen ~ so ist es für Kant "in der Tat, denn alle gütigen Handlungen sind nur kleine Ersetzungen unserer Schuldigkeit."72 Einer bloß "schmelzenden Teilnahme" sprach Kant bekanntlich mit guten Gründen nicht nur jede Verbindlichkeit ab; diese hat für Kant vielmehr, tritt sie gar in der Pose des "Gönnerhaften" auf, etwas Erniedrigendes, Verletzendes an sich und läuft so weit eher Gefahr, den Anspruch und die Verbindlichkeit des Moralischen zu unterbieten als diese zu "überhöhen". Dies veranlaßte Kant zu den bekannten und oft mißverstandenen Worten: "Das

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Insofern läßt sich tatsächlich auch sagen, daß "vollendete Sittlichkeit ein Gegenstand der Hoffnung ist." (R. Schäffler, Was dürfen wir hoffen? . . . 16) - Zu dem engeren sachlichen Zusammenhang von Kants Lehre über das "radikal Böse" mit dem Thema "Hoffnung" siehe auch die freilich kritischen Anmerkungen bei P. Ricoeur, Freiheit im Lichte der H o f f n u n g . . . 223 ff. Kant, Akademie-Ausgabe 27.1,358. Ganz unmißverständlich heißt es in diesem Sinne auch: "Man darf nur ein wenig nachsinnen, man wird immer eine Schuld finden, die er sich irgend wodurch in Ansehung des Menschengeschlechts aufgeladen hat (sollte es auch nur die sein, daß man durch die Ungleichheit der Menschen in der bürgerlichen Verfassung Vorteile genießt, um deren willen Andere desto mehr entbehren müssen." (IV 291 Anm.) In diesem Sinne hat Kant doch wohl die "gütigen Handlungen" "Ersetzungen unserer Schuldigkeit" genannt; dies widerspricht jedoch nicht der Behauptung Kants, "daß wir nicht mehr tun können als unsere Pflicht", sondern bringt dies vielmehr selbst zum Ausdruck! (Anders urteilt freilich W. Ritzel, Glück versus Moral 208 f.)

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Wesentliche der Bestimmungen des Willens durchs sittliche Gesetz ist: daß er als freier Wille, mithin nicht bloß ohne Mitwirkung sinnlicher Antriebe, sondern selbst mit Abweisung aller derselben, und mit Abbruch aller Neigungen, sofern sie jenem Gesetze zuwider sein könnten, bloß durchs Gesetz bestimmt werde." (IV 192) Dazu stimmt auch Kants Notiz, die natürliche Schuldigkeit gegen andere Menschen habe ein bestimmtes Maß, die "Liebespflicht aber nicht"73: dies korrigiert freilich auch seine Behauptung, "die Übertretung der ethischen Gesetze ist also kein demeritum" — ganz selbstverständlich auch dann, wenn diese ethischen Gesetze auf das "oberste Prinzip der Tugendlehre" sich beziehen. Kant war sensibel genug für die stets drohende Gefahr einer "moralischen Schwärmerei", einer "Steigerung des Eigendünkels", die sich als "freiwillige Gutartigkeit" zelebriert und dabei nun gänzlich zu vergessen scheint, daß über solchem vermeintlichen Aufschwung des Bewußtseins freilich dasjenige seiner Schuldigkeit verloren geht (IV 208 f.), ja sich von dem Gedanken an Schuldigkeit angesichts der eigenen Seelengröße ohnehin dispensiert wissen will. Kant hatte aber zweifellos auch ein recht waches Bewußtsein darüber, daß die "Hinwendung des Menschen zum Anderen" nur allzu häufig nichts anderes ist als die sublime "Rückwendung des Menschen auf sich" - und sei es im Dienste der Dokumentation je eigener vermeintlicher "moralischer Vollkommenheit". Und noch Kants Entrüstung über eine "beleidigende Art des Wohltuns, . . . Barmherzigkeit genannt" (IV 594), hat nicht zuletzt von da her ihre fraglose Berechtigung. Dies - und nicht so sehr etwa Kants angebliches rigoristisches Vorurteil — motivierte auch seine Polemik gegen die "teilnehmend gestimmten Seelen", die "ein inneres Vergnügen daran finden, Freude um sich zu verbreiten" und veranlaßte ihn im weiteren, diesem so motivierten "Wohltun aus [bloßer] Neigung" das höhere "Wohltun aus Pflicht" gegenüberzustellen: nur in diesem Sinne bleibt für den Menschen nichts übrig, "was ihn bestimmen könne, als objektiv, das Gesetz, und subjektiv, reine Achtung für dieses praktische Gesetz, mithin die Maxime, einem solchen Gesetze, selbst mit Abbruch aller meiner Neigungen, Folge zu leisten." (IV 27)74 Fichte wie auch Hegel konnten in ihrer Kritik an einer "windigen, überfliegenden und phantastischen Denkungsart" unmittelbar an Kant anschließen, dem die Verlockungen der vermeintlichen Verheißungen des "süßen Gefühls des Wohltuns" als Trugbilder

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Kant, Akademie-Ausgabe XX 157. Kant spricht auch von einer "zweifachen Art, etwas zu lieben: aus Neigung und aus Grundsätzen". (P. Menzer, Eine Vorlesung Kants . . . 33; s. auch 244 u. 252) Vgl. auch Kants unbestechliches Urteil: "Wir haben eine Idee von der Möglichkeit und der Bestimmung der Vernunft, in dem Glück anderer uns glücklich zu finden: und doch auch einen unbezwingbaren Hang, jenes nur um dieses willen zu suchen (Solipsism)". (Reflexion 1471)

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nur zu deutlich vor Augen standen: "Man will allerdings guten Willen haben und will, daß alle anderen außer uns alles von unserem guten Willen abhängen lassen; aber von Pflicht und Schuldigkeit will man schlechterdings nichts hören. Man will großmütig sein und schonend, nur nicht gerecht. Man hat Wohlwollen gegen andere, nur nicht Respekt und Achtung für ihre Rechte."75 Es bleibt an dieser Stelle noch einmal daran zu erinnern: ohne den notwendigen Rückbezug auf den eigentlichen, unbedingten Zweck der Tugendpflicht fiele die bloße "Beförderung fremder Glückseligkeit indessen möglicherweise selbst geradewegs auf den Status eines bloß "relativen Zwecks" zurück und wäre damit zwar auch noch gegebenenfalls Gegenstand der "Zuneigung"; die Beförderung fremder Glückseligkeit erschiene so selbst gar als ein lediglich probates Mittel der wohlverstandenen je eigenen, wenn auch "subli-

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Fichte, Akademie-Ausgabe 1,5.173. - Mit unverhohlenem Spott heißt es sodann wiederum ganz im Sinne (und auch im Tone) Kants: "Die Mittellinie, auf welche wir mit Bewußtsein neben alle unseresgleichen uns stellen, ist die Maxime des Eigennutzes; so sind einmal die Menschen alle, denken wir, und mehr ist von ihnen nicht zu fordern. Wir aber finden uns über dieses gemeine Maß der Menschheit sehr erhöht, wir haben ganz besondere Verdienste. Wir Finden uns nicht etwa, wie wir nach dem Sittengesetz betrachtet, uns finden würden, so wie wir schlechthin sein sollen: sondern wir finden uns über allen Vergleich besser, als wir zu sein nötig hätten. Es gibt für uns da lauter große und edle und verdienstliche Handlungen, lauter opera supe re rogativa. — Um mit einem einzigen Zug diese Sinnesart zu charakterisieren: alles, was Gott, Natur und andere Menschen für uns tun, ist absolute Schuldigkeit; diese können nie etwas darüber tun, und sind immer unnütze Knechte; alles aber, was wir für sie tun, ist Güte und Gnade. Wie wir auch handeln mögen, Unrecht können wir nie haben: Opfern wir alles unserem Genüsse auf, so ist dies ganz in der Ordnung, und nichts weiter als Ausübung unseres guten und gegründeten Rechts. Verleugnen wir denselben nur einmal im allermindesten, so haben wir überflüssiges Verdienst." (ebd. 174) Vgl. auch die einschlägige Kritik Hegels (Theorie-Werkausgabe 4, § 34 und § 91.) — Auch die als Kritik an Kant gedachte Bemerkung von Prauss verfehlt wohl ihr Ziel, was in der Folge ganz besonders auch für die von Prauss gezogene Konsequenz bezüglich der "Verdienstlichkeit" gilt: "Aus Spontaneität ihrer unergründlichen Freiheit heraus vermöchte Subjektivität als Liebe so spontan zu werden, um gerade nicht erst abzuwarten, inwieweit auch andere Subjektivität als Zweck an sich selbst auf sie zukommt (und dann eben nur noch in Gestalt moralischer Verpflichtung, der sie lediglich nachkommen kann), sondern andere Subjektivität als Zweck an sich selbst schon immer ursprünglich vorwegzunehmen: sie somit in Gestalt moralischer Verpflichtung auch erst gar nicht auftreten zu lassen, ihr darin vielmehr immer schon zuvorzukommen. Damit aber ginge praktische Liebe über Moralität tatsächlich in einem formalen Sinne, nämlich in der Richtung hinaus, sofern diese Liebe als Vorwegnahme jeglicher Moralität auch immer schon vorwegginge. Und entsprechendes Handeln wäre in der Tat verdienstlich zu nennen. Denn nicht allein im Sinne jener pathologischen, sondern auch im Sinne dieser praktischen Liebe eine Pflicht von vornherein 'gerne' zu tun, sie nämlich immer schon 'freiwillig' vorwegnehmend auch 'ungeboten' bereits zu erfüllen, dies kann tatsächlich nicht sinnvoll auch seinerseits wieder geboten sein und dürfte somit in der Tat auch unterlassen werden." (Prauss, Kant über F r e i h e i t . . . 260.)

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mierten" Interessen — jedenfalls wäre sie ohne diesen Rückbezug auf den "unbedingten Zweck" tatsächlich nur "Bestimmungsgrund" des auf lediglich "relative Zwecke" gerichteten "subjektiven Wollens". Kant wußte — ohne in bloß langweiliges, entlarvend-moralisierendes Psychologisieren dabei zu verfallen - einfach viel zu gut um die Möglichkeit, selbst die Beförderung fremder Glückseligkeit noch einmal (lediglich) in den Dienst der eigenen Interessen (und sei es auch bloß das vermeintlich "reine" Interesse an der "eigenen Vollkommenheit") zu stellen, was ihn wohl auch zu der Bemerkung veranlaßte: "Das uneigennützige Gefühl an dem Wohl etc. eines anderen hat nicht unsere Vollkommenheit zum Zweck: sondern zum Mittel."76 Kant sah also ganz klar die moralische Wertlosigkeit einer solchen Beförderung fremder Glückseligkeit — ja die offenbare Moralwidrigkeit — für den etwaigen Fall, daß diese in einer bloßen "Temperamentstugend", "pathologisch" (und sei es lediglich in "Mitleid") begründet wäre, bliebe dies doch notwendig hinter dem sittlichen Anspruchsniveau der "ethischen Pflichten" zurück. Die diese ethischen Pflichten ermöglichende und tragende "innere Freiheit", auf der die Tugend sich gründet (IV 540), ist nach Kant zwar "Bedingung aller Tugendpflicht", ohne mit dieser selbst jedoch schon einfach identifizierbar zu sein (IV 538) — d. h. aber "mit anderen Worten: daß die Achtung vor dem Gesetz überhaupt noch nicht einen Zweck als Pflicht begründet, denn der letztere allein ist Tugendpflicht." (IV 543) Zum anderen bleibt auch hier noch einmal darauf zu achten, daß das "uneingeschränkt", d. h. "unbedingt" sittlich Gute des "guten Willens" eben lediglich die "Form" betrifft und sonach allererst in einem selbst un-bedingten Zweck (dem unbedingten Vernunftzweck) seine eben einzig angemessene Entsprechung finden kann.77 Daß der "gute Wille" zwar zweifellos "oberste Bedingung alles Guten", aber damit eben keinesfalls "das einzige und das ganze . . . Gut" sei (dies ist von Kant primär natürlich auf diese Proportionalität von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit, d. i. das bonum consumatimi, hin gesprochen)78 ~ dies läßt sich in einem guten Sinne auch mit Blick auf die Tugendpflicht (dem ihrem Anspruch genügenden "bonum supremum") verstehen: denn diese "fremde Glückseligkeit" erweist sich als diejenige inhaltliche Bestimmung (die "Materie", der "Zweck"), die dem "Unbedingten der Form der

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Kant, Akademie-Ausgabe 27.1,3. Es ist deshalb eine grobe Unteibestimmung des Status der Tugendpflichten durch Kant selbst, wenn er diese gelegentlich (Akademie-Ausgabe XXI 471) darauf beschränkt: "Die Tugendpflichten sind tugendliche Verpflichtungen zu dem, was Rechtens ist." Kants späte Differenzierungen aus der Metaphysik der Sitten fehlen hier offenkundig noch. So teilt Kant in mehrfacher Hinsicht nicht die Meinung Senecas: "Glücklich nennen wie den Menschen . . . , der kein Gut kennt, das größer wäre, als er selbst es sich zu geben vermag." (De beata vita Kap.4)

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Gesetzmäßigkeit" ausschließlich zu genügen vermag ~ und zwar als Konkretisierung (genauerhin: als Versuch der "Schematisierung") des "unbedingten Zwecks", "sich den anderen Menschen überhaupt zum Zwecke zu machen." Die Ethik formuliert in ihrem Pflichtbegriff nicht bloß (als zwar unaufgebbares Moment der Tugend") das "Unbedingte der Form" (IV 512), "correspondiez [doch] aller ethischen Verbindlichkeit der Tugendbegriff" ~ vielmehr wird in der Ethik "der Pflichtbegriff auf Zwecke leiten und die Maximen in Ansehung der Zwecke, die wir uns setzen sollen, nach moralischen Grundsätzen begründen müssen." (IV 512) Allein so gewinnt Kants Rede von der "Zwecksetzung der reinen (praktischen) Vernunft" einen verbindlichen Sinn — deshalb, weil damit doch erst die Einheit des "obersten Prinzips der Moralität" mit dem "obersten Prinzip der Tugendlehre" in zureichender Weise zu bestimmen ist. Daß alle empirischen Bestimmungsgründe für sich keine Gesetze der reinen praktischen Vernunft zu begründen vermögen, bleibt dabei natürlich ebenso außer Streit wie auch die Antwort auf die Frage, "ob in Aufgaben der praktischen Vernunft vom materialen Prinzip derselben, dem Zweck (als Gegenstand des Willens) der Anfang gemacht werden müsse, oder vom formalen". (VI 231) Es ist doch in diesem Zusammenhang auch nicht zu übersehen, daß Kant schon in seiner ersten Kritik "die Vereinigung aller Zwecke, die uns von unseren Neigungen aufgegeben sind, in den einigen, die Glückseligkeit", von dem "durch die Vernunft völlig apriori" aufgestellten Zweck der "reinen praktischen Gesetze" unterscheiden möchte, "die nicht empirisch-bedingt, sondern schlechthin gebieten, Produkte der reinen Vernunft" sind (II 673 f.) und die somit, wie man nun ergänzen darf, auch nur über den späten Weg der Tugendlehre vermittelt und formuliert werden können. Kants Mahnung: "Das Sittengesetz betrifft nicht die Materie der Handlung" (IV 144), ist so zwar nicht einfach außer Kraft gesetzt, sie wird aber durch das "oberste Prinzip der Tugendlehre" letztlich erst ins rechte Licht gerückt.79

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Es ist jedoch auch nicht zu übersehen, daß Kant schon in seiner Kritik der reinen Vernunft "die Vereinigung aller Zwecke, die uns von unseren Neigungen aufgegeben sind, in den einigen, die Glückseligkeit" (als die "von den Sinnen empfohlenen Zwecke") aber ausdrücklich von dem nun "durch die Vernunft völlig apriori" gegebenen Zweck der reinen praktischen Gesetze abhebt, "die nicht empirisch-bedingt, sondern schlechthin gebieten, Produkte der reinen Vernunft" sind. Mißverständlich dürfte es freilich auch sein, wie K. Reich zu behaupten, "das Prinzip der 'Menschheit als Zwecks an sich selbst' oder der Imperativ 'Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst'", trete bei Kant (in angeblicher Übernahme Ciceronischer Gedanken) "als Vorstellungsart des obersten Moralprinzips" auf; denn dies Zweck-Prinzip ist doch eben gerade nicht als eine bloße Veranschaulichung der "allgemeinen" Formel: "handle nach der Maxime, die sich selbst zugleich zum allgemeinen Gesetze machen kann", unter dieses oberste Moralprinzip

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Die dieser gestuften Argumentation zugrunde liegenden Hauptpunkte lassen sich in ihren wesentlichen Momenten auch noch durch einen nochmaligen Rekurs auf Kants Überlegungen zu "dem Begriff eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft" (IV 174) präzisieren und in ihrem genaueren Zusammenhang auch vielleicht noch in folgender Weise vertiefen — so nämlich, daß damit auch Kants schon wiederholt erwähnte fundamentale Bestimmung neue Relevanz erhält: "Gesetzt aber, es gäbe etwas, dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Wert hat, was, als Zweck an sich selbst, ein Grund bestimmter Gesetze sein könnte, so würde in ihm, und nur in ihm allein, der Grund eines möglichen kategorischen Imperativs, d. i. praktischen Gesetzes liegen." (IV 59) Dies nun: daß die Existenz des "Zwecks an sich selbst" Grund des praktischen Gesetzes (für ein endliches Vernunfiwesen als kategorischer Imperativ) ist, ist nun freilich in unauflöslicher Einheit mit jenen entscheidenden Sätzen der zweiten Kritik anzusehen, die die "Paradoxie" verdeutlichen sollen, "daß nämlich der Begriff des Guten und Bösen nicht vor dem moralischen Gesetze (dem es dem Anschein nach sogar zum Grunde gelegt werden müßte), sondern nur (wie auch hier geschieht) nach demselben und nur durch dasselbe bestimmt werden müsse." (IV 180) Damit ist nun auch ein Bogen gespannt von der angeführten Bestimmung des alleinigen Grundes des praktischen Gesetzes (als kategorischem Imperativ) zu dem "Begriff des Guten und Bösen", der allein nach dem so begründeten moralischen Gesetz "und durch dasselbe bestimmt werden müsse". Miteingeschlossen ist so aber auch noch die alle "Materie" als Bestimmungsgrund negierende Bestimmung, daß doch nur "ein formales Gesetz, d. i. ein solches, welches der Vernunft nichts weiter als die Form ihrer allgemeinen Gesetzgebung zur obersten Bedingung der Maximen vorschreibt, . . . apriori ein Bestimmungsgrund der praktischen Vernunft sein" kann. (IV 182) Nun ist zwar gewiß ohne weiteres einsichtig, daß ohne Suspendierung der kritischen Begründung der Moralphilosophie keine "Materie" als "Gegenstand der Willkür" der zureichende Bestimmungsgrund eines Willens (IV 138) in

zu subsumieren. Es ist diese Menschheitsformel damit — offenkundig gegen die Meinung Reichs — auch nicht als "triviale Form des Stoischen Moralprinzips der Menschenliebe" aufzufassen, das nach Reich eben deshalb nicht "für das höchste Prinzip zu halten" sei; erst recht ist, ohne unerlaubte Einebnung dieser wichtigen Unterschiede, nicht von der "Verwechslung der Menschheit als eines Gegenstandes, den man sich wirklich zum Zweck setzt — als Folge eines Grundtriebes des Menschen, von dem die Erfahrung uns Kenntnis gäbe - und ihrer als einer aus reiner Vernunft entsprungenen Idee der Einschränkung aller wirklichen Zwecksetzung" (Reich 42 f.) die Rede. Reich wird mit seiner Interpretation wohl weder dem Status der "weiten Pflichten" in der Grundlegungsschrift noch der späteren kantischen Bestimmung der Tugendpflicht (und damit dem "Zweck, der zugleich Pflicht ist") gerecht. Vgl. dazu auch die Arbeit von A.R.C.Duncan!

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sittlich relevanter Perspektive sein darf, wenn doch die "gesetzgebende Form" allein einen Bestimmungsgrund des Willens ausmachen kann. Wenn nun auch die "Materie des Wollens" nicht als die Bedingung der Möglichkeit des praktischen Gesetzes in Frage kommen kann, so ist indessen von dieser "Materie" schon deshalb nicht einfach abzusehen, weil doch notwendigerweise alles "Wollen auch einen Gegenstand, mithin eine Materie haben müsse" (IV 145) und folglich der Wille von Kant auch als das "Vermögen der Zwecke" bestimmt wird. (IV 175) Der Zweck — "fremde Glückseligkeit" — ist damit in der dargelegten Weise nach wie vor zwar nicht der zureichende "Bestimmungsgrund", nichtsdestoweniger aber die allein adäquate, notwendige "Materie" (als "Objekt des Wollens") des durch den allein möglichen Bestimmungsgrund qualifizierten Willens. Sie erweist sich damit als der durch die Vernunft und ihre Urteilskraft bestimmte (und allein in diesem Sinn verstandene) Begriff des "unmittelbar Guten" (IV 175), der als der den andernfalls drohenden unendlichen Regreß vereitelnde "unbedingte Zweck" verhindert, daß "es überall nichts unmittelbar Gutes" gäbe, "sondern das Gute nur in den Mitteln zu etwas anderm, nämlich irgend einer Annehmlichkeit gesucht werden müssen." (IV 176) Erst und ausschließlich eben diese "fremde Glückseligkeit" scheint es für Kant letztlich auch zu ermöglichen, von dem Guten (und nicht bloß dem "Wohl") als dem Gesuchten des Zweckes zu sprechen, der damit aber als "Begriff der Vernunft" und nicht bloß als ein "empirischer Begriff von einem Gegenstand der Empfindung" (IV 180) gelten muß. Kant hat diese Problemzusammenhänge — in dieser Ausdrücklichkeit wenigstens — erst in der späten Metaphysik der Sitten herausgestellt; er hat dabei zugleich mit der Auszeichnung und der genauen Begründung des "gebotenen Vernunftzweckes" auch die voreilige Distanzierung der "fremden Glückseligkeit" als einem lediglich "empirischen Bestimmungsgrund" vermieden bzw. umgangen. Es besteht ein notwendig zu beachtender innerer Zusammenhang zwischen der Kennzeichnung des "Zwecks an sich selbst" als dem alleinigen Grund des moralischen Gesetzes (und des Faktums der reinen Vernunft), dem Aufweis des "moralischen Gesetzes" als dem maß-geblichen Ermöglichungs- und Bestimmungsgrund des Begriffes des Guten (IV 182) und eben diesem "gebotenen Vernunftzweck", "den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen". Man hat auch Grund zur Vermutung, daß Kant erst mit den Ausführungen der späten Tugendlehre ein tieferes Verständnis über die hier relevanten Problemaspekte gewonnen hat, wenn auch die einzelnen Momente wenigstens zum Teil selbstverständlich schon in den früheren

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Schriften angesprochen bzw. wenigstens implizit mitenthalten sind, jedoch erst in späterer Zeit ihre endgültige Ausgestaltung und Verbindung erfahren.80 Eben dies gilt nicht zuletzt auch bezüglich Kants Bestimmung des "imbedingten" (eben nicht bloß "erlaubten", sondern) gebotenen Vernunftzweckes und damit auch für den genauen Status der "fremden Glückseligkeit". Diese doch vergleichsweise recht spät gewonnene Vertiefung dieses Begründungszusammenhanges wird ohne weiteres erkenntlich, wenn man sich noch einmal den genauen Sinn der kantischen Argumentation in der ersten Anmerkung des Lehrsatzes IV in der Kritik der praktischen Vernunft vor Augen führt: "Also die bloße Form eines Gesetzes, welches die Materie einschränkt [!], muß zugleich ein Grund sein, diese Materie zum Willen hinzuzufügen, aber sie nicht vorauszusetzen. Die Materie sei ζ. B. meine eigene Glückseligkeit. Diese, wenn ich sie jedem beilege (wie ich es denn in der Tat bei endlichen Wesen tun darf), kann nur alsdenn ein objektives praktisches Gesetz werden, wenn ich anderer ihre in dieselbe mit einschließe. Also entspringt das Gesetz, anderer Glückseligkeit zu befördern, nicht von der Voraussetzung, daß dieses ein Objekt für jedes seine Willkür sei, sondern bloß daraus, daß die Form der Allgemeinheit, die die Vernunft als Bedingimg bedarf, einer Maxime der Selbstliebe die objektive Gültigkeit eines Gesetzes zu geben, der Bestimmungsgrund des Willens wird, und also war das Objekt (anderer Glückseligkeit) nicht der Bestimmungsgrund des reinen Willens, sondern die bloß gesetzliche Form war es allein, dadurch ich meine auf Neigung gegründete Maxime einschränkte, um sie so der reinen praktischen Vernunft angemessen zu machen, aus welcher Einschränkung [!], und nicht dem Zusatz einer äußeren Triebfeder, alsdenn der Begriff der Verbindlichkeit, die Maxime meiner Selbstliebe auch auf die Glückseligkeit anderer zu erweitern, allein entspringen könnte." (IV 146) In dieser Weise ist freilich die praktische Intentionalität der Tugendpflicht in keiner Weise in Sicht zu bringen.

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So hat Kant beispielsweise schon in seiner "enzyklopädischen Introduktion der Kritik der Urteilskraft in das System der Kritik der reinen Vernunft" das praktische Begehrungsvermögen als jenes bestimmt, das sich durch die formalen Prinzipien apriori der Vernunft auf die Idee der "Zweckmäßigkeit, die zugleich Gesetz ist (Verbindlichkeit)", beziehen kann: "die Sitten (als Produkt der Freiheit) stehen unter der Idee einer solchen Form der Zweckmäßigkeit, die sich zum allgemeinen Gesetze qualifiziert, als einem Bestimmungsgrunde der Vernunft in Ansehung des Begehrungsvermögens." (V 225 f.) Dem hier vorgeschlagenen Inteipretationsveisuch zufolge wäre dies nun auf die schon mehrmals angesprochene Einheit des "obersten Prinzips der Moral" und dem "obersten Prinzip der Tugendlehre" — als der Verbindung des "Unbedingten der Form" (der "Gesetzmäßigkeit") mit dem "Unbedingten der Materie", d. i. dem "unbedingten Zweck" (der "Zweckmäßigkeit") — zu beziehen, wenn anders doch die "Idee der Zweckmäßigkeit, die zugleich Gesetz ist (Verbindlichkeit)", nicht bestimmbar ist. — Zu Kants Begriff des "objektiven Zwecks" s. J. E. Atwell (Objective Ends . . . ).

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Noch in der Religionsschrift (IV 649 f. Anm.) erwägt Kant die "eigene Vollkommenheit" oder die "fremde Glückseligkeit" als jene zwei möglichen Bestimmungsgründe, die als "oberstes Prinzip moralischer Maximen" in Frage kämen; während jedoch die "eigene Vollkommenheit" ohnehin lediglich die "moralische Vollkommenheit" sein könne, bleibt ~ die "fremde Glückseligkeit" betreffend ~ dieser Stelle zufolge zu beachten, daß doch auch deren "Beförderung . . . nur bedingter Weise Pflicht" sein könne, weil doch eine Handlung schon "zuvor an sich selbst nach dem moralischen Gesetze abgewogen werden" müsse, "ehe sie auf die Glückseligkeit anderer gerichtet wird." Kants Argumentation zu dem hier allein in Frage kommenden Prinzip verläuft demnach offensichtlich disjunktiv, erst mit der in der Tugendlehre ermöglichten Einheit von "eigener Vollkommenheit" und "fremder Glückseligkeit" (als dem "Zweck, der zugleich Pflicht ist") und der darin zu denkenden Einheit von "oberstem Prinzip der Moralität" und dem "obersten Prinzip der Tugendlehre" ist solche Disjunktion prinzipiell schon deshalb überwunden, weil im Grunde doch das eine ohne das andere Moment in einem sittlich relevanten Sinn auch gar nicht zu denken ist. Anders noch: die "eigene Vollkommenheit" hat ihre Wirklichkeit (als unmittelbar, direkt nicht intendierbare) gerade nur als "selbstvergessene", als nicht intendierte, und so gesehen im "Absehen von sich selbst", weil nur die so vollzogene Befreiung "von sich selbst" das Kreisen um sich selbst noch zu überwinden vermag (*s. 157 ff.) und damit aber ihre spezifische Intentionalität ausschließlich als diejenige auf "Wohl und Heil Anderer" gewinnen kann, ohne dadurch jedoch in bloß heteronome Bestimmungsgründe zurückzufallen.81 Diese aber macht nun erst die Wirklichkeit des "praktischen Vernunftideals" aus. Näherhin bliebe dabei noch Kants Hinweis darauf zu beachten, daß im Bereich des Sittlichen "die Ideen die Erfahrung selbst (des Guten) allererst möglich machen" (II 325) ~ was doch wohl meint, daß das praktische Ideal die Erfahrung des Individuellen ("sich den je anderen Menschen überhaupt zum Zwecke zu machen") erst konstituiert lind die Bestimmbarkeit (auch im Sinne der "Vermittlung") der praktischen Intentionalität im Sinne der erst noch zu leistenden Individuierung auf Wohl und Heil des Anderen (als dessen "Glückseligkeit") ermöglicht. Die hier vertretene Ansicht, daß sich das zentrale Lehrstück der Tugendlehre über den "Zweck, der zugleich Pflicht ist", in seinen einzelnen Motiven in der skizzierten Weise rekonstruieren und im ganzen sich ohne

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Mit Recht macht Derbolav darauf aufmerksam, daß die Differenz von Autonomie und Heteronomie nicht so anzusetzen ist, daß dabei unberücksichtigt bliebe, "daß ich mich ja auch zu den Willensinhalten anderer selbstverpflichten kann, daß es also gar nicht so sehr auf die Herkunft des Gesollten ankommt, sondern darauf, ob sein Anspruch mich wirklich als berechtigt überzeugt oder nicht." (J.Derbolav, Abriß europäischer Ethik 119 Anm. 257) — S. dazu auch die Arbeit v. M. S. Gram, Kants Arguments against Material Principles.

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weiteres auch so interpretieren läßt, besagt aber keineswegs, Kant selbst hätte die hier dargelegten möglichen und notwendigen Differenzierungs- und Vermittlungsstufen und die damit im einzelnen verbundenen Schwierigkeiten allesamt in extenso vor Augen gehabt. Kant selbst spricht doch eher ziemlich unbefangen — und unterschiedlich — einmal von dem "Zweck, der zugleich Pflicht ist" und dem "gebotenen Zweck", "den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen" bzw. dessen "Wohl und Heil sich zum Zwecke zu machen", dann aber wiederum auch bloß von der "Beförderung fremder Glückseligkeit". Auch sind so die erheblichen Schwierigkeiten und Unausgeglichenheiten nicht zu übersehen, in die Kant in der Folge der mangelnden Differenzierungen gerät, wie auch im folgenden noch genauer zu beobachten sein wird. Die Ethik, so hat sich schon erwiesen, zielt nach Kant keinesfalls bloß auf das "Förmliche der sittlichen Willensbestimmung" (IV 512), vielmehr wird in der Ethik "der Pflichtbegriff auf Zwecke leiten und die Maximen in Ansehung der Zwecke, die wir uns setzen sollen, nach moralischen Grundsätzen begründen müssen." Nicht mehr lediglich von "erlaubten Zwecken", sondern von demjenigen, "den wir haben sollen"82, ist folglich also die Rede. Völlig zu Recht kann Kersting deshalb feststellen: "Wenn Kant die Tugendpflichten gelegentlich als verdienstliche Pflichten bezeichnet, dann ist das ungenau. Ist etwa die Beobachtung des Glücks anderer ein gebotener Zweck, dann ist weder die Setzung dieses Zwecks noch das Bemühen um seine Verwirklichung als solches verdienstlich, sondern schlicht moralisch notwendig. Die Möglichkeit verdienstlicher Tugendhandlungen hat ihren Grund in der Notwendigkeit, unter verschiedenen Verwirklichungskandidaten eines gebotenen Zwecks wählen zu müssen und da lassen sich durchaus verdienstvolle von weniger verdienstvollen Handlungen unterscheiden."83 Erst

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Der doch recht unterschiedlich angesetzte Stellenwert und Gehalt des kantischen "Liebesbegriffes" in den verschiedenen Schriften bleibt in den einschlägigen Kant-Kritiken weithin unbeachtet. W. Kersting, Wohlgeoidnete Freiheit . . . 86 Anm. 187. — Auch Paton verweist auf die Lehre der Metaphysik der Sitten, "daB nach kategorischen Imperativen gewisse Handlungen erlaubt oder unerlaubt sind, während andere oder ihr Gegenteil verbindlich sind. Die positiven Pflichten, die nicht nur die andere Seite eines Verbotes sind, scheinen von mehr als von einer bloßen Form abzuhängen, von Zwecken, die zugleich Pflichten sind, und somit von einem Inhalt. Dies alles hängt mit dem Unterschied zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten zusammen, und ebenso mit dem Unterschied zwischen legalen und ethischen Pflichten." (Der kategorische Imperativ 169) Gemessen an dem "praktischen Vernunftideal" bleibt es keinesfalls "also unserer Entscheidung überlassen, wem und wieweit wir helfen sollen. Es gibt also eine 'latitude' oder einen 'Spielraum' im Fall unvollkommener Pflichten." (ebd. 176) — Zu Kants Unterscheidung zwischen "vollkommenen und unvollkommenen Pflichten" s. auch M. J. Gregor, Laws of freedom 95 ff.

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mit der Tugendpflicht ist das Unbedingte des "Wie" (das "Förmliche der Willensbestimmung") zusammen mit dem diesem praktischen Prinzip entstammenden "Vernunftzweck" (als "gesollter") zur Einheit und genauen Entsprechung gebracht und erst dies macht, so hat sich erwiesen, auch Kants Behauptung einer "Zwecksetzung der reinen (praktischen) Vernunft" verständlich und akzeptabel. Während das Rechtsprinzip überhaupt von allem Zweckbezug absieht (vgl. IV 527; s. dazu jedoch o. 34 ff.), die ethischen Pflichten bloß "auf das Formale gehen", ist nun hingegen im Lichte solchen Anspruches der Tugendpflicht die "eigene Vollkommenheit" ohne den konstitutiv-inneren Bezug der praktischen Intentionalität auf fremde Glückseligkeit nicht zu denken.84 Kann ohne diesen Bezug jedoch die Idee der "eigenen Vollkommenheit" ~ in einem sittlich relevanten Sinne ~ gar nicht zureichend gekennzeichnet werden, so ergibt sich daraus als bloße Folgerung, daß bei Mißachtung des sittlichen Verbindlichkeitsanspruches der umfassend (d. i. nicht "negativ" eingeengten) bestimmten Menschheitsformel diese "Defizienz" auf den diesen Anspruch Mißachtenden selbst "zurückschlägt", der damit in den Stand der Unfreiheit verfällt und fortan seinen Rang als "absoluter Wert" schon deshalb verliert, weil er damit unweigerlich seine "ganze praktische Bestimmung" verfehlte. Man kann sich das unterschiedliche Anspruchsniveau85 des "moralischen Imperativs" und desjenigen, "der die Tugendpflicht gebietet", vermutlich nicht deutlicher vor Augen führen als durch die Achtnahme darauf, daß Kant in seiner Grundlegungsschrift ausdrücklich behauptet, "fremde Glückseligkeit" sei zu befördern, nicht als ob "an deren Existenz was gelegen wäre (es sei durch unmittelbare Neigung, oder irgendein Wohlgefallen indirekt durch Vernunft), sondern bloß deswegen [!], weil die Maxime, die sie ausschließt, nicht in einem und demselben Wollen, als allgemeinen Gesetz begriffen werden kann." (IV

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Anderson hat in seinem Aufsatz "Kants Metaphysik der Sitten — ihre Idee und ihr Verhältnis zur Ethik der Wolffischen Schule" mit besonderem Nachdruck darauf hingewiesen, daß gerade "dieser Begriff eines 'Zwecks, der zugleich und an sich, d. h. seinem Begriffe nach Pflicht i s t ' , . . . sich als eine völlig originale Idee Kants" erweise. "Von dem Gedanken, die Ethik als objektive Zwecklehre oder als System der Zwecke der reinen praktischen Vernunft zu begründen, zeigt sich bei jenen keine Spur. Dagegen lassen sich sehr wohl eine Anzahl von Berührungen auch zwischen den beiden frühen Werken [Grundlegungsschrift und Kritik der praktischen Vernunft] und der Wolffschen Ethik namhaft machen." (S. 59) Diese Ansicht Andersons ist hier nicht im einzelnen zu überprüfen. Andersons Urteil jedoch, daß Kants "Lehre vom Zweck der Punkt" sei, "an dem letzten Endes über die Stellung der M. d. S. [Metaphysik der Sitten] im Ganzen der Kantischen Ethik entschieden werden muB", will der in diesem Buch versuchte Interpretationsvorschlag prinzipiell bestätigen. — Zum Stellenwert der späten Tugendlehre s. auch die im Literaturverzeichnis angeführten Arbeiten von Gregor! s. dazu auch u. 268 ff!

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76)M Man sieht hier: zu solch harten (und auch mißverständlichen) Äußerungen veranlaßte Kant ganz offenkundig sein Bestreben, die Begründung des Moralischen von allen empirischen Bestimmungsgründen freizuhalten.87 Natürlich könnte man jedoch auch argwöhnen, Kants eben zitierte Argumentation liefe selbst auf nichts anderes als auf ein Kalkül der Selbstliebe schon deshalb hinaus, weil diese Rücksichtnahme auf fremde Glückseligkeit doch lediglich einer Klugheitsmaxime entstamme, d. h. selbst als nichts anderes als ein bloß probates "Mittel zum Zweck" der so kalkulierenden "Glückseligkeitserwägungen" fungiere. Ein solcher Einwand entlarvt Kants vermeintliches (lediglich "sublim" begründetes) Kalkül dennoch nur zum Schein: das Gebot der Hilfe gegenüber in Not Geratenen ergibt sich nicht aus Erwägungen der vorsorgenden Klugheit, sondern verbindet nach Kants These allein deshalb, weil die gegenteilige Maxime der Probe der Verallgemeinerung gar nicht standhalten kann: "Denn ich kann nicht wollen, daß mir andere in der Not nur dann helfen, wenn ihr eigenes Interesse ihnen dies gebietet. Jene Maxime, in der mein eigenes Gesetz nur zusammen mit dem anderen angestrebt ist, läßt sich deshalb nicht unter schon gegebenen Grundsätzen auswählen, weil sie gar nicht als Folge natürlicher Interessen des Willens gedacht werden kann. Sie ist vielmehr vom vernünftigen Willen gebildet auf

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Es sei darauf hingewiesen, daß nach Kant die Pflicht der Hilfe gegenüber in Not Geratenen von der eigentlich so zu nennenden "Liebespflicht" zu unterscheiden ist. Auch in seinen Vorlesungen betont Kant den Unterschied zwischen dem von allem Zweckbezug absehenden "moralischen Imperativ" und dem "obersten Prinzip der Tugendlehre": "Der Zweck ist bei dem moralischen Imperativo eigentlich unbestimmt, die Handlung ist auch nicht nach dem Zweck bestimmt, sondern gehet nur auf die freye Willkühr, der Zweck mag sein welcher er wolle." (Akademie-Ausgabe 27.1.247) Dies nun, daß der Zweck nicht einfach Bestimmungsgrund der moralisch qualifizierten Freiheit sein kann, meint freilich nicht, daß er deshalb der Beliebigkeit anheimzustellen sei - er also in diesem Sinne sein mag, "welcher er wolle". Dies bleibt zu beachten, wenn es in diesen "Vorlesungen" heißt: "Würde er [der moralische Imperativ] nun bei seiner Handlung [!] auf Zwecke oder Mittel, sie zu erreichen, Rücksicht nehmen, und würde der Imperativ solche vorschreiben müssen, so würde die Materie des Gesetzes, welches der Imperativ ausdrückt, und das Objekt des Gesetzes, so für die Handlung gegeben ist, der Bestimmungsgrund der Handlung sein, da der Zweck oder die Mittel bei der Handlung die Materie des Gesetzes ausmachen . . . Dies ist nicht möglich, da der categorische Imperativ eine unbedingte moralische Nötigung, ohne Zweck und Absicht der Handlung zum Grunde haben, mit sich führt: es bleibt also nur die Form der Gesetzmäßigkeit übrig, die der Bestimmungsgrund freier Handlung ist." (Akademie-Ausgabe 27.2.1.495) — Als (bloß) "negatives Moralkriterium" wird der kategorische Imperativ etwa von Acton, Frankena, Gram u. Wolff verstanden.

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Grund der Überlegung, daß alle Maximen des individuellen Glücksverlangens keine vernünftige Allgemeinheit ergeben."88 Dies bleibt insbesondere auch unter dem Eindruck einer Argumentation von der Art Schwemmers zu beachten, der Kant offenkundig genau in die eben kritisierte Richtung (fehl)interpretieren will: "Der Versuch, die faktischen Begehrungen zu erfüllen, d. h. die eigene Glückseligkeit zu erreichen, führt auf Grund der entstehenden Konflikte zu der Erkenntnis, daß die eigene Glückseligkeit nur unter den Bedingungen der allgemeinen Glückseligkeit erreicht werden, d. h. daß ich meine Begehrungen nur dann erfüllen kann, wenn ich sie -- gemeinsam mit denen der anderen ~ transformiert habe. In Kantischen Termini gesagt: Das Verlangen nach Glückseligkeit (zunächst nach der eigenen) motiviert (durch die Erfahrung der Fehlschläge bei den Versuchen, dieses Verlangen zu befriedigen) die Sittlichkeit [!], die Sittlichkeit ihrerseits

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D. Henrich, Das Problem der Grundlegung der Ethik . . . 362. Es ist hier noch einmal an das auch Hegel beschäftigende Problem der kantischen Ethik zu erinnern, das man mit Henrich (bezüglich des kantischen Beispiels) folgemdermaßen umschreiben könnte: "So helfe ich Kant zufolge dem Anderen, weil es meine Pflicht ist, solche Maximen aufzugeben, die der Probe der Verallgemeinerung nicht standhalten. In deT Intention meines sittlichen Willens ist der Andere und seine Hilfsbedürftigkeit nur Anwendungsfall eines allgemeinen Prinzips und Anlaß, die vernünftige Allgemeinheit des Willens zu bewähren. Der sittliche Wille nimmt Rücksicht auf ihn in seine Maxime, das eigene Glück zu befördern, nur deshalb nicht auf, weil das Sittengesetz ein rücksichtsloses Glücksstreben nicht erlaubt. Der Ursprung der Pflicht in der Einschränkung unserer Neigung wirkt sich darin aus, daß die Intention des sittlichen Willens auf die Pflicht unter Ausschließung der gebotenen Inhalte geht. Er hilft, weil er Interesse am Guten genommen hat, aber ohne alles Interesse am Hilfsbedürftigen selbst." (ebd. 365) Bei gebührender Beachtung der späten Tugendlehre ist dieses Urteil allerdings im Grunde doch zu revidieren. — Es wurde oft bemerkt, daß Kants Beispiele aus Wolffs Moralphilosophie entnommen sind. Anzumerken bleibt allerdings noch, daß bei Wolff diese "Pflicht der Wohltätigkeit" im Lateinischen "Liberalitas" heißt (Ch. Wolff, Philosophie moralis sive ethica, Bd. S, § 363), ein Begriff, der auch bei Kant eine wichtige Rolle spielt. — Ganz besondere hat der Kantianer Ebbinghaus wiederholt ein allzu verkürzendes (und damit banalisierendes) Verständnis der kantischen Argumentation zu diesem berühmten vierten Beispiel Kants in der Grundlegungsschrift abgewiesen. (Vgl. Die Formeln des kategorischen Imperativs . . . 275) Ebbinghaus' scharfer Protest gegen eine solche Kantinterpretation, die Kants Argumentation lediglich auf die "triviale Maxime der Weltklugheit" herabsetzt, trifft hier Kants Ansicht in der Tat wohl am ehesten: "Denn da die Menschen in der Erreichbarkeit ihrer Ziele voneinander abhängig sind, so folgt, daß der, der die Maxime der Bezweckung fremder Glückseligkeit nicht als ein für sich selbst ebenso gut wie für alle anderen geltendes Gesetz will, sich d u r c h seinen eigenen Willen in eine mögliche Abhängigkeit von der zufälligen Zwecksetzung anderer begibt: das heißt, sein Wille steht in Widerspruch mit dem Prinzip der Autonomie des Willens in bezug auf die mögliche Bestimmung seiner Zwecke." (J. Ebbinghaus, Kants Rechtslehre . . . 330 f.) Am ausführlichsten hat Ebbinghaus das Mißveiständnis der kantischen Argumentation zu dem vierten Beispiel in seinem Aufsatz "Deutung und Mißdeutung des kategorischen Imperativs" zurückgewiesen.

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verändert das Verlangen nach Glückseligkeit: war es anfanglich das Verlangen nach der eigenen Glückseligkeit durch Natur, so wird es durch die Sittlichkeit [!] zum Verlangen nach der allgemeinen Glückseligkeit durch Freiheit."89 Von einer "Revolution der Denkungsart" wäre solcherart gewiß wohl kaum zu reden; was Schwemmer in "Kantischen Termini" vorbringen will, hat für sich genommen mit Kants Argumentation freilich recht wenig zu tun und entspricht noch am ehesten der von Kant auch einem "Volk von verständigen Teufeln" zugemuteten Strategie. Überhaupt trifft (wie auch in diesem Falle) Höffes ganz grundsätzliche Kritik doch all jene Positionen, die "die Moral bloß vom Inhalt der Praxis her definieren, nämlich in Begriffen von Pflichten, Normen, Werten oder von Verfahrensweisen zur Konfliktlösung", sofern diese "Moraltheorien . . . streng genommen überhaupt keine Moralphilosophie, keine Philosophie der Moralität", enthalten.90 Indessen: nicht nur von der vorgeführten einschlägigen Argumentation der Grundlegungsschrift bezüglich des "Gebotes der Nächstenliebe" unterscheidet sich die genaue Gedankenführung der späten Tugendlehre, sondern ebenso

89 90

O. Schwemmer, Philosophie der Praxis . . . 172. O. Höffe, Moral und R e c h t . . . 58 f. In der Kantliteratur ist hier die seltsame Situation zu beobachten, daß zum einen der Gehalt des kategorischen Imperativs entweder in der Weise Schwemmers auf ein bloßes "Beurteilungsverfahren für Handlungsmaximen" reduziert wird, zum anderen aber auch wiederum so getan wird, als ob sich der wesentliche Gehalt der kantischen Moralphilosophie im Grunde ohnehin in dem Eröffnungssatz der Grundlegungsschrift erschöpfte. Dies bestätigt damit auch noch einmal die von Elsigan betonte Notwendigkeit, den Fehler zu vermeiden, "bei Kant den Kategorischen Imperativ als Kriterium der Pflichtbestimmtheit mit der gesetzlichen Unbedingtheit als Form des Imperativs zu verwechseln bzw. zu identifizieren." Völlig zu Recht verweist Elsigan auf die Erfordernis, die "Idee der Gesetzmäßigkeit als Urteilskriterium" von der "Idee der Gesetzmäßigkeit eines bestimmten Gesetzes" zu unterscheiden, weil andernfalls der "Trugschluß" resultiert, "die besondere Weise der Formalität guter Gesinnung . . . mit der inhaltsrelevanten Formalität des Kategorischen Imperativs" als identisch zu setzen: "In der Folge erscheint die Idee des guten Willens als d i r e k t e r Gegenstand moralischer Selbstbestimmung (reiner praktischer Vernunft). Dieser Aspekt der Kantinterpretation kann allerdings systematisch nur dann zufriedenstellend erscheinen, wenn sich der e i n e Kategorische Imperativ (im Sinne der 'ersten' Formulierung) als Prinzip, oder doch wenigstens als Sub-Kriterium, der Beurteilung moralischer Normen begründen läßt." (A. Elsigan, Der Wert eines guten Willens. . . 138 f.) Entspricht diesem berechtigten Anliegen Elsigans nicht auch die von Kant klar ausgesprochene "Doppelfunktion" des kategorischen Imperativs als "Dijudikations"- und "Exekutions"- Prinzip? Und geht nicht dieser soeben noch einmal angeführte wesentliche Unterschied verloren, wenn Heidegger in seiner Kantinterpretation bezüglich der "Wirklichkeit der reinen praktischen Vernunft im moralischen Gesetz" behaupten will: "Dieses angeblich leere Gesetz ist gerade dadurch Grundgesetz, daß, wenn es das Handeln wirklich bestimmt, dieses auch schon je im Augenblick und für diesen weiß, was es, d. h. primär immer [!] wie es handeln soll"? (M. Heidegger, Vom Wesen der menschlichen Freiheit 280)

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deutlich auch von den diesem Thema gewidmeten Überlegungen in Kants Kritik der praktischen Vernunft. Zwar ist beiden Schriften zufolge die Erhebung der je "eigenen Glückseligkeit zum Bestimmungsgrunde des Willens" natürlich "das gerade Widerspiel des Prinzips der Sittlichkeit" (IV 146); auch taugt in beiden Schriften "fremde Glückseligkeit" in keiner Weise als ein solcher Bestimmungsgrund, kann doch ausschließlich Vernunft sich "als Urheberin ihrer Prinzipien ansehen" (IV 83) — und nur so ist ein "objektives Prinzip des Willens" zu denken. (IV 60) Höchst aufschlußreich ist nun aber Kants genaue Argumentation: eigene Glückseligkeit als "Materie des Willens" kann nur unter Einschluß der fremden Glückseligkeit "objektives praktisches Gesetz werden", woraus folgt: "Also entspringt das Gesetz, anderer Glückseligkeit zu befördern [!] nicht von der Voraussetzung, daß dieses ein Objekt für jedes seine Willkür sei, sondern bloß daraus, daß die Form der Allgemeinheit, die die Vernunft als Bedingung bedarf, einer Maxime der Selbstliebe die objektive Gültigkeit eines Gesetzes zu geben, der Bestimmungsgrund des Willens wird, und also war das Objekt (anderer Glückseligkeit) nicht der Bestimmungsgrund des reinen Willens, sondern die bloße gesetzliche Form war es allein, dadurch ich meine auf Neigung gegründete Maxime einschränkte, um ihr die Allgemeinheit eines Gesetzes zu verschaffen, und sie so der reinen praktischen Vernunft angemessen zu machen, aus welcher Einschränkung [!], und nicht dem Zweck einer äußeren Triebfeder, alsdenn der Begriff der Verbindlichkeit, die Maxime meiner Selbstliebe auch auf die Glückseligkeit anderer zu erweitern [!], allein entspringen könnte." (IV 146) Dieser Zweck "fremde Glückseligkeit" ist infolgedessen offensichtlich kein ursprünglicher (primärer) Gegenstand der praktischen (affirmativen) Vernunft- Intentionalität, sondern erweist sich in Wahrheit dieser zitierten längeren Stelle zufolge als "abgeleitet" — eben als bloß einschränkende Bedingung für die primär durch je "eigene Glückseligkeit" bestimmte Maxime. Genau besehen ist damit an dieser Stelle auch nicht die "Allgemeinheit" (universalitas), sondern lediglich "Gemeingültigkeit (generalitas)" das maßgebende Prinzip. (Vgl. IV 55) Wenn auch das Prinzip des "Nicht-wollen-könnens", das nach Kant den so genannten "weiten Pflichten" als Beurteilungsprinzip" (Kanon) zugrunde liegt, sogar noch gelegentlich in der späten Metaphysik der Sitten (betreffend etwa auch die "Pflicht der Wohltätigkeit") ~ nämlich als Aufweis des Selbstwiderspruchs der eigennützigen Maxime, die sich nicht als allgemeines Gesetz wollen kann - eine wesentliche Rolle spielt, so ist nun, ganz ungeachtet wiederum der inneren Stimmigkeit dieser Argumentation, auch darauf zu sehen, daß dies nicht nur im Widerspruch steht zu den Bestimmungen der "Liebespflichten insbesondere" (IV 586 ff.); auch ist zu beachten, daß Kant all den einschlägigen Einwänden seiner Gegner gleichsam zum Trotz doch nur auf den ersten (flüchtigen) Blick in solchem Argumentationsniveau befangen

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bleibt. Die maßgebenden Prinzipien der späten Tugendlehre lassen dieses offenkundig hinter sich, wird mit der durch sie eröffneten Begründungsebene diese "fremde Glückseligkeit" doch unverkennbar in ganz anderer Weise Thema der kantischen Überlegungen. Besondere Beachtung verdient ~ wiederum mit Blick auf die thematisch einschlägigen Überlegungen der früheren Schriften ~ Kants Argumentation in der Tugendlehre betreffend die "Liebespflicht insbesondere". Ihr zufolge ist die "Maxime des Wohlwollens" als "aller Menschen Pflicht gegen einander" nicht nur gemäß dem "ethischen [!] Gesetz der Vollkommenheit" geboten — weit mehr: Kants Begründung für die Erlaubnis, sich selbst "wohlzuwollen", lautet hier einzig dahingehend, daß das "Pflichtgesetz des Wohlwollens mich als Objekt desselben im Gebot der praktischen Vernunft mit begreifen" müsse, d. h. "die gesetzgebende Vernunft, welche in ihrer Idee der Menschheit überhaupt die ganze Gattung (mich also mit) einschließt, nicht der Mensch, schließt als allgemeingesetzgebend mich in der Pflicht des wechselseitigen Wohlwollens nach dem Prinzip der Gleichheit (wie) alle andere neben mir mit ein,. . . weil so allein deine Maxime (des Wohltuns) sich zu einer allgemeinen Gesetzgebung qualifiziert, als worauf alles Pflichtgesetz gegründet ist." (IV 587) Ohne Zweifel reicht diese Begründung in ihrem Anspruch aber noch wesentlich weiter als der von Kant andernorts freilich im Grunde doch recht unvermittelt (unvorbereitet) eingeführte, damit aber auch wohl der argumentativen Stringenz entbehrende Gedanke, daß "die Absicht, den Endzweck aller vernünftigen Wesen (Glückseligkeit, soweit sie einstimmig mit der Absicht möglich ist) zu befördern . . . doch, eben durch das Gesetz der Pflicht, auferlegt" ist. (V 602) Was nun an dieser Stelle der Kritik der teleologischen Urteilskraft sich tinvermittelt (und beinahe unbemerkt) Eingang verschafft hat, dies wird für Kant erst in der späten Tugendlehre zum ausdrücklichen Problem und gewinnt so ~ in freilich noch radikalisierender Zuschärfung - erst von diesen späteren Überlegungen der Tugendlehre aus betrachtet seinen besonderen (eigentlichen) Ort. Der Ethik fíele so aber selbst genau genommen die Aufgabe der Entfaltung des "praktischen Systems der Zwecke" zu, d. h. aber "ein System nach den Gesetzen des freien Willens, in welchem alle vernünftigen Geschöpfe unter sich, als gegenseitige Zwecke und Mittel, zusammen hängen."91 Nur so wäre zugleich damit die von Kant ausdrücklich ausgesprochene Idee des "Systems der Freiheit" (IV 323) zu entwickeln. Damit zeigt sich also und verdient gebührende Beachtung, daß Kants Begründung und Erläuterung des sittlichen Stellenwertes der "Nächstenliebe" in den verschiedenen Argumentationszusammenhängen der einzelnen Schriften eine durchwegs unterschiedliche ist: in der Grundlegungsschrift steht dem

91

Kant, Vorlesungen über die philosophische Religionslehre (hg. v. Pölitz) 177.

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Gedanken der "positiven Übereinstimmung" (IV 63) die andere Auffassung gegenüber, "fremde Glückseligkeit" sei deshalb zu befördern, "weil die Maxime, die sie ausschließt, nicht in einem und demselben Wollen als allgemeines Gesetz begriffen werden kann" (IV 76); der zweiten Kritik Kants zufolge (und auch noch in der Religionsschrift) "wird fremder Wesen Glückseligkeit das Objekt des Willens eines vernünftigen Wesens sein können [!]" (IV145) ~ und doch ist deren Beförderung "nur bedingter Weise Pflicht, und kann nicht zum obersten Prinzip moralischer Maximen dienen." (IV 650 Anm.) Die späte Tugendlehre bestimmt die Pflicht der Nächstenliebe als jene "Pflicht, anderer ihre Zwecke (sofern diese nur nicht unsittlich sind) zu den meinen zu machen". (IV 586) Alle diese Bestimmungen zielen indessen auf das "inhaltlich- materiale" Moment und unterscheiden sich darin noch einmal von dem darüber hinausweisenden, auf das "Gerne-tun" zielenden "Ideal der Heiligkeit" und der dieser genügenden "Vorschrift des Evangelii" als jenem "Urbild", "alle moralischen Gesetze völlig gerne zu tun". (IV 205 f.) Kant selbst jedenfalls wußte dem Anspruch des neutestamentlichen Gebotes durchaus mit dem Bewußtsein zu begegnen, daß "es mir nichts Neues auferlegt."92 Kants Verständnis dieses Gebotes der Nächstenliebe verklammert nunmehr die Momente des Inhaltes und der Form in der Weise, daß er, dem inhaltlichen Aspekt nach, diese Nächstenliebe also dem "obersten Prinzip der Tugendlehre" gemäß bestimmt und, das Moment der Form betreffend, die "Geneigtheit" des "Gernetuns" akzentuiert: "Den Nächsten lieben, heißt, alle Pflicht gegen ihn gerne ausüben." (IV 205; vgl.IV 670 Anm.) Die gemäß diesem Prinzip des "Zwecks, der zugleich Pflicht ist", geforderte Beförderung "fremder Glückseligkeit" impliziert nun selbstverständlich nicht nur die Aufbietung aller zur Verfügung stehenden Mittel, sondern zugleich damit auch die Ausbildung und Förderung "aller Talente und Tauglichkeiten zu allen möglichen Zwecken". Der Anspruch des obersten Prinzips der Tugendlehre verbietet es freilich auch, sich bloß zum Mittel "fremder Glückseligkeit" zu machen, weil nur so auch der Forderung eigener sittlicher Vollkommenheit Genüge zu tun ist. In dieser Weise sich "Wohl und Heil" des anderen Menschen zum Zwecke zu machen, heißt nun für Kant gar nichts anderes, als die "Liebespflicht" zu erfüllen. Der je Andere ist fortan also nicht lediglich "einschränkende Bedingung aller relativen und willkürlichen Zwecke" (IV 70), sondern als "Zweck an sich selbst" ist das besondere Individuum nunmehr Zielpunkt des "Imperativs, der die Tugendpflicht gebietet", was damit nun auch die notwendigen vermittelnden Mittel-Zweck-Relationen erst allein von diesem aus zu bestimmen erlaubt. Dieser "Imperativ, der die Tugendpflicht gebietet", hat seinen letzten Grund aber auch nicht mehr allein (wie in der

92

Kant, Akademie-Ausgabe X 179.

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zweiten Kritik noch maßgeblich) in der Selbstwidersprüchlichkeit der eigennützigen Maxime. Denn die Idee der eigenen, gemäß der Verbindlichkeit des "Zwecks, der zugleich Pflicht ist", entworfenen "moralischen Vollkommenheit" und damit die "praktische Bestimmung des Menschen als Endzweck der Schöpfung" gebietet dies - was lediglich bedeutet, "seine Pflicht zu tun und zwar aus Pflicht (daß das Gesetz nicht bloß die Regel, sondern auch die Triebfeder der Handlungen sei)". Freilich: "Was diese [Anderen] zu ihrer Glückseligkeit zählen mögen, bleibt ihnen selbst zu beurteilen überlassen; nur daß mir auch zusteht, manches zu weigern, was sie dazu rechnen, was ich aber nicht dafür halte, wenn sie sonst kein Recht haben, es als das Ihrige von mir zu fordern." (IV 518) Die gemäß der Idee der eigenen moralischen Vollkommenheit gebotene Beförderung fremder Glückseligkeit muß also mit der zur "moralischen Vollkommenheit" wesentlich gehörigen und folglich zu bewahrenden Selbstachtung "zusammenbestehen". Es ist demzufolge lediglich eine von Kant klar erkannte Konsequenz, wenn dieser dann, in Vermeidimg des andernfalls drohenden Widerspruches, bezüglich dieser Nächstenliebe betont: "Die Pflicht der Nächstenliebe kann also auch so ausgedrückt werden: sie ist die Pflicht, anderer ihre Zwecke (so fern diese nur nicht unsittlich sind) zu den meinen zu machen; die Pflicht der Achtung meines Nächsten ist in der Maxime enthalten, keinen anderen bloß als Mittel zu meinen Zwecken abzuwürdigen (nicht zu verlangen, der andere solle sich selbst wegwerfen, um meinen Zwecken zu frönen)." Ist denn nun aber nicht nur um der "eigenen Vollkommenheit", sondern wohl auch um der "fremden Glückseligkeit" willen die genaue Rücksicht auf die genannte Einschränkung ("sofern diese nur nicht unsittlich sind") die unerläßliche Bedingung dafür, um den "anderen Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen", wenn doch erst und allein so "Wohl und Heil [!]" des Anderen intendiert werden kann? "Fremde Glückseligkeit" ist als diejenige "vernünftiger Wesen" nicht ohne diese Rücksichtnahme auf das "moralische Wohlsein anderer" (IV 524) zu denken; sie überhöht somit auch in dieser Hinsicht eine lediglich "negative Pflicht" schon deshalb, weil man eben "um der Glückseligkeit des Du von ihm Sittlichkeit verlangen muß."93 Interessant und bestätigend ist diesbezüglich auch eine Reflexion Kants94: "Der Zweck des Menschen ist Glückseligkeit, und die Pflicht, sie in anderen zu befördern, schließt die ihres objektiven Zwecks, nämlich die Sittlichkeit in sich,

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H. D. Klein, Vernunft und Wirklichkeit 1175. Reflexion 7310 (Akademie-Ausgabe XIX 308 f.) Dies besagt aber vermutlich mehr als die Bemerkung aus der Vorlesung: "Die Liebe zu der höchsten Glückseligkeit und also die Liebe zu sich selbst ist ganz richtig. Sich selbst aber lieben mit Ausschließung anderer macht die Selbstliebe fehlerhaft, weil ich alsdenn gleichgültig in Ansehung der Glückseligkeit anderer bin." (Akademie-Ausgabe 27.1.200)

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damit sie ihrer würdig und dadurch theilhaftig werden; nicht nur für sich allein, sondern um ihrer Glückseligkeit willen, weil es unvollkommene Pflicht ist, der wir keine vollkommene nachsetzen können." Wenn in dieser Hinsicht also tatsächlich auch "das Heil [!] des anderen Menschen sich zum Zwecke zu machen" gemäß dem Anspruch der Liebespflicht gefordert ist, dann ist (in dieser Hinsicht wenigstens) keinesfalls so ohne weiteres zu behaupten, daß von Kant "sittliche Einflußnahme und Verantwortung für die Mitmenschen als in sich unmöglich abgelehnt wird".95 Fichtes Wort hätte so auch auf Kant hin gesehen besondere Aktualität, daß der "sittliche Wille des Menschen sich auf die Moralität aller vernünftigen Wesen erstreckt."96 Diese Forderung, auch "das Heil des Anderen sich zum Zwecke zu machen", — von dem "Imperativ, der die Tugendpflicht gebietet", geboten ~ ist deshalb auch nicht bloß so zu verstehen, daß man "um der Glückseligkeit des Du willen von ihm Sittlichkeit verlangen muß", sondern erlaubt im weiteren doch auch einen Rekurs auf die von Kant angestellten Überlegungen zum "Verhältnis der Theorie zur Praxis im Staatsrecht (gegen Hobbes)" (VI 154 f.): "Der Satz: Salus publica suprema civitatis lex est" soll nach Kant "in seinem unverminderten Wert und Ansehen" bleiben; "aber das öffentliche Heil [!], welches zuerst in Betrachtimg zu ziehen ist, ist gerade diejenige gesetzliche Verfassimg, die jedem seine Freiheit durch Gesetze sichert." Eben diese Dimension kann nun jedoch auch der auf "Wohl und Heil des Anderen" sich erstreckende Anspruch der Tugendpflicht gewiß nicht einfach unbeachtet lassen ~ ohne sich freilich darin zu erschöpfen, weil doch "die Aufgabe der Verwirklichung des Rechtes auf Erden nicht" einfachhin in Abhängigkeit von der Aufgabe zu denken ist, "das Reich der ethischen Freiheit zu realisieren."97 Dem Bedürfnis des "süßen Wohltuns" einer allzu rasch sich breit machenden "überschwänglichen Denkart" ist doch schon durch die bloße Erinnerung an Kants ausdrückliche Mahnung Einhalt geboten: "Die Pflicht, mit anderen wegen ihrer Unterdrückung gemeinschaftliche Sache zu machen, ist mehr als bloß gütige Pflicht."98 Allen, auch als "höhere Sittlichkeit" getarnten Versuchen des durch "überfliegende Denkart" bedingten Eigendünkels entgegen ist damit nach Kant auch der Rückzug in die geschützten Nischen bloßer "Privatheit" und der in ihr angeblich wirklichen Unmittelbarkeit der Begegnung eines "ethischen gemeinen Wesens" der Weg abgeschnitten, ist doch die praktische Vernunft nicht nur vor die unabweisbare, ja vordringliche Aufgabe ge-

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97 98

J. Schwartländer, Der Mensch ist Person . . . 197. Fichte, Akademie-Ausgabe 1,5.210. So ist es wohl auch zu verstehen: "Es ist allgemeine moralische Pflicht für jeden sittlich guten Menschen, Moralität außer sich zu verbreiten und allenthalben zu befördern." (Akademie-Ausgabe 1,4.144) J. Ebbinghaus, Der Begriff des Rechtes . . . 351. So in der Reflexion 8997.

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stellt, Lebensbedingungen- und -möglichkeiten in dem bestimmten Sinn der bürgerlichen und politischen Freiheit und ihrer institutionellen Vermittlung zu sichern und zu erweitern. Ein Letztes noch sei in diesem engeren Zusammenhang kurz erwähnt: in der Kritik der praktischen Vernunft hatte Kant das "Prinzip der allgemeinen Glückseligkeit" für die Fundierung der "Gesetze des Willens" bekanntlich mit dem Argument als untauglich abgewiesen, "weil dieser ihre Erkenntnis auf lauter Erfahrungdatis beruht, weil jedes Urteil darüber gar sehr von jedes seiner Meinung, die noch dazu selbst sehr veränderlich ist, abhängt" und es deshalb zwar "wohl generelle, aber niemals universelle Regeln" geben könne, "mithin können keine praktischen Gesetze darauf gegründet werden." Durch den solcherart notwendigen Rekurs auf Erfahrung und die damit in der Folge verbundene Endlosigkeit der "Verschiedenheit des Urteils", so lautet Kants hier vorgetragene Begründung, seien also keine für "alle vernünftigen Wesen gleiche praktische Regeln" möglich, worin sich ihre Untauglichkeit für die Begründung dieser "praktischen Gesetze" bekunde. Nun mag dies wohl auch zutreffend sein ~ dennoch verfehlt Kants Argumentation augenfällig den hier entscheidenden Punkt und ist so als irreführend anzusehen ~ und zwar deshalb, weil sich die hier interessierende Problematik Kants doch allein auf die "Arten der Anwendung" (s. u. 235 f.) bezieht, den Bezug "auf Fälle der Erfahrung" betrifft und damit aber den tatsächlich entscheidenden Grund, d. i. das so grundlegende Problem des "unbedingten Zwecks", nicht nur vorläufig ausklammert, sondern vielmehr ganz grundsätzlich ignoriert. Kein Zufall wohl auch, daß dieses so wichtige Lehrstück der Tugendlehre in Kants zweiter Kritik (noch) keine Rolle spielt. Daß dieser Vernunftzweck selbst dann, Kants Lehre zufolge, freilich nicht einfachhin als "Bestimmungsgrund" gelten darf — genau dies hätte nämlich, wollte man die einschlägige Gedankenführung Kants beim Worte nehmen, erstaunlicherweise im Grunde doch überhaupt gar keine Bedeutung. Natürlich werfen nun die so resultierenden Probleme auch auf die Frage nach der inneren Entwicklung der kantischen Ethik (bis hin zu ihrer Endgestalt) ein neues und erhellendes Licht. (S. u. 268 ff.) Es war dem "obersten Prinzip der Tugendlehre" vorbehalten, die Dimension des unabdingbaren Zweckbezuges explizit zu formulieren und sodann in die ~ in dieser Art erst eigentlich so zu nennende ~ "Zweckeformel" zu fassen, die lautet: "handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann. — Nach diesem Prinzip ist der Mensch sowohl sich selbst als Andern Zweck, und es ist nicht genug, daß er weder sich selbst noch andere bloß als Mittel zu brauchen befugt ist (dabei er doch gegen sie auch indifferent sein kann), sondern den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen ist an sich selbst des Menschen Pflicht.'' (IV 526) Offenkundig unterscheidet sich der Gehalt dieses Prinzips noch von der auf die "Materie" zielenden zweiten Formel des sittlichen Gesetzes, die lediglich

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besagt, "daß das vernünftige Wesen, als Zweck an sich selbst, jeder Maxime zur einschränkenden Bedingung aller bloß relativen und willkürlichen Zwecke dienen müsse." (IV 70 ff; s. aber auch 62) Spiegelt sich darin nicht recht genau der von Kant selbst ausgesprochene Unterschied zwischen der bloßen "Pflicht der Achtung" und der "Pflicht der Nächstenliebe" wider? (Vgl. IV 584 ff.)99 Es bedarf wohl keines näheren Hinweises mehr darauf, daß an diesem neuen Maß des "obersten Prinzips der Tugendlehre" bemessen alle bloß "negative Pflicht" der Achtung der "ganzen praktischen Bestimmung" des Menschen nicht zu genügen vermag, wenn die "positive Ubereinstimmung zur Menschheit" doch auch fordert, daß sie "dem Willen zum objektiven Grunde seiner Selbstbestimmung dient" und "dieser [Zweck], wenn er durch bloße Vernunft gegeben w i r d , . . . für alle vernünftige Wesen gleich gelten" muß. (IV 59) Auch wenn an der ausschließlich einen Verbindlichkeit, d. i. eben deijenigen der "ethischen Verpflichtung (denn es ist nur eine, nämlich die der Tugend überhaupt)" (IV 608) festzuhalten bleibt, so ist doch bei aller Betonung der Einzigkeit der umgreifenden "ethischen Verpflichtung" der Eigen-Sinn (d. i. die Eigenständigkeit) der Tugendpflicht notwendig zu bewahren. Daß die "menschliche Moralität in ihrer höchsten Stufe" dennoch "nichts mehr als Tugend sein" kann (IV 513), ist nichtsdestoweniger nur von dem Maßstab der Tugendpflicht aus verstehbar. Tugend als "moralische Stärke des Menschen" bleibt gleichwohl in Befolgung des "gebotenen Zwecks" bestimmend100, sofern selbstverständlich der Verpflichtungscharakter auch im "Sich-versetzen" in eine ganz "neue Ordnung der Dinge" nicht aufgehoben ist und "moralische Schwärmerei" natürlich auch nicht vergessen lassen kann, daß der Mensch nicht "Oberhaupt", sondern lediglich "Untertan" der sittlichen Gesetzgebung ist. Ergänzend soll hier noch die Vermutung geäußert und begründet werden, daß die angeführten Charakterisierungen der Pflicht der Nächstenliebe101 aus

Deshalb ist es wenigstens irreführend, wie Wimmer von der "Zweckeformel der 'Grundlegung" und der Tugendlehre'" so zu sprechen, als ob in den beiden Schriften so ohne weiteres von einem Gemeinsamen die Rede wäre. (Universalisierung . . . 205) 1 0 0 Vgl. auch Kant, Akademie-Ausgabe XXIII, 375. 1 0 1 Ob und inwieweit bei Kant dem Umstand Rechnung getragen ist, daB im "deutschen Sprachraum . . . zuerst bei Gottsched, also im Zeitalter der Aufklärung, der Begriff der 'Menschenliebe' an die Stelle des Begriffs der 'Nächstenliebe" tritt, — Kant gebraucht freilich beide Termini, und zwar offenkundig unterschiedslos (vgl. etwa IV 532 f; IV 586 ff.)- soll hier nicht weiter untersucht werden. Wenn Simon im weiteren zur Verdeutlichung dieser Ablöse des Begriffes "Nächstenliebe" durch "Menschenliebe" folgende Charakterisierung der neuen Sachlage fruchtbar machen will, so scheint Kant selbst davon im Grunde nicht betroffen zu sein: "DaB Menschen sich als Menschen, also von der Zugehörigkeit zur gemeinsamen Gattung her lieben sollten, versteht sich aus dem Geist der rationalistischen Aufklärung. Deren Denken 'rein in Begriffen' schien es zu

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der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten prinzipiell doch auf anderes zielen als die andernorts (in der Kritik der praktischen Vernunft) vorgestellte Kennzeichnung des Liebesgebotes: "Liebe Gott über alles und Deinen Nächsten als Dich selbst". (IV 205) Während die erstgenannte augenfällig auf die inhaltliche Bestimmung der Tugendpflicht im Sinne des ihr gemäß verstandenen "Zwecks, der zugleich Pflicht ist", zielen, steht in letzterer doch ein anderer Aspekt im Vordergrund: für den Menschen (als durch seine "Natürlichkeit" immer affizierbares, aber "vernünftiges" Wesen) bleibt die "sittliche Gesinnung in ihrer ganzen Vollkommenheit" ~ "Gott lieben, heißt in dieser Bedeutung seine Gebote gerne tun; den Nächsten lieben, heißt alle Pflichten gegen ihn gerne ausüben" (IV 205) ~ notwendig als anzustrebendes Ideal ausständige Aufgabe, und "Heiligkeit" als "Urbild" lediglich in "regulativer Hinsicht" letzter Fluchtpunkt dieses Strebens. Beide genannten Bestimmungen dieser "Nächstenliebe" sind folglich weder identisch noch stehen sie in einem Ausschließungsverhältnis zueinander. Offensichtlich hat Kant diese "der Materie nach" konzipierte Idee der "Liebespflicht" und die primär auf die "Triebfeder" zielende Bestimmung in einem komplementären Verhältnis zueinander wenigstens in der von Kant so genannten Idee der "ganzen sittlichen Vollkommenheit" ~ verstanden wissen wollen, was doch auch die Charakterisierung der "Liebe als freie [!] Aufnahme des Willens eines anderen unter seine Maxime" als einem "unentbehrlichen Ergänzungsstück der Unvollkommenheit der menschlichen Natur" (VI 188) nahelegt. Dahin weist auch schon Kants früher Hinweis auf das "Supplement der Grundsätze". (I 857) Wiederholt und emphatisch hat Kant - nicht als konträre, sondern als komplementäre Aspekte -- die Liebe als eine nicht auf Zwang zu begründende und somit auch nicht zu gebietende "Sache der Empfindung" von dem allein sittlich relevanten "uneigennützigen Wollen" unterschieden, welches nun einem Pflichtgebot sehr wohl untersteht, denn: anderen "Menschen nach unserem Vermögen wohlzutun ist Pflicht, man mag sie lieben oder nicht." (IV 532 f.) Allein dem letzteren wird von Kant bekanntlich nicht bloß Priorität, sondern auch, wenigstens in einem strengen Sinne, sittliche Relevanz zuerkannt.

erlauben, das Individuum ohne Anschauung vom Begriff her zu verstehen, den einzelnen also von da her, daB er Mensch sei, oder ein solches Verstehen doch wenigstens geboten erscheinen zu lassen. Der Affekt gegenüber dem anderen, insofern er anderer und also aus einer je anderen Sicht unverstanden bleibt, sollte ebenfalls in seiner gattungsmäßigen Allgemeinheit, eben als menschlicher Affekt, verstanden und damit im Verstehen aufgehoben und nur insofern gelitten sein. Das 'Allzumenschliche' sollte 'gegenseitig' zugestanden und damit verziehen sein. Das Individuelle wurde als das Verständliche, aber nicht darüber hinaus gelitten, der Begriff der 'Nächstenliebe' wurde nicht nur auf die Gattung ausgedehnt, sondern auch verändert. Er ging, als Liebe, im Begriff des Anderen als Mensch auf." (J. Simon, Der Nächste . . . 348)

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Freilich, auch für weniger "schöne Seelen" findet Kant tröstende und ermutigende Worte: denn wer dieses Pflichtgebot "oft ausübt und es gelingt ihm mit seiner wohltätigen Absicht, kommt endlich wohl gar dahin, den, welchem er wohlgetan hat, wirklich zu lieben. Wenn es also heißt: du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst, so heißt das nicht: du sollst unmittelbar (zuerst) lieben und vermittelst diese Liebe (nachher) wohltun, sondern: tue deinem Nebenmenschen wohl, und dieses Wohltun wird Menschenliebe (als Fertigkeit der Neigung [!] zum Wohltun überhaupt) in dir bewirken!" (IV 533)102 Gewiß bleibt hiebei nun (etwa mit Beck) zu bedenken, daß Kant damit auch die von ihm erkannte Notwendigkeit zum Ausdruck bringen möchte, "das reine sittliche Motiv durch andere unserer menschlichen Natur mehr entsprechende Motive zu ergänzen". Die der Pflichtbefolgung "förderliche", weil diese doch unterstützende "Funktion" der Liebe ist nun von Kant nämlich darin zum Ausdruck gebracht: "Wenn es nicht bloß auf die Pflichtvorstellung, sondern auch auf Pflichtbefolgung ankommt, wenn man nach dem subjektiven Grunde der Handlungen fragt, aus welchem, wenn man ihn voraussetzen darf, am ersten zu erwarten ist, was der Mensch thun werde, nicht bloß nach dem objectiven, was er tun soll: so ist doch die Liebe als freie Aufnahme des Willens eines anderen unter seine Maximen ein unentbehrliches Ergänzungsstück der Unvollkommenheit der menschlichen Natur. . . Das Christentum hat zur Absicht: Liebe, zu dem Geschäft der Beobachtung seiner Pflicht überhaupt, zu befördern, und bringt sie auch hervor, weil der Stifter derselben nicht in der Qualität eines Befehlshabers, der seinen Gehorsam-fordernden Willen, sondern in der eines Menschenfreundes redet, der seinen Mitmenschen ihren eigenen wohlverstandenen Willen, d. i. wonach sie von selbst freiwillig handeln würden, wenn sie sich gehörig prüften, ans Herz legt." (VI 188) Zwar kann auch dies natürlich noch mißverstanden werden; recht verstanden relativiert dies wenigstens jedoch die Berechtigung der bekannten (auch von Henrich berücksichtigten) Kant-Kritik des jungen Hegel betreffend eben die Notwendigkeit, die "bloße Achtung vor dem Gesetz" durch die "Geneigtheit zum Guten" zu ergänzen.103 Unverkennbar ist Kants Insistieren auf der moralischen Nötigung als dem Grund sittlicher Selbstbestimmung. Die Motive für diese in der Tat für Kants Moralphilosophie zentrale Ansicht bleiben in sachlicher Hinsicht gewiß beachtenswert. Eine "Heiligkeit" indessen — und dies wird sich als der eigentliche Kritikpunkt Kants erweisen,-- die den Menschen vergessen lassen

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Zum Unterschied von "Liebe aus Neigung" und "Liebe aus Verbindlichkeit" s. auch P. Menzer, Eine Vorlesung Kanu . . . 250; 247 f; vgl. auch Reflexion 6601. Vgl. D. Henrich, Das Problem der Grundlegung . . . 383.

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könnte, daß die sittliche Selbstverwirklichung ihren Grund doch in der "Nötigung" durch das moralische Gesetz hat, ist und bleibt so bloßes "Ideal", "in Ansehung deren aber die bloße Nachstrebung Tugend heißt." (IV 830) Wer wollte denn auch leugnen, daß aller selbstverpaßte und mit Stolz zur Schau getragene "Heiligenschein" sich augenfällig nur allzu oft als umso größere Scheinheiligkeit entpuppt; geboten ist nach Kant wohl das Bemühen der ständigen Annäherung an dieses Ideal, und je mehr dieses gelingt, desto eher sei erst als Frucht solchen ewig strebenden Bemühens in der Folge die Verwandlung "in mehrere Leichtigkeit", d. i. Umwandlung der "ehrfurchtsvollen Scheu in Zuneigung und [der] Achtung in Liebe" (IV 206) letztendlich zu erhoffen. Auch dann ist allerdings noch darauf zu achten, daß solche Neigung der "schönen Seele", "in der das sittliche Bewußtsein sich mit dem Guten [erst] zusammenschließt . . . offenbar nicht in demselben Sinn Neigung genannt werden" kann "wie jene, die durch den guten Willen zurückgewiesen wird."104 Kaum etwas hat Kants Widerspruch in der Unerbittlichkeit hinnehmen müssen wie die Huldigung jener bloß "schmelzenden Teilnehmung", die aufgrund ihrer völligen Unverbindlichkeit und Untauglichkeit als sittliches Prinzip von Kant als "pathologische Liebe" bezeichnet wird und so in ihrer "Natürlichkeit" als zwar nicht unsittlich, aber doch in sittlicher Hinsicht irrelevant zurückgestellt wird ~ im Unterschied eben zu jener "praktischen Liebe", "die im Willen liegt und nicht im Hange der Empfindung." (IV 26) Denn allein "Pflicht und Schuldigkeit sind die Benennungen, die wir allein unserm Verhältnisse zum moralischen Gesetze geben müssen." (IV 204)105

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D. Henrich, Das Problem der Grundlegung . . . 381. Schon in seinen frühen "Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen" erachtet Kant das lediglich als gewisse Weichmütigkeit verstandene Mitleid (bzw. dessen "Gutherzigkeit") als zwar "schön und liebenswürdig, aber eben keiner Haltung und Grundsätze fähig", ist diese doch in Kants Urteil als "gutartige Leidenschaft . . . gleichwohl schwach und jederzeit blind". (I 835) "Die Gutherzigkeit, eine Schönheit und feine Reizbarkeit des Heizens, nach dem Anlaß, der sich vorfindet in einzelnen Fällen mit Mitleiden oder Wohlwollen gerührt zu werden, ist dem Wechsel der Umstände sehr unterworfen, und, indem die Bewegung der Seele nicht auf einem allgemeinen Grundsatze beruht, so nimmt sie leichthin veränderte Gestalten an, nachdem die Gegenstände eine oder die andere Seite darbieten." (I 839) — So läßt sich zwar mit Warnach sagen, daß Kant mit der Neigung die "Liebe als 'Krankheit des Gemüts' aus dem sittlichen Bereich ausgeschlossen wissen will, ihr jedenfalls darin keine Geltung als mitbestimmenden Faktor zubilligt, weil sie die Herrschaft der Vernunft einschränke"; nicht läßt sich daraus Warnachs Ansicht ableiten, daß der "kantische Intellektualismus . . . jede Form der Liebe als 'pathologisch' abtut." (V. Warnach, Agape . . . 185 Anm. 1) - Die Wucht, mit der Adorno die Verachtung des Mitleids bei Kant meint anprangern zu müssen — die für ihn sogar Kants praktische Vernunft mit Nietzsches "Werdet hart!" zusammenstimmen läßt (Negative Dialektik 275 f.), verfehlt Kants Auffassung nicht nur deshalb, weil diese durchaus den positiven Sinn dieses Mitleides als "adoptierter Tugend"

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In Weiterführung der voranstehenden Überlegungen vermag nun ein anderer Aspekt seine besondere, für die angemessene Einschätzung des Stellenwertes der kantischen Ethik sowie deren Bedeutung für seine Religionsphilosophie recht erhebliche Relevanz zu gewinnen. Wird nämlich mit der radikal "revolutionierten Denkungsart" als einer "Modifikation des Wollenden"106 in diesem nunmehr eben so zu nennenden "Reich der Tugendpflicht" ein neues Maß gewonnen und als verbindlich anerkannt, dann ist von dem "ganzen moralischen Zweck", der "Vollkommenheit" und der "ganzen Pflicht und der Erreichung der Vollständigkeit des moralischen Zwecks" ohne die Rücksicht auf diesen Stand der Freiheit gar nicht zu reden. Sodann ist nicht nur die so verstandene Freiheit der Angehörigen dieses Reichs als das von Kant gelegentlich so genannte "innere Prinzip der Welt" aufzufassen, wodurch erst in einem eminenten Sinne "die menschliche Vernunft wahrhafte [!] Kausalität zeigt, und . . . Ideen wirkende Ursachen (der Handlungen und ihrer Gegenstände) werden, nämlich im Sittlichen" (II 324); überdies — und dies scheint im weiteren auch für das Verständnis der erweiterten Postulatenlehre nicht nebensächlich zu sein ~ ist in diesem neu eröffneten Horizont jedenfalls auch die Unterscheidung zwischen dem so genannten "schuldigen" und "verdienstlichen" Werk bei Kant selbst nicht bloß relativiert, sondern sogar, an solch hohem Maßstab orientiert, im Grunde eigentlich aufgehoben. Gilt doch auch für Kant, "daß wir [nicht nur] in Rücksicht auf Gott nie mehr, als unsere Schuldigkeit tun können, so ist es auch nur unsere Pflicht, den Armen Gutes zu tun. Denn die Ungleichheit des Wohlstandes der Menschen kommt doch nur von gelegentlichen Umständen her." (VI 752) Auch Kants durchaus vorsichtig-kritische Abschätzung von "geschuldeten" und "verdienstlichen" Handlungen ist nicht zu übersehen oder durch den allzu raschen Hinweis auf Kants Unterscheidung zwischen "vollkommenen" und "unvollkommenen" Pflichten zu überspielen: "Man kann mit Anteil haben an der allgemeinen Ungerechtigkeit, wenn man auch keinem nach den bürgerlichen Gesetzen und Einrichtungen ein Unrecht thut. Wenn man nun einem Elenden eine Wohltat erzeiget, so hat man ihm nichts umsonst gegeben, sondern man hat ihm das gegeben, was man ihm durch eine allgemeine Ungerechtigkeit hat entziehen helfen. Denn wenn keiner die Güter des Lebens mehr an sich ziehen möchte, als der andere, so wären keine Reiche aber auch keine Arme. Demnach sind selbst die Handlungen der Gütigkeit Handlungen der Pflicht und

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(als wesentlich zur "humanitas" gehörig) anerkennt, sondern weil Kants Bedenken hier doch in eine grundsätzlich andere Richtung zielen. Hegel, Frühe Schriften 1,301.

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Schuldigkeit, die aus dem Recht [!] anderer entspringen."107 Zwar kommt der Unterscheidung zwischen Rechts- und Tugendpflichten bei Kant tatsächlich eine große Bedeutung zu; sie meint aber doch anderes, als daß sie mit den angeführten Gedanken Kants im Widerspruch stünde. Die Rechtspflicht als "Pflicht der freien Achtung gegen andere, weil sie eigentlich nur negativ ist (sich nicht über andere zu überheben)", ist als "schuldige Pflicht" (IV 584) von der ("verdienstlichen") Tugendpflicht in folgender Weise abgegrenzt: "Was jemand pflichtmäßig [!] mehr tut, als wozu er nach dem Gesetze gezwungen werden kann, ist verdienstlich (meritum); was er nur gerade dem letzten angemessen tut, als die letzte fordert, ist moralische [!] Verschuldung (demeritum)". (IV 334)108 In seiner Religionsschrift sieht Kant auch Anlaß zu der klärenden Anmerkung: das "Verdienst (ist) nicht ein Vorzug der Moralität in Beziehung aufs Gesetz (in Ansehung dessen uns kein Überschuß der Pflichtbeobachtung über unsere Schuldigkeit zukommen kann), sondern in Vergleichung mit anderen Menschen, was ihre moralische Gesinnung betrifft." (IV 814 Anm.) Wiederholt betont Kant auch die Unmöglichkeit, einen "Überschuß über das, was er jedesmal an sich zu tun schuldig ist, heraus[zu]bringen; denn es ist jederzeit seine Pflicht, alles Gute zu tun, was in seinem Vermögen steht." Kants Polemik und Spott galt auch in diesem Fall ganz besonders den arroganten Anmaßungen jener, die "gleichsam als Volontaire" dazu neigen, sich "mit stolzer Einbildung über den Gedanken von Pflicht wegzusetzen". (IV 204) Von einer (wenn auch nur) der ethischen Gesetzgebung zukommenden

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Kant, Akademie-Ausgabe 27.1,416. — Henrich gibt Kants Ansicht also korrekt wieder nach Kant "soll man Gaben an andere eben als Schuldigkeit auffassen, die sich daraus ergibt, daB die Güter der Welt ungerecht verteilt sind, und die uns gebietet, solche Ungerechtigkeiten auszugleichen. Auch ist bei jeder Hilfe Delikatesse geboten. Sie darf nicht das Bewußtsein des Hilfsbedürftigen mindern, selbständiges und vernünftiges Wesen zu sein. Wer Interesse am Anderen zeigt, läuft eher Gefahr, ihm mehr in dem zu schaden, was ihm das Wesentlichste sein muB, als er ihm in dem durch äußere Gaben helfen kann." (Das Problem der Grundlegung . . . 366; vgl. auch Menzer, Eine Vorlesung Kants . . . 246.) Nicht uninteressant, daß Kant in der späten Tugendlehre den Liebespflichten als deren Verfehlung das peccatum, der Achtung hingegen, die als "negative Pflicht" geschuldet ist, das Laster (vitium) als Verfehlung zuordnet. (IV 603) Kant greift hier offensichtlich auf Unterscheidungen der Tradition zurück - jedenfalls was die Terminologie betrifft. Hängt damit nicht die Einsicht des Christentums zusammen, die die Sünde primär als ein Verfehlen der Liebe und des Glaubens von der moralischen Schuld noch unterschieden wissen will? Kant selbst hat diese sachlichen Differenzierungen jedoch für seine eigene Systematik (und auch für seine Religionsphilosophie) nicht fruchtbar gemacht. Seine Überlegungen zu der durch "hergebrachte fromme Lehren erleuchteten praktischen Vernunft" vermögen so diesen Fragen in diesem Sinne auch nicht ausreichend gerecht zu werden.

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"Verdienstlichkeit" kann deshalb bei Kant auch nicht die Rede sein.109 Der von Kant tatsächlich wiederholt betonte Sachverhalt, daß die "Pflichten nach der rechtlichen Gesetzgebung . . . nur äußere Pflichten sein" können(IV 324) und nur mit diesen Rechtspflichten Zwangsbefugnis sich verbinden kann, darf nicht darüber hinwegsehen lassen, "daß alle Pflichten bloß darum, weil sie Pflichten sind, mit zur Ethik gehören; aber ihre Gesetzgebung ist darum nicht allemal in der Ethik enthalten, sondern von vielen derselben außerhalb derselben." (IV 325) Dies ist auch der Rechtfertigungsgrund für die Kennzeichnung aller Pflichten als "Zwangspflichten" in "Ansehung Gottes": "Der Inbegriff der Pflichten also wozu wir durch menschlichen Zwang nicht können gezwungen werden, macht die Ethik oder die Tugendlehre aus. Die Tugendlehre begreift alle verdienstlichen Pflichten. Verdienst ist das Gute was wir zu tun nicht schuldig sind, deijenige der mehr tut als er schuldig ist, der tut Verdienst. In Ansehung der Menschen können wir verdienstliche Werke haben. Alle Handlung so fern sie zur moralischen Vollkommenheit gehöret, ist unsere Pflicht. In Ansehung Gottes können wir keine verdienstliche Werke tun."110

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Ebensowenig jedoch auch davon, daB "das Wohlwollen [in Abhebung von der Befolgung der Rechtspflichten] unter die Adiaphora" zu zählen bzw. dies als "kasuistische Frage" anzusehen sei. Bezüglich der "Pflicht des Wohltuns" distanziert Kant im Bewußtsein der Unzulänglichkeit der "Gemeinnützigkeit" eine bloß kalkulierende, hypothetisch gebotene Erwägung, zumal diese "Pflicht des Wohltuns" als "allgemeine Pflicht" des Menschen so deshalb zu gelten habe, "weil sie als Mitmenschen, d. i. bedürftige, auf einem Wohnplatz durch die Natur zu wechselseitiger Beihilfe vereinigte vernünftige Wesen anzusehen sind." (IV 589 f.) Kants "Zweck, der zugleich Pflicht ist", erschöpft sich nun aber gewiß nicht in solch dürftiger, weil bloß "empirisch-anthropologisch" ausgerichteten Argumentation. Das den Menschen in dem "praktischen Wohltun" nicht nur achtende, sondern ihn als "Zweck an sich selbst" intendierende moralische Subjekt wird sich sodann aber auch von dem Gedanken befreit wissen, im Sinne einer "notwendigen Wechselwirkung" den anderen Menschen durch seine Leistung zu verbinden. (IV 590; vgl. Kant selbst IV 584) Damit ist natürlich auch der Verzicht verbunden, darauf pochen zu wollen, daB "niemand anders ein Recht hat, von mir Aufopferung meiner nicht unmoralischen Zwecke zu fordern" (IV 518) — was nicht heißt, daß dies nicht in gewisser Hinsicht (mit Blick auf die Rechtspflichten) durchaus richtig bleibt. Kant, Akademie-Ausgabe, 27.1.143. Diese Bemerkungen wiederum relativieren, ja korrigieren sogar die zweifellos Mißverständnisse begünstigende Reflexion Kants: "In Ansehung des Rechts anderer (juridische Pflichten) kann ich nur demerita haben, niemals aber ein meritum; in Ansehung der Liebespflicht nur meritum, niemals demeritum." (Reflexion 7285; vgl. Reflexion 7299; Akademie-Ausgabe 27.2.1.560; 27.1.26) - Die in dieser Albeit vorgeschlagene Interpretation des Status und Verbindlichkeitsanspruches der Tugendpflicht (aber auch der darin erforderlichen Vermittlungsstufen) erstreckt sich zweifellos weiter als Schmuckers Erläuterung dieser Zusammenhänge: "Aus diesem Prinzip des Zwecks, der zugleich Pflicht ist, ergibt sich ferner als wesentliches und charakteristisches Merkmal der Tugendpflichten, daß sie im Unterschied von den Rechtspflichten nur von weiter Verbindlichkeit sind, und zwar deshalb, weil dieses Prinzip nur die Maximen der Handlungen, nicht aber die einzelnen Handlungen selbst bestimmen

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Bezüglich "Schuldigkeit" und "Verdienstlichkeit" der Pflichten bleibt genau der eigentliche Verpflichtungsgrund und die damit zugleich definierte Reichweite dieser Pflichten zu beachten: "Denn derjenige, der mich verpflichtet, thut dies vermöge des Gesetzes der Freiheit, dieser Grund seines Rechts und meiner Obligation ist aber zu gleicher Zeit durch die Rechtmäßigkeit meines Willens eingeschränkt, so daß meine Freiheit gegen die seinige in ihrer Legalität im Verhältnis steht: In solchem Verhältnis stehen nun alle vernünftigen Wesen unter sich".111 Zu diesen Tugendpflichten ergeben sich schon deshalb bedeutsame Fragen, weil doch die Reichweite der Rechtspflicht lediglich dies besagt, daß kein Rechtsanspruch über die definierte "Obligation" hinaus seitens dieser wechselseitig Verpflichteten selbst geltend zu machen ist (s. o. 34 ff.). Für diese Tugendpflicht erwachsen weiter reichende Ansprüche freilich auch schon deshalb, weil die Geltung des Satzes: "Wir haben gegen kein Wesen eine Pflicht, als gegen ein vernünftiges Wesen"112, gewiß nicht lediglich auf die Rechtspflichten und deren Zwangsbefugnis einzuschränken ist. Daß nämlich "ein anderer aus seinem Rechte wohl Handlungen nach dem Gesetz, aber nicht, daß dieses auch zugleich die Triebfeder zu demselben enthalte, von mir fordern kann" (IV 521), ist von Kant gegen alle überdehnten vermeintlichen Rechtsansprüche auf die Rechtspflichten und deren "enge Verbindlichkeit", d. i. gegen alle Versuche einer "Moralisierung des Rechtes", hin gesprochen und bleibt so auch ganz außer Streit. Bezüglich des Status der "weiten Pflichten" bleibt indessen noch zu bedenken, daß diese doch dazu anhalten, "niemals anders zu verfahren als so, daß ich auch wollen [!] könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden." (IV 54) Nun kann freilich niemand, ohne sich als "Zweck an sich" aufzugeben, jemals w o l l e n , daß mit ihm aus anderen als wirklich moralischen Grundsätzen "verfahren" werde, d. h. aber: die Triebfeder" dazu gleichsam beliebig sei -- wenn es natürlich auch unsinnig wäre, daraus einen erzwingbaren Rechtsanspruch ableiten zu wollen.113 Niemand kann als

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und vorschreiben kann (wie das formale Gesetz des Rechtes tut) und es so der Willkür [!] in der Erfüllung notwendig einen Spielraum läßt.* (J. Schmucker, Der Formalismus . . . 187) Kant, Akademie-Ausgabe 27.2.1,581. Kant, Akademie-Ausgabe 27.1,84. Ein weit verbreitetes Miß Verständnis dürfte tatsächlich darauf beruhen, daß der für ein Verständnis des genauen Gehaltes der kantischen Moralphilosophie und Ethik entscheidende Umstand weithin vernachlässigt bleibt, dem zufolge Kant ausdrücklich den "Kanon der moralischen [!] Beurteilung" der Maxime so bestimmt: "Man muß w o 11 en können, daß eine Maxime unserer Handlung ein allgemeines Gesetz werde"; damit bezieht sich dieser Kanon aber nach Kant der "Art der Verbindlichkeit nach" ausdrücklich auf die so genannten "weiten (verdienstlichen) Pflichten". Ein bloß negativ-logisches Kriterium (Acton, Gram, Frankena, Kemp) genügt also nicht!

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"Zweck an sich selbst" wollen, lediglich diesem Prinzip der "Legalität" genügend behandelt zu werden, könnte doch eine solche "Maxime der Zwecke" gerade nicht "für jedermann ein allgemeines Gesetz sein". (IV 526) Es scheint undenkbar, daß dies "im Verhältnis der Menschen zu sich selbst und anderen Zweck sein kann" und widerstreitet somit evidenterweise dem "Zweck der reinen praktischen Vernunft". Diesem Zweck jedoch zu widerstreiten bedeutete folglich, den Anderen einer "Absicht zu unterwerfen, die nicht nach einem Gesetze, welches aus dem Willen des leidenden Subjekts selbst entspringen könnte, möglich ist"; keinesfalls wäre damit (wenigstens uneingeschränkt und d. h. dem umfassenden Anspruch der Tugendpflicht entsprechend) aber schon jener Forderung Genüge getan, diesen Anderen eben "niemals bloß als Mittel, sondern zugleich selbst als Zweck zu gebrauchen." (IV 210) Dies ist bei Beachtung des Status der so genannten unvollkommenen Pflichten, des genauen Gehaltes der Menschheitsformel sowie des Stellenwertes des "Imperativs, der die Tugendpflicht gebietet", zu bedenken, soll nicht Kants Mahnung unversehens doch in eine falsche Richtung weisen, der zufolge niemand verlangen (d. h. aber doch wohl: es erzwingen!) könne, daß "dieses Prinzip aller Maximen selbst wiederum meine Maxime sei, d. h. daß ich es mir zur Maxime meiner Handlung mache; jeder kann frei sein, obgleich seine Freiheit mir gänzlich indifferent wäre, oder ich im Herzen derselben gerne Abbruch tun möchte, wenn ich nur durch meine äußere Handlung ihr nicht Eintrag tue. Das Rechthandeln mir zur Maxime zu machen, ist eine Forderung, die die Ethik [!] an mich tut." (IV 338) Nun empfiehlt es sich aber freilich zur Vermeidung vorschneller Schlußfolgerungen, Kants Bestimmung des "Kanons der moralischen [!] Beurteilung" genau beim Wort zu nehmen: "Man muß wollen [!] können, daß eine Maxime unserer Handlung ein allgemeines Gesetz werde: dies ist der Kanon der moralischen Beurteilung derselben überhaupt." (IV 54) Niemand kann, wie schon gesagt, vernünftigerweise wollen, eben aus anderen als moralischen Motiven (d. i. unter Verzicht auf jegliche moralische Gesinnung) behandelt zu werden, woraus wiederum natürlich kein Recht erwachsen kann, solches zu fordern. Kants Forderung wäre anders doch gar nicht einzulösen, daß der Mensch als "Subjekt der Zwecke" müsse als "oberstes praktisches Prinzip" fungieren. Mit dem frühen Schelling gesprochen wäre zu sagen, daß im gegenteiligen Fall jedenfalls (vermutlich auch für Kant) dem von ihm so bezeichneten "höchsten Gebot der Ethik" widersprochen wäre: "handle so, daß dein Wille absoluter Wille sei; handle so, daß die ganze moralische Welt deine Handlung (ihrer Materie und ihrer Form nach) wollen [!] könne; handle so, daß durch deine

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Handlung (ihrem Inhalt und ihrer Form nach) kein vernünftiges Wesen als Objekt, sondern als mithandelndes Subjekt gesetzt werde."114 Gewiß zeigt sich auch in diesem Zusammenhang eine unleugbare Unausgeglichenheit in Kants Argumentation, die nun ebenso die Frage nach dem präzisen und umfassenden Gehalt des Autonomie- Prinzips, wie auch denjenigen der Menschheitsformel berührt: "Die Pflicht der Achtung [!] meines Nächsten ist in der Maxime enthalten, keinen anderen Menschen bloß als Mittel zu meinen Zwecken abzuwürdigen (nicht zu verlangen, der andere solle sich selbst wegwerfen, um meinem Zwecke zu frönen)." (IV 586) Denn diese Formulierung Kants erweist sich nun, ein wenig genauer besehen, als noch zweideutig: will Kant so diese "Pflicht der Achtung meines Nächsten" mit der Maxime, "keinen anderen Menschen bloß als Mittel zu meinen Zwecken abzuwürdigen", etwa gar schon gleichsetzen, oder formuliert diese zitierte Wendung doch lediglich — und zwar in sehr vorsichtig-behutsamer Weise ~ den hier als Lesart vorgeschlagenen Sachverhalt, daß diese umfassende "Menschheitsformel" die "Pflicht der Achtung [!] meines Nächsten" zwar ganz selbstverständlich in sich "aufgehoben" hat, mitnichten aber mit dieser so ohne weiteres zu identifizieren ~ d. h. aber: auf diese zu reduzieren — ist? Letzteres mag schon deshalb als die plausiblere Version gelten, weil sich doch schon erwiesen hat, daß die berühmte "Menschheitsformel" des kategorischen Imperativs sich ganz ausdrücklich auf die "positive Übereinstimmung" bezieht und folglich, wie oben zu zeigen versucht wurde, auch noch im Lichte der Intention des "obersten Prinzips der Tugendlehre" ~ und damit der "Pflicht der Nächstenliebe" — gesehen werden muß. Dabei sollte auch einsichtig geworden sein, daß "von allem Unterschied der Person" abzusehen mit dem Anspruchsniveau der Tugendpflicht selbstverständlich nicht nur unverträglich, sondern dieser geradewegs zuwider ist. Das Individuum ist wirklich nur als "besonderes" ~ in ihm sind so alle "Achtungsverhältnisse" noch aufgehoben (im philosophischen Sinn des Wortes) —, und verwehrt sich gegen seine Subsumtion unter ein bloß Allgemeines, ebenso jedoch auch gegen seine Reduktion auf ein gleichsam "begriffloses" Einzelnes. Schon bei Kant wäre infolgedessen in Sicht zu bringen, was Heinrichs als "personale Erkenntnis in ihrer Eigentümlichkeit" indessen bei Kant gerade vermissen will: "sie ist ein Einander- Erkennen als Einander-Bejahen, ein erkennendes Erkannt-werden als bejahendes Bejahtwerden. Der frei geschenkte, nämlich in unverfügbarer Offenbarung des Anderen ermöglichte und nur in hebender Bejahung anzueignende Sinn beinhaltet eine Erkenntnis, wie sie

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Schelling, Neue Deduktion des Naturrechts § 45. In: Schriften von 1794-1798, 135. (Ausgewählte Werke, Darmstadt 1967)

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niemals ohne das bejahende Zueinanderübergehen erreichbar wäre."115 Denn der "Imperativ, der die Tugendpflicht gebietet", "durchbricht" noch den kategorischen Imperativ und sein konstitutives Prinzip der Universalisierung in dem ganz bestimmten Sinn, daß er diesen und dessen Anspruch als "Imperativ der Besonderung" insofern "aufhebt", als seine Intentionsform eben auf die je zu leistende Individuierungsaufgabe gerichtet ist, weil es nur so dem "Zweck, der zugleich Pflicht ist" zu genügen und d. h. so dem Anspruch des "Ideals der reinen praktischen Vernunft" zu entsprechen vermag. Der vorhin angesprochene Sachverhalt, daß niemand (ohne sich als "Zweck an sich selbst" aufzugeben) w o l l e n könne, aus anderen als moralischen Motiven behandelt zu werden, ist in solcher Perspektive nur die Kehrseite der von Kant wiederholt vorgetragenen Forderung, das moralische Gesetz sei nicht lediglich als die "Regel" zu verstehen, sondern müsse vielmehr selbst auch notwendig als die Triebfeder der Handlungen" (IV 523) fungieren.116 Nun hat Kant tatsächlich in der Beantwortung der Frage nach dieser Möglichkeit des "moralischen Gesetzes als Triebfeder" wiederholt "darauf hingewiesen, daß der kategorische Imperativ in seiner bloßen Intelligibilität keinerlei Macht hätte, motivierendes Prinzip auch nur einer einzigen Handlung zu sein, hätte er nicht im Bereich des Sinnlichen selbst seine eigene Triebfeder: die Achtung. Achtung ist für Kant das allein sittliches Streben ermöglichende Paradoxon, daß das Sittengesetz, das als solches allem Triebe in seiner Mannigfaltigkeit schlechthin entgegengesetzt ist, selbst als ein Trieb unter anderen auftritt. Erst durch die Achtung vermitteln sich die auseinanderklaffenden Momente, erst durch sie kann sittliches Streben, das bis dahin bloß als möglich denkbar war, als ein Wirkliches erklärt werden."117 Eben diese Achtung muß also selbst "Triebfeder" sein.118 Auch hier erweist sich sodann noch die Wichtigkeit der kantischen Unterscheidung zwischen dem "obersten principium aller moralischen Beurteilung" (dem "Verstand") und dem "obersten principium des moralischen Antriebes" (dem "Herzen"). Sie bleibt im weiteren beachtenswert etwa auch bezüglich der folgenden Argumentation Kants, welche jedoch die von ihm selbst als notwendig ausgewiesene Unterscheidung zwischen der "Richtschnur" und der "Triebfeder" nun allerdings nicht hinreichend zu berücksichtigen scheint: "Nun kann man sich unmöglich eine Vernunft denken, die mit ihrem eigenen Bewußtsein in Ansehung ihrer Urteile [!] anderwärts her eine Lenkung

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J. Heinrichs, Sinn und Intelsubjektivität... 175. Dies hat sich als der eigentliche Sinn der schwierigen Formel: "Handle nur nach deijenigen Maxime, d u r c h die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde" (IV 51) erwiesen. H. D. Klein, Vernunft und Wirklichkeit 1,172. Vgl. D. Henrich, Das Problem der Grundlegung . . . 367 ff.

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empfinge, denn alsdenn würde das Subjekt nicht reiner Vernunft, sondern einem Antriebe, die Bestimmung der Urteilskraft [!] zuschreiben. Sie muß sich selbst als Urheberin ihrer Prinzipien ansehen, unabhängig von fremden Einflüssen, folglich muß sie als praktische Vernunft, oder als Wille eines vernünftigen Wesens, von ihr selbst als frei angesehen werden." (IV 83) Es ist unübersehbar: die Unterscheidung zwischen "Richtschnur" und "Triebfeder" empfiehlt sich zur Vermeidung von Mißverständnissen auch um einer präziseren Bestimmung des "obersten Prinzips der Moralität" willen: "Wenn die Frage ist: was ist sittlich gut oder nicht, so ist das das principium der Dijudikation, nach welchem ich die Bonitaet und pravitaet der Handlungen beurteile. Wenn aber die Frage ist, was bewegt mich diesem Gesetz gemäß zu leben? So ist das das principium der Triebfeder. Die Billigung der Handlung ist der objective Grund, aber noch nicht der subjektive Grund. Dasjenige, was mich antreibt, das zu tun, worin der Verstand sagt, ich soll es tun, das sind die motiva subjektiva moventia. Das oberste principium aller moralischen Beurteilung liegt im Verstände, und das oberste Prinzipium des moralischen Antriebes, diese Handlung zu tun, liegt im Herzen."119 Die mit diesem ebenso berühmten wie auch vielkritisierten Lehrstück Kants über die "Achtung" verbundenen Schwierigkeiten sind hier nicht näher zu verfolgen. Mit Blick auf das kantische Lehrstück über die "ästhetischen Vorbegriffe" in der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten sei aber nun noch die Vermutung ausgesprochen, daß Kant in seiner Einführung der alle bloße "Tugendverpflichtung" noch transzendierenden "Tugendpflicht" im Grunde doch ganz analog zu argumentieren versucht: "Denn, da die sinnlichen Neigungen zu Zwecken (als der Materie der Willkür) verleiten, die der Pflicht zuwider sein können, so kann die gesetzgebende Vernunft ihrem Einfluß nicht anders wehren, als wiederum durch einen entgegengesetzten moralischen [!] Zweck, der also von der Neigung unabhängig apriori gegeben [!] sein muß . . . Daß ich aber auch verbunden bin, mir irgend etwas, was in den Begriffen der prak-

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Kant, Akademie-Ausgabe 27.1,274. Die im Anspruch des "kategorischen Imperativs" vereinigte Funktion des "Dijudikationsprinzips" mit dem "Exekutionsprinzip" hat ihren prägnantesten Ausdruck wohl doch in der Formel gefunden: "Handle pflichtmäßig aus Pflicht!" (vgl. IV 203) Dies besagt freilich noch anderes - auf den Beistrich kommt es an! - als jenes "allgemeine ethische Gebot": "handle pflichtmäßig, aus Pflicht*. (IV 521) Kant spricht von der "Lauterkeit", der zufolge "die Handlungen nicht bloß pflichtmäßig, sondern a u s P f l i c h t geschehen." (IV 582) — Im Grunde ist freilich der im Text zitierten Stelle zufolge der Autonomiebegriff sowohl auf das Dijudikationsprinzip wie auch auf das "Exekutionsprinzip" zu beziehen. Diese Notwendigkeit wird allerdings durch kantische Stellungnahmen der folgenden Art eher verdeckt: "Autonomie des Willens ist die Beschaffenheit des Willens, dadurch derselbe, ihm s e l b s t . . . ein Gesetz ist." (IV 74) Ganz besonders gilt dies auch, wenn es heißt: "Freiheit und eigene Gesetzgebung des Willens sind beides Autonomie, mithin Wechselbegriffe." (IV 86)

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tischen Vernunft liegt, zum Zwecke zu machen, mithin, außer dem formalen Bestimmungsgrunde der Willkür . . . noch einen materialen, einen Zweck zu haben, der dem Zweck aus sinnlichen Antrieben entgegengesetzt werden könne: dieses würde der Begriff von einem Zweck sein, der an sich selbst Pflicht ist." (IV 509) Demzufolge fungierte also dieser "Zweck, der zugleich Pflicht ist", in Kants Argumentationsfigur mit Hinblick auf die Begründung der Tugendpflicht offenbar als Pendant zur "Achtung", die bezüglich der "Rechtspflichten" notwendig allein maßgebend bleibt.120 Da kein menschliches Handeln als solches von der Zwecksetzung absehen kann, so kann die damit ins Blickfeld tretende "Zwecklehre" indessen doch nur eine "moralische" sein, die im Unterschied zu einer bloß "pragmatischen Zwecklehre" "nicht von Zwecken, die der Mensch sich nach sinnlichen Antrieben seiner Natur macht", folglich handeln kann, "sondern von Gegenständen der freien Willkür unter ihren Gesetzen . . . , welche er sich zum Zweck machen soll." (IV 515; vgl. IV 527 f.) Der dieserart vermittelte Begriff des "gebotenen Zwecks" ist damit gemäß der Tugendlehre deijenige, "den anderen Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen", während der bloß natürliche Zweck, also die "eigene Glückseligkeit", lediglich den anderen Teil der unvermeidlichen menschlichen Wünsche" darstellen kann, der so zwar nicht einfach suspendiert, aber doch notwendigerweise hiotangestellt werden muß. (IV 217) Die eben vorhin genannte prinzipielle Schwierigkeit, nämlich die Idee der nicht uneingeschränkten Verpflichtung zugleich mit dem der "Verdienstlichkeit" in Einklang zu bringen, versucht Eisenberg folgenderweise zu umgehen: "Mit anderen Worten, der Handelnde tut nur seine Pflicht, aber weil der Empfänger der Wohltat in diesem Bereich nach Kant keine Rechte hat, muß er die Handlung als verdienstlich und den Handelnden als jemand ansehen, der mehr oder anderes tut, als die Pflicht verlangt."121 Diskutierenswert ist deshalb zwar die Ansicht Wildts, Maß Kant sich die Frage nach der Weise der Verbindlichkeit nicht-strenger Verpflichtungen nicht wirklich gestellt hat und an einem generellen Begriff von Pflicht festgehalten hat, der an den Paradigmen des juridisch legitimen Befehls und Zwanges oder jedenfalls der legitimen Forderung und Sanktion orientiert bleibt und ihm zu Recht den Vorwurf des 'Rigorismus' eingebracht hat."122 Wildts schon erwähnter Vorwurf der "Rechtsförmigkeit in Kants Ethik" mag, auf das Ganze der kantischen Ethik gesehen, allerdings doch als zu hart erscheinen. Wildt versucht diese These durch den Hinweis zu stützen, daß Kants Ethik zum einen eben "die

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S. dazu allerdings oben Anm. 113. P. D. Eisenberg, From the Forbidden to the Supererogatory: The Basic Ethical Categories in Kants "Tugendlehre". In: American Philosophical Quaterly (1966) 266 f., zit. n. A. Wildt, Autonomie und Anerkennung . . . 132 Anm. 176. A. Wildt, Autonomie und Anerkennung . . . 133 f.

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Idee einer nichtforderbaren und nicht sanktionierbaren Verpflichtung" fehle "und diese Idee . . . auch mit zentralen Lehrstücken seiner Ethik unvereinbar" bleiben müßte, wo doch Kants Ethik "auch in wichtigen Punkten am Paradigma des juridischen Rechts orientiert" sei. Auch wenn man letzterem alle Zustimmung nicht versagen will: widerspricht dem Urteil Wildts betreffend den erstgenannten Punkt nicht auch schon die Bemerkung Kants aus den Vorarbeiten zur Tugendlehre: "Die Tugendpflicht gegen andere Menschen ist nicht alle seine Rechte die man hat zu verfolgen, also versöhnlich zu sein"?123 Anders steht es aber doch bezüglich der weiteren Frage, welcher Stellenwert denn dieser "Verpflichtung" von Kant näherhin eingeräumt wird, ist diese doch unverkennbar auch nach Kant "in einem ganz anderen Sinne Gebot als das Sollen des Pflichtgebots."124 Wildts Anliegen, daß "es bei dem Wollen des Willens anderer nicht nur kantianisch darum" zu tun sei, "ihr Recht auf gleiches Wollen, gleiche Freiheit und Selbstverwirklichung zu wollen, sondern tendenziell auch darum, ihr besonderes Wollen zu wollen, d. h. sich mit diesem Wollen zu identifizieren und solche Institutionen zu wollen, die eine spezifisch sittliche Beziehung auf das besondere Wollen der anderen ermöglicht"125 solchem Ansinnen hätte Kant gewiß nicht widersprechen wollen, kommen doch wesentliche Ausführungen der Tugendlehre, der Gedanke der "ganzen moralischen Vollkommenheit" (und die "revolutionierte Denkungsart"), wie auch die umfassende (unverkürzte) Idee des "Reiches Gottes" diesem Anliegen Wildts offenkundig entgegen. Dies wäre natürlich im einzelnen nur in genauer Diskussion besonders des grundlegenden ersten Teils der wichtigen Arbeit Wildts ("Revision und Rekonstruktion von Hegels Moralitätskritik") aufzuweisen, wenn doch mit dieser Thematik "eine philosophische Erneuerung des moralischen Motivationsproblems" in Frage steht126, und zugleich damit auch die "gegenüber Kant neuartige Reflexion [Hegels] darauf, welche Rolle transsubjektive Motivationen, nämlich altruistische Neigungen, Lebenskonzeptionen und moralische Intentionen bei der Konstitution von moralisch- praktischer Richtigkeit" spielen"127, auf ihre Berechtigung und die Tragweite ihres Anspruches zu überprüfen blieben. Diese soeben ein wenig ausführlicher vorgestellten Bedenken bleiben ~ in anderer Akzentuierung ~ insbesondere auch zu beachten, soll Wimmers These

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Kant, Akademie-Ausgabe XXIII 401; vgl. 408. Hegel, Frühe Schriften I, 324; vgl. dazu Wildt bes. 179-194. A. Wildt, Autonomie und Anerkennung . . . 392. A. Wildt, Autonomie und Anerkennung . . . 18. A. Wildt, Autonomie und Anerkennung... 15. - Auch J. Schwartländer meint gegenüber den "Liebespflichten gegen andere" kritisch einwenden zu müssen, daß es Kant nicht gelungen sei, den Charakter dieser Pflichten als solcher an irgendeiner Stelle wirklich deutlich zu machen. (Der Mensch ist Person . . . 197)

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den bei Kant vorfindlichen Sachverhalt nicht doch verzerren: nach Wimmer sieht Kant nämlich "die (außermoralische) Selbstverwirklichung- und -Vervollkommnung und die Förderung von Wohl und Glück anderer Menschen als rechtliche und moralische Pflicht an, soweit sie zur Gewinnung und Erhaltung eigener und fremder Autonomie in allen ihren Stufen notwendige Bedingungen darstellen. Darüber hinausgehende Verpflichtungsansprüche sind vom kategorischen Imperativ, dem Prinzip der Autonomie, nicht abgedeckt... Ahnlich dürfte es unmöglich sein, den Dienst am Mitmenschen über das vom Autonomieprinzip Geforderte hinaus moralisch verpflichtend zu machen; hier ist Raum für das, was die Tradition 'opera supererogatoria' nennt."128 Abgesehen einmal von den bei Kant selbst unübersehbaren Bezügen bleibt in dieser Sicht Wimmers doch auch Kants ausdrückliche und für seine Ethik so bedeutende Unterscheidung zwischen dem "moralischen Imperativ" und "demjenigen, der die Tugendpflicht gebietet" (IV 527 f.), noch völlig unberücksichtigt. Selbstverständlich wußte auch Kant recht gut darum, "daß man Bereichen der Einbildungskraft — ästhetischen Bereichen oder dem Bereich der Liebe — nicht gerecht wird, wollte man sie allein mit sittlich-moralischen Wertmaßstäben beurteilen und messen. Man kann sie in ihrer Tiefe und Unmittelbarkeit durch sittliche oder moralische Kriterien nicht erfassen und ausschöpfen, da [doch] beispielsweise Liebende in ihrer Liebe mehr sind als nur moralische Wesen. Sie bleiben zwar auch moralische Wesen und als solche auch zu beurteilen, aber es kommt für sie ein 'Noch-mehr' hinzu, aus dem sie überhaupt erst die Motive für ihre Handlungen schöpfen und was uns verbietet, sie einer nur sittlich-moralischen Bewertung zu unterziehen. Kant sah diese Ausnahmen nicht."129 Und auch wenn etwa Henrich gewiß zu Recht darauf verweist, daß es — entgegen einer ausschließlichen Beurteilung einer Handlung danach, ob diese "Pflicht" sei ~ dem sittlichen Bewußtsein "in einem darum" gehe, "seine Pflicht zu tun und dem anderen zu helfen"130, wenn doch eben tatsächlich die Liebespflichten (jenseits aller schlechten Disjunktion von Einzelnem- Allgemeinem) nur aus der "Einheit der Intention auf den Anderen und der Intention auf Pflicht"131 zu verstehen sind, so sollte auch dieser an

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R. Wimmer, Universalisierung in der Ethik . . . 195. J. D. Löwisch, Kants Begründung der Gemeinschaft... 184. D. Henrich, Das Problem der Grundlegung . . . 366. D. Henrich, Das Problem der Grundlegung . . . 378.

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Kants Adresse gerichteter Einwand Henrichs sich letztendlich als unzutreffend •

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erweisen. Was in diesem Problemkontext noch von unmittelbarem Interesse ist ~ mit besonderem Blick auf die eben vorhin schon angesprochene Aufgabe der notwendigen "Schematisierung" auch des "obersten Prinzips der Tugendlehre": in dem "ersten Hauptstück: Von den Pflichten gegen andere, bloß als Menschen. Erster Abschnitt: Von der Liebespflicht gegen andere Menschen" (IV 584 ff.) findet sich die schon erwähnte wichtige Bezugnahme Kants auf die Pflicht der Nächstenliebe, "anderer ihre Zwecke (so fern sie nur nicht unsittlich sind) zu den meinen zu machen" (IV 586) — was nunmehr heißt, sich eben fremde Glückseligkeit und damit eben "Wohl und Heil des anderen zum Zwecke zu machen (das Wohltun)". (IV 588) Kant selbst spricht sodann allerdings interessanterweise in dem nun nachfolgenden Hauptstück "Von den ethischen Pflichten der Menschen gegen einander in Ansehung ihres Zustandes" (IV 607) von einer auch diesbezüglich notwendigen "Schematisierung", denn: "Die (Tugendpflichten) können zwar in der reinen Ethik keinen Anlaß zu einem besonderen Hauptstück im System derselben geben, denn sie enthalten nicht Prinzipien der Verpflichtung als Menschen als solcher gegen einander, und können also, von den metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre eigentlich nicht einen Teil abgeben, sondern sind nur, nach Verschiedenheit der Subjekte der Anwendung des Tugendprinzips (dem Formale nach) auf in der Erfahrung vorkommende Fälle (das Materiale) modifizierte, Regeln, weshalb sie auch, wie alle empirische Einteilungen, keine gesichert-vollständige Klassifikation zulassen. Indessen, gleichwie von der Metaphysik der Natur zur Physik ein Überschritt, der seine besondern Regeln hat, verlangt wird: so wird der Metaphysik der Sitten ein Ahnliches mit Recht angesonnen: nämlich durch Anwendung reiner Pflichtprinzipien auf Fälle der Erfahrung jene gleichsam zu schematisieren und zum moralisch-praktischen Gebrauch fertig darzulegen. ~ Welches Verhalten also gegen Menschen, z. B. in der moralischen Reinigkeit ihres Zustandes, oder in ihrer Verdorbenheit;

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Dies gilt auch für den ähnlich gelagerten Einwand Kiilpes: "Ein Verstandesmensch, der nur nach Regeln und Gesetzen handelt, ohne eine Spur von Menschenliebe zu empfinden und zu offenbaren, scheint uns kaum eine vollkommenere Ausprägung sittlicher Ideale zu bilden, als ein Gefühlsmensch, der nur von zufälligen Impulsen getrieben, in unzuverlässigem Überschwang seinen momentanen Neigungen nachgibt. Die abstrakte Begeisterung für die Pflicht kann den Mangel warmer, persönlicher Teilnahme, die eine Wohltat erst zur Wohltat macht, nicht ersetzen. Wir wollen nicht als die bloßen Anwendungsfälle allgemeiner Grundsätze betrachtet und behandelt sein, sondern als Persönlichkeiten von eigentümlichem Wesen und Wert. Was hilft alle Macht der Vernunft und alle Unbedingtheit sittlicher Imperative, wenn kein wirkliches Wohlwollen, kein lebendiges Interesse dazutritt und die menschlichen Aufgaben und Beziehungen durchwaltet!" (O. Külpe, I. Kant . . . 117 f.)

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welches im kultivierten, oder rohen Zustande; was den Gelehrten oder Ungelehrten, und jenen im Gebrauch ihrer Wissenschaft als umgänglichen (geschliffenen), oder mehr auf Geist und Geschmack ausgehenden; welches nach Verschiedenheit der Stände, des Alters des Geschlechts, des Gesundheitszustandes, des der Wohlhabenheit oder Armut usw. zukomme: das gibt nicht so vielerlei Arten der ethischen Verpflichtung (denn es ist nur eine, nämlich die der Tugend überhaupt), sondern nur Arten der Anwendung (Porismen) ab; die also nicht, als Abschnitte der Ethik und Glieder der Einteilung eines Systems (das apriori aus einem Vernunftbegriffe hervorgehen muß), aufgeführt, sondern nur angehängt werden können. ~ Aber eben diese Anwendung gehört zur Vollständigkeit der Darstellung desselben." (IV 607 Anm.) Ist demnach also von Kant selbst zwar eine Schematisierungsaufgabe in diesem Problemkontext angesprochen, so bleibt aber doch im weiteren genauestens darauf zu achten, daß unbeschadet dessen in systematischer Perspektive diese Aufgabe der "Schematisierung" wohl schon wesentlich früher — auch in der Tugendlehre selbst ~ als Problem ansteht: denn der imbedingte Vernunftzweck, den "Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen", erfordert sein "Schema", das primär als "Beförderung fremder Glückseligkeit" bestimmbar ist und näherhin sich als diejenige des endlich-leiblichen Vernunftwesens Mensch erweist, "sich Wohl und Heil des anderen zum Zwecke zu machen (das Wohltun)". Der von Kant vorgetragene Verweis auf die Notwendigkeit der "Schematisierung" setzt indessen bloß erst auf dieser Stufe an und verfehlt ~ besser: überspringt - somit auch das eigentlich unmittelbar anstehende Problem. Denn die sich als bestimmter Wille konkretisierende praktische Vernunft vermittelt sich über den Verstand als dem "Vermögen der Zwecke", das darin freilich auf die "gereifte Urteilskraft" verwiesen bleibt, zumal diese doch erst das zu leisten hat, was Kant mit der eben zuvor genannten "Anwendung reiner Pflichtprinzipien auf Fälle der Erfahrung" (betreffend also die "Arten der Anwendung" und die Bezogenheit auf den "jeweiligen Zustand der Menschen") geltend gemacht hat. Die für den vorliegenden Begründungszusammenhang in erster Linie relevante Aufgabe der "Schematisierimg" bleibt somit im Grunde von Kant noch gänzlich ausgeblendet. Der vorhin schon angeführte längere Passus aus der Tugendlehre formuliert, wenn auch vergleichsweise eher beiläufig, ein über die Bestimmung des "obersten Prinzips der Tugendlehre" und die darin vermittelte (schematisierte) Intentionalität auf je "fremde Glückseligkeit" noch hinausreichendes Problem: nämlich dasjenige der sich so als unabdingbar notwendig erweisenden "praktischen Individuation". Dieses Problem der "praktischen Individuation" betrifft nun bei Kant selbst offenkundig lediglich die "Arten der Anwendung" und gehörte demzufolge lediglich zur "Vollständigkeit der Darstellung" des Systems. Dennoch läßt es sich überdies in systematischer Hinsicht wohl ohne weiteres auch verstehen als der

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wenigstens ansatzweise unternommene vorläufige Versuch Kants, in einem weiteren Schritt die "fremde Glückseligkeit" (als den selbst schon vorgängig "typisierten" "Zweck, der zugleich Pflicht ist") auf bestimmte, konkrete Inhaltlichkeit hin erst zu spezifizieren. Wenn nämlich der Gegenstand der praktischen Vernunft nicht bloß bestimmt werden soll, sondern von der praktischen "Erkenntnis der Vernunft" auch zu realisieren ist (II 21), so bleibt diese Aufgabe schon deshalb als notwendig gestellt, weil sich ohne Zweifel "die Frage nach dem, was ich tun soll, nicht ablösen" läßt "von der Frage nach der Wirklichkeit des Menschen als individuelle Person in je besonderen Gemeinschaften und in einer geschichtlichen Gegenwart." Tatsächlich resultiert nun in dieser Weise unabweislich bezüglich dieser genannten "Arten der Anwendung" — gleichsam als "Spezifikationsproblem" — die "Aufgabe einer Klassifikation für das konkrete sittliche Verhalten in bezug auf die sozialen Bedingungen, die gesellschaftliche Kultur, den leiblichen Zustand, die entwicklungspsychologischen Bestimmungen und die Typologie der Geschlechter und der Berufsstände"133, weil nur so "ein apriorisches System von Prinzipien mit der Geschichtlichkeit des Menschen und der Individualität der Person in Einklang zu bringen" sein dürfte.134 Ein weiteres noch hängt damit freilich aufs engste zusammen: die Schwierigkeiten, in die Kant aufgrund der mangelnden Differenzierung zu beachtender Vermittlungsstufen gerät, dokumentieren sich nicht zufällig auch darin, daß Kant zwar zum einen überwiegend von d e r Tugendpflicht, jedoch immer wieder auch (im Plural) von den Tugendpflichten (ζ. B. als den unvollkommenen Pflichten: vgl. IV 520) spricht und überdies sogar ganz ausdrücklich betont, daß es im Unterschied zu der nur e i n e n möglichen und wirklichen "Tugendverpflichtung" dennoch "viel Tugendpflichten" (IV 543) gibt, "weil es zwar viel Objekte gibt, die für uns Zwecke sind, welche zu haben zugleich Pflicht ist, aber [gleichwohl] nur eine tugendhafte Gesinnung . . . als subjektiven Bestimmungsgrund, seine Pflicht zu erfüllen, welche sich auch über Rechtspflichten erstreckt, die darum nicht den Namen der Tugendpflichten führen können." (IV 543) Diese Argumentation ist freilich nicht so ganz

133 134

I. Heidemann, Prinzip und Wirklichkeit... 233 f. I. Heidemann, Prinzip und Wirklichkeit . . . 240. Dies ergibt sich tatsächlich aus der Aufgabe, — in gerader Umkehrung des üblichen Vermittlungsweges — von dem "in uns" gefundenen "Unbedingten" und "Intelligiblen" des Sittengesetzes zu dem Bedingten und Sinnlichen weiterzuschreiten. Kants gelegentliche Anmerkung (II 100), daß die "eigentliche Tugendlehre" im Unterschied zur "reinen Moral" eben "in concreto" auf die "zufälligen Bedingungen des Subjekts" zu spezifizieren bliebe, verliert damit ihren beiläufigen Charakter, zumal doch so am ehesten ein notwendiges Moment der "Individuierungsaufgabe" thematisiert wäre. Die praktische Intentionalität auf den je Anderen und dessen Befreiung ist notwendig vermittelt — bzw. bestimmt sich notwendig — über die Spezifizierung in Geschlecht, Rasse, Volk usw.

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plausibel: warum soll denn schon daraus, daß "es zwar viel Objekte gibt, die für uns Zwecke sind, welche zu haben Pflicht ist", gar eine Vielheit von unterschiedenen Tugendpflichten ableitbar sein? Die Tugendpflicht, nämlich "den anderen Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen", bleibt doch nach wie vor wohl nur eine; ganz anders ~ und gewiß sinnvoller ~ steht es aber, wenn diese Tugendpflichten (Plural) eben darauf bezogen werden, daß sie schon auf "Wohl und Heil" des je Anderen bezogen sind. In Erfüllung dieses "gebotenen Zwecks" ergibt sich nach Umständen natürlich eine Vielfalt von Pflichten, die nicht zuletzt ganz selbstverständlich schon aus dem je unterschiedlich bestimmten Begriff der "fremden Glückseligkeit" von eben verschiedenen Subjekten resultiert, der hier für diese so qualifizierte praktische Intentionalität maß-gebend ist. Nicht zu übersehen ist im weiteren auch Kants ausdrückliche Abgrenzung des "Systems der Kritik" von dem "System der Wissenschaft", wenn es von dem Programm der letztgenannten als der eigentlichen "Metaphysik der Sitten" heißt: "Denn die besondere Bestimmung der Pflichten, als Menschenpflichten, um sie einzuteilen, ist nur möglich, wenn vorher das Selbst dieser Bestimmung (der Mensch), nach der Beschaffenheit, mit der er wirklich ist, ob zwar nur so viel als in Beziehung auf Pflicht überhaupt nötig ist, erkannt werden; diese aber gehört nicht in eine Kritik der praktischen Vernunft überhaupt, die nur die Prinzipien ihrer Möglichkeit, ihres Umfanges und Grenzen vollständig ohne besondere Beziehung auf die menschliche Natur angeben soll. Die Einteilung gehört also hier zum System der Wissenschaft, nicht zum System der Kritik." (IV 113) Resümierend bleibt nun also wenigstens ein dreifaches bezüglich des obersten Prinzips der Tugendlehre zu beachten: erstens wäre — natürlich in entsprechender Analogie zur Thematik der Tugendlehre als "Zwecklehre" ~ an Kants zentralen Hinweis aus der "kritischen Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen Vernunft" zu erinnern: "Denn weil es r e i n e Vernunft ist, die hier in ihrem praktischen Gebrauche, mithin von Grundsätzen apriori und nicht von empirischen Bestimmungsgründen ausgehend betrachtet wird: so wird die Einteilung der Analytik der reinen praktischen Vernunft der eines Vernunftschlusses ähnlich ausfallen müssen, nämlich vom Allgemeinen im Obersatze (dem moralischen Prinzip) durch eine im Untersatz vorgenommene Subsumtion möglicher Handlungen (als guter oder [aber] böser) unter jenen zu dem Schlußsatze, nämlich der subjectiven Willensbestimmung (einem Interesse an dem praktisch möglichen Guten und der darauf gegründeten Maxime) fortgehend." (IV 214) Zweitens bleibt zu beachten, daß Kant zufolge die Vernunft niemals sich wird dazu überreden lassen, daß "eines Menschen Existenz an sich einen Werth habe, welcher bloß lebt (und in dieser Absicht noch so sehr geschäftig ist), um zu genießen, sogar wenn er dabei Andern, die alle eben so wohl nur aufs Genießen ausgehen, als Mittel dazu aufs beste beförderlich wäre und zwar darum, weil er durch Sympathie alles Vergnügen

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mit genösse". (V 285) Dies zu beachten ist zur Vermeidung von Mißverständnissen nicht unwichtig, fiele doch im Falle der Nichtberücksichtigung des genauen (grundlegenden) Status des "Zwecks, der zugleich Pflicht ist", diese Relation bzw. Intentionalität auf "fremde Glückseligkeit geradewegs auf die bloß "relative, material-äußere Zweckmäßigkeit" zurück. Letztere ~ und dies ist der dritte hier anzuführende Aspekt ~ darf gewiß nicht ausgeklammert bleiben, kommt ihr doch bei sorgfältiger Abwägung ihres prinzipiellen Stellenwertes im Ganzen des Begründungszusammenhanges eine nicht unwichtige Rolle zu, weil ohnedem die notwendige Aufgabe des "unbedingten Zwecks", in dessen bestimmter Intentionalität eben diese "relative, material-äußere Zweckmäßigkeit" als Moment der "technisch-praktischen Vernunft" aufgehoben (erhalten) ist, nicht in Bestimmtheit zu denken ist -- ja nur so auch die Möglichkeit der Bestimmbarkeit des unbedingten Vernunftzweckes gewährleistet sein kann: so nämlich, daß es für diese absolut erforderlich ist, auf der Handlungsebene "die Idee der Wirkung der Kausalität der Ursache" eben "als Mittel zum zweckmäßigen Gebrauche anderer Ursachen an(zu)sehen", und diese Zweckmäßigkeit ist somit für Kant diejenige "der Nutzbarkeit (für Menschen), oder auch Zuträglichkeit (für jedes andere Geschöpf) und ist bloß relativ." (V 477) Dies bedarf nun freilich einer durch die ergänzte "moralische Anthropologie" (IV 322) eröffnete (ermöglichte) "durch Erfahrung geschärfte Urteilskraft" (IV13), ohne welche die Intentionalität des "obersten Prinzips der Tugendlehre" leer bleiben müßte. Damit wäre genau an dieser Stelle in entsprechender Weise ein (schon früher) gelegentlicher Hinweis Kants aufzunehmen — aus einer Zeit, in der er noch mit der Aufhellung der "ersten Gründe der Moral" und den für seine Moralphilosophie wesentlichen Grundgedanken der Verbindlichkeit — und zwar in der Unterscheidung verschiedener Arten von Notwendigkeiten (die der Zwecke und die der Mittel) und des Sollens ~ beschäftigt war: "Wer einem andern vorschreibt, welche Handlungen er ausüben oder unterlassen müsse, wenn er seine Glückseligkeit befördern wollte, der könnte wohl zwar vielleicht alle Lehren der Moral darunter bringen, aber sie sind alsdenn nicht mehr Verbindlichkeiten, sondern etwa so, wie es eine Verbindlichkeit wäre, zwei Kreuzbögen zu machen, wenn ich eine gerade Linie in zwei gleiche Teile Zerfällen will, d. i. es sind gar nicht Verbindlichkeiten, sondern nur Anweisungen eines geschickten Verhaltens, wenn man einen Zweck erreichen will. Da nun der Gebrauch der Mittel keine andere Notwendigkeit hat, als diejenige, so dem Zwecke zukommt, so sind so lange alle Handlungen, die die Moral unter der Bedingung gewisser Zwecke vorschreibt, zufällig, und können keine Verbindlichkeiten heißen, so lange sie nicht einem an sich notwendigen [!] Zwecke untergeordnet werden." (I 770 f.) Schon dies verweist thematisch

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also auf den notwendigen Vernunftgedanken eines "objektiv-gebotenen Zwecks".135 Für das Verhältnis der obigen zweit- und drittgenannten Punkte zueinander ist es nun wesentlich zu sehen, daß nur bei genauer Beachtung des zweitgenannten auch der letztere (betreffend eben den Stellenwert der "relativen, material-äußeren Zweckmäßigkeit") erst seine wahre Bedeutung gewinnen kann und die ihm "zugedachte" Funktion auszufüllen vermag. Nur so ist zu vermeiden, daß sich das Begründungsverhältnis in fataler Weise ins gerade Gegenteil verkehrt und folglich "fremde Glückseligkeit" letztendlich doch als "Bestimmungsgrund" fungiert, was Kant mit guten Gründen immer wieder kritisierte. Solche Verkehrung des Begründungsverhältnisses hätte mit der Verkennung des Status der Tugendpflicht notwendig auch die Verfehlung ihres Verbindlichkeitsanspruches zur Folge. Es zeigt sich nur noch einmal, daß Kants Konzeption der Tugendlehre als "Zwecklehre" nicht so zu verstehen ist, als wollte Kant damit hinter seinen kritischen Ansatz und das darin so entscheidende "Autonomieprinzip" zurückgehen. Wird diese Vermittlungsfigur in genauer Beachtung der darin gesetzten Prioritäten indessen in zureichender Weise berücksichtigt, dann erweist sich jedoch der beispielsweise von Prauss erhobene Einwand zweifellos als falsch: "Ihn [den Menschen] als 'Zweck an sich selbst' zu behandeln aber heißt keineswegs, ihm als solchem etwa 'zu nützen' (dies kann sich allenfalls mit ergeben), sondern ihn als solchen eben 'zu lieben' oder[!] 'zu achten'. Und eine Handlung 'umwillen eines Menschen als solchen' oder 'umwillen seines Wesens als Zweck an sich selbst' als eine Handlung 'aus Liebe zu einem Menschen' zu verstehen, ist genau insoweit angemessen, wie auch nachvollziehbar ist, daß 'liebe Deinen Nächsten' sich tatsächlich sinnvoll gebieten läßt."136 Ob Prauss damit nicht auch das erst in der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten entwickelte Anspruchsniveau des "obersten Prinzips der Tugendlehre" und dessen für seine spezifische Intentionalität maßgebenden Imperativs verkennt? Es ist auch für Kants Idee eines "Systems der Freiheit" ein doch prinzipiell interessanter Aspekt, daß sich in Kants Argumentation aufs Ganze gesehen eine recht aufschlußreiche Unterscheidung und Stufung dokumentiert: als ein bloßes Problem des "Verstandes" hatte sich Freiheit als zentrales Thema in

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Vgl. IV 59: "Die Zwecke, die sich ein vernünftiges Wesen als Wirkungen seiner Handlungen nach Belieben [!] vorsetzt (materiale Zwecke) sind insgesamt nur relativ; denn nur bloß ihr Verhältnis auf ein besonders geartetes Begehrungsvermögen des Subjekts gibt ihnen den Wert, der daher keine allgemeine für alle vernünftigen Wesen, und auch nicht für jedes Wollen gültige und notwendige Prinzipien, d. i. praktische Gesetze, an die Hand geben kann." Es ist eben allein der "Zweck, der zugleich Pflicht ist", der sich dadurch auszeichnet, nicht bloß "nach Belieben vorgesetzt" zu sein. G. Prauss, Kant über Freiheit als Autonomie . . . 2S1.

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dem Aufweis der Antinomielehre ergeben, "daß Natur der Kausalität aus Freiheit wenigstens nicht widerstreite"137; im weiteren: die "praktisch- immanent"- gewordene Vernunftidee der Freiheit verwirklicht sich in dem Bewußtsein des Sittengesetzes ("Faktum der reinen praktischen Vernunft") als "positive praktische Freiheit" und fuhrt als diese folglich die "transzendentale Idee" der Freiheit in den Status138 der "Realmöglichkeit" über, die nun nicht mehr "bloß unbestimmt und problematisch gedacht" werden muß (IV 162), sondern jetzt doch "assertorisch erkannt" zu werden vermag, so daß nun zugleich damit "uns die Wirklichkeit der intelligiblen Welt, und zwar in praktischer Rücksicht bestimmt, gegeben worden" ist139. In der "praktischen Erkenntnis der Vernunft" finden sich so nicht bloß "Data", "jenen transzendenten Vernunftbegriff des Unbedingten zu bestimmen" (II 28), tun in dieser Weise den durch die spekulativ-theoretische Vernunft eröffneten, aber durch sie selbst doch leer gelassenen Platz auszufüllen ~ eben dies geschieht im weiteren nun dadurch, daß die "praktische Erkenntnis der Vernunft" ihren Gegenstand zugleich auch konstituiert, d. h. eben "wirklich macht". (II 21)140

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Es formuliert so als Frage nach der "Möglichkeit der Freiheit . . . nur den transcendentalen Begriff der Causalität eines Weltwesens überhaupt, so fern sie durch keine Gründe in der Sinnenwelt bestimmt wird." (Akademie-Ausgabe XI ISS) Nach Kant wird durch das "moralische Gesetz jene transcendente Idee realisiert [!] und an dem Willen . . . gegeben . . . und der Begriff der Freyheit, als Causalität, wird bejahend erkannt." (ebd.) Es ist der archimedisch-'feste Punkt" des "moralischen Gesetzes", der die "Idee der Freiheit" manifestiert. In seiner Auflösung der dritten Antinomie hatte Kant freilich betont, diese hätte "nicht einmal die Möglichkeit der Freiheit beweisen wollen" (II 506). Vgl. IV 107: "Mit diesem Vermögen [dem praktischen Vermögen der "reinen praktischen Vernunft"] steht auch die transzendentale Freiheit nunmehr fest." S. III 650; 652. In Kanu Preisschrift heiBt es in dem "dritten Stadium der Metaphysik" (ΠΙ 629) wohl ganz in diesem Sinn: "Ingleichen hat man da etwas, wodurch das Übersinnliche (Gott, worauf der Zweck eigentlich geht) erkannt [!] werden kann, weil ein Gesetz der Freiheit als übersinnlich gegeben ist." — Man darf es vermutlich in einem recht genauen Sinne nehmen, wenn Kant davon spricht, daß durch diesen Ausgang vom "Primat des Praktischen" "in Ansehung des praktischen Gebrauchs der reinen Vernunft" nicht mehr aber auch nicht weniger erreicht und geleistet ist als dies, daß solcherart eine Eröffnung der adäquaten Gottesfrage über denjenigen eines fehlerfreien und notwendigen Begriffs hinaus eist ins Blickfeld tritt. (S. TV 267) (Vgl. V 614 ff, s. auch o. Anm. 1S2 Teil I) Die grundsätzlich durch keine Anschauung darstellbare Vernunftidee ist hier als "Tatsache" bestimmt und "braucht doch nicht ein Erfahrungsbegriff zu werden. Die beiden Aussagen [Kants, nämlich]: Freiheit ist Tatsache — Freiheit ist kein Erfahrungsbegriff, schließen sich nicht aus . . . Dem neuen Begriff von Tatsächlichkeit entspricht dann auch ein neuer Begriff von Erfahrung." Bezüglich des unübersehbaren Problems, daß zum einen die praktische Freiheit als Tatsache" (§ 91 der Kritik der Urteilskraft) behauptet wird und diese Freiheit doch wiederum aber kein "Erfahrungsbegriff' sein soll (können wir sie doch "als etwas Wirkliches nicht einmal in uns selbst und in der menschlichen Natur beweisen": IV 82 f.)— zu dem für die Lösung

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Darin allein soll nach Kant bekanntlich der Überschritt vom "Problematisch- Möglichen" zum "Assertorischen" in legitimer Weise zu vollziehen sein. Die "positive praktische Freiheit" hat ihre Erfüllung freilich erst in dem von der Wirklichkeit lediglich am entferntesten s c h e i n e n d e n "Ideal der reinen praktischen Vernunft" gefunden. Die damit unstreitig verbundenen (nicht unbeträchtlichen) Probleme sind hier noch ein wenig genauer zu verfolgen. Näherhin wäre zu sagen: die "Kausalität der Freiheit" (dritte Antinomie) bestimmt sich als "Kausalität aus Freiheit" (Praxis) auf ihrem Ermöglichungsgrund der "transzendentalen Freiheit" als "positive Freiheit" und findet solcherart ihre Vollendung jedoch erst in der durch das "oberste Prinzip der Tugendlehre" bestimmten "praktischen Intentionalität"; damit geht sie notwendig eben auf je Anderer Freiheit, konkretisiert sich ("typisierend") darin — sich durch die Urteilskraft "individuierend" ~ hin auf "Wohl und Heil" des Anderen (je fremde Glückseligkeit); der durch die "revolutionierte Denkungsart" nunmehr verwandelte "intelligible Charakter" bleibt in dieser individualisierenden Intentionsform unverzichtbar auf den "empirischen Charakter", und damit auf die "Kausalität d u r c h Freiheit" als "Kausalität in Ansehung der Erscheinungen" (II 499) bezogen, weil nur darin der "technisch-pragmatische Verstand" in der Rationalität der "hypothetischen Imperative" seine Regeln zur Geltung bringen kann: auch das "Soll" des "Imperativs, der die Tugendpflicht gebietet", bleibt auf das "Muß" der hypothetischen Imperative noch verwiesen. Die notwendig zu denkende Einheit von "intelligibler" und "phänomenaler" Welt, (von "intelligiblem" und "empirischem" Charakter) sowie die Idee des "Erscheinens", "Sich-zeigens" des Intelligiblen im "empirischen Charakter"- all diese Aspekte bringt vielleicht am deutlichsten die folgende Stelle aus Kants "Auflösung der dritten Antinomie" zum Ausdruck: "Nun muß die Handlung allerdings unter Naturbedingungen möglich sein, wenn auf sie das Sollen gerichtet ist; aber diese Naturbedingungen betreffen nicht die Bestimmung der Willkür selbst, sondern nur die Wirkung und den Erfolg derselben in der Erscheinung . . . so gibt die Vernunft nicht demjenigen Grunde, der empirisch gegeben ist, nach, und folgt nicht der Ordnung der Dinge, so wie sie sich in der Erscheinung darstellen, sondern macht sich mit völliger Spontaneität eine eigene Ordnung nach Ideen, in die sie die empirischen Bedingungen hinein paßt [!], und nach denen sie sogar Handlungen für notwendig erklärt, die doch nicht geschehen sind und vielleicht auch nicht geschehen werden, von allen aber gleichwohl voraussetzt, daß die Vernunft in Beziehung auf sie Kausalität haben könne; denn ohne das, würde sie nicht von ihren Ideen Wirkungen in der Erfahrung erwarten."(II 499) Ganz

dieser Schwierigkeit notwendigen Unterschied im Erfahrungsbegriff s. M. Heidegger, Vom Wesen der menschlichen Freiheit 265 IT. Dort auch obiges Zitat!

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offenkundig versteht Kant hier die Handlung als die immer schon "aufgehobene" Synthesis von "phänomenaler" und "noumenaler" Welt, zumal doch in der Folge klarerweise nur in Rücksicht auf die "Kausalität in Ansehung der Handlungen des Willens in der Sinnenwelt . . . praktische Vernunft" auch tatsächlich tätig sein kann. (IV 164) Daß nun eben diese genannte ("in actu" natürlich immer schon aufgehobene) Synthesis von intelligiblem und empirischem Charakter erst die eigentliche Wirklichkeit des Handelns ist (diese repräsentiert), ist so freilich letztlich auch allein der Erklärungsgrund dafür, daß nach Kant "über das Kausalverhältnis des Intelligiblen zum Sensiblen . . . es keine Theorie" geben soll.141 Mehr noch: dieser Gedanke der für alles

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Es wäre hier in einer eigenen Arbeit der doch gewiß recht interessanten Frage nachzugehen, ob die sittliche Handlung als die Synthesis von sinnlicher und intelligibler Welt nicht im Grunde als reale Darstellung einer "Real-Idealität" gelten darf, die als solche eben den Charakter des "Symbolischen" hat; steht diese in ihrer Erscheinungshaftigkeit - als "äußerlich gewordenes Innerliches" — so aber nicht in einem notwendigen Bezug zur "Sittlichkeit" der "Sitte", und manifestiert sich bezüglich dieses "Symbolcharakters" eine bedenkenswerte Analogie somit nicht zuletzt auch zur Wirklichkeit der Sprache? Zeigt sich sodann nicht auch ein ganz wesentlicher Bezug zur Thematik der "Leiblichkeit", der eben nicht durch den bloßen Hinweis auf den "Zeugcharakter des Leibes", die "Kultur der Leibeskräfte" zu erschöpfen ist? Dieser Verweis auf den Symbolcharakter menschlicher Handlung reicht unzweifelhaft auch noch weiter als Anackers Interpretation dieser Problemaspekte: "Als freie Menschen . . . sind wir aufgefordert, die Handlungen als Zeichen von Vernunft anzusehen, d. h. die Handlungen nicht auf ihren Außen-aspekt... zu reduzieren, dieses [empirische Moment] vielmehr als Zeichen von etwas zu verstehen, was selber nicht erscheint, sondern Bedingung dafür ist, daß überhaupt eine Handlung a 1 s Zeichen verstanden wird. Die Handlungen, als Darstellungen der Vernunft, konzedieren dieser Empirisches, wenn auch nicht in dem Sinne, daß der Vernunft in der Erfahrung etwas Kongruierendes gegeben werden könne bzw. daß das empirische Zeichen von Vernunft aus dieser ableitbar sei. Die Wirkungen der Vernunft, von denen Kant redet, wie sie in der Natur erscheinen und dem Erkennen Objekt werden, können nicht aus Vernunft deduziert werden. Man muß deshalb wohl sagen, daß die Vernunft s i c h in den Handlungen [zwar] zu zeigen vermag, doch ist dieses Sich-zeigen nicht ableitbar, weshalb denn auch kein Zwang besteht, die Handlungen als vernünftige anzusehen, sondern allenfalls die Aufforderung, das zu tun. Diese Aufforderung ist ihrerseits kein Moment der Naturerfahrung." (Natur und Intersubjektivität 84) Diese Thematik ist nicht nur auch für Kants "transzendentale Bestimmung des Zweckbegriffes" von besonderem Interesse, sondern verweist auch in sachlicher Perspektive durchaus noch auf das "nachkantisch" eigentlich erst entfaltete Prinzip der "Anerkennung". Betreffend dieses genannte Problem des "symbolischen Charakters" menschlichen (sittlichen) Handelns wäre in diesem Zusammenhang natürlich auch eine ausführlichere Analyse des Verhältnisses von Sittengesetz und dessen Typus aufschlußreich, stellt sich doch in diesem Kontext die unabweisbare Frage, wie die Unbedingtheit, Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit des "Apriorischen" mit der Verstandesebene zu vermitteln und alle (sittliche) Handlung nur als ihre Einheit zu denken ist. Dies berührt sodann auch das Verhältnis des kategorischen Imperativs als "Dijudikationsprinzip" zu ihm als "Exekutionsprinzip". — Wäre im Kontext des in dieser

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Gelingen der Handlungen immer schon vorausgesetzten Affinität dieser beiden "Welten" gibt auch erst den Schlüssel für ein Verständnis der andernfalls doch fragwürdig bleibenden Bemerkung Kants ~ die dann eben auf das Handelnsproblem "in concreto" zu beziehen ist: es sei "nicht unmöglich, daß die Sittlichkeit der Gesinnung einen... notwendigen Zusammenhang als Ursache, mit der Glückseligkeit als Wirkung in der Sinnenwelt habe". (IV 243) Dies bezieht sich demnach nun primär einmal auf die Problematik der dritten Antinomie der Kritik der reinen Vernunft — und nicht schon, wie man vielleicht auf den ersten Blick meinen sollte, unmittelbar auf die Thematik der Postulatenlehre (und ihre "Übereinstimmungen"). Gleichwohl bleibt zu sehen ~ was aus der angeführten Textstelle auch klar erkennbar ist, ~ daß Kant tatsächlich die "Antinomie der reinen praktischen Vernunft" ausdrücklich mit Bezug auf die "Antinomie der reinen spekulativen Vernunft" (mit jener sei es "nun eben so bewandt" wie mit dieser) formuliert, ohne so freilich den ganz wesentlichen Unterschied in gebührender Weise zum Ausdruck zu bringen. Jedenfalls aber ist damit doch auch ein in systematischer Hinsicht ganz entscheidender Fingerzeig dafür gegeben, wie Kant in seiner Systematik den Stellenwert der Postulatenlehre vermittelt. Ein anderer Aspekt verdient in diesem Zusammenhang nun gebührende Beachtung: wenn Kant auch allen gegen ihn erhobenen Einwänden ~ betreffend die angeblich von ihm vertretene "Gesinnungsethik" — zum Trotz142 die Notwendigkeit der Aufhebung des "Wohlwollens" in "tätiges, praktisches Wohltun" und natürlich auch die Rücksicht auf die Handlungsfolgen betont, so bleibt dabei jedoch, auf dieses "praktische Wohltun" gesehen, darauf zu achten, daß doch auch die "fremde Glückseligkeit" als die von Kant so genannte "Idee eines Zustandes" überhaupt gar nicht unmittelbarer Gegenstand selbst des "praktischen Wohltuns" sein kann. Daß nämlich selbst diese "fremde Glückseligkeit" als Idee mit keinem "Zustand" je identisch sein kann: dies betrifft nun wohlgemerkt natürlich nicht

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Anmerkung wenigstens Erwähnten aber nicht auch ein kantischer Ansatzpunkt des Verständnisses der "Objektivationen des Geistigen" (der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit) am ehesten zu ermitteln, wo Kant doch selbst gelegentlich (V 402) von notwendigen "Verkörperungen des Geistes" spricht? Der gegen Kant erhobene Vorwurf "bloßer" Gesinnungsethik ist haltlos. Kant war sich auch darüber im klaren, daß "Wohlwollen" ohne Aufhebung in "tätiges praktisches Wohlwollen (Wohltun)" und ohne den damit verbundenen Bezug zur "relativen, äußeren Zweckmäßigkeit" Sache bloßer "Empfindung" wäre und als solche bloß "leere Sehnsucht" bliebe. Ebenso wie Hegel wußte auch Kant um ein "nichtiges Wollen", daß die "Lorbeeren des bloßen Wollens . . . trockene Blätter" sind, "die niemals gegrünt haben". (Hegel 7, § 124) Wie Hegel so distanziert auch Kant die Schalheit einer "abstrakten Nächstenliebe", auch wenn Kant zu zweifellos anderen Folgerungen kommt als Hegel. (Vgl. dazu auch Hegel 3, 314)

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bloß den "Glückseligkeitsentwurp dieser je Anderen, sondern berührt doch nicht weniger auch jene praktische Intentionalität des "Ideals der praktischen Vernunft", welche sich "fremde Glückseligkeit" "zum Zwecke machen soll": dann nämlich, wenn es, wie Kant selbst gelegentlich betont, in diesem so verstandenen "Gut" "um das Glück des ganzen Lebens" geht. (Π 691) Ist denn nicht auch bezüglich der "fremden Glückseligkeit" zu beachten, daß aller "empirisch-bedingten Vorschrift der Glückseligkeit nur selten" Genüge zu leisten ist, wenn doch überdies auch hier die notwendige Rücksicht "auf die Kräfte und das physische Vermögen, einen begehrten Gegenstand wirklich zu machen" (IV 149), ganz augenfällig in die Schranken weist?143 Nun bleibt als ein weiterer Problemaspekt natürlich auch noch zu beachten, daß nicht nur dieser "gebotene Zweck" der Tugendpflicht durch keine Einzelhandlung (und auch nicht durch deren "Ganzes") einholbar ist, sondern in prinzipieller Sicht diese praktische Intentionalität auf "Wohl und Heil des Anderen" als dem "Subjekt der Zwecke" dabei doch in allen "praktischen Regeln des Begehens" immer nur auf den "Zustand der Person" selbst in Befolgung der Tugendpflicht bezogen ist, wie dies Kant selbst ja auch in der "Tafel der Kategorien der Freiheit in Ansehung der Begriffe des Guten und Bösen" (IV 185) ausgesprochen hat. Folgt man nun Kants Argumentation freilich genauer, so ist eine erhebliche Zuschärfung der dargestellten Situation indessen unvermeidlich: nicht nur dies etwa, daß ganz unstreitig die Natur des Menschen bedauerlicherweise "nicht von der Art" sei, "irgendwo im Besitze und Genüsse aufzuhören und befriedigt zu werden" (IV 552), ist der hier zu beklagende mißliche Umstand; sondern weil der Mensch überdies ~ und dies wäre wohl für sein "Los" doch noch ungleich gravierender — solches zwar erlangen will und dennoch, seltsamerweise und verdrießlich genug, nach Kant "niemals bestimmt und mit sich einstimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle", zumal doch nicht nur "alle Elemente, die zum Begriff der

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Auch hier hat natürlich in derselben Weise zu gelten: "Die Glückseligkeit ist nicht etwas Empfundenes sondern Gedachtes. Es ist auch kein Gedanke, der aus der Erfahrung genommen werden kann, sondern der sie allererst möglich macht. Nicht zwar als ob man die Glückseligkeit nach allen ihren Elementen kennen müsse, sondern die Bedingung apriori, unter der man allein der Glückseligkeit fähig sein kann." (Kant, Akademie-Ausgabe XIX 278 f.) Deshalb: "Die Glückseligkeit kann nur im verständigen Wesen angetroffen werden." (Reflexion 6973, in Akademie-Ausgabe XIX 217; vgl. XIX 277) Es liegt nur in der weiteren Konsequenz der hier vertretenen Ansicht: "Wohl und Heil des Anderen" sei selbst nur eine Konkretisierung des nicht schon schematisierten "Prinzipe der Tugendlehre", wenn doch "Wohl nicht [als] ein Begriff der Vernunft" soll gelten können, sondern allein als ein "empirischer Begriff von einem Gegenstande der Empfindung; allein der Gebrauch des Mittels dazu, d. i. die Handlung. . . heißt demnach gut, aber nicht schlechthin, sondern nur in Beziehung auf unsere Sinnlichkeit, in Ansehung des Gefühls der Lust und Unlust." (IV 180)

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Glückseligkeit gehören, insgesamt empirisch sind, d. i. aus der Erfahrung müssen entlehnt werden" und "gleichwohl zur Idee der Glückseligkeit ein absolutes Ganze, ein Maximum des Wohlbefindens in meinem gegenwärtigen und jedem [!] zukünftigen Zustande erforderlich ist. Nun ist's unmöglich, daß das einsehendste und zugleich allervermögendste, aber doch endliche Wesen sich einen bestimmten Begriff von dem mache, was es hier eigentlich wolle." (IV 47) Denn selbst noch unter Voraussetzung jener nach Kant durch Erfahrung beweisbaren "praktischen Freiheit", "durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden", und dem damit verbundenen weiteren Zugeständnis, daß "diese Überlegungen aber von dem, was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrungswert, d. i. gut und nützlich ist, . . . auf der Vernunft" beruhen - selbst dann noch ist der von Kant erwähnte mißliche Umstand nicht beseitigt, daß das, was als das "wahrhaft Nützliche, Angenehme und auf Dauer Vorteilhafte" unüberwindbar "in undurchdringliches Dunkel eingehüllt" bleibe und nicht bloß "viel Klugheit" erfordert, sondern gar "hiezu Allwissenheit erforderlich sein würde." (IV 48; vgl. II 675; IV 149) Was folgt daraus nun jedoch in Anbetracht des Umstandes, daß diese mit solchen Problemen behaftete Idee der "Glückseligkeit" (als diejenige je Anderer) aber doch "gebotener Zweck" der Tugendpflicht sein soll?144 Eine Analyse des "Zwecks, der zugleich Pflicht ist", macht zudem noch Konsequenzen sichtbar, die sich eben aus diesem "gebotenen Zweck" ergeben, fremde Glückseligkeit ~ freilich nach Maßgabe der "Idee der Glückseligkeit" des je Anderen ~ "sich zum Zwecke zu machen". Nicht nur, daß Kant selbst recht nüchtern von dem "Schattenbild der Glückseligkeit, welches sich ein jeder selbst macht" (VI 804), spricht; erst recht stellt sich doch hinsichtlich dieser "fremden Glückseligkeit" die Schwierigkeit dar, daß diese doch die "Idee eines Zustandes" meint, den der Mensch "den letzteren unter bloß empirischen Bedingungen (welches unmöglich ist) adäquat machen will." (V 552) Selbstentworfen und in verschiedenster Art mannigfachen Änderungen ausgesetzt, ist diese "Idee" folglich auch natürlich keines "bestimmten allgemeinen und festen Gesetzes" fähig. Somit zeigt sich: die Intention auf "fremde Glückseligkeit" steht nicht bloß vor dem Problem der unbegrenzten Modifikabilität dieser "Idee", sondern hätte dem Umstand, daß mit ihr ein "irreduzibles Moment von Subjektivität" gesetzt ist14S, im Grunde dahingehend

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Auch Kersting hat auf den offenkundigen Sachverhalt verwiesen, daB die "Beförderungsmittel eigener Vollkommenheit . . . und fremder Glückseligkeit . . . nicht apriori bestimmbar" sind — und überdies: "Nie werde ich endgültige Sicherheit darüber erlangen können, ob ich in meinem Leben den mir gebotenen Zwecken auch wirklich entsprochen habe." (Wohlgeordnete F r e i h e i t . . . 84; s. ebd. 86) Anacker, Hoffnung - Kants Versuch . . . 259.

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noch Rechnung zu tragen, daß eben auch für diesen so "gebotenen Zweck" die Einsicht in die Unmöglichkeit der Prinzipienfähigkeit des Glücks des Einzelnen gelten muß, wenn doch die "Vorstellungen vom Glück empirisch bedingt sind und individuell und zeitlich variieren."146 "Anderer ihre Zwecke zu den seinen zu machen" (IV 586) müßte so zu einer prinzipiell unendlichen und aussichtslosen Aufgabe werden, der gegenüber man notwendig ~ schon bezüglich der auch bloß als möglich gedachten Erfüllung ~ prinzipiell ganz hoffnungslos bliebe und sodann letztendlich der Sentimentalität oder der "leeren Sehnsucht" verfiele: "denn man ist sich bewußt, daß das Gewünschte [und Gewollte] uns niemals zu Teil werden kann." (VI 100) Sich durch den Rückzug auf das bloße "Wohlwollen der allgemeinen Menschenliebe" ("welche uns nichts kostet") indessen diesem Dilemma entziehen zu wollen, hieße nichts weniger, als sich dem Anspruch der Tugendpflicht zu entziehen; es bedeutete so bestenfalls lediglich dies, "bloß in Ansehung des Wohls" der Anderen "nur nicht gleichgültig zu sein." (IV 588) Diese Situation resultierte wohlgemerkt noch ganz ungeachtet des Verhängnisses des "radikal Bösen in der menschlichen Natur" sowie auch des "moralischen Unvermögens", und charakterisierte so den Menschen als der Unausweichlichkeit des Risikos des Versagens ausgesetzt - selbst wenn die Aufgabe, "anderer ihre Zwecke zu den seinen zu machen" auch nur dies meinen sollte, "auf den Zweck ihres Willens hinzuwirken." (IV 577) Jedenfalls bleibt gültig: das gemäß dem "Zweck, der zugleich Pflicht ist", intendierte ~ und nicht bloß "geachtete" — Subjekt, das "Zweck an sich selbst" ist und dessen Zwecke aus den angeführten Gründen, "wenn jene Vorstellung bei mir alle Wirkung tun soll, auch, so viel möglich, meine Zwecke sein" müssen (IV 63), existiert als Person und muß so "als Gegenstand der Erfahrung gegeben [!] sein, weil der Mensch auf den Zweck ihres Willens hinwirken soll, welches nur in dem Verhältnis zweier existierender Wesen zueinander geschehen kann (denn ein bloßes Gedankending kann nicht Ursache von irgend einem Erfolg nach Zwecken werden." (IV 577 f.) Nur dies scheint letztendlich auch eine Antwort auf die Frage zu ermöglichen, "woher denn dem bloß formalen Sittengebote ein materialer Inhalt entstehe".147 Bedeutsam ist in diesem Kontext ~ wenn auch damit die Probleme sich nur noch verkomplizieren ~ sodann auch Kants transzendentale Bestimmung des "Zweckes": denn nicht bloß bleibt bezüglich der "fremden Glückseligkeit" als dem aufgewiesenen "gebotenen Zweck" selbstverständlich zu beachten, daß eine Handlung nur dann als zweckmäßig gelten kann, wenn ihre "Wirkung nur als durch einen Begriff von der letzteren möglich gedacht wird", "weil ihre [der

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Wimmer, Universalisierung in der Ethik . . . 151. Fichte, Akademie-Ausgabe 1,5.429.

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Handlung] Möglichkeit von uns nur erklärt und begriffen werden kann, sofern wir eine Kausalität nach Zwecken, d. i. einen Willen, der sie nach der Vorstellung einer gewissen Regel so angeordnet hätte, zum Grunde derselben annehmen " (V 299); ganz besonders bleibt zudem darauf zu sehen, daß die "Vorstellung der Wirkung der Bestimmungsgrund ihrer Ursache" ist und "vor der letztem vorher" geht ~ was nun freilich bezüglich des gemäß der Maßgabe des anderen Subjekts bestimmten Zwecks "fremde Glückseligkeit" noch genau zu beachten bleibt. Ist aber ~ und dies ist doch in der Folge auch für die Frage nach "Ansätzen zu einer Interpersonalitätstheorie" von erheblichem Interesse ~ dieser "zum Grunde" angenommenen "Kausalität nach Zwecken, d. i. eines Willens", nicht eigentlich schon die "Anerkennung" auf der Basis der immer schon (im Sinne des nicht bloß räumlichen "außer uns") vorausgesetzten Dimension der Interpersonalst als deren vorgängiger Ermöglichungsgrund vorausgesetzt, die in diesem Sinne ihrerseits doch nicht (zirkulär) erst daraus abgeleitet werden kann? Die Schwierigkeiten, die sich diesbezüglich aus Kants Ansatz ergeben, spielen auch hier gewiß eine nicht bloß nebensächliche Rolle. Wenn nun auch der durch die vollzogene "Revolution der Denkungsart" qualifizierte und solchermaßen "verwandelte" Wille (über ein "Sich-versetzen" in die "Verstandeswelt" noch hinaus) sich in eine von dieser noch verschiedene "ganz andere Ordnung der Dinge" versetzt, so bleibt freilich dessen ungeachtet richtig, daß dieser so qualifizierte Wille im strengen Sinne nicht handelt, weil doch dieser Wille zwar wohl die Willkür bestimmt, die Handlung selbst aber vermittels der Regel des Verstandes erst die Zwecke "realisiert". Der Zusammenhang des Willens (des intelligiblen Charakters) mit dem in der Handlung "Bewirkten" (der "Erfolg") ist kein unmittelbarer, deshalb sind auch die Folgen als "Ergebnis" nicht einfachhin ursächlich diesem zuzuschreiben. Zwar kann man mit Heimsoeth bezüglich der notwendigen Einheit von "Werk und Wirkimg" feststellen: "Die dirigierende Vernunft bedient sich, nicht nur da, wo es um bloße Sinnlichkeitsbestrebungen geht, also als 'technisch-praktische Vernunft'. . . sondern auch in der Beziehung 'auf die letzten und allgemeinen Zwecke' unseres Lebens . . . der natürlichen Triebfedern' oder sinnlichen Anreizungen . . . Unsere Freiheit ist das Vermögen, 'independenter vom Mechanism der Natur diesen Mechanism selbst zu bestimmen', insofern also nach dem Mechanismus der Natur zu handeln. (XVIII 412 f.) Die reine praktische Vernunft 'muß selber die Sinnlichkeit excitieren, damit sie [!] die Handlung determiniere; also geschieht (¡zeitlich) sie nach Gesetzen der Sinnlichkeit und doch des Verstandes (Vernunft)'(XVII 509)".14i Eben dies besagt auch der Satz aus Kants zweiter Kritik: "Dieses Gesetz soll der

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Heimsoeth, Transzendentale Dialektik II 347; vgl. auch die Analysen Heideggers in: Vom Wesen der menschlichen Freiheit bes. 247 ff.

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Sinnenwelt, als einer sinnlichen Natur (was die vernünftigen Wesen betrifft), die Form der Verstandeswelt, d. i. einer übersinnlichen Natur, verschaffen, ohne doch jener ihrem Mechanismus Abbruch zu tun." (IV 156) Eine ganz besondere Bedeutung gewinnt sodann natürlich auch die Differenzierung des Handlungsbegriffes auch in seinen Momenten des Tuns (facere) und Handelns (Wirkens), ebenso der Unterschied von Werk und Wirkung und die nicht zuletzt auch für die Intention auf je fremde Glückseligkeit unabdingbare Idee der "äußeren Zweckmäßigkeit" des Handelns.149 Auch die Unterscheidung von Weisheit, Klugheit und Geschicklichkeit spielt damit natürlich eine nicht unwichtige Rolle. Selbst darin manifestiert sich noch einmal, in freilich bestimmter Akzentuierung, die Bestimmung des Menschen "für zwei ganz verschiedene Welten", "einmal für das Reich der Sinne und des Verstandes, also für diese Erdenwelt" und dann noch "für eine andere Welt, die wir nicht kennen, für ein Reich der Sitten." (VI 341) In eigentümlicher Umkehrung der von Kant gestellten Aufgabe, vom "Sinnlichen" zum "Übersinnlichen" fortzuschreiten, resultiert so die freilich nur mit Bezug auf die Urteilskraft zu lösende "umgekehrte" Aufgabe, die Apriorität des Prinzips der Sittlichkeit (und nicht zuletzt natürlich auch dasjenige der Tugendlehre) mit der Welt des Verstandes und des Naturbegriffes zu vermitteln und darin auch diese Idee des "Übersinnlichen" praktisch zu "individuieren". Nur so kann dieses als "reines moralisches Gesetz" tatsächlich "Tun und Lassen, d. i. den Gebrauch der Freiheit eines vernünftigen Wesens

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Für eine eingehende Analyse dieser handlungstheoretisch relevanten Momente wäre ganz besonders auch Kants NachlaB zu berücksichtigen. (Vgl. etwa Akademie-Ausgabe XXI36, 76,90, 560; XXII48, 50, 62,130, 287, 472,475,477) - In diesem Problemkontext ist auch Kants gelegentlicher Hinweis auf die "Kultur der Leibeskräfte" zu beachten, als die "Besorgung dessen, was das Zeug (die Materie) am Menschen ausmacht, ohne welches die Zwecke des Menschen unausgeführt bleiben würden; mithin die fortdauernde absichtliche Belebung des Tieres am Menschen Pflicht des Menschen gegen sich selbst." (IV 581) (In der Weischedel- Ausgabe heiBt es an dieser Stelle offensichtlich sinnstörend: " . . . Zweck des Menschen gegen sich selbst") Nicht zuletzt für die handlungstheoretisch relevanten Zusammenhänge bleibt der von Heimsoeth betonte Sachverhalt im Auge zu behalten, dem zufolge das Subjekt notwendig "seiner selbst als bloßer Erscheinung . . . und doch zugleich als Ding an sich selbst bewußt" werden muß. (Persönlichkeitsbewußtsein und Ding an sich 248) — Hieher gehört weiters auch Kants Hinweis auf "nicht ein doppeltes Ich, aber doch ein doppeltes Bewußtsein dieses Ich." (III 601; 599) Erklärt und eröffnet dieses "doppelte Bewußtsein des Ich" nicht die Möglichkeit und Notwendigkeit, "reines praktisches Gesetz" und ihre Willensbestimmung sowie die darin wirkliche "übersinnliche Idee des Sittlichguten" von dem "Typus des Sittengesetzes" zu unterscheiden, was es zwar erlaubt, "die Natur der Sinnenwelt [das Naturgesetz der "Form nach"] als Typus einer intelligiblen Natur zu brauchen" (IV 189) — und dennoch es vermeiden läßt, "daß, was bloß zur Typik der Begriffe selbst gehört,... zu den Begriffen selbst gezählt werde"? (IV 190)

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überhaupt, bestimmen." (II 678) Eben diese Aufgabe wird nun, damit auch die "Wirkung nach dem Freiheitsbegriff" als der "sein sollende Endzweck" (V 271) als möglich denkbar ist, von Kant dahingehend bestimmt, daß die apriori "für die Freiheit und ihre eigene Kausalität" gesetzgebende Vernunft (das wahre "Übersinnliche" in dem Subjekte) in solcher "Kausalität d u r c h Freiheit" notwendig vermittelt ist in einer "Wirkung", die "diesen ihren formalen Gesetzen gemäß in der Welt geschehen soll", d. h."die Kausalität der Naturdinge zu einer Wirkung, gemäß ihren eigenen Naturgesetzen, zugleich aber doch auch mit dem formalen Prinzip der Vernunftgesetze einhellig, zu bestimmen." (V 270 f.) Damit ist auch schon der notwendige Bezug und die Selbstvermittlung der Kausalität aus Freiheit (Praxis) auf die Ebene des Verstandes und dessen Ausbildung von Handlungregeln, sowie natürlich auch deren notwendige "Besonderung" und die Beachtung der Handlungsfolgen mitangesprochen.150 Dies gilt nun selbstverständlich ebenso für den gemäß dem "Ideal der praktischen Vernunft" qualifizierten "positiven Begriff der Freiheit", weil auch für ihn der "Überschritt vom Prinzip zur Wirklichkeit" (d. i. die Vermittlung des "intelligiblen Reichs" und des "Reichs der Natur") anders gar nicht zu leisten ist. Auch wäre von einer "Kausalität der Vernunft in Bestimmung des Willens" (II 675) andernfalls nicht zu reden.151 Dies ist zu beachten, wenn Kants an

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So darf man vermutlich auch Kants Feststellung betreffend den das MaB und die Art der Ausübung bestimmenden (den Tugendpflichten zugestandenen) "Spielraum" verstehen (Akademie- Ausgabe XXIII 394): "Man sieht hieraus, daß in dem letzteren Fall [den Tugendpflichten] nicht bloß die Form der Gesetzmäßigkeit, sondern auch eine Materie der Willkür, d. i. ein Zweck durchs Gesetz zur Pflicht gemacht werde, welche als physischer Effekt weil er immer empirische Bedingungen an sich hat eine Überlegung technisch-praktischer Imperative und eine Wahl zuläßt, wo ich etwas Verdienstlich-Gutes tun kann anstatt daß die strenge Verpflichtung . . . alles was auf die Art Pflicht zur bloßen Schuldigkeit macht." - Zu Kants Sicht von "Schuldigkeit" und "Verdienstlichkeit" der Pflicht s. auch den Aufsatz v. Hill, Kant on Imperfect Duties . . . Besonders hat Heidegger wiederholt und entschieden auch darauf hingewiesen, Handlung sei bei Kant "gar nicht primär und einzig bezogen auf sittliches Verhalten und moralisch-unmoralisches Tun, nicht nur auf vernunftgemäßes Tun, auch nicht auf seelisches Tun, vielmehr auf das Geschehen der lebendigen und vor allem unlebendigen Natur. Man hat das in der Kantinterpretation immer wieder übersehen" — was nach Heidegger allzu leicht die auch bei Kant resultierende Konsequenz vergessen läßt: "Die Existenz des Menschen bleibt dann in ihrer Seinsart grundsätzlich in einer Fehlbestimmung, oder mindestens in einer verhängnisvollen Unbestimmtheit, mag auch faktisch der existierende Mensch als sittliche Person, als Seiendes noch so klar und entschieden von Naturdingen und Sachen unterschieden sein." (Vom Wesen der menschlichen Freiheit 197) Heidegger sieht also Kants grundsätzlichen Fehler darin, "daß nicht nur die Freiheit für sich als ein Natuibegriff [!] angesetzt ist, sondern auch die Einheit des konkreten Menschen als eines vernünftig-sinnlichen Wesens ist metaphysisch an der kosmologischen Problematik vorgezeichnet." (ebd. 246)

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sich zwar verständlicher und berechtigter Hinweis ~ daß es "in allen Vorschriften der reinen praktischen Vernunft [doch eben] nur um die Willensbestimmung, nicht [aber] um Naturbedingungen (des praktischen Vermögens) der Ausführung seiner Absicht zu tun ist" (IV 184) ~ nicht einem Mißverständnis Vorschub leisten soll, denn: "die Beurteilung des Verhältnisses der Mittel zu Zwecken gehört allerdings zur Vernunft." (IV 175)152 Der unbedingte sittliche Imperativ bleibt damit notwendig auch auf die Logik und Rationalität der technischen (s. VI 78 Anm.) Imperative verwiesen, und ganz selbstverständlich spielt hier auch der erwähnte Bezug zur "relativen, material-äußeren Zweckmäßigkeit" und den darin bestimmenden "Nutzbarkeits"- und "Zuträglichkeits"erwägungen eine Rolle ~ zwar nicht als moralischethische Zweck- und Zielvorstellungen, aber doch notwendigerweise wohl f ü r diese. Es stellt sich weiters in diesem Problemzusammenhang bezüglich des Problems der Einheit von "intelligibler" und "sinnlicher" Welt nicht bloß die Frage, wie die Handlung selbst "Bild" des intelligiblen Charakters zu sein vermag; es resultiert überdies aus der notwendig zu denkenden Vermittlung von kategorischem und hypothetischem Imperativ und der Beachtung des allem Handeln innewohnenden Zweckbezuges ein für die eingehende Analyse dieses Handelnsproblems unabweisbares, recht diffiziles "Zeit"-problem: Zeit als Problem der Philosophie der praktischen Vernunft.153 Nun ist die Intention dieser einschlägigen Überlegungen Kants zwar von seiner ersten "Kritik" an gewiß auch ganz klar erkennbar. Nichtsdestoweniger bleibt immer noch ungewiß, ob und wie die "Wirkungen in der Erfahrung" (II 409), also auf der einzubeziehenden "Erscheinungsebene", auch als tatsächliche "Entsprechung" der dem Anspruch des "reinen Willens" genügenden moralischen Denkungsart gelten dürfen, d. h. auch als "sinnliche Zeichen", ids "sinnliche Schemata" (II 497; 502) — d. i. als "äußerlich gewordenes Inneres" — zu "lesen" sind und so überdies auch noch der bestimmten "Idee der Glückseligkeit" ~ und zwar derjenigen des je Anderen — genügen. Gilt doch um nichts weniger für das im Zeichen des Anspruchsniveaus des "obersten Prinzips der Tugendlehre" stehende Handeln, "daß der moralische Wille nicht realisiert werden kann, d. h. mit einem Zustand der Welt identisch i s t . . . Da das, was die Willkür bewirkt, allemal ein Ereignis in der Sinnenwelt ist, die Bestimmung

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Vgl. Vorlesungen Pölitz 186: "Necessitatio problematica, wo der Verstand die Notwendigkeit des Gebrauches der Mittel unter der Bedingung des beliebigen Zwecks erkennt." Lediglich am Rande sei hier noch darauf verwiesen, daS auch für ein Bedenken der praktischen "Selbsterfahrung" und somit auch im Horizont der praktischen Vernunft ein von Kant nicht wirklich berücksichtigtes Zeitproblem resultiert, ohne das nicht zuletzt auch die für das Handelnsproblem und die Zweckintentionalität wesentliche Identität des Selbstbewußtseins gar nicht denkbar ist. S. dazu o. Anm. 58 u.u.Teil III Anm. 6.

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der Willkür aber nicht, kann der Zusammenhang von Moralität und Glückseligkeit kein empirischer sein, d. h. nicht als Zustand der Welt identifiziert werden".134 Dies ist doch wohl auch gerade für den "gebotenen Zweck" ~ den entfalteten "Zweck, der zugleich Pflicht ist" ~ genau zu beachten. Unleugbar ist freilich aber auch, daß der "empirische Charakter" der Handlung als Teil der Sinnenwelt" eine "Eigendynamik" entwickelt, die sich der Verfügbarkeit des "intelligiblen Charakters" prinzipiell entzieht und allzu oft in Unabsehbares "entgleitet": Folge (als Wirkung) und "Erfolg" sind nicht identisch, auch nicht im Sinne ihrer Ubereinstimmung. Kant hat schon in seiner Auflösung der dritten Antinomie der ersten "Kritik" davon gesprochen, "daß diese Naturbedingungen . . . nicht die Bestimmung der Willkür selbst, sondern nur [!] die Wirkung und den Erfolg derselben in der Erscheinung" betreffen und die "Wirkungen, nach Verschiedenheit der begleitenden und zum Teil einschränkenden Bedingungen, in veränderlichen Gestalten erscheinen." (II 503) Es steht ganz außer Zweifel, daß alles Handeln "in einem natürlichen und sozialen Kräftefeld" stattfindet, "über das die jeweiligen Akteure nicht vollständig verfügen, nicht einmal ganz überschauen; zweitens entwickeln die Folgen eine Eigendynamik, die man nicht immer [genau genommen aber doch eigentlich überhaupt nie!] vorhersehen kann."135 Darauf zielt doch auch Kants gelegentliche Rede von der "Moralität und eine(r) ihr untergeordneten Kausalität nach Zwecken", die nun freilich "schlechterdings durch Naturursachen unmöglich" ist. (V 559 Anm.) Die Willkür ist als "Vermögen der Zwecke" dem "praktischen Endzweck" untergeordnet, was es so auch erst ermöglicht, gemäß der Idee der "äußeren (relativen) Zweckmäßigkeit" (d. i. der nur so möglichen "Zuträglichkeit eines Dinges für andere": V 479), bezogen auf den "Zweck, der zugleich Pflicht ist", als Mittel je fremder Glückseligkeit zu fungieren, könnte doch andernfalls das von der Wirklichkeit nur am entferntesten scheinende "Ideal der praktischen Vernunft" prinzipiell auch gar keine individuierende Darstellung "in concreto" gewinnen. Freilich ist auch hier vor dem Hintergrund der vorhin angesprochenen Probleme immer noch die weitere Frage unbeantwortet, wie es denn bezüglich des "gebotenen Zwecks" angesichts der immer drohenden "besonderen Ungunst des Schicksals" steht, wenn doch auch das handelnde Individuum letztlich gar nicht wissen kann, "was es ist, ehe es sich durch das Tun zur Wirklichkeit gebracht hat"156 und natürlich auch nicht zu leugnen ist, daß im Begriffe der Zwecke "die

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Anacker, Hoffnung — Kants Versuch . . . 261. O. Höffe, Kantische Skepsis . . . 537. Hegel, Theorie-Werkausgabe 3, 298.

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Vorstellung von den Folgen enthalten" ist, "die sich aus meinem Handeln ergeben sollen"?157 Auch für diesen höchsten Standpunkt der Freiheit gilt es (betreffend die Handlungsfolgen) darauf zu achten, daß, wenn sein "Innerliches notwendig in die Äußerung sich begibt" und sich als Handlung entfaltet138, die zwar "moralisch-schlechthin-notwendige Handlung" dennoch zu einer "physisch ganz zufälligen Begebenheit" herabsinkt.1® Wenn so der Handelnde gleichsam den "Stand der Ursache für Wirkungen" übernimmt, die "Wirklichkeit der handelnden Ursache" herstellt, darin jedoch zugleich als "Urheber" zu gelten hat, so bedeutet dies doch, daß alles Handeln prinzipiell gleichsam einen "ungedeckten Überschuß" in dem bestimmten Sinn impliziert, als es gewissermaßen immer "mehr" enthält als das in und durch sie bloß Intendierte. Sie ist immer "mehr" als ein bloßer "Abklatsch" theoretischer Reflexion; deshalb gilt freilich immer noch, das "Moralisch-Gute" betreffend, daß der "gute Wille . . . nicht durch das, was er bewirkt oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zu Erreichung irgendeines vorausgesetzten Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d. i. an sich, gut" ist. (IV 19) Für Kant war aber auch der aristotelische Hinweis nicht mehr als eine Selbstverständlichkeit, daß auch die "strengste Forderung der praktischen Vernunft" fraglos auch wohl der "äußeren Güter" bedarf, "da es unmöglich oder schwer ist, das Gute und Schöne ohne Hilfsmittel zur Ausführung zu bringen."160 Auch hier zeigt sich jedoch im Anschluß an Kants Ausführungen, daß es eben durchaus fragwürdig ist, ob und wie weit die "ausgeführte Handlung ein 'äußeres' Bild " darstellt, "welches eine 'Anzeige' auf den intelligiblen Charakter abgibt. . . und dessen innere Gestalt in der Weise einer erscheinenden Handlungsfigur sichtbar macht."161 Erweist sich so nicht nur noch einmal, daß der intelligible Charakter prinzipiell nicht mit der "Geschichte des Handelns" selber identisch ist und durch diese letztere auch niemals in seiner "Totalität" je einzuholen ist? Auch für die durch das "oberste Prinzip der Tugendlehre" qualifizierte praktische Intentionalität bleibt es aus den vorhin genannten prinzipiellen Gründen bestenfalls bei einem "Hinwirken" auf das im "gebotenen Zweck" Intendierte,

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F. Kaulbach, Das Prinzip Handlung . . . 309. H. Cohen, Ethik des reinen Willens . . . 179. Ist es aber möglich zu sagen: "In der Frage 'meiner' Handlung kann es freilich geschehen, daß mir der Betrachter mit seiner 'äußeren' Perspektive einen vielleicht engeren oder auch weiteren Spielraum des Geschehens zurechnet und mich dafür verantwortlich macht. Ich selbst werde als 'meine' Handlung diejenige Phase [!] im 'Gesamtgeschehen' ansprechen und anerkennen, die ich selbst in Freiheit und Selbständigkeit verantworte und in der ich mich als vergegenwärtigt betrachte"? (F. Kaulbach, Das Prinzip Handlung 304) Aristoteles, Nikomachische Ethik 1099a 31 f. F. Kaulbach, Das Prinzip Handlung . . . 305.

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wenn doch die Totalität dieser praktischen Idee nicht einzuholen ist, deshalb — Perspektive einer erweiterten und radikalisierten Postulatenlehre - über den Bereich eigentlich so zu nennender sittlicher Praxis hinausweist und ohne den Bezug auf den notwendigen Gedanken des "Endzwecks der Schöpfung" aber tatsächlich auch ein "Problem ohne Auflösung" (II 331) bleiben müßte. Damit stellt sich nicht bloß das Problem der Vermittlung des "praktischen Endzwecks" mit der Handlungsebene (den Handlungszwecken der Willkür), sondern, auf einer anderen Ebene des "Systems der Zwecke der Freiheit", auch dieser "praktische Endzweck" bleibt evidenterweise notwendig in prinzipiell unaufhebbarer Spannung zu der notwendigen letztumfassenden Vernunftidee des "Endzwecks der Schöpfung".1® Der durch den Anspruch des "obersten Prinzips der Tugendlehre" sensiblisierte Mensch bleibt freilich gerade in deren praktischer Intentionalität von dem möglichen blinden "Sich-fortwälzen" zu ungewollten und unabsehbaren Folgen des Handelns nicht unberührt und vermag sich auch nicht dabei zu beruhigen, "nicht eine freie Tat (in juridischer Bedeutung)" (IV 640) und in diesem Sinne nicht "Unrecht" begangen zu haben. Es mag ihm ein zweifelhafter Trost sein: "Wenn ich meine Schuldigkeit tue, gehen mich gute und böse Folgen nichts an."163 Erst recht ist dieser "sittlichen Stufe" jene "Eitelkeit" fremd, der "dieser gute Wille dann verdächtig wird, wenn er sich mühelos auch im Untergang dessen, dem er helfen sollte, damit tröstet, daß es genug ist, nach dem Rechten zu streben." Dies schon deshalb, "weil im Falle der Pflicht gegen den Anderen die Intention des guten Willens auf ihn a 1 s den Anderen geht und hier nicht nur einen Fall der Anwendung von Gesetzen vor sich sieht."164 So gesehen ist es nicht ganz unproblematisch, wenn für Kant selbst nämlich "der, welcher sich im bloßen Bewußtsein seiner Rechtschaffenheit glücklich fühlen soll, . . . schon diejenige Vollkommenheit" besitzen soll, "die im vorigen Titel für denjenigen Zweck erklärt war, der zugleich Pflicht ist." (IV 518)165 Denn auch der Freispruch des die "öffentliche Gerechtigkeit" repräsentierenden "bürgerlichen Gerichtshofes" in Ansehung der Handlungsfolgen vermag hier nicht zu genügen, ebensowenig wie das eigene Bewußtsein darüber, daß man doch nicht selbst "hiemit dem, der dadurch leidet, eigentlich Schaden (tut), sondern diesen verursacht der

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Vgl. dazu auch die Reflexionen 5611-5619 (Akademie-Ausgabe XVIII). Reflexion 7120. In: Akademie-Ausgabe XIX 252 f. D. Henrich, Das Problem der Grundlegung . . . 366. Es widerspricht Kants Intention, wenn Fichte meint: "Darum sind ihm auch die Folgen seiner pflichtmäßigen Handlungen in der Welt der Erscheinungen völlig gleichgültig; wie sie auch scheinen mögen, an sich sind sie sicherlich gut; denn wo die Pflicht geübt wird, da geschieht der Wille des Ewigen, und dieser ist nothwendig gut." (Fichte, Akademie-Ausgabe 1,5.431)

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Zufall." (IV 641) Nicht bloß psychopathologische Skrupulosität vermag sich im Innewerden solcher "Heillosigkeiten" bei solchen Tröstungen nicht zu beruhigen. Erwächst nicht auch so ein Bewußtsein von einer Unversöhntheit und einem gar nicht einmal primär im moralischen Sinne verstandenen Scheitern und "Versagen", das nun, ohne freilich die Absolutheit des moralischen Standpunktes relativieren zu wollen, aber doch dessen Maßstäbe sprengt ~ und zwar in einem durchaus mehrfachen Sinn?166 Damit hat sich aber nur noch einmal bestätigt, daß der gemäß der "revolutionierten Denkungsart" sich erst zur wahrhaft autonomen Selbstbestimmung überschreitende Wille sich nicht in der bloßen "reinen Tugendgesinnung" erschöpfen kann; und zwar auch nicht, wo "das Gesetz zugleich die Triebfeder seiner pflichtmäßigen Handlungen wird", das freilich einer Haltung gleichkommen soll, "welches innere moralisch-praktische Vollkommenheit ist" (IV 517) — so daß gar in "schwärmerisch-überfliegender Denkungsart" diese Verbindlichkeit durch eine vermeintlich "höhere Sittlichkeit" gegenstandslos geworden wäre. Es ist deshalb eine doch beträchtliche Verkürzung der von Kant geleisteten sachlichen Differenzierungen, wenn etwa Kaulbach schon die "Achtung" als das "Ergebnis" der "Revolution der Denkungsart" würdigen möchte, so daß diese selbst lediglich "das gegenseitige Anerkennen der Personen als der Repräsentanten des Freiheitsgesetzes" begründe. Gewährleistet dies denn nicht schon im Grunde die bloße "Liberalisierung der Denkungsart"? Schon das Anspruchsniveau der Rechtspflicht vermag auch den von Kaulbach herausgestellten Sachverhalt abzudecken: "Achtung ist Anerkennung des vernünftigen Selbst der Person durch dieses Selbst: daher besteht sie niemals Sachen gegenüber."167 "Die Menschheit in der Person des ande-

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Hier fügt sich auch ein Passus aus Kants Religionsschrift ein, der zugleich aber auch noch die Haltlosigkeit der Ansicht bestätigen kann, Kants Religionsphilosophie sei wesentlich von dem Gedanken der "Fähigkeit der Selbstgenugtuung" getragen: "Auch die reinste moralische Gesinnung bringt am Menschen . . . doch nichts mehr als ein kontinuierliches Werden eines Gott wohlgefälligen Subjekts der Tat nach . . . hervor. Der Qualität nach (da sie, als übersinnlich gegründet, gedacht weiden muß) soll und kann sie heilig und der seines Urbildes gemäß sein; dem Grade nach — wie sie sich in Handlungen offenbart [!] — bleibt sie immer mangelhaft, und von der ersteren unendlich weit abstehend. Demungeachtet vertritt diese Gesinnung, weil sie den Grund des kontinuierlichen Fortschritts im Ergänzen dieser Mangelhaftigkeit enthält, als intellektuelle Einheit des Ganzen die Stelle der Tat in ihrer Vollendung." (IV 729 f Anm.) F. Kaulbach, Das Prinzip Handlung . . . 215 f. — Keinesfalls so unproblematisch oder selbstverständlich scheint Kaulbachs (aus der notwendigen Unterscheidung zwischen Moralität und "legalem Verhalten" gewonnene) Folgerung zu sein: "Aber die Legalität findet selbst ihre Rechtfertigung durch den moralischen Bezug gegenseitiger Achtung und Anerkennung des Selbstzweckcharakteis des anderen. Gesellschaft gründet sich auf moralische Gemeinschaft, d. i. das 'Reich der Zwecke.'" (ebd. 189) Ob dem nicht schon Kants kultur- und geschichtsphilosophische Überlegungen wideisprechen? — Hegels

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ren als Objekt der Achtung anzuerkennen" - dies hat sich für den Maßstab der Tugendpflicht und den diesem genügenden Begriff der "Autonomie" als nicht mehr zureichend erwiesen, kommt doch so das alter ego als Individuum genau genommen noch gar nicht in Sicht, nur als Individuum in seiner Besonderheit jedoch ist es erst "Zweck an sich selbst" ("Subjekt der Zwecke") in einem grundsätzlichen Sinn. Auch die gesinnungsmäßig befolgte Achtung der Rechtspflicht überschreitet nicht den Rahmen einer bloß "negativen Pflicht gegen andere"168, und in der Tat ist "für die Rechtspflichten oder Pflichten aus Schuldigkeit das Bedürfnis der Anderen so unmaßgeblich wie ihre Glückseligkeit; nur ihr Recht verdient Beachtung." Darin liegt ja auch der Grund dafür, daß nach Kant auch "alle Rechtspflichten und die davon zu formierenden Begriffe analytisch aus dem Begriff der Freiheit abgezogen" sind, "dagegen alle Pflichten aus einem Zweck nur synthetisch aus der Bestimmung der menschlichen Natur bewiesen werden müssen."16® Völlig zu Recht kann Kersting daher feststellen: "Das allein ableitbare Gebot nichtfreiheitszerstörender Handlungen ist von einem Gebot freiheitsbeförderader resp. die eigene Vollkommenheit und die Glückseligkeit anderer mehrender Handlungen zu unterscheiden; das letztere muß in einem materialen Prinzip fundiert sein."170 Bezüglich eben dieser "Zwecke, die man haben soll" (IV 510), bemerkt Kersting andernorts171, daß Kant in der Tugendlehre "neben das formale Apriori des Rechtsgesetzes das materiale Apriori des ethischen PflichtZwecksprinzips" stellt, d. h. in der Metaphysik der Sitten "jedem ihrer Teile ein gesondertes und selbständiges Pflichtprinzip" zugrunde legt. Damit dürfte nun im wesentlichen der diesbezügliche Einwand weitgehend gegenstandslos werden, "daß der im Sinne Kants moralisch gute Wille, der sich auf die Gesetzesförmigkeit seiner Maximen, aber nicht auf die betreffenden Individuen als solche bezieht, der moralischen Intention der Pflichten gegen andere nicht gerecht wird, 'weil im Falle der Pflicht gegen den Anderen die Intention des

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Bemerkung über die "Pflichtenlehre der Moral" stimmt mit Kant überein, weiß doch auch Kant darum, daß "die Pflichten gegen andere" sich über die Rechtspflichten hinaus erstrecken, den Anderen nicht als abstrakte Penon zum Inhalt haben, sondern darauf gehen, diese "in ihrer Besonderheit sich selbst gleich zu halten, ihr Wohl und Wehe als das Seinige zu betrachten und dies durch tätige Hülfe zu beweisen." (Hegel 4, 91) Kant, Akademie-Ausgabe 27.407. Kant, Akademie-Ausgabe 27. 2.1,583. W. Kersting, Sittengesetz und Rechtsgesetz . . . 169. - Gestützt wird diese Auffassung nicht zuletzt durch die Unterscheidung zwischen einem regulativen und einem konstitutiven Prinzip der Freiheit: "Das regulative princip der freyheit: daß sie sich nur nicht widerstreite; das constitutive: daß sie sich wechselseitig befördere, nemlich für den zweck: die Glückseligkeit." (Reflexion 72S1) W. Kersting, Wohlgeordnete F r e i h e i t . . . 83.

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guten Willens auf ihn a l s den Anderen geht und hier nicht nur einen Fall der Anwendung von Gesetzen vor sich sieht'".172 Die gebotene Rücksicht auf Kants wesentliche Ausführungen in seiner späten Tugendlehre lassen diese Einwände jedenfalls in einem neuen Licht erscheinen, ist doch wohl ohne weiteres von Kant auch Zustimmung zu Hegels Bemerkung zu erwarten, der zufolge Moralität "somit den Menschen nach seiner Besonderheit" betreffe und deshalb "nicht bloß negativ, wie das Recht" sein kann: "Ein freies Wesen kann man nur gehen lassen, dem besonderen Menschen aber etwas erweisen."173 Nun ist gewiß nicht zu leugnen, daß Kants berühmt-berüchtigter Satz: "Achtung" sei doch lediglich auf das moralische Gesetz gerichtet, von der die einzelne Person nicht mehr als "das Beispiel gibt" (IV 28 Anm.), Mißverständnissen der eben angeführten Art Vorschub leistet - die Proteste dagegen sind auch Legion; ebenso wenig ist jedoch auch zu übersehen, daß diese Wendung Kants eine doch recht unkritische Disjunktion von "Einzelnem- Allgemeinem" selbst voraussetzt. Kants Auszeichnung des Menschen als "Zweck an sich selbst" läßt es genau besehen eben doch gerade nicht zu, dieses alter ego auf ein bloßes "Exemplar der Gattung" zu reduzieren - und um nichts weniger auch dies, den Anderen selbst auf ein nur "begriffloses Einzelnes" herabzusetzen: beides hieße notwendig, menschliche Individualität zu verfehlen. (S. u. 264 f.) Die von Kant geradezu enthusiastisch herausgestellte "Idee der Persönlichkeit" und das "Ideal der Menschheit" (VI 673) in der Person als "Objekt der Achtung" hat sich lediglich für die "verständige Reflexion" zu einem "abstrakt Allgemeinen" verflüchtigt, dem, so gesehen konsequent, dann ein bloß Singuläres, Einzelnes gegenübersteht, das damit dem nur jenseits solcher unkritischen Disjunktionen wirklichen (d. i. konkreten) Individuum als "Zweck an sich selbst" nicht zu genügen vermag. Weithin scheinen freilich auch neuere Kantinterpretationen genau solche im Grunde doch unkritischen Voraussetzungen zu teilen ~ Voraussetzungen, welche auch allein diese geläufigen polemischen Stellungnahmen Kant gegenüber in diesen Problembereichen verständlich machen. Einige repräsentative Beispiele mögen dies im folgenden verdeutlichen.

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D. Henrich, Das Problem der Grundlegung . . . 366. Hegel 4, §189.

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2. 1. Beispielhafte Fehleinschätzungen dieser Themenbereiche in der neueren Kantliteratur. 1. Im Bannkreis dieser unkritischen Disjunktionen steht doch auch die einschlägige Kantinterpretation Ritzels, die deshalb auch dem Sinngehalt der Menschheitsformel nicht gerecht zu werden vermag: "Wer den Menschen nie nur als Mittel, sondern um der Gattung willen zugleich als Zweck respektiert und wer es so auch im Umgang mit einem ihm nahe verbundenen Menschen hält und diesen daher über die eigene Motivation aufklärt (die keine Irreführung erlaubt), der muß den ihm Naheverbundenen aufs Bitterste kränken. Denn statt der einmaligen und unverwechselbaren Person durch Rücksicht, Takt, Geduld und Schonung zu huldigen, setzt er sie herab zum bloßen Mittel ~ nun zu dem der Gattung, die heiliggehalten werden soll! [. . .] Allerdings liegt das auch an Kants Menschheitsbegriff. Nach ihm ist Menschheit das alle verbindende, die Qualität und Würde [.. .] Doch nur um den Preis extremer Allgemeinheit fungiert Menschheit als solches Prinzip. Daß wir uns nicht als Vernunftsubjekte bewähren, ohne unsere Individualität auszubilden, daß Menschheit nur ist, indem sie sich millionenfach individuiert, das wird nicht bemerkt."174 Es wäre doch allzu erstaunlich, wenn Kant dieser vergleichsweise augenfällige Sachverhalt verborgen geblieben wäre; eine genauere Lektüre vermag jedoch gerade vom Gegenteil dieser (zugegeben sogar recht verbreiteten) Einschätzung zu überzeugen. Es ist zu vermuten, daß nicht nur eine Erinnerung Kants an das "Verfahren des Verstandes, wenn er sich die Sphäre eines eingeteilten Begriffs vorstellt" (II 123) — wie Ritzel meint — es ermöglicht hätte, Kant dahin zu führen, "der Individualität jeder Verkörperung von Menschheit gerecht" zu werden, um sodann auch zu sagen, "daß die Menschheit, die wir in der Person 'dieses' uns begegnenden einmaligen und unersetzlichen Menschen heilig halten, genau die Menschheit dieses und keines anderen Menschen ist."175 Auch war sich Kant wohl durchaus der Möglichkeit und eben auch der Aufgabe bewußt, "daß der einzelne seine Individualität zum Wohle der anderen" einsetze, dies jedoch nicht vermag, "ohne daß zugleich mit

174 17s

W. Ritzel, Kant und das Problem der Individualität. . . 237. W. Ritzel, Kant und das Problem . . . 239. Auch wo Ritzel - wie in seiner großen Kant-Biographie - ausdrücklich auf die Tugendlehre Kants Bezug nimmt, vermag dies an seinem Urteil nichts zu ändern: "Wie wir nach der Menschheits-formel nicht die einzelne Person heilighalten, sondern die in ihr verkörperte Menschheit, so mediatisieren wir nun den Mitmenschen, dessen Glückseligkeit wir befördern, um eines Allgemeinen willen." (Immanuel Kant. Eine Biographie. 600) Es verwundert so gesehen wenig, daß Ritzel besonders auch Kants Lehrstück vom "Zweck, der zugleich Pflicht ist", als "schwer nachvollziehbar und wenig überzeugend" erscheint, (ebd. 596)

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seiner eigenen Individualität ~ zweitens ~ die fremde zur Geltung kommt, also die des durch sein Handeln betroffenen Mitmenschen oder Nächsten, den [nach Ritzels erstaunlicher Ansicht] die kritische Ethik nicht kennt. Jemand, mit dem wir uns im Ernst einlassen, erscheint uns niemals als namenlose Personifikation von Menschheit, sondern als 'dieser' mit seinen besonderen in unsre Person gesetzten Erwartungen, welche wir ernstnehmen, wenn auch vielleicht enttäuschen müssen. Und nur indem wir uns seiner wirklich annehmen und nicht nur das in seiner Besonderheit gleichgültige Exemplar der Gattung in ihm erblicken, werden wir der Menschheit in seiner Person gerecht und verkörpern zugleich Menschheit in unserer eigenen. — Eine vordem übliche Kanzelanrede titulierte die Gemeinde 'Geliebte im Herrn'. In ihrer Indifferenz gegenüber dem einzelnen Hörer mit seinem einmaligen Schicksal und seiner besonderen Not entsprach sie der Haltung gegenüber der einzelnen, um der Menschheit willen immer auch als Zweck zu respektierenden Person, zu welcher die kritische Ethik verpflichtet. Wir können den Mitmenschen 'im Herrn' lieben und um der Menschheit willen achten, ohne uns im Ernst auf ihn einzustellen, und ihm mithin alles schuldig bleiben, was er von uns erwarten darf."176 Dem mag so sein, doch ist gewiß Kant von dieser pointierten Kritik nicht betroffen, scheint doch ganz besonders und ausdrücklich dem Anliegen Ritzels in Kants späteren Schriften Rechnung getragen zu sein, die dies in extenso ausführen und so auch die Auffassung distanzieren, bei Kant sei die Personalität des Menschen auf einen bloßen "Fall der allgemeinen Gesetzgebung", einen "Gegenstand pflichtschuldiger Achtung", der "Träger der Vernunft" auf einen "ideal-abstrakten Wert" herabgesetzt. Wohl nicht zufällig, daß Ritzel in seiner Arbeit sich kein einziges Mal auf Kants Tugendlehre der Metaphysik der Sitten bezieht. Kant war sich zweifellos darüber im klaren —

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W. Ritzel, Kant und das Problem . . . 241 f. So urteilt Ritzel auch noch jüngst in seinem Aufsatz "Glück versus Moral" 282. — Bei Beachtung der wesentlichen Themen der späten Tugendlehre ist es deshalb durchaus problematisch, sich mit Blick auf die Position Kants mit der Feststellung zu begnügen: "Die Frage nach dem 'was soll ich tun in bezug auf den anderen?' erreicht jedenfalls das Du nicht, sondern bezieht sich auf einen anderen, genauer: auf jeden anderen." (W. Schild, Die Menschenrechte als Sinnräume der Freiheit und ihre Sicherung im Recht 2S3.) — Es ist nicht zufällig, daß sich Schild in seiner Kritik an Kant auf die schon kritisierten Standpunkte von W. Marx und W. Ritzel (s. Anm. 174) beruft. Der Vorwurf, bei Kant werde das Individuum bloß auf einen "Fall" (ein "Exemplar") reduziert, wird Kants Moralphilosophie und Ethik keineswegs gerecht. Es soll sich so auch die Berechtigung deT von Holz vertretenen Ansicht bestätigen, daß Henrichs Vorwurf, "als ob in der Kantischen Ethik weder die Liebesverpflichtungen noch die Pflichten gegen sich selbst im Prinzip genügend" beachtet werden (wenigstens was die erstgenannten betrifft), "jedenfalls nicht in der Form, die ihm Henrich gibt", aufrechtzuerhalten ist. (H. Holz, Philosophische und theologische Antinomik 362 Anm. 20)

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und hat dies unübersehbar auch in dieser Tugendlehre zum Ausdruck gebracht —, daß die bloße Anerkennung des anderen Menschen eben als "Seinesgleichen", d. h. als "Gleich-Gültigen", sich durchaus damit verträgt, diesem Anderen als unverwechselbarem Individuum in Gleichgültigkeit gegenüberzutreten, d. h. nun aber doch gerade, ihn (sein "Wohl und Heil") als "Du" zu verfehlen und damit auch dem Anspruch des "gebotenen Zwecks" in keiner Weise zu genügen. Ganz ähnliches ist auch zu Derbolavs Ansinnen zu bemerken, "das abstrakte Selbst in Kants Menschheitsformel durch das konkrete Du" zu ersetzen. "An die Stelle der Achtung vor dem Selbst (der eigenen oder fremden Person)" habe vielmehr die Pflicht zu treten, "das Du als Aufgabe anzunehmen, eine unendlich bestimmtere und konkretere Forderung", die nur von dem "Durchgang durch das christliche Ethos her verständlich ist." Jedenfalls ist es unzureichend zu sagen, Kants Überlegungen gäben "nur die Differenz von Sache und Selbst her, die im Grunde schon im Humanismus entdeckt worden ist."177 2. Zurückhaltender und damit auch wohl sachlich angemessener ~ wenn auch prinzipiell (nicht zuletzt bedingt durch die Ausblendung der Tugendlehre) ähnlich - kommentiert diese Fragen Haardt: auch seiner Ansicht nach soll Kant zufolge "der Andere nach Grundsätzen behandelt werden . . . , die seiner eigenen Gesetzgebung entsprungen sein könnten und dies ja durch die

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J. Derbolav, Nachwort zu dem von ihm herausgegebenen zweiten Band der nachgelassenen Schriften von F. Fischer, Die Erziehung des Gewissens, 153. — Auch Derbolavs Einschätzung ist wesentlich durch ein verkürztes Verständnis des Gehaltes der Menschheitsformel des kategorischen Imperativs begründet, die, wie gesagt, gewiß fürs erste einmal auf die "Pflicht der Achtung" zielt, ohne sich darin zu erschöpfen. Wohl läBt sich mit Derbolav behaupten, daB Kant "in den Achtungspflichten Maximen der Einschränkung unserer Selbstschätzung durch die Würde der Menschheit in einer anderen Person" sieht. (J. Derbolav, Abriß europäischer Ethik 56) Problematisch ist dann aber nicht nur Derbolavs Ansicht, daß in der 'Achtungspflicht genau der Sinn der Menschheitsformel... ausgesprochen" sei; unverständlich ist auch sein Urteil, Kant habe "die Liebespflicht auf die 'Maxime des Wohlwollens', d. h. auf Nothilfe" eingeschränkt, und daß Kant "sie damit wieder auf den begrenzten moralischen Gehalt der humanistischen Ethik" zurücknehme (ebd. 119 Anm. 154) — obwohl, wie Derbolav ausdrücklich bemerkt, Kant doch von "Nächstenliebe" spreche. Fragwürdig ist demnach auch die weitere Behauptung: "Der gute Wille konkretisiert sich bei Kant in Rechts- und Tugendpflichten, in die auch die antikmittelalterlichen Güter und Tugenden in revidierter Form Eingang finden. In den Liebespflichten als Dienst an der fremden Glückseligkeit — sofern sie unverschuldet in Not gerät und soziale Hilfe benötigt — klingt noch das Liebesgebotes der christlichen Ethik nach." Diese unüberhörbar einschränkende Beurteilung des Stellenwerts dieser Themen bei Kant scheint in den relevanten Texten bei Kant nur wenig Anhaltspunkte finden zu können. Läßt die Differenzierung dieser Menschheitsformel die Identifikation mit der "Grundformel" zu?

Fehleinschätzungen in der Kantliteratur

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Standardformel [des kategorischen Imperativs] legitimierbaren moralischen Maximen. Wer diese befolgt, verhält sich immer schon zu Anderen (und zu sich selbst) als Zweck an sich selbst, auch wenn ihm dies nicht ausdrücklich bewußt wird." Dieses Mißverständnis wurde schon mehrmals zurückgewiesen; Haardt selbst sieht sich wenig später zu der resümierenden These veranlaßt: "Der solchermaßen eingeengte PersönlichkeitsbegrifF wird jedoch dem Selbstverständnis des moralischen Bewußtseins selber nicht mehr gerecht. Denn in diesem ist die Intention auf die Person des Anderen, sowie auf die Menschheit in der eigenen Person, nicht auf das Interesse an Allgemeinheit und Stimmigkeit des Handelns reduzierbar, wie sie in der strengen Formulierung des KI zum Ausdruck kommen."178 Und dennoch soll man — so wäre Haardt nun aber doch zu fragen ~ sich darin "immer schon zu Anderen (und zu sich selbst) als Zweck an sich selbst" verhalten? 3. Und auch Heinrichs möchte in einem seiner recht interessanten Aufsätze179 dafür plädieren, die bezeichnenderweise von ihm so genannte "wertneutral vorpersonal bleibende 'Achtung* von eigentlich personaler, werthafter Anerkennung zu unterscheiden". Nun geht aus einem anderen Aufsatz dieses Autors (aus der dort vorgestellten Übersicht über die von ihm entfalteten "dialogischen Kategorien" und deren Analyse) hervor, wie Heinrichs dies näherhin verstanden wissen will: "Gleichgültigkeit (vorpersonale Achtimg, neutrale Anerkennung)" wird da von "Bejahung (Liebe, positive Anerkennung)" und "Ablehnung (Haß)" unterschieden und wenig später in folgender Weise noch charakterisiert180 : während nämlich zwar "Haß eine volle zwischenmenschliche Beziehung darstellt, freilich negativer Art (die als solche nur als Verkehrung der positiven zu 'begreifen' ist), stellt die Gleichgültigkeit eine genaue Entsprechung dar zu dem, was Kant 'unendliches Urteil' nannte: der Andere begegnet [darin nämlich lediglich] als nicht-geliebt, was nicht Ablehnung besagt, sondern einen unendlichen Spielraum neutraler Möglichkeiten offenläßt. Insofern keine Entscheidung zum Anderen als werthafte Freiheit gesetzt wird, ist die Begegnung vorpersonal. Es versteht sich, daß eine solche Beziehung nur vorübergehend sein kann oder nur so lange dauern kann, als eine Nützlichkeitsbeziehung oder eine bloß abstrakte Rechtsbeziehung selbstverständlich im Vordergrund steht. Es genügt, um die Personalität des Anderen zu wissen und ihn 'jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel' anzusehen." ~ Es ist wohl überflüssig, nochmals zu betonen, daß dies weder der "aus Pflicht" befolgten Rechtspflicht und folglich natürlich erst recht nicht der Tugendpflicht (dem ihr entsprechenden Imperativ) zu genügen

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A. Haardt, Die Stellung des Personalitätsprinzips . . . 168. J. Heinrichs, Reflexion-Intersubjektivität-Zeit... 573. J. Heinrichs, Sinn und Intersubjektivität... 183 ff.

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vermag. Heinrichs verkennt hier doch die Differenziertheit der von Kant motivlich grundgelegten, aber auch tatsächlich entwickelten Zusammenhänge. 4. Insbesondere bei genauer Beachtung der Hauptmotive der späten Tugendlehre verlieren nun auch die an Kants Adresse gerichteten Vorbehalte Hengstenbergs doch an Gewicht. So etwa, wenn Hengstenberg die von ihm betonten zwei "Grundsätze im Lichte des Gebotes der Nächstenliebe" geradewegs gegen Kant ins Treffen führen will: "1. 'Verhalte dich zu deinem Nächsten in jeder sittlich relevanten Situation so, daß dein Tun und Lassen auf die einmalige personale Individualität des Anderen um seiner selbst willen ausgerichtet ist." Die Kritik an Kant lautet naheliegenderweise dahingehend: "Damit kommen wir in die Nähe dessen, was schon Kant forderte: Der Mitmensch darf niemals als Mittel, sondern muß immer als Selbstzweck genommen werden. Man kann unseren Grundsatz daher auch den der Selbstzwecklichkeit der Du-Person nennen. Der Unterschied zu Kant liegt indessen darin, daß wir unseren Satz durch die Ausrichtung auf den Seins- und Sinnentwurf des Anderen mit seiner 'Individualität des Unterschieds' eine ganz andere Fülle und Wucht geben können als es bei Kant der Fall war, der im Mitmenschen in erster Linie doch nur einen Repräsentanten des Sittengesetzes würdigte und nicht so sehr die konkrete 'phänomenale' Personalität. 2. 'Verhalte dich in der sittlich bedeutsamen Situation zu jedem Seinsbereich deines Nächsten im Tun und Lassen so, daß dieser Bereich seiner Sinnerfüllung im Rahmen der Gesamtkonzeption des Anderen nähergeführt wird.'"181 Nun scheint jedoch nicht nur der von Hengstenberg übernommene Vorwurf fehlzugehen, Kant verfehle die "konkrete phänomenale Personalität", sondern — und dies ist vermutlich noch wesentlicher — vielmehr sind eben diese Grundsätze Hengstenbergs eben besonders mit den entscheidenden Motiven der kantischen Tugendlehre eingelöst! Hengstenbergs Urteil ist so auch nicht zu halten: "Kant brachte für seinen Grundsatzmonismus ein Opfer, das nicht tragbar ist: Es besteht in seinem Verzicht auf die materiale Fülle verschiedenartigster Wertverwirklichungen zugunsten seines Formalismus."182 Jedoch in dieser (durchaus gewohnten) Weise ist der gegen Kant erhobene Formalismus-Vorwurf gewiß nicht zutreffend. Was Hengstenberg nämlich im weiteren (unter Berufung auf Schelers Behandlung des "Liebesbegriffes") in so positiver Weise herausstellen will, ist — und zwar ganz ohne gewaltsame (allzu wohlwollende) Überinterpretation — in hohem Maß von Kant selbst berücksichtigt, möglicherweise sogar ohne all jene Probleme, die sich beispielsweise doch für Schelers eigenen Versuch einer Grundlegung der Ethik in der

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E. Hengstenberg, Grundlegung der Ethik 166. Zu dieser angeführten "Individualität des Unterschiedes" s. Hengstenberg 118 f. E. Hengstenberg, Grundlegung der Ethik . . . 172.

Fehleinschätzungen in der Kantliteratur

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"materialen Wertethik" ergeben. Schwerlich ist auch zu erkennen, inwiefern Kants Position so ganz und gar hoffnungslos hinter der folgenden, zweifelsohne ansprechenden Bestimmung der Liebe "hintennach hinke": "Liebe im eigentlichen Sinn beginnt dort, wo wir uns mit allen Gemütskräften auf das Seiende richten in jener spezifischen Gesinnung, die das Seiende in seinem konkreten Seins- und Sinnentwurf erfüllt sehen möchte und sich für dieses Ziel auch in concreto einzusetzen (zumindest) bereit ist, und zwar mit jener prospektiven, engagierten und Verantwortung übernehmenden Haltung, die wir als bewährte Sachlichkeit gekennzeichnet haben. Liebe nimmt in ihrer spezifischen Konspiration das Seiende in seiner Konkretheit seines Entwurfes an . . . Dabei ist nach Schelers Definition für echte Liebe kennzeichnend, daß bereits jene Werte mitgesehen werden, die zur Zeit am Seienden noch nicht verwirklicht sind, aber gerade ihm individualiter zugedacht. Liebe sieht das Geliebte 'schöpferisch entwerfend'. Das ist das prospektive Moment, das für [die] bewährte Sachlichkeit wesentlich und eins von jenen ist, was sie von purer Objektivität scheidet."10 Kant ist aber auch kaum jener von Hengstenberg in so pointierter Weise kritisierten "Spielart des Rigorismus" einzuordnen, der zufolge der eigentliche Rigorismus das "Schönste und Edelste" aussucht "und meint, in jedem Augenblick das jeweils Edlere suchen und realisieren, das je Vollkommenere 'wählen' zu müssen, und zwar unabhängig von der Situation. So konstituiert er Verpflichtungen, wo keine bestehen. Der Rigorist ist ein verkappter Autonomist. [. . .] Der Grundirrtum des Rigorismus liegt nicht darin, daß er der Auffassung ist, daß 'sittlich gut' und 'sittlich verbindlich' sich decken, darin hat er sogar Recht. Sein Grundirrtum beruht vielmehr darauf, daß er kein Gespür dafür hat, was in der Situation wirklich die Qualität des sittlich Guten beziehungsweise Gesolltseins trägt und daß er sich statt dessen Scheinverbindlichkeiten hingibt."184 Wiederum bleibt zu fragen, was denn mit Hengstenbergs "Korrektur" eines solchen Rigorismus anderes angesprochen sein soll als jene von Kant in dem Lehrstück über das "oberste Prinzip der Tugendlehre" vorgestellten Anliegen? Ist denn aber nicht schon mit diesem für Kants gesamte Moralphilosophie und Ethik so bedeutsamen (wenn auch weithin vernachlässigten) Lehrstück dem "Tua res agitur" in höchstem Maße Rechnung getragen, so daß der nahezu zum "Gemeinplatz" gewordene Vorwurf, Kants Ethik sei durch die "depersonalisierende abstrakte Gesetzlichkeit" geprägt, auch aus diesem Grunde als imbegründet erscheinen muß? Kant ist gewiß nicht in die im Sinne Hengstenbergs charakterisierte Reihe der "Rigoristen" zu stellen; auch trifft ihn der Vorwurf des Rigorismus als "Impersonalismus" (als

184

E. Hengstenberg, Grundlegung der Ethik . . . 95. E. Hengstenberg, Grundlegung der Ethik . . . 103.

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Zum "Zweck, der zugleich Pflicht ist"

Mangel "jeglicher Einbeziehung des Glücks oder der Glückseligkeit der Person" und die "Befriedigung des natürlichen Glücksverlangens") den voranstehenden Ausführungen zufolge ganz offenkundig nicht.185 5. Zu fragen bleibt in diesem unmittelbaren Problemkontext auch, ob nicht die verschiedensten, allerdings unter dem gemeinsamen Anspruch einer Uberwindung des "Pflichtlings" Kant auftretenden Ansätze auch existentialistisch-personalistisch-dialogistischer Provenienz in ihrer Hervorkehrung von (angeblich noch) nicht "vergesellschaftlichten", vielmehr noch (schon) "unmittelbaren" "Ich-Du-Beziehungen" (und damit auch der"personalen Liebe") durch eine nicht zuletzt den Rang und den Stellenwert der Rechtssphäre betreffende Ignoranz und Vergeßlichkeit gekennzeichnet sind und in ihrer vermeintlich treffsicheren und souveränen Kritik an Kant doch weit eher Gefahr laufen, das ihnen so wesentliche Anliegen der "Personalität" geradewegs zu verkürzen, oder dieses gar zu verstümmeln. Gewiß bleibt Adornos gelegentliche Anmerkung als Mahnmal nicht zuletzt von Kants Standpunkt aus gesehen immer noch beherzigenswert: "Freiheit, die allein in der Einrichtung einer freien Gesellschaft aufginge, wird dort gesucht, wo die Einrichtung der bestehenden sie verweigert, beim je einzelnen, der ihrer bedürfte, aber sie, so wie er einmal ist, nicht garantiert. Reflexion auf die Gesellschaft unterbleibt im ethischen Personalismus ebenso wie die auf die Person selbst. Ist diese einmal vollkommen vom Allgemeinen losgerissen, so vermag sie auch kein Allgemeines zu konstituieren; es wird dann insgeheim von bestehenden Formen der Herrschaft bezogen . . . Person als Absolutes, negiert die Allgemeinheit, die aus ihr herausgelesen werden soll, und schafft der Willkür ihren fadenscheinigen Rechtstitel . . . Die Person ist der geschichtlich geknüpfte Knoten, der aus Freiheit zu lösen, nicht zu verewigen wäre; der alte Bann des Allgemeinen, im Besonderen verschanzt. Weis an Moralischem aus ihr gefolgert

185

Vgl. dazu auch G. Funke, "Achtung fürs moralische Gesetz" und Rigorismus/Impersonalismus-Problem, bes. 63 ff. Gar nicht einmal so selbstverständlich ist in dieser Hinsicht somit auch die Ansicht Elsigans, bei Kant habe "das Gute gegenüber dem Nächsten . . . immer um des Guten willen zu erfolgen", "somit auch immer nur Intention eines Allgemeinen" sei, d. h. "nicht eigentlich die in Frage stehende Individualität als solche" betreffe, sondern "sich auf die Menschheit im Menschen" beziehe. (A. Elsigan, Sittlichkeit und Liebe . . . 211) Ganz ähnliche Kritik hat, wie erwähnt, auch D. Henrich geäußert. — Auch H. Kuhns Sichtweise rückt in einigen Punkten seiner Kritik unverkennbar in die Nähe Hengstenbergs — so etwa, was die von ihm an Kant bemängelte "Verkennung der Liebe" betrifft, weil der "kantische Kritizismus . . . keinen Raum für 'reine Liebe' oder überhaupt für Liebe im umfassenden Sinn dieses Wortes" lasse; — all diese Einwände wären im einzelnen ebenso zu überprüfen (und sodann wohl zurückzuweisen) wie auch Kuhns Programm einer "Linie 'mit Kant über Kant hinaus', einem konkreten Liebesbegriff zustrebend", aufzunehmen bliebe. (H. Kuhn, Liebe. Geschichte eines Begriffes 194; 223)

Fehleinschätzungen in der Kantliteratur

265

wird, bleibt zufällig wie die unmittelbare Existenz. Anders als in Kants altertümlicher Rede von der Persönlichkeit wurde Person zur Tautologie für die, denen schon gar nichts mehr übrigbleibt als das begriffslose Diesda ihres Daseins. Die Transzendenz, welche manche Neo-Ontologien von der Person sich erhoffen, überhöht einzig ihr Bewußtsein. Es wäre aber nicht ohne jenes Allgemeine, das der Rekurs auf die Person als ethischen Grund ausschließen möchte."186 In prinzipiell doch ähnliche Richtung weist auch die Kritik Oelmüllers: Personalismus und Existenzialismus erschöpfen sich nämlich auch für ihn "weithin in einem Appell an die angebliche Unmittelbarkeit der Gemeinschaft und in einem ohnmächtigen Protest gegen die verdinglichte Gesellschaft und ihre Institutionen. Die bestehende gegenwärtige Welt mit ihren Institutionen kann bei dieser Reduzierung des Phänomens des menschlichen Handelns auf das Private und Intime im Grunde nur als etwas Negatives begriffen werden. Der Personalismus und Existenzialismus in der Philosophie, der Theologie, der Pädagogik und in den anderen Wissenschaften machen besonders deutlich, daß eine Grundlegung des sittlichen und politischen Handelns, die sich ausschließlich am einzelnen Subjekt und seinen Ich-Du-Beziehungen orientiert, eben das nicht befriedigend zu leisten vermag, was sie zu leisten verspricht: eine Begründung des Handelns der freien und kritischen Subjektivität innerhalb einer durch Institutionen und Gesetze geordneten Rechtsgesellschaft und eines modernen Staates."187 Ein ganz prinzipielles Bedenken gegenüber den personalistisch-dialogistisch orientierten Begründungsversuchen (auch von Interpersonalität) bleibt nunmehr doch dies, ob solche einschlägigen Vorhaben diesen Horizont von Interpersonalität so zu differenzieren gestatten, daß darin auch ein mehrdimensionales (mehrstufiges), unterscheidbares Gefüge hervortreten kann, das es so auch erlaubt, darin rechtliche und moralische "Achtungs"- und "Anerkennungs"-Verhältnisse noch anders als defiziente, abkünftige Weisen der Wirklichkeit der "Dialogizität" zu erkennen und auch anzuerkennen. Verschiedene Stufen der "Anerkennung" gleichsam als Momente der Geschichte und Struktur des Selbstbewußtseins zu unterscheiden, wäre in dieser Weise doch wohl nur um den Preis des Verzichtes auf vorschnell abwertende Distanzierung mancher dieser Formen zu erreichen. Der philosophische Protest gegen die Gleichsetzung von Sozialität und Rechtssphäre, der Protest gegen die "Auffassung von Sozialität als konkretem Recht"188, mag (abgesehen einmal

186

187 188

Th. W. Adorno, Negative Dialektik 275; zu dem in der Tat interessanten Doppelsinn des Begriffes "Menschheit" "als der Idee des Menschseins und des Inbegriffs aller Menschen" vgl. ebd. 255. W. Oelmülter, Kants Beitrag zur Grundlegung . . . 185. J. Heinrichs, Dialektik und Dialogik 441.

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Zum "Zweck, der zugleich Pflicht ist"

davon, ob Hegel davon wirklich getroffen ist) natürlich als berechtigt erscheinen; die jedoch alternativ dazu aufgestellten Richtungspfeiler in eine allzu oft privatistisch-geschlossene "eigentliche" "Ich-Du-Wirklichkeit" personalistisch- dialogistischer Engführung dürften dagegen freilich, lediglich bei Umkehrung der Vorzeichen, ebenso der notwendigen Mehrstufigkeit der "Sozialität" und ihrer differenzierten Anerkennungsverhältnisse nicht gerecht werden. Was sich so gelegentlich den Anschein verleiht, den Menschen unverkürzt in sein Eigenstes zu bringen und auch das Denken von allen engen Fesseln und Irrwegen traditioneller philosophischer Lehre zu befreien, läuft so unversehens selbst Gefahr, sich allzu rasch als ein noch bedrohlicheres Gefängnis zu entpuppen. Für Kant jedenfalls war es auch ausgeschlossen, "daß der Einzelne den Nächsten gleichsam nehme, wie er ihn trifft, als etwas Gegebenes, dem weiter nicht nachzufragen ist und dessen Sosein gegenüber keine weitere Frage auch nur erlaubt wird" (wie Adorno189 dies freilich Kierkegaard vorwerfen will), auch wenn Adorno Kant selbst wiederum den Vorwurf einer "rigoristischen Pflichtethik"190 nicht ersparen will, tragen doch auch nach Adorno "sämtliche Konkretisierungen der Moral bei Kant repressive Züge. Ihre Abstraktheit ist inhaltlich, weil sie vom Subjekt ausscheidet, was seinem Begriff nicht entspricht. Daher der Kantische Rigorismus. Gegen das hedonistische Prinzip wird argumentiert, nicht weil es an sich böse, sondern dem reinen Ich heteronom sei [...] Anders denn als Einschränkung ihrer eigenen Regungen kann sie [die Person] solche zum äußersten gespannte Freiheit nicht erfahren".191 6. Diese soeben angeführten Bedenken Adornos und Oelmüllers gegen personalistisch - dialogistische Engführungen dürften jedenfalls Einwände einschlägiger Art gegen Kant recht genau treffen. So etwa auch, wenn Böckerstette Kants angebliche Verkennung der "Eigenständigkeit" der Liebe als "dialogisches Prinzip" ebenfalls meint kritisieren zu müssen, wodurch Kant eben prinzipiell die "anthropologische Dimension der Liebe" verfehle, oder, ein wenig vorsichtiger, jedenfalls aber dieser Liebe "keine ursprüngliche Bedeutung" beimesse.192 Auch nach dem Urteil Theunissens fehlt Kant und allen an ihn anschließenden Varianten der Sozialethik schon die "primitivste Voraussetzung" für ein Verständnis der "Dialogik": die "Interpretation der

189 190 191 192

Th. W. Adorno, Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen 276. Th. W. Adorno, Kierkegaard . . . 270. Th. W. Adorno, Negative Dialektik 253. H. Böckerstette, Aponen der F r e i h e i t . . . 29; 371.

Fehleinschätzungen in der Kantliteratur

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anderen Person als Du im Sinne der zweiten Person."193 Wenn nun mit dieser hier offenkundig anklingenden Thematik der Interpersonalität auch tatsächlich bei Kant ein ganz entscheidender und schwieriger Aspekt angesprochen ist, so ist Theunissens Kritik ~ in dieser Schärfe wenigstens — schon deshalb problematisch, weil doch, wäre Theunissens Kritik einfachhin im Recht, die maßgeblichen kantischen Unterscheidungen betreffend die Rechtspflichten, ethischen Pflichten und der Tugendpflicht gegen andere im Grunde doch völlig bedeutungslos bleiben müßten. 7. Auch Holz meint in diesem Punkt wenigstens über Kant hinausgehen zu müssen: "So werden . . . alle person-zentralen sittlichen Eigenschaften und Beziehungen, also etwa eine person-zentrierte 'Liebe' nicht mehr nur als Folge zum Sittengesetz, sondern als unmittelbar konstitutiv, sozusagen als in dessen Zentrum befindlich, aufgefaßt werden müssen."194 Die darauf bezogene Anmerkimg Holzs zeigt unmißverständlich, in welcher Weise dies seine ausdrückliche Kritik an Kant impliziert: "Innerhalb des Kantischen Gesamtrahmens konnte dieser Begriff [der Liebe] nie anders denn als 'pathologisch', also als Neigung, als Affekt der Sinnlichkeit begriffen werden; dies ist eine notwendige Folge des Kantischen Gesetzesbegriffes". Diese Einschätzung Holzs ist umso bedauerlicher, als sie ihm notwendigerweise auch einen Zugang zu einer Neuinterpretation einer modifizierten Postulatenlehre somit versperrt, zu der Holz selbst indessen beachtenswerte Aspekte beistellt. (S. u. 388 ff.) Es ist aber vermutlich doch auch Holzs Vorhaben zu relativieren, der angeblichen "Quasi-Neutralität des Sittengesetzes" in Kants Entwurf entgegenzutreten, dürfte doch Kant selbst wohl kaum Holzs folgender Ansicht widersprechen: "Unmittelbares Objekt sittlicher Handlungen sind aber . . . zunächst allein sittliche Subjekte in ihrem wesenhaften Wechselbezug und sodann ihre spezifischen 'Personqualitäten' im interpersonalen (sittlich relevanten) Relationsgeflecht. Da aber diese Personalität wiederum ursprünglich als Zentrum von Freiheit bestimmt wurde, ist ein solcher Wechselbezug notwendig ursprünglich gegenüber allen möglichen Inhalten nicht festgelegt; in diesem Sinn könnte es hier, in etwas freier Terminologie, noch einmal 'formal' genannt werden."195

193

194 195

M. Theunissen, Der Andere.. . 399. — Auch für Schwartländer hat eine "tiefere Kritik an Kant* vom "Dialogischen und von der ursprünglichen personalen Liebe her* anzusetzen. (Der Mensch ist Person . . . 238 f.) A. Brunner sieht Kants MiBverständnis darin begründet, daß dieser nicht zwischen der Liebe als "sinnlichem Gefühl* und der "selbstlosen Liebe" unterscheide; dem widerspricht freilich schon Kants ausdrückliche terminologische und auch sachlich gebotene Unterscheidung zwischen "pathologischer" und "praktischer" Liebe. (A. Brunner, Kant und die Wirklichkeit des Geistigen 84 f.) H. Holz, Mensch und Menschheit... 166. H. Holz. Mensch und Menschheit... 187.

3. Eine Anmerkung betreffend die Frage nach der "Entwicklung der kantischen Ethik". 1. Mit besonderem Blick auf das für Kants Ethik-Gesamtkonzeption so wesentliche Lehrstück der Tugendlehre der späten Metaphysik der Sitten ist, wiederum in teilweisem Anschluß an einschlägige Überlegungen in der Kantliteratur, wenigstens kurz die Frage nach der diesbezüglichen Entwicklung der kantischen Ethik aufzunehmen. So ist etwa mit besonderer Rücksichtnahme auf die umfassend verstandene Autonomie-Konzeption folgende Auffassung Schmuckers zu überprüfen196: nach seinem Urteil muß aber die "Annahme einer wesentlichen Entwicklung im Sinne einer materialen Ergänzung des ursprünglichen intendierten reinen Formalismus mehr als fragwürdig erscheinen und zwar aus einem zweifachen Grund: einmal, weil Kant die beiden Grundlegungsschriften [Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und Kritik der praktischen Vernunft] wirklich als Grundlegung einer geplanten Metaphysik der Sitten als Systems der (materialen) Pflichten abgefaßt hat und diese letztere dann auch ausdrücklich an die Kritik der praktischen Vernunft einschließt, ohne auch nur mit einem Wort anzudeuten, daß er seine Auffassung inzwischen irgendwie umgebildet habe". Für Schmucker bedeutet dies, daß die "ursprüngliche Einheit der beiden Arten von Prinzipien [der formalen und der materialen] in jenen Werken selber enthalten sein und sich infolgedessen aus der Darlegung ihrer Grundgedanken von selbst ergeben" muß. Zu prüfen wäre demgemäß, ob Kants Metaphysik der Sitten tatsächlich bloß als Explikation der Lehre der beiden genannten "Grundschriften" zu verstehen ist, oder ob diese nun nicht doch auch in sachlicher Hinsicht wesentliche neue und weiterführende Momente formuliert. 2. Zwar geht Lehmann in einer seiner jüngeren Arbeiten197 auf die wichtige Arbeit Schmuckers leider nicht ein, jedoch bemerkt auch er ~ entgegen der Auffassung Schmuckers und in Übereinstimmung mit dem Urteil Andersons ~ in der Metaphysik der Sitten "gegenüber den früheren Schriften so beträchtliche Abweichungen, daß man sie nicht als Fortsetzung oder gar systematischen Abschluß der beiden Arbeiten von 1785 und 1788 bezeichnen kann. Das wurde früher meist ignoriert, wenn man sich nicht hinsichtlich der Form und des Inhalts der Spätschrift: auf Kants 'Senilität' berief." Lehmann zitiert ~ offenbar zustimmend ~ eine Arbeit Andersons: "Die Lehre der

196

197

J. Schmucker, Der Formalismus . . . 158; s. auch ders., Die Ursprünge . . . 335. Zum Folgenden s. Gregor und die Rezension v. R. P. Wolff! G. Lehmann, Kants Tugenden.

Zur Frage der Entwicklung der kantischen Ethik

269

Grundlegung vom kategorischen Imperativ ist in der Metaphysik der Sitten ihres ausschließlich formalen Charakters entkleidet; ihr Pflichtprinzip ist als das formende Grundprinzip der ethischen inneren Gesetzgebung bestehen geblieben und wird durch die materialen Sittengesetze zu dem System der inneren Freiheitsgesetze ergänzt.*198 Lehmann widerspricht damit aber auch dem Urteil des "Kantianers" Herbart, daß es sich bei dem Lehrstück von den "Zwecken, die zugleich Pflichten sind", lediglich um einen "mißratenen Anhang zu früheren Arbeiten" handle, auch wenn Lehmann ihren "Anhangscharakter" nicht leugnen will. Ein Blick auf die kritischen Hauptschriften der 80-er Jahre zeige "vielmehr, daß ihnen etwas fehlt: grob gesprochen, die Ethik selbst."159 Diese Ansicht Lehmanns wird zweifellos durch Kants eigene Ausführungen in der späten Tugendlehre ganz ausdrücklich bestätigt. Lehmann zeigt Verständnis für Andersons Anliegen, "'die Tugendlehre' des Alterswerkes als objektive Zwecklehre und den 'Überschritt' (die Anwendung), den Kant vornimmt, um zu den einzelnen Tugenden zu gelangen, als Schritt vom formalen zum materialen Apriori" zu interpretieren; er bemängelt freilich, daß dieser Versuch allerdings ohne Berücksichtigung der "Ethikotheologie" der Kritik der Urteilskraft erfolgt. Eben genau dieser von Anderson tatsächlich vernachlässigte wichtige Problemzusammenhang soll mit dem in diesem Buch vorgelegten Interpretationsversuch über Kants Ethik als dem "System der Zwecke" und ihren Bezügen zu einer erweiterten und modifizierten Postulatenlehre seine ihm zweifellos gebührende Beachtung finden. Dabei soll die These vertreten und argumentativ ausgewiesen werden, daß Kant besonders mit der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten - zwar vorläufig schon angedeutet und vorbereitet in kleineren Arbeiten aus der Zeit zwischen dem Erscheinen der Kritik der Urteilskraft und der Metaphysik der Sitten -- eine keineswegs marginale Korrektur seiner Auffassung vollzogen hat, welche - weit gefehlt, als eine bloß periphere Abweichung angesehen werden zu können -- doch viel eher einer schwerwiegenden Selbstkorrektur in ganz wesentlichen Punkten entspricht. Erst

198

199

G. Lehmann, Zur Analyse des Gewissens.. 265. In: Kants Tugenden. Demgegenüber möchte Laupichler die Metaphysik der Sitten nicht als "das Ergebnis einer Entwicklung Kants" verstehen — "es gäbe dann zwei kritische Ethiken — sondern [als] die Ausführung eines zur Zeit der Niederschrift der Gr. [Grundlegung zur Metaphysik der Sitten] bereits feststehenden Planes". (M. Laupichler, Die Grundzüge . . . 7) Die unübersehbaren Unterschiede möchte Laupichler in Ablehnung der Annahme einer Entwicklung der Ethik Kants so verstehen, daB "die formale Ethik der Grundlegungsschriften" vielmehr lediglich "als das Ergebnis einer bewußten Problembcschränkung" anzusehen sei: "Das was innerhalb dieses Rahmens nicht oder nur fragmentarisch behandelt wird, darf darum im Ganzen der Kantischen Ethik weder als nicht vorhanden, noch als nebensächlich oder unorganischer Bestandteil betrachtet werden." (S. 108) G. Lehmann, Zur Analyse des Gewissens . . . 265 f.

270

Zur Frage der Entwicklung der kantischen Ethik

in diesem späten, wenn auch von langer Hand vorbereiteten Entwurf der Metaphysik der Sitten scheint Kant tatsächlich neue und letzte Klarheit über diese sachlich relevanten Problemaspekte gewonnen zu haben, die ihn in entscheidenden Punkten zu einer Weiterführung seiner Ethik-Konzeption bzw. auch zu einem Umdenken in wichtigen Einzelfragen unübersehbar veranlaßt haben. Es soll sich noch erweisen (und damit Lehmanns Vermutung bestätigen), daß in der Folge auch ein neues Licht auf die für Kants Systematik im ganzen doch gewiß recht interessanten Themen und ihre Ausführung in der Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft (V 535) fällt und nicht zuletzt auch die Motive der Postulatenlehre von da her ohne Zweifel eine neue — und ganz unleugbar auch eine radikalere — Bedeutimg erlangen. Gewiß, auch schon in seiner Religionsschrift spricht Kant von dem "objektiven Zweck (d. i. derjenige, den wir haben sollen)" als einem solchen, "welcher uns von der bloßen Vernunft als ein solcher aufgegeben wird." (IV 653 Anm.) Jedoch ist nicht zu übersehen, daß erst die Tugendlehre mit ihrem "Zweck, der zugleich Pflicht ist", und dem entsprechenden "Imperativ der Tugendpflicht" diesen so genannten "objektiven Zweck" zu bestimmen erlaubt. Nur über diesen "objektiven Zweck" ist für Kant ein verbindliches "Wohin des Wirkens" (IV 650) auszuweisen und ausschließlich über ihn ist sodann, in einem weiteren Schritt, aus dem durch erweiterte Vernunftperspektive gewonnenen neuen Stand auch der "Endzweck der Schöpfung", der "Endzweck aller Dinge", bestimmbar und auch tatsächlich zu vermitteln, wenn doch letztendlich nur dieser als der aus "der Moral hervorgehende Zweck" (IV 651) angesehen werden darf. Anders noch und mit Blick auf das Problem der Entwicklung der kantischen Ethik hin gesagt: der von Kant gesuchte "Schlüssel zur Lösung dieser Aufgabe" ist ohne Verkürzungen und Rekurse auf angeblich "unvermeidliche Einschränkungen des Menschen", d. i. seine "Natureigenschaft" (IV 654 f Anm.), nur über den von Kant erst spät eingeschlagenen Umweg der Tugendlehre zu finden. Dabei soll sich noch zeigen, daß auch Kants Notiz: "die Moral führt unausweichlich zur Religion" (IV 655 Anm.) deshalb doch eben spezifischeren Sinn gewinnt, wenn doch auch die Forderung: "mache das höchste in der Welt mögliche Gut zu deinem Endzweck", erst so ihre ausreichende Entfaltung und damit ihre unverkürzte Bedeutung zu erlangen vermag. Davon muß später noch ausführlich die Rede sein. (S. u. 279 ff.) 3. Im Gegensatz zu Schmuckers skizzierter Einschätzung dieser "Entwicklungs"-Fragen, die sich freilich keineswegs als letztlich lediglich "philosophiehistorisch" relevant abtun lassen, steht auch ihre Beurteilung durch Kersting: auch für ihn gilt es zu sehen, "daß Kant die in der 'Grundlegung7 eingenommene Position von der universalen pflichtentheoretischen Zuständigkeit des kategorischen Imperativs in der Metaphysik der Sitten mit ihrem Prinzipiendualismus von formalem Rechtsgesetz und materialem Tugendgesetz

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revidiert hat."200 Kersting geht sogar so weit, zu behaupten, daß dieses von ihm konstatierte "Abrücken von dem universalen pflichtentheoretischen Anspruch des kategorischen Imperativs . . . [sogar] durchaus als unausdrückliche Selbstkritik Kants aufgefaßt werden" kann.201 Gewiß ist dabei aber auch nicht zu übersehen, daß nach Kant schon in der "Grundlegung . . ." das Absehen vom Anspruch der so genannten "verdienstlichen Pflichten" es zweifellos nicht erlauben kann, von einer "positiven Ubereinstimmung zur Menschheit, als Zweck an sich selbst" zu sprechen. (IV 63) So ist ohne Zweifel, wenn auch eher beiläufig und unausdrücklich, an beinahe versteckter Stelle der Grundlegungsschrift von dem "obersten Prinzip der Tugendlehre" die Rede. Leicht erkennbar, daß diese Unterscheidung zwischen bloß "negativer" und "positiver Übereinstimmung zur Menschheit als Zweck an sich selbst" in der Grundlegungsschrift genau mit derjenigen zwischen der "Pflicht der Achtung meines Nächsten" und eben dieser anderen "Pflicht der Nächstenliebe" (IV 586) in Einklang steht. Als Folge daraus läßt sich somit sagen, daß erst die entsprechend diesem "Prinzip der Tugendlehre" konzipierte Menschheitsformel selbst als Synthese, als "systematische Einheit" des "obersten Prinzips der Moral" mit dem "obersten Prinzip der Tugendlehre", in ihren Momenten anzusehen ist.202 Denn dieser Gedanke einer "positiven Ubereinstimmung" in der Menschheitsformel scheint diese doch selbst in die engste Nähe zu dem "Imperativ, der die Tugendpflicht gebietet", zu bringen. 4. Die voranstehenden Überlegungen sollten verdeutlichen, daß das auch von Metzger übernommene Urteil, dem zufolge das Kants Ethik bestimmende, letztlich aber bloß formale Rechtsprinzip "für jene feineren und gefühlvolleren Tugenden höchstens an der Peripherie ein Plätzchen läßt", in dieser Weise unzutreffend ist, zumal die Ethik Kants doch anderes und auch mehr ist als eine "Ethik des Rechtes, der Ordnung und des Maßes" und sich deshalb auch nicht in dem noch dürftigen Imperativ erschöpft: "Du sollst die rechtlich-

200

201 202

W. Kersting, Neuere Interpretationen . . . 288. - Erstaunlich das Urteil Delekats, dem zufolge die Formulierungen des "Grundprinzips der Ethik" (Menschheitsformel, Grundformel und "allgemeines Prinzip des Rechts* [!]) im Zeitraum von der Grundlegungsschrift bis zur Metaphysik der Sitten angeblich "immer juristischer werden", was zwar Züge der "kantischen Kulturpolitik" bestätige, aber doch den "Sinn seiner ethischen Grundformel" verdecke. (F. Delekat, Das Verhältnis von Sitte und Recht. . . 74) W. Kersting, Der kategorische Imperativ... 414. Diese Einheit wäre somit aber auch nicht, wie etwa R Wimmer vorschlagen möchte, auf die "Reich-der-Zwecke"-Formel zu beziehen — wenn auch (was zuzugeben ist) zum Nachteil der von Kant auch hier versuchten "Kantischen Architektonik".

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sittlichen Grenzen zwischen Dir und den anderen beobachten."203 Metzger relativiert freilich diese Ansicht schon durch seinen weiteren Hinweis, auch Kant habe "die ethische Bedeutung und Eigenart der Liebe, trotzdem sie so wenig mit seinen systematischen Grundlagen zu stimmen scheint, doch nicht ganz verkannt."204 Metzger sieht sich im weiteren sogar zu der aufschlußreichen Bemerkung veranlaßt: "Wenn dann später ~ in der 'Metaphysik der Sitten' -- gegenüber dieser 'formalen Rechtsordnung* die innere 'ethische Gesetzgebung wieder geradezu als nicht formal, teleologisch, material charakterisiert wird, so ist das sehr merkwürdig und weist auf bedeutsame Systemverschiebungen hin."205 Auch nach Metzgers Urteil ist es jedoch freilich "eine ganz wesentliche Neuerung, wenn auf einmal dieser Grundbegriff der 'Form' ausdrücklich auf die rechtliche, zwar grundlegende, aber doch wieder gröbere und äußerliche Manifestation der praktischen Vernunft eingeschränkt, und für die Oberschicht der feineren 'ethischen'Werte im engeren Sinn ein ausgesprochen 'materiales', teleologisches Prinzip gefordert wird."206 Am deutlichsten sieht Metzger im weiteren den damit ganz klar zutage tretenden Unterschied in Kants Schrift "Zum ewigen Frieden" ausgesprochen, wo nämlich "merkwürdiger Weise von zwei 'Prinzipien' der 'praktischen Philosophie' gesprochen wird, von denen das 'formale' oder das 'Rechtsprinzip' 'unbedingte Notwendigkeit' hat, während das 'materiale Prinzip' derselben oder der Zweck nur unter Voraussetzung empirischer Bedingungen.. . nötigend ist: so daß jenes vorangeht, dieses aber erst abgeleitet ist" ~ was nun freilich bedeuten soll, "daß die 'Ethik' eben erst da beginnt, wo die 'Form' aufhört."207 Auch wenn diese Bemerkung wiederum mißverständlich ist, so dürften doch die nur wenige Jahre nach der Schrift "Zum ewigen Frieden" getroffenen Unterscheidungen der Tugendlehre im wesentlichen diese Auffassung Metzgers bestätigen. 5. Hier ist nun aber auch Gelegenheit, um die einschlägigen Anfragen Schwartländers noch zu berücksichtigen, welche ja tatsächlich erst von der Tugendlehre aus ihre Antwort finden können: "Welches ist denn nun der eigentliche, doch notwendige positive Sinn des moralischen Gebotes, wenn der Inhalt im Begriff eines Zwecks an sich vorgestellt, dieser aber nur negativ

203

204 205 206 207

W. Metzger, Gesellschaft, Recht und Staat . . . 80 f . - Dem widerspricht mit guten Gründen die Ansicht Kerstings: "Der Zusammenfall von moralischem Imperativ und Rechtsgesetz gilt jedoch nur, wenn beide als pflichtentheoretische Erkenntnisprinzipien angesprochen werden." (Neuere Interpretationen . . . 288) W. Metzger, Gesellschaft, Recht und S t a a t . . . 78. W. Metzger, Gesellschaft, Recht und S t a a t . . . 53 f. W. Metzger, Gesellschaft, Recht und S t a a t . . . 75. W. Metzger, Gesellschaft, Recht und S t a a t . . . 75.

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273

gedacht werden darf? Ist das, was hier als Zweck an sich selbst vorgestellt wird, überhaupt so etwas wie Gegenstand des Willens, was doch gerade nach Kant wesentlich im Begriff des Zwecks liegt? Wie ist vor allem das menschliche Mitsein moralisch zu denken und wie ist es unter Beibehaltung dieses Begriffes positiv zu verwirklichen? Und schließlich: wie ist, wenn von allen zu bewirkenden, subjektiven Zwecken abgesehen werden muß, überhaupt noch ein konkreter Inhalt möglich, der doch notwendig ist, wenn es so etwas wie eine konkrete Tugendlehre geben soll?"208 Ob diese Anfragen nicht zuletzt von Kants eigener Tugendlehre her (wenn schon nicht) gegenstandslos werden, so aber doch ihre recht deutliche Beantwortung erfahren? 6. Es ist mit all dem bei den genannten Autoren ein Problemaspekt angesprochen, den auch Riedel eben für die Begründung von Kants praktischer Philosophie als ganz wesentlich erachtet. Riedel interpretiert im Kontext seiner Ausführungen zu den verschiedenen Formeln des kategorischen Imperativs Kant wohl ganz richtig dahingehend, daß im kategorischen Imperativ — wenigstens als einem seiner ganz wesentlichen Momente ~ "die Form der Willensbestimmung . . . sich hier ihr eigener Inhalt" ist. "Ungedacht" bleibe indessen ~ und dies berührt natürlich die hier unmittelbar interessierende Problemstellung ~ "das Implikat des Gesetzes, nämlich daß die Verallgemeinerbarkeit der Maxime und die darauf begründete Entscheidung kommunikativ fundiert sein muß, weil die kategorisch gebotene Gesetzlichkeit des Willens eine Pluralität miteinander kommunizierender Personen impliziert und ohne diese ein sinnleerer Gedanke ist. Diese formal unableitbare Implikation nenne ich das materiale Apriori der kommunikativen Freiheit. Es ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß transzendentale Freiheit interpersonal realisiert werden kann."209 Nun ist es zwar auch richtig, daß dieses von Riedel thematisierte "materiale Apriori" bei Kant weithin im Hintergrund bleibt und wohl auch dann nicht eigentlich als vermittelt angesehen werden darf, wenn es, ein wenig genauer besehen, sogar in gewisser Hinsicht das verborgene Fundament der Argumentation Kants darstellen sollte. Zu weit scheint jedoch Riedels Urteil zu gehen (wie die Überlegungen zur Interpersonalitätsthematik bei Kant bestätigen sollen, s. o. 104 ff.), daß "das Implikat des Gesetzes" bei Kant überhaupt "ungedacht" bleibe. Riedel selbst macht überdies völlig zu Recht darauf aufmerksam, daß die umfassende Menschheitsformel selbst schon eine "Konkretisierung des kategorischen Imperativs" darstellt und sich auch zeige, daß

208 m

J. Schwartländer, Der Mensch ist Person . . . 183. M. Riedel, Freiheit und Verantwortung . . . 116.

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"in ihr mehr gedacht ist, als die Grundformel des kategorischen Imperativs enthält."210 Dies bedeutet indessen notwendigerweise, daß die verschiedenen Formeln des kategorischen Imperativs nun auch nicht bloß einfachhin als "verschiedene Arten, sie der Anschauung zu nähern", aufzufassen sind (jedoch auch nicht als "Darstellung in concreto" der Grundformel), sondern daß diese Formeln vielmehr je für sich ein Moment dieses Prinzips formulieren.211 Schon Schmucker hatte in seiner oben schon zitierten Arbeit mit Nachdruck darauf verwiesen, daß die "inhaltlich-materiale" Seite "die bereits in den vorkritischen Schriften, soweit sie sich mit ethischen Problemen befassen, durchaus wesentlich ist, . . . auch in den kritischen Hauptschriften ihre Bedeutung keineswegs verliert; denn sie spielt eine entscheidende Rolle in der Grundlegung und in der Metaphysik der Sitten, fehlt aber auch nicht in der Kr. d. pr. V., [selbst] wenn sie auch hier nicht so in den Vordergrund tritt. Es geht also schon rein quellenmäßig nicht an, diese materiale Seite einfach auszuklammern und nur den Formalismus, wie er im 1. Teil der Kr. pr. V. entwickelt wird, als genuin kantisch anzuerkennen und von dieser Voraussetzung aus die Ethik Kants zu kritisieren . . . Es muß vielmehr als eine der wesentlichsten Aufgaben ihrer Interpretation betrachtet werden, den Zusammenhang zwischen diesen scheinbar so wesensfremden Elementen und das

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211

M. Riedel, Freiheit und Verantwortung... 116. Riedel widerspricht damit zu Recht der Ansicht Patons, die Menschheitsformel sei bereits in der "Formel des allgemeinen Gesetzes" (der von Riedel so genannten "Grundformel") "impliziert". (Paton, Der kategorische Imperativ . . . 207) Es ist folglich keineswegs "einleuchtend", daß diese Menschheitsformel darin "einbegriffen" sei. — Auch ist im weiteren damit aber die zentrale These Wimmers fragwürdig, die "Autonomie-, die Selbstzweck- und die Reich-der Zwecke-Formel" stellten "eine natürliche Abfolge dar, die Triade von ego, alter und societas moralis, in die sich der Kategorische Imperativ als Prinzip der reinen praktischen Vernunft seinen wesentlichen Momenten nach auslegt." (R. Wimmer, Die Doppelfunktion . . . 292) Jedenfalls ist die von Kant herausgestellte "positive Übereinstimmung" nicht mit der Erklärung abzufertigen, auch sie stelle "nichts weiter als eine Entfaltung dessen dar, was in der Grundformel selbst angelegt ist." (ebd. 297) Kommt hier denn nicht der Menschheitsformel eine ursprünglichere und umfassendere Bedeutung zu, der gegenüber die anderen Formeln "abkünftig" in dem bestimmten Sinne sind, daß sie "lediglich" ein Moment des Ganzen je für sich formulieren? — Vgl. zu diesen Fragen auch die aufschlußreichen Analysen v. K. Ward, The Development of Kants . . . Um dieser hier herausgestellten Eigenständigkeit des Sinngehaltes der Menschheitsformel willen scheint es überdies geboten zu sein, den Vorschlag Krügers, "die Menschheit als zweiten Typus" des Imperativs (also als bloßes "Anwendungsproblem") verstehen zu wollen, nicht aufzunehmen; es ist auch unrichtig zu behaupten: "Was sich in dem Begriff der Menschheit als Zweck an sich selbst zuerst zeigte, wird im Begriff des Reichs der Zwecke für das Ganze der Typik klar Die Verstandesbegriffe, die das Gesetz als Typen seiner Darstellung vorzeichnet, sind insgesamt Rechtsbegriffe." (G. Krüger, Philosophie und M o r a l . . . 106)

Zur Frage der Entwicklung der kantischen Ethik

275

Prinzip ihrer Einheit aufzuzeigen."212 Schmucker möchte zu diesem Zweck vorschlagen, daß "die beiden Formeln (als) zueinander korrelativ" verstanden werden "und folglich einander notwendig implizieren. Wenn dies richtig ist, dann muß jede Formel aus der anderen abgeleitet werden können, also auch die Grundformel aus dem Zweckprinzip."213 Und diese Korrelation soll "ohne Zweifel den Angelpunkt der gesamten ethischen Prinzipienlehre Kants" darstellen: die "2. und 3. Formel der Grdlg. (Menschheitsformel und Autonomieformel) enthalten somit nicht nur das vom Wesen des formalen Grundprinzips her geforderte innere materiale Korrelat desselben, sondern zugleich auch sein wesentliches metaphysisches Fundament, ohne das das Formalprinzip selber Inhalt und Sinn verlieren müßte."214 Schmuckers Resümee: "der Formalismus des Grundgesetzes ist nicht ein reiner, in sich ruhender Gesetzesformalismus, sondern er wird getragen von der Person als intelligiblem Wesen und als Zweck an sich selbst und stellt das Wesensgesetz des mundus intelligibilis als eines Reichs der Zwecke dar, durch das auch die sinnliche Natur mit ihren Trieben und Neigungen in das Ganze dieser personalen, intelligiblen Welt eingeformt wird."215 Nach Schmucker trifft freilich schon eine "oberflächliche Betrachtung auf Verbindungslinien, die auf die innere systematische Einheit beider [der "Grundlegung" und der späten Tugendlehre] hinweisen; zunächst zeigt sich, daß auch die Kr. d. pr. V. so deutlich, wie es bei ihrer Thematik überhaupt erwartet werden kann, den Begriff eines Zweckes, der zugleich Pflicht ist, enthält. So wenn der Philosoph dort sagt, die bloße Form eines Gesetzes, welches die Materie einschränke, müsse zugleich ein Grund sein, der Willkür eine bestimmte Materie hinzuzufügen, und er dann in ähnlicher Weise [!] wie in der Metaphysik die Beförderung der Glückseligkeit der anderen als einen Zweck entwickelt, der durch das Gesetz selber geboten ist."216 Abgesehen einmal davon, daß letzteres sich doch wohl kaum behaupten läßt (s. o. 209 ff.), wäre noch zu fragen, ob denn die von Schmucker angezielte kantische Argumentation (IV 146) nicht bloß der "Beweisführung" aus der "Grundlegung" bezüglich des "Zwecks an sich selbst" (IV 60 f.) entspricht ~ aber nicht mehr! Zweifellos hat Kants Kennzeichnung des "obersten Prinzips der Tugendlehre" am ehesten noch in dem genannten Lehrstück von den "weiten", "verdienstlichen" Pflichten der Grundlegungsschrift eine Entsprechung, ohne dort freilich, schon von der Intention dieser frühen Schrift her gesehen,

212 213 214 215 216

J. Schmucker, J. Schmucker, J. Schmucker, J. Schmucker, J. Schmucker,

Der Der Der Der Der

Formalismus Formalismus Formalismus Formalismus Formalismus

... ... ... ... ...

169. 174. 176 f. 181. 190.

276

Zur Frage der Entwicklung der kantischen Ethik

"eine vollkommene Deckung in allen wesentlichen Punkten"217 allenfalls zu vermuten wäre.

217

J. Schmucker, Der Formalismus . . . 192. - Auch Krüger sieht die die Forderung einer "reinen materialen Ethik" erfüllende "materiale Metaphysik der Sitten" "in einem immanent durchaus einwandfreien Zusammenhang mit der 'Grundlegung" zu ihr." (Philosophie und M o r a l . . . 12) - S. dazu auch Gregors berechtigte Kritik an dem häufig falsch verstandenen Formalismus-Prinzip Kants (Laws . . . 76 ff.).

III. Teil

1. Kants Postulatenlehre im Rahmen einer erweiterten und modifizierten Ethiko-theologie. Allein die im voranstehenden zweiten Teil genauer entfaltete Idee der Moralität d. i. der "ganzen Bestimmung des Menschen" (II 701), darf als "Endzweck des Menschen" gelten und erhebt so dieses "vernünftige und sittliche Geschöpf" selbst in den eminenten Rang des "Endzwecks der Schöpfung". Nun hat sich schon gezeigt, daß nach Kant erst (und ausschließlich) über die Vermittlung des sittlichen Anspruchsniveaus der Tugendpflicht (d. i. den "Zweck, der zugleich Pflicht ist") ein "unbedingter Zweck", welcher nur als ein solcher ein "Zweck der reinen Vernunft" sein kann, zu formulieren ist und demnach auch erst als das eigentlich so zu nennende ganze "Objekt der praktischen Vernunft" (und zwar der "ganzen" praktischen Vernunft) gelten darf. (IV 240) Diese Idee des "Endzwecks des Daseins der Welt" ist so zwar von dem "Endzweck der praktischen Vernunft" zu unterscheiden; wohl hegt es in der umfassend gedachten praktischen Bestimmung des Menschen, das "Weltbeste an uns und anderen [zu] befördern", wenn er doch allein damit seine "Bestimmung hier in der Welt. . . erfüllen" kann (II 687) — und doch ist, wie oben (Teil II) schon dargelegt, dieser dem "Imperativ der Tugendpflicht" gemäße praktische Endzweck keinesfalls schon mit dem von Kant eigens so bezeichneten "Hauptzweck", der "allgemeinen Glückseligkeit" (II 709) selbst, einfachhin gleichzusetzen. Es ist demnach also "die Absicht, den Endzweck aller vernünftigen Wesen (Glückseligkeit, so weit sie einstimmig mit der Pflicht möglich ist) zu befördern . . . eben durch das Gesetz der Pflicht, auferlegt" (V 602) — und insoweit ist es auch "apriori (moralisch) notwendig, das höchste Gut durch Freiheit des Willens hervorzubringen". (IV 241) Dieser ebenso berühmte (wie wohlgemerkt aber auch vielschichtige) Begriff des "höchsten Guts" (als das ausdrücklich so genannte "durchs moralische Gesetz aufgegebene Objekt") steht nun bekanntlich im Zentrum der "Dialektik der reinen praktischen Vernunft", bildet das Scharnier zwischen "Moral und Religion" und fungiert so als Angelpunkt der Vermittlung der praktischen Vernunftideen. In diesem "praktischen Begriffe des höchsten Guts" als dem "notwendigen Objekt unseres Wollens" sind nämlich nach Kant "die Begriffe von ihnen" (IV 266) als die "Bedingungen seiner Möglichkeit" (IV 271) vereinigt, die in der Folge nur durch systematische Explikation dieses "praktischen Begriffes" als Freiheit, Gott und Unsterblichkeit ihre Bestimmtheit und ihren systematischen Ort zu gewinnen vermögen. Der dem ethischen Begründungsniveau der Tugendlehre allein genügende und somit nicht nur entsprechend erweiterte, sondern der radikal gedachten "revolutionierten Denkungsart" nun erst wirklich gemäße "moralisch vorge-

280

Kants Postulatenlehre und erweiterte Ethikotheologie

schriebene Endzweck" (V 575) und auch der davon noch einmal zu unterscheidende "umfassende Endzweck" als Gegenstand der praktischen Vernunft sprengen nun offenkundig den allzu eng gesteckten Rahmen dieser Postulatenlehre - jedenfalls denjenigen der von Kant insbesondere in der Kritik der praktischen Vernunft dargelegten Form. Das "vollständige Objekt der praktischen Vernunft" ist folglich gemäß dem durch die Tugendlehre modifizierten Gegenstand der "reinen praktischen Vernunft", das sind nun eben die in praktischer Absicht "schlechthin notwendigen Zwecke" (II 690), zu erweitern und steht dann aber selbst noch einmal in unaufhebbarer Spannimg zu dem jetzt erst so zu nennenden "höchsten Gut" als jenem "umfassenden Endzweck der Schöpfung", das als "abgeleitetes höchstes Gut" nicht ohne die einzige Bedingung seiner Möglichkeit, d. i. nun das "höchste ursprüngliche Gut", zu denken ist.1 Ist doch tatsächlich erst auf dieser Stufe das "höchste Gut. . . das vollendete Gut im Sinne der unbedingten Totalität; der inklusive Zweck, der alle anderen Zwecke in sich vereinigt, also nicht die (imbedingte) Spitze einer aufsteigenden Reihe, sondern das Ganze der Reihe bedeutet."2 Darin zeigt sich aber, im Ausgang also von diesem "Gebiet des praktischen Vernunftbegriffs", ein keineswegs lediglich beliebiger (willkürlicher), sondern vielmehr ein für die praktische Vernunft unbedingt notwendiger (innerer) Bezug zu der von Kant vorgeführten Argumentationsfigur der genannten "progressiven synthesis" in "consequentia", vor die sich die Unbedingtheitsforderung der Vernunft schon deshalb unabweislich gestellt erfährt, weil doch ohne diese "progressive synthesis" eben die "unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft" (und d. i. das "höchste Gut") auch nicht einmal als bloße "Idee von einem der Pflicht und die ihr angemessene Glückseligkeit zusammen

1

2

"Endzweck ist bloß ein Begriff unserer praktischen Vernunft und kann aus keinen Datis der Erfahrung zu theoretischer Beurteilung der Natur gefolgert, noch auf die Erkenntnis derselben bezogen werden. Es ist kein Gebrauch von diesem Begriffe möglich als lediglich für die praktische Vernunft nach moralischen Gesetzen, und der Endzweck der Schöpfung ist diejenige Beschaffenheit der Welt, die zu dem, was wir allein nach Gesetzen bestimmt angeben können, nämlich dem Endzwecke unserer reinen praktischen Vernunft, und zwar sofern sie praktisch sein soll, übereinstimmt."(V 582) Jedoch auch ein anderer Passus macht deutlich, daß Kant den "Endzweck der Schöpfung" - als eigentlich erst so zu nennendes "Reich Gottes" (IV 260) - "eschatologisch" konzipiert: so beklage doch der (um jeden rational verantwortbaren Ausgriff) geprellte und deshalb "prinzipiell trostlose" Mensch außer sich auch "die Rechtschaffenen, die er außer sich noch antrifft", die "unangesehen aller ihrer Würdigkeit glücklich zu sein, dennoch durch die Natur, die darauf nicht achtet, allen Übeln des Mangels, der Krankheiten und des unzeitigen Todes, gleich den übrigen Tieren der Erde unterworfen" sind "und es auch immer bleiben, bis ein weites Grab sie insgesamt (redlich oder unredlich, das gilt hier gleich viel) verschlingt und sie, die da glauben konnten, Endzweck der Schöpfung zu sein, in den Schlund des zwecklosen Chaos der Materie zurückwirft, aus dem sie gezogen waren."(V 579 f) O. Höffe, Kantische Skepsis . . . 536.

Kants Postulateillehre und erweiterte Ethikotheologie

281

vereinigenden Objekte" (IV 651) bestimmt zu denken ist. Mit Kant selbst wäre in Aufnahme seiner gelegentlichen Unterscheidung zwischen bloßer Petition und Postulat (II 319) zu sagen, daß dieses in der "progressiven synthesis in consequentia" sich aktuierende Vernunftbedürfnis keinesfalls ein lediglich "hypothetisches, einer beliebigen Absicht der Spekulation" entstammendes ist, dem zufolge "man etwas annehmen müsse, wenn man zur Vollendung des Vernunftgebrauchs in der Spekulation hinaufsteigen will". (IV 109) In diesem Sinne ließe sich sogar geltend machen, daß in dieser Frage des der Vernunft aufgegebenen "Unbedingten" dem "Primat des Praktischen" gemäß dieser "progressiven synthesis" eine Priorität nach Kant schon deshalb zuzuerkennen wäre, weil allein dies doch eigentlich von einem "gesetzlichen Bedürfnis" (IV 109) zu sprechen erlaubte — und zwar noch ganz abgesehen von dem Stellenwert jenes wichtigen kantischen Gedankens, dem zufolge alles Vernunftinteresse letztlich "ein praktisches" sei. (IV 252) Jedenfalls ist so der unabweisbare Vernunftgedanke des "Unbedingten" nach Kant ~ als ein unabdingbar notwendiges Vernunftproblem — nun sowohl auf diese "progressive" wie auch auf die "regressive" Synthesis zu beziehen. Dabei soll sich noch zeigen, wie in diesem Problemkontext sodann folgende Stelle aus dem opus postumum3 einen recht präzisen Sinn gewinnt: ". . . woher kommt dem Menschen die Aufforderung sich eine solche Idee als der Vernunft unentbehrlich aufzustellen, oder ist es eine frey problematische Dichtung und das Objekt gleich dem Wärmestoff ein hypothetisches Ding? - Hiebey bleibt die Frage unaufgelöst: Ist ein Gott?" Hier verdient auch schon ein Hinweis Kants Beachtung, der die angesprochenen Problembereiche sowie ihre Auflösung durch Kant noch ein wenig genauer verdeutlichen soll: "Die Vernunft aber verlangt das Unbedingte, und mit ihm die Totalität aller Bedingungen zu erkennen, denn sonst hört sie nicht auf zu fragen, gerade als ob nichts geantwortet wäre". (III 668) Dieser kantische Hinweis gewinnt nun jedoch auf dem "Gebiet der praktischen Vernunft" einen ganz neuen Sinn und für den Gehalt und die Reichweite der Ethikotheologie ganz besonderes Gewicht. Der Bezug auf die "absteigende Reihe von der Bedingung zum Bedingten" bedarf nämlich hier, auf dem Boden des Praktischen (dem "eigentlichen Gebiet" der Vernunft: IV 245 f.), sehr wohl der Idee der "absoluten Totalität" und kann so keinesfalls "als Folge immer unvollendet bleiben" ~ auch nicht aus dem vermeintlichen Grund, "weil die Folgen sich von selbst ergeben, wenn der oberste Grund, von dem sie abhängen, nur gegeben ist." (III 623) Auf diesem neu gewonnenen Stand der "praktischen Vernunft" ist die Sachlage schon insofern eine andere, als doch

3

Kant, Akademie-Ausgabe XXI, 52 f; vgl. ebd. 36; 47; bes. auch 63: "So fern sein Daseyn nicht als hypothetisches Wesen zur Erklärung gewisser Erscheinungen bedingt sondern als unbedingt gegeben statuiert wird . .

282

Kants Postulatenlehre und erweiterte Ethikotheologie

diese Freiheit als das "Übersinnliche in uns" (als scibile) selbst wirklich i s t ~ so daß von diesem "Unbedingten" notwendig ausgegangen werden muß, wenn auch aus ihrer "objektiven Realität" keineswegs die "Folgen sich von selbst ergeben" und, ganz grundsätzlich betrachtet, auch dem unabdingbaren Vernunftbedürfnis der praktischen Vernunft dieser Bezug zur Idee einer "absoluten Totalität" nicht äußerlich (bloß zu-fällig) sein kann. Aufzuweisen bleibt folglich primär der eigentümliche Bezug dieses praktischen Standpunktes zu der notwendigen Veraunftidee der "absoluten Totalität" als dem "Weltganzen", das so auf diesem "praktischen Gebiet" einen freilich neuen Stellenwert erhält und in der besonderen Form der Idee eines "Endzweckes aller Dinge" auch erst seine bestimmte "Darstellung" zu finden vermag. War für die "Vernunft in ihrem theoretischen Gebrauch" (im Rahmen der kosmologischen Ideen) die "absolute Totalität" nur im Sinne der "regressiven synthesis" der "aufsteigenden Reihe der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten" unabweisbares Thema, die also "in antecedentia, nicht in consequentia" gehen (II 402 f.), so erscheint hingegen in dem Gebiet der praktischen Vernunft die "progressive synthesis", "die auf der Seite des Bedingten, von der nächsten Folge zu den entfernteren, fortgeht", als ein durchaus notwendiges Problem der Vernunft — gilt doch auf diesem "Feld des praktischen Vernunftbegriffes" eben dies gerade nicht: daß "wir zur vollständigen Begreiflichkeit dessen, was in der Erscheinung gegeben ist, der Gründe, nicht aber der Folgen bedürfen." Es läßt sich von der Freiheit als der Idee des "dynamisch Unbedingten" (III 625) bei Beachtung der diesbezüglich nicht zu sistierenden "Forderimg der Vernunft" demnach — in versuchter Umkehrung der Forderung der theoretischen Vernunft (und ihres "Unbedingten") -- die Beliebigkeit (Unverbindlichkeit) der zu denkenden "progressiven Synthesis" und der ihr aufgegebenen Idee der "absoluten Totalität" gerade nicht ohne Willkür durch die bloße Berufung darauf behaupten, weil die Folgen sich von selbst ergeben [!], wenn der oberste Grund, von dem sie abhangen, nur gegeben ist." (III 623) Diese Sicht findet auch darin noch eine Bestätigung, daß Kant genau diesen hier angezeigten Weg in der Entfaltung des "Fürwahrhaltens" "aus einem Bedürfnisse der reinen Vernunft" (IV 276) interessanterweise doch selbst beschreitet: während das Bedürfnis der reinen (spekulativen) Vernunft der "regressiven synthesis" gemäß in "antecedentia" geht, somit nur "auf Hypothesen" führt und folglich auch in dem so zu denkenden "Urgründe" die "forschende Vernunft in Ansehung desselben vollständig zu befriedigen" ist, geht demgegenüber das keinesfalls beliebige, sondern auf Pflicht gegründete "Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft", darin einem "unnachlaßlichen Vernunftgebote" gehorchend (IV 277), auf "Postulate in praktischer Absicht". Damit bleibt es jedoch notwendig auf den zu "dem vollständigen praktischen Gebrauche der Vernunft" gehörigen Gedanken der "absoluten Totalität" gerich-

Kants Poetulatenlehre und erweiterte Ethilcotheologie

283

tet, vermag es sich doch nur in dieser Weise als "Bedürfnis der reinen Vernunft", d. i. als ein "Bedürfnis in schlechterdings notwendiger Absicht", auszuweisen. In wünschenswerter Klarheit zeigt sich so, daß die genannten "dreierlei transzendentalen Ideen (psychologische, kosmologische und theologische)" (II 584) — sie gehen "in antecedentia" — nach Kant "regulative Prinzipien" formulieren, während demgegenüber die praktischen Vernunftideen ~ "in consequentia" gerichtet ~ eben in Folge des "dynamisch Unbedingten" der Freiheit durchaus von konstitutivem Charakter sind: und zwar aufgrund der Wirklichkeit dieser Idee "in praktischer Rücksicht". Auch Kants weithin unberücksichtigte (und in ihrer Kürze auch nicht unbedingt klare) Reflexion4 gewinnt in diesem Zusammenhang unübersehbar einen besonderen Stellenwert: "Die theoretischen Bedingungen alles practischen sind Freyheit, Ursprung und Zukunft, oder das innere und die äußeren principien aller unsrer Zwecke zusammen. Diese sind auch die crux philosophorum." Damit wird einsichtig, daß in diesen "theoretischen Bedingungen alles Praktischen" der notwendige Bezug zu beiden genannten Formen der Synthesis so schon mitenthalten ist. Findet dieser fundamentale Unterschied zwischen regressiver und progressiver Synthesis die ihm gebührende Beachtung, so resultiert daraus nicht nur ein unterschiedlicher Stellenwert der "Idee" als regulatives und (praktisch) konstitutives Prinzip; denn auch Kants zentraler Hinweis auf die "Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft" rückt so in ein besonderes Licht, der nun entsprechend dem angeführten Unterschied aufzufassen ist: "Es ist ein großer Unterschied, ob etwas reiner Vernunft als ein Gegenstand schlechthin, oder nur als ein Gegenstand in der Idee gegeben wird. In dem ersteren Falle gehen meine Begriffe dahin, den Gegenstand zu bestimmen; im zweiten ist es wirklich nur ein Schema, dem direkt kein Gegenstand, auch nicht einmal hypothetisch zugegeben wird, sondern welches nur dazu dient, um andere Gegenstände, vermittelst der Beziehung auf diese Idee, nach ihrer systematischen Einheit, mithin indirekt uns vorzustellen." (II 582) In Berücksichtigung der völlig anders gelagerten Situation der konstitutiven Bestimmungen der praktischen Vernunft ist es nun auch einsichtig, daß die "transzendentale Idee der absoluten Totalität der Reihe der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten" (IV 234) eben nicht "nur auf alle vergangene Zeit" gehen kann, wie Kant es freilich für die theoretische Vernunft geltend gemacht hat. Die Unvermeidlichkeit des Bezuges zur "progressiven Synthesis" und der darin aufgegebenen "absoluten Totalität" zeigt sich also notwendig im "Überschritt" zum praktischen Gebrauche der Vernunft. Für die praktische

4

Kant, Akademie-Ausgabe XVIII 58.

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Kants Postulatenlehre und erweiterte Ethikotheologie

Vernunft und ihre spezifische Intentionalität resultiert, wie sich im folgenden näher erweisen soll, ein notwendig-konstitutiver Bezug auf diese "progressive synthesis", weil eben darin sich deren "praktisches Verlangen nach Totalität"3 zur Geltung bringt und nur so ~ im Zusammenhang von "praktischem Endzweck" und "Endzweck der Schöpfung", d. i. dem "Endzweck aller Dinge" ~ folglich auch die Wirklichkeit der Totalität dieses "Vernunftideals" bestimmt zu denken ist. Schon wegen der unaufhebbaren Differenz zwischen dem "praktischen Endzweck der Freiheit" und dem "Endzweck der Schöpfung" (dem "übersinnlichen Ziel der praktischen Vernunft": III 647), zwischen der Idee der moralischen Vollkommenheit und dem "ganzen Gegenstand der praktischen Vernunft", ist diese "progressive Synthesis" ein notwendiges Vernunftproblem. Darin erst hätte die Kant von Anfang seines kritischen Programms an leitende Idee des "Ganzen der reinen Vernunft", das ja nach Kant "für sich durch die Endabsicht derselben im Praktischen gegeben" sein soll (II 37), ihre ausdrückliche und end-gültige Ausfaltung gefunden. Das "praktische Verlangen nach Totalität" hat nun zwar in der "überlegten Erwartung des Künftigen" (VI 90) ihre notwendige Voraussetzung, ohne sich darin zu erschöpfen.6 Somit

5

6

P. Ricoeur, Die Freiheit im Lichte der Hoffnung 212.- Nach Kant formuliert die "Idee des absoluten Ganzen" eben dasjenige, "was in unserem Vermögen der Vernunft unbegrenzt ist" und ist somit für letztere konstitutiv. (V 347) In nochmaliger Erinnerung an die "theoretischen Bedingungen alles Praktischen" (so in Reflexion 5008) zeigt sich hier doch ein eigentümlicher Bezug der (reinen) praktischen Vernunft (der Wirklichkeit der Idee der Freiheit) zu den Modalitätskategorien, und somit auch ein für die praktische Intentionalität dieser Vernunft konstitutiver Bezug auf die Dimension der Zukunft. Ohne auf diese ebenso wichtigen wie auch schwierigen Probleme, die sich damit verbinden, hier näher einzugehen, sei lediglich auf dies folgende in aller Kürze verwiesen: es wäre etwa in diesem Problemkontext die von Jürgen Heinrichs vorgetragene These zu diskutieren, daß gegenüber der der theoretischen Vernunft zuzuordnende "Verlaufszeit" (in der "das in ihr erscheinende Wirkliche je nach der Regel folgt") "die Zeit der praktischen Vernunft eine offene Zukunft" kennt, "in der Wirkliches in Erscheinung treten soll, das nicht je schon nach einer Regel folgt."(Das Problem der Zeit . . . 113) Vgl.ebd.92: "Die Vernunft spannt, indem sie sich dem Bereich des Willens vorgibt, sich diese Zeitdimension auf, um über den Naturmechanismus hinausgehen und also praktisch sein zu können. Jedes erneute Gerichtetsein a u f . . . in jedem Willensakt der Person ist ermöglicht durch diese in der praktischen Vernunft erzeugten[!] Zeitdimension [...] Die Tendenz in den Bereich der Möglichkeit und des Noch-nicht ist für den Willen kennzeichnend. Er eröffnet den Bereich der Zukunft für jegliche Projektion . . . Der Bereich der Zukunft ist darin ein offener, da in ihm das praktisch Mögliche, befreit [!] von der Rücksicht auf die theoretische Möglichkeit, projektiert wird." Heinrichs' kritische Überlegungen zu dem für die "praktische Vernunft" bestimmenden Zeitproblem stehen durchaus in einem Zusammenhang mit einschlägigen kritischen Erwägungen Heideggers. Heidegger beantwortet die von ihm gegen Kant erhobene Frage, ob dieser "am Ende doch einen allgemeinen Begriff von Kausalität" ansetze, "der primär an der Natur gewonnen ist", dahingehend: "Die Existenz des Menschen ist daher durch die Kennzeichnung der Freiheit

Kants Postulatenlehre und erweiterte Ethikotheologie

285

kann hier auch - natürlich in besonders eindringlicher Weise erst recht in Rücksichtnahme auf den hier vorgeschlagenen Interpretationsversuch einer Erweiterung und auch Radikalisierung der Motive der Postulatenlehre ~ das Unzureichende der Beck'schen Behauptung zutage treten: "Wenn indes meine Argumentation richtig ist, so führt überhaupt kein Bedürfnis der r e i n e n Vernunft zu den Postulateli, — nicht, weil die reine Vernunft keine Bedürfnisse haben kann, sondern weil sich ihr Bedürfnis in der Formulierung des moralischen Gebots erschöpft."7 Dagegen soll sich nun erweisen, daß Kants Idee

als Kausalität - obzwar als einer Art von Kausalität - eben doch grundsätzlich als Vorhandensein aufgefaßt und damit völlig ins Gegenteil verkehrt."(M. Heidegger, Vom Wesen der menschlichen F r e i h e i t . . . 91) Heidegger konstatiert und kritisiert entsprechend "das Hineinspielen des allgemeinen Begriffs der Kausalität in die Bestimmung der Freiheit", was nur noch einmal den "ontologischen Horizont" offenbare, "in dem für Kant das Freiheitsproblem steht, sofern eben Freiheit eine Art von Kausalität ist."(ebd. 198) Und es ist ja auch tatsächlich gar nicht zu bestreiten, daß diese Freiheitsthematik (bei Kant eben zum "Weltproblem" gehörig) in Kants Systematik ursprünglich als "kosmologische Idee" ein Problem darstellt, "als eine auf Natur, d.h. Naturganzheit wesenhaft bezogene Idee zu fassen" ist. (ebd. 210; vgl. auch bes. 223 ff. und zusammenfassend 259) Ist nicht tatsächlich mit Heinrichs festzustellen, "daß die Verbindung von Zwecken und sinnlicher Natur die (praktische) Erweiterung der Zeit um die Dimension der offenen Zukunft schon voraussetzt"? (Heinrichs 116) Zukunft ist in allem Handeln gegenwärtig, praktische Wirklichkeit ist ohne diese Zukunft in der Gegenwart nicht zu denken, weil die Erfahrung praktischen Selbstbewußtseins in einem die Erwartung der Erfüllung ihrer Intention impliziert: "Nur in der sich zur Zukunft öffnenden Gegenwart kann die praktische Vernunft zu ihrer Wirklichkeit gelangen."(Heinrichs 94) Man mag nun allerdings - nicht unplausibel - einwenden, daß Heideggers (und auch Heinrichs') prinzipielle Kritik an Kant die angeführte, freilich bei Kant marginale Reflexion über die "theoretischen Bedingungen des Praktischen" eben ignoriert; diese Kritik geht so darauf, daß Kants grundlegende Bestimmung der "Idee der Freiheit" als "transzendentalen Naturbegriff" es eben nicht einzusehen erlaube, daß bezüglich der Wirklichkeit der Geschichte nicht "irgendein Künftiges, das nach Eintritt eines Geschehens Ereignis und Folge geworden ist, sondern Künftiges als Mögliches . . . hier bestimmend" ist. (Heidegger, Vom Wesen . . . 213) Nimmt man aber freilich Heideggers Forderung ernst, "Kant beim Wort nehmen zu müssen" (ebd. 219), dann fallt von der genannten Reflexion aus auch noch ein neues Licht auf Heideggers Urteil, die Fixierung der Freiheit auf einen "transzendentalen Naturbegriff" lege es nun schließlich "für Kant nahe, Freiheit und Freisein im Horizont des Vorhandenseins zu sehen, d.h. die Frage nach der speziellen Seinsart des Freiseienden zu unterlassen, die Freiheit als metaphysisches Problem nicht ursprünglich und eigens anzugreifen und zu entfalten".(Heidegger 93) Gewiß sind die Zweifel daran nicht unverständlich, ob Kants Zeitbegriff, die Formen des Zeitbewußtseins, insbesondere den Problemen der praktischen Philosophie (schon dem Begriff der Handlung) geiecht zu werden vermögen, oder ob dies nicht Kants Behandlung des Freiheitsproblems in grundsätzlich kosmologisch orientiertem Rahmen geradewegs verhindert. 7

L. W. Beck, Kants "Kritik der praktischen Vernunft". Ein Kommentar 235. - Ganz ähnliches wäre sodann zu der kritischen Anmerkung Lauths festzustellen: "Kant kommt auf die Forderung angemessener Glückseligkeit nur durch eine - kritisch unerlaubte -

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Kants Postulatenlehre und erweiterte Ethikotheologie

der "praktischen Teleologie" wie auch seine Bestimmung der Ethik als des umfassenden "Systems der Zwecke" mit innerer Konsequenz auf den Gedanken einer erweiterten (modifizierten) Ethikotheologie führen. Die Hoffnungsfrage ist sonach als gleichsam in der "Tiefenstruktur" der praktischen Vernunft selbst begründet freizulegen.

1.1. "Hoffnung" im Rahmen einer erweiterten Idee der "moralischen Teleologie". Wenn im zweiten Teil dieser Arbeit einsichtig gemacht werden konnte, daß gemäß den wichtigen Überlegungen Kants in seiner späten Tugendlehre (IV 503 ff.) die "menschliche Moralität in ihrer höchsten Stufe" (IV 513) auch allein im Sinne der entsprechend diesem "obersten Prinzip der Tugendlehre" gefaßten "Revolution der Denkungsart" hinreichend verstanden werden kann und in der weiteren Folge auch nur in diesem Sinne zu gelten hat, daß "eine reine praktische Teleologie, d. i. eine Moral, ihre Zwecke in der Welt wirklich zu machen bestimmt ist" ~ dann liegt es nun allerdings nahe zu sehen, daß das (immer auf Zwecke als "Materie" gerichtete) moralische Handeln dieses entsprechend der spezifischen Intentionalität der Tugendpflicht entworfene (und so auch erweiterte) "höchste in der Welt mögliche Gut" — d. i. den nur so angemessen zu bestimmenden "moralischen Endzweck" ~ im Grunde weder zu "bewirken" noch auch (wenigstens in einem strengen Sinn) uneingeschränkt und "zweifelsfrei" zu befördern letztendlich für sich beanspruchen kann, auch wenn das der "höchsten Stufe der Moralität" genügende moralische Gesetz dies intendieren mag. Vor diesem Hintergrund muß nun auch Kants Versicherung als gar nicht so selbstverständlich erscheinen, nämlich: "Die Wirkung nach dem Freiheitsbegriffe ist der Endzweck, der (oder dessen Erscheinung in der Sinnenwelt) existieren soll, wozu die Bedingung der Möglichkeit desselben in der Natur (des Subjekts als Sinnenwesens, nämlich als Mensch) vorausgesetzt wird. Das, was diese apriori und ohne Rücksicht auf das Praktische voraussetzt, die Urteilskraft, gibt den vermittelnden Begriff zwischen den Naturbegriffen und dem Freiheitsbegriffe, der den Übergang von der theoretischen zur reinen praktischen, von der Gesetzmäßigkeit nach der ersten zum Endzwecke [!] nach dem letzten möglich macht, in dem Begriffe einer Zweck-

empirische Verallgemeinerung [...] Diese Forderung ist von Kant nirgends schlüssig dem Sittengesetz deduziert. Das Sittengesetz fordert nur 'die völlige Angemessenheit Gesinnungen', nicht auch die reale Kongruenz des Glücks. Damit fällt zugleich auch Postulat 'Gott', d.i. eines Bewirkens dieser Kongruenz, fort."(R. Lauth, Die Bedeutung Sinn-Begriffs in Kants praktischer Postulatenlehre. In: Perennitas. Festschrift f. Michels OSB. Hg. v. H. Rahner und E. v. Severus. Münster 1963, 585-601, 597 f)

aus der das des Th.

Hoffnung und "moralische Teleologie"

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mäßigkeit der Natur an die Hand; denn dadurch wird die Möglichkeit des Endzwecks, der allein in der Natur und mit Einstimmung ihrer Gesetze wirklich werden kann, erkannt." (V 272) Schwierigkeiten eben dieser Art betreffen natürlich notwendig auch die die "unübersehbare Kluft zwischen dem Gebiete des Naturbegriffes, als dem Sinnlichen, und dem Gebiete des Freiheitsbegriffes, als dem Übersinnlichen" berührenden (noch aufzunehmenden) Überlegungen Kants, "soll doch diese auf jene einen Einfluß haben, nämlich der Freiheitsbegriff soll den durch seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen; und die Natur muß folglich [!] auch so gedacht werden können, daß die Gesetzmäßigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme." (V 248) Ungeachtet all dieser hier zutage tretenden Probleme ist es doch recht aufschlußreich, daß Kant also auch schon in der Kritik der Urteilskraft von "zu bewirkenden Zwecken nach Freiheitsgesetzen" spricht ~ und sogar auch davon, daß dem "Freiheitsbegriff. . . durch seine Gesetze" ein Zweck aufgegeben ist. Natürlich gewinnt dies sodann mit Vorblick auf die "metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre" eine ganz besondere Bedeutung. Abgesehen von schon genannten Schwierigkeiten ergeben sich noch weitere Fragen: das "den anderen Menschen überhaupt" - und damit erst sich "fremde Glückseligkeit" (und d. i. eben dessen "Wohl und Heil") — sich zum Zwecke machende, d. h. sich gemäß dem Gebot der Tugendpflicht bestimmende Handeln dieser "Moralität auf ihrer höchsten Stufe" intendiert diesen je Anderen freilich doch als jenen, der seinerseits sich der "Bewirkung" und auch der "Beförderung" des "höchsten moralischen Gutes" als nicht mächtig erweist. Auch darin tritt nun ein Bezug zu Motiven der Postulatenlehre zutage, deren Sinn sich so auch als wesentlich elementarer und umfassender manifestiert. Kants Begründung dieses Programms wäre im Lichte der Tugendlehre und der daraus resultierenden Schwierigkeiten deshalb ebenso verwandelt wie "aufgehoben", denn: "Wenn nun aber die strengste [!] Beobachtung der moralischen Gesetze als Ursache der Herbeiführung des höchsten Guts (als Zwecks) gedacht werden soll: so muß, weil das Menschenvermögen dazu nicht hinreicht, die Glückseligkeit in der Welt einstimmig mit der Würdigkeit glücklich zu sein zu bewirken, ein allvermögendes moralisches [!] Wesen als Weltherrscher angenommen werden, unter dessen Vorsorge dieses geschieht, d. i. die Moral führt unausbleiblich zur Religion." (IV 655 Anm.) O as von Kant wiederholt eingeschärfte Gebot der Pflicht: "auf das höchste in der Welt mögliche Gut (die im Weltganzen mit der reinsten Sittlichkeit auch verbundene, allgemeine, jener gemäße, Glückseligkeit) nach allem Vermögen hinzuwirken" (VI 132), hätte so zweifellos seinen Sinn ganz entscheidend verändert ~ ebenso aber auch das von Kant identifizierte Bedürfnis, "ein höchstes auch durch unsere Mitwirkung mögliches Gut in der Welt, als den

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Endzweck aller Dinge anzunehmen", das "nicht ein Bedürfnis aus Mangel an moralischen Triebfedern, sondern an äußeren Verhältnissen [!], in denen allein, diesen Triebfedern gemäß, ein Objekt, als Zweck an sich selbst (als moralischer Endzweck) hervorgebracht werden kann". (VI 132 Anm.) Der so unverkennbar hervortretende Bezug zur Thematik der Hoffnung bliebe somit auch gar nicht mehr auf das bloße Ansinnen beschränkt, "Kants Versuch, die Idee der Gerechtigkeit zu denken", zur Sprache zu bringen8; viel eher stellte

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M. Albrecht hat wohl zu Recht darauf verwiesen: "Wird das höchste Gut . . . als (belohnende) Gerechtigkeit verstanden, so erscheint die Befolgung der Pflicht als verdienstlich, d.h. sie ergibt einen 'gerechten' Anspruch auf Glückseligkeit - was zu den Ansichten Kants genau im Widerspruch steht."(Kants Antinomie der praktischen Vernunft . . . 81) Und an anderer Stelle: "Die Deutung des höchsten Gutes als 'Idee der Gerechtigkeit' scheitert schon daran, daß Gerechtigkeit für Kant im allgemeinen Strafgerechtigkeit bedeutet. Das höchste Gut ist nicht Gegenstand der Furcht; es kann, wenn seine Möglichkeit erweisbar ist, die 'Hoffnung* begründen, daß Tugend mit einer ihr angemessenen ('proportionierten') Glückseligkeit verbunden wird. Diese Hoffnung stellt allerdings keinen Anspruch dar. Die Glückseligkeit ist nicht einklagbar."(S.185) Bezüglich der philosophischen Gottesthematik wäre - dabei eine kantische Wendung in abgewandeltem Sinne aufnehmend - betreffend die Verbindlichkeit des Postulates für die moralische Existenz die Frage mit Kant vielleicht dahingehend zu stellen: kann es nach deinem ("unparteiischen") Willen möglich sein, daß es nach einem Gesetz der Natur, von dem du selbst ein Teil wärest, geschehen sollte, daß dem moralisch Lebenden [und auch den Gestorbenen!] doch die "Gerechtigkeit" vorenthalten bliebe? (S. o. Anm.l) Und entspricht dies nicht auch Kants wichtiger Bestimmung des Postulates als "praktischer Imperativ": "Postulat ist ein apriori gegebener, keiner Erklärung seiner Möglichkeit (mithin auch keines Beweises) fähiger, praktischer Imperativ. Man postuliert also nicht Sachen, oder überhaupt das Dasein irgend eines Gegenstandes, sondern nur eine Maxime (Regel) der Handlung eines Subjekts"? (III 411 Anm.). Vgl. dazu im weiteren auch noch etwa VI 131 Anm.: "Die Würdigkeit glücklich zu sein ist diejenige auf dem selbst eigenen Willen des Subjekts beruhende Qualität einer Person, in Gemäßheit mit welcher eine allgemeine (der Natur sowohl als dem freien Willen) gesetzgebende Vernunft zu allen Zwecken dieser Person zusammenstimmen würde." S. dazu auch H. Heimsoeth, Transzendentale Dialektik 4.Teil, 768: "Die systematische Einheit der Daseinszwecke . . . muß, da von der 'Natur der Dinge' nicht vorgegeben und nicht zu erwarten - erhofft werden können; so urteilt die Vernunft in jedem von uns. Und dies nicht etwa nur, so fern der Einzelne . . . für sich denkt, sondern so fern er sich, über alle 'Privatzwecke' hinaus, in ein ursprüngliches und seinerseits schlechthin unabhängiges ('selbständiges') Vernunftwesen hineindenkt, welches alle Glückseligkeit an Freiheitswesen auszuteilen hätte: in jener Vorordnung der jeweiligen sittlichen 'Gesinnung*, die ihrerseits nicht schon die 'Aussicht' auf Glückseligkeit voraussetzt." - Leicht erkennbar, daß nicht nur wesentliche Ansätze der gegenwärtigen Theologie, sondern auch der von Horkheimer und Adorno eingemahnte Gedanke der "Gerechtigkeit für die Toten" (inspiriert durch wesentliche Motive Walter Benjamins) durch diese kantischen Überlegungen deutlich bestimmt ist. Kants frühe Vorstellung, daß der "ganze Zweck", "der einem jeden vernünftigen Wesen natürlich und durch eben dieselbe reine Vernunft apriori bestimmt und notwendig ist" (II 682), ohne "Gott" und "eine für uns jetzt nicht sichtbare, aber gehoffte Welt" ohne Erfüllung bleiben muß - diese

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dies den gewiß noch weiter reichenden Versuch Kants dar, eine seiner kritischen Ethik standhaltende "Idee der Liebe" zu konzipieren. In dieser Weise ist so auch noch plausibel zu machen, daß - und wie - Kants zentrales Lehrstück der Tugendlehre das Hoffnungsthema (in der vorgestellten Weise) der Sache nach als ein gleichsam implizites Strukturmoment dieser Tugendpflicht auszuweisen vermag. So ist nun auch die von Kant angesprochene "Willensbestimmung von besonderer Art" (VI 133 Anm.) zu verstehen, und natürlich gewinnt so auch Kants Hinweis seinen ganz spezifischen Sinn, daß der "reine praktische Vernunftglaube" notwendig "selbst aus der moralischen Gesinnung entsprungen" gedacht werden müsse. (IV 280 f.)9 Die von Kant im Kontext der Begründung der Postulatenlehre immer wieder angezogene Rücksicht und Ausschau auf den Erfolg des moralischen Handelns (vgl. etwa IV 652 ff. Anm.) wäre sodann aber auch nicht in der Weise zu begründen, wie Kant dies im Grunde schon in seiner ersten Kritik versucht, hätte doch vielmehr auch dieser Bezug fortan notwendig der Gesinnung der "revolutionierten Denkungsart" zu entsprechen. Auf diese Postulate gesehen ist es nun doch keineswegs lediglich darum zu tun, die "moralischen Gesetze als Gebote" anzusehen, "welches sie aber nicht sein könnten, wenn sie nicht apriori angemessene Folgen mit ihrer Regel verknüpften und also Verheißungen und Drohungen bei sich führten." (II 682) Ohne Unterbietung des jedenfalls mit dem "obersten Prinzip der Tugendlehre" erreichten Begründungs- und Anspruchsniveaus wäre so auch nicht mehr einfachhin zu sagen: "Ohne also einen Gott, und eine für uns jetzt nicht sichtbare, aber gehoffte Welt, sind die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern [!] des Vorsatzes und der Ausübung, weil sie nicht den ganzen [!] Zweck der einem jeden vernünftigen Wesen natürlich [!] und durch eben dieselbe reine [!] Vernunft apriori bestimmt und notwendig ist, erfüllen." (II 682) Die durch die "revolutionierte Denkungsart" bestimmte praktische Vernunft und die ihr zueigene "Willensbestimmung von besonderer Art" (diese ist ausgerichtet auf die "Idee des Ganzen aller Zwecke") verbieten es nicht bloß,

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Bemerkung Kants gewinnt so ihren ganz bestimmten Sinn, wenn doch der "gesollte Bndzweck der praktischen Vernunft" ohnedem nicht zu denken ist. Es ist die der Intentionsform des moralisch-praktischen Wesens "einwohnende" moralische Teleologie (V 573), die als diese die Idee der "Schöpfung" impliziert, d.i. "Existenz der Dinge gemäß einem Endzweck" (IV 583), und so von hier aus den Blick auf die Idee des "Urquells" (physische Teleologie) leitet. Vielleicht darf man darauf auch die Reflexion 7200 beziehen: soll nämlich Freiheit "eine notwendige Ursache der Glückseligkeit seyn, so muß sie 1. aus principien die Willkür bestimmen. 2. Aus principien der Einheit so wohl mit seiner eigenen Person und zugleich in Ansehung der Gemeinschaft mit andern".

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"eigene Vollkommenheit" o h n e konstitutiven Bezug auf den "gebotenen Zweck" denken und anstreben zu wollen; ihr könnte es sodann nämlich auch ~ in einem eminenten Sinne und keineswegs lediglich wegen der leider "unvermeidlichen Einschränkungen des Menschen und seines . . . praktischen Vernunftvermögens" (IV 654) ~ "unmöglich gleichgültig sein, wie die Beantwortung der Frage ausfallen möge: was dann aus diesem unserm [allerdings dem Maßstab der Tugendpflicht verbundenen] Rechthandeln herauskomme" (IV 651); "sich bei allen Handlungen nach dem Erfolg aus denselben umzusehen" wäre in solcher Perspektive selbstverständlich keineswegs lediglich als eine "unvermeidliche Einschränkung des Menschen und seines . . . praktischen Vernunftvermögens" zu bewerten, sondern verdiente doch mit ungleich größerem Recht als eine den Horizont des (zu) eng konzipierten "moralischen Gesetzes" erweiternde, ja diese sprengende "Ent-schränkung" anerkannt zu werden. Nur so wird auch das von Kant angeführte "moralisch gewirkte Bedürfnis" des sich "durch Vernunft genötigt" wissenden Menschen verständlich, "zu seinen Pflichten sich noch einen Endzweck, als den Erfolg [!] derselben, zu denken." (IV 652) Allein dies: daß die Hoffnung selbst schon ein implizites Strukturmoment der praktischen Intentionalität der "revolutionierten Denkungsart" ist, läßt in einem nicht zu engen Sinne auch Kaulbachs Satz verstehen: "Der gute Wille will nicht nur die Realisierung eines besonderen Zwecks innerhalb der Welt, sondern zugleich immer die prinzipielle Verwirklichung einer vernünftigen Welt im Ganzen ('Endzweck'). Er ist aber als endlicher Wille seiner eigenen Zwecksetzung nicht gewachsen."10 Es ist der "revolutionierten Denkungsart", ihrer spezifischen praktischen Intentionalität und deren erweitertem Bezug auf den "ganzen Gegenstand der reinen Vernunft" vorbehalten, die "auf die [bloße] Natureigenschaft des Menschen, sich zu allen Handlungen noch außer dem Gesetz, noch einen Zweck denken zu müssen" (IV 655), gegründete Intentionalität nunmehr in einem ganz grundsätzlich-radikalen Sinne so zu verwandeln, daß diese somit alle bloße Fundiertheit in einer bloß "menschlichen Natureigenschaft" (bloß "Anthropologischem") überwindet, ja — recht verstanden — diese geradewegs "verkehrt". So gewinnt

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F. Kaulbach, Das Prinzip Handlung . . . 267 Anm.13. Für Kaulbach ergibt sich bei Kant bezüglich der Hoffnungsthematik "das Problem für die Vernunft und ihre Freiheit aus dem Eingeständnis ihrer Ohnmacht: Damit der sich für Vernunft engagierende Handelnde aufgrund eines Überzeugtseins von einem endgültigen Erfolg der Vernunft trotz alles beobachtenden Scheiterns überhaupt zu handeln vermag, muß er in sich die Hoffnung begründen können, daß sein Einsatz nicht umsonst ist. Hierfür ist für ihn das Postulieren eines Wesens notwendig, welches einerseits in vollkommener Weise vernünftig ist und andererseits über die Macht des Ins-Dasein-Rufens gebietet, die uns in der Natur begegnet. Diese Hoffnung kann nur durch die 'Annahme' einer Verbindung von Vernunft und Macht, von Freiheit und Natur, wie sie durch 'Gott' garantiert würde, l>egründet werden." (F. Kaulbach, Art. Natur, Spalte 473.)

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auch erst die doch nur in solcher Weise zu verstehende Bemerkung Konhardts ihren ganz besonderen Sinn: "Die Vernunft nimmt notwendig ein Interesse an der Zusammenstimmung von Sittlichkeits- und Glückseligkeitsvorstellungen im Begriffe der 'unbedingten Totalität des Gegenstandes' eines vernünftigen, aber zugleich endlichen Willens. Eben dieser Begriff ist aber kein anderer als der des höchsten Gutes verstanden als bonum consummatum."11 Diese Fragen bleiben insbesondere auch zu beachten, wenn man etwa Kants Beantwortung der "Frage, wieso die reine praktische Vernunft an Zwecksetzungen überhaupt interessiert sei", in ersichtlicher Übereinstimmung mit der betreffenden wichtigen Anmerkung aus der Religionsschrift sonach folgendermaßen kommentieren möchte: "Auf Grund seiner Vernunftbestimmtheit sollte ein endliches vernünftiges Wesen eigentlich rein um der Pflicht willen handeln, ohne dabei auf die Folgen Rücksicht zu nehmen. Das Bewußtsein, seine Pflicht zu tun, ohne darauf zu sehen, was dabei herauskommt, müßte genügen. Dies ist aber nicht möglich, wenn man ein Mensch ist."12 Ahnlich urteilt mit Bezug auf dieselbe Textstelle aus der Religionsschrift auch Krüger: "der Mensch weiß, daß er nur zu gehorchen hat, und doch kann er sich seiner Menschlichkeit nicht enthalten, wie nach seiner Freiheit so nach seinem Schicksal zu fragen."13 Auch wenn diese Stellungnahmen gewiß dem Wortlaut der betreffenden Anmerkimg der Religionsschrift entsprechen, so bleibt dennoch zu fragen, ob sie nicht, wenigstens im Lichte der späten Tugendlehre gelesen, auf erhebliche Problemverkürzungen schon deshalb hinauslaufen, weil doch die genannte Anmerkung selbst im Lichte der Tugendlehre interpretiert — also gewissermaßen von rückwärts her — einen modifizierten und wesentlich tieferen Sinn zu gewinnen vermag. Dies gilt nun ebenso für die zitierte Ansicht, das Absehen von den Folgen des moralischen Handelns sei "nicht möglich, wenn man ein Mensch ist", wie dann auch bezüglich der Auskunft, daß der Mensch "sich seiner Menschlichkeit nicht enthalten" könne, "wie nach seiner Freiheit so nach

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K. Konhardt, Die Einheit der Vernunft . . . 268. - Wohl diese der praktisch-sittlichen Intentionalität als Strukturmoment implizite Hoffnung ist in der an sich nicht unmißverständlichen Bemerkung zum Ausdruck gebracht, "die moralischen Gesetze" wären "als leere Hirngespinste anzusehen, weil der notwendige Erfolg derselben, den dieselbe [!] Vernunft mit ihnen verknüpft, ohne jene Voraussetzung wegfallen müßte."(II 681) Tatsächlich läßt sich sagen: "Die 'praktisch' anzunehmende Ausfühlbarkeit einer durch welthafte Realität erfüllten menschlich-endlichen Freiheit erweist sich als Dreh- und Angelpunkt der 'Meta-physik'." (I. Schüßler, Der Wahrheitscharakter der Metaphysik in Kants Kritik der Urteilskraft 63.) Für die nachfolgenden Überlegungen sei ausdrücklich auf die Ausführungen Schüßlers verwiesen, die sich m. E. weithin mit dem hier vorgestellten Interpretationsversuch decken. L. Hauser, Praktische Anschauung als Grundlage . . . 229. G. Krüger, Philosophie und Moral. . . 217.

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seinem Schicksal zu fragen." Mit einer von Kant selbst getroffenen Unterscheidung ließe sich dies letztere nämlich doch auch so verstehen, daß damit nicht bloß ~ "menschlich allzu menschlich" — ein "anthropologischer Sachverhalt", sondern vielmehr der durch den "Zweck, der zugleich Pflicht ist", neu qualifizierte ganz wesentliche "anthroponomische Sachverhalt" erst ins Blickfeld zu treten vermag. Denn diese hier vorgestellte, in den wesentlichen Zügen durch eine Analyse des "obersten Prinzips der Tugendlehre" bestimmte Bezugnahme auf die Postulatenlehre versucht damit jedenfalls eine Reduktion auf den genannten bloß "anthropologischen" Sachverhalt zu umgehen und bemüht sich sodann im weiteren um den Aufweis, daß gerade bei gebührender Rücksicht auf die unverkürzt gefaßte praktische "Revolution der Denkungsart" für den solcherart verwandelten Freiheitsstand doch eben genauestens dies zuträfe: daß der Mensch sich "in seiner Menschlichkeit nicht enthalten" könne, "wie nach seiner Freiheit so nach seinem Schicksal zu fragen." Die Frage nach dem gemäß dem "obersten Prinzip der Tugendlehre" gedachten und angemessen erweiterten "höchsten durch Freiheit möglichen Guts in der Welt" wäre so für den solch einen neuen Freiheitsstand einnehmenden Menschen ~ bzw. für dessen "sich noch über die Beobachtung der formalen Gesetze zur Hervorbringung eines Objekts (das höchste Gut) erweiternden uneigennützigen Willens": VI 132 f.), von dem "Gegenstand" ("Zweck") des Willens ist so freilich gerade nicht abzusehen! ~ zum Postulat einer Instanz geworden, die allein diesen der Konzeption der Tugendlehre genügenden und so auch erst wirklich umfassenden (praktischen) Endzweck zu gewährleisten gewillt, aber auch mächtig wäre.14

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Hier bliebe an Kants Bestimmung der "Macht" zu erinnern: "Macht ist ein Vermögen, welches großen Hindernissen überlegen ist. Eben dieselbe heißt eine Gewalt, wenn sie auch dem Widerstande dessen, was selbst Macht besitzt, überlegen ist."(V 348) Dies wäre nun so aufzunehmen, daß dieses Geforderte eben gerade durch die bloße "Natur als einer Macht" schon aus ganz prinzipiellen Gründen nicht zu vollbringen ist. Es ist die über die "moralische Teleologie" vermittelte Idee des "Endzwecks der Schöpfung", die sodann erst "den Begriff von dem höchsten Wesen" als "Weltursache nach moralischen Gesetzen" - d.h. als "Weisheit" - zu bestimmen möglich und nötig macht. Zu der der praktischen Bestimmung des Menschen nach Kant allein genügenden Notwendigkeit, die "über das Schicksal des Menschen" gebietende "unsichtbare Macht" als "verständig-moralisches Wesen" zu bestimmen, s. auch IV 849. Dies läfit sich sehr wohl - also keineswegs nur aus der in der "Beschaffenheit des menschlichen Erkenntnisvermögens" begründeten "subjektiven Notwendigkeit" - aus "objektiven Gründen" entscheiden. S. dazu u. Anm.131 U.133. Es wird sich im weiteren noch zeigen, daß diese Perspektive sich auch keineswegs bloß (oder auch nur primär) der an der Leitidee der "moralischen Zuträglichkeit" ausgerichteten "pädagogischen" Orientierung verdankt, zumal es vielmehr doch die "höchsten Vernunftinteressen" selbst dem Menschen verbieten bzw. unmöglich machen, sich in einem apersonal gedachten "Absoluten" "wiederfinden" zu wollen. So darf man dann auch Kants Notiz verstehen: "Man kann sich nur aus seinen moralischen Begriffen und

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Allein dies bewahrte sodann vor dem andernfalls doch unabwendbaren Verhängnis, daß dieser "gebotene Zweck" der Aussichtslosigkeit des bloßen Wunsches verfiele, der sich freilich in nichts mehr von der erwähnten "leeren Sehnsucht" unterscheiden könnte, "denn man ist sich bewußt, daß das Gewünschte uns niemals zu Teil werden kann." (VI 100) Es erlaubte dies freilich auch erst, jene Bemerkung über die "der praktischen Vernunft" eigenen "ursprünglichen Prinzipien apriori, mit denen gewisse theoretische Positionen unzertrennlich verbunden" sind (ΠΙ 411), in einem zweifellos noch präziseren Sinn zu verstehen.13 Noch einmal anders wäre zu sagen: der in der praktischen Intentionalität auf den "Zweck, der zugleich Pflicht ist", ausgesprochene Gebotscharakter dieses Vernunftzwecks implizierte so die Voraussetzung der Möglichkeit der Erfüllbarkeit dieses Zwecks und antizipiert somit "in nuce" auch die Annahme seines Ermöglichungsgrundes: "Die Gesinnung nach moralischen Gesetzen führt auf ein Objekt der durch reine Vernunft bestimmbaren Willkür. Das Annehmen der Tunlichkeit dieses Objekts und also auch der Wirklichkeit der Ursache dazu ist ein moralischer Glaube oder ein freies und in moralischer Absicht der Vollendung [!] seiner Zwecke notwendiges Fürwahrhalten." (III 498 Anm.) Erst recht gilt natürlich für die durch die "revolutionierte Denkungsart" und das "oberste Prinzip der Tugendlehre" qualifizierte "praktische Vernunft", daß diese selbst nunmehr eben in ihrer spezifischen Intentionalität als "gleichsam der Promittent, der Mensch der Promissarius, das erwartete Gute aus der Tat das Promissum" aufzufassen (anzuerkennen) wäre. In wohl ganz ähnlichem Sinne hat Kant bekanntlich auch von den "Verheißungen des moralischen Gesetzes" gesprochen. (S. u. 294 ff.) Dies meint vorläufig einmal doch gar nichts anderes als dies, daß der unmittelbare und sittlich unabdingbare Glaube an die Möglichkeit einer Verwirklichung des "gebotenen Zwecks" die notwendige Voraussetzung jenes Ermöglichungsgrundes impliziert, ohne den der unmittelbare, praktisch- -

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Grundsätzen einen Gott machen, dessen Willen diese sind. Keinem anderen Leitfaden soll man folgen, wenn es aufs Heil der Seelen ankommt."(Akademie-Ausgabe XXIII 342) Es erwiese sich folglich also als ein dem späten Kant selbst zuzuschreibender Gedanke, den interessanterweise erst Fichte so formuliert: "Jedem sind alle anderen außer ihm Zweck; nur ist es keiner sich selbst. Der Gesichtspunkt, von welchem aus alle Individuen ohne Ausnahme letzter Zweck sind, liegt über alles individuelle BewuBtsein hinaus; es ist der, auf welchem aller vernünftigen Wesen BewuBtsein als Objekt, in Eins vereinigt wird; also eigentlich der Gesichtspunkt Gottes. Für ihn ist jedes vernünftige Wesen absoluter und letzter Zweck." (Fichte, Akademie-Ausgabe 1,5.230) - Den Blick nach rückwärts gewendet ließe sich sagen, daß so auch erst Leibnizens Satz seine Einlösung und Erfüllung fände, "daß jeder Geist sich immer in der Weise verhalten muß, die am geeignetsten ist, zur Vervollkommnung der Gemeinschaft aller Geister - die deren moralische Vereinigung im Gottesstaate bildet, beizutragen." (Leibniz, Neues System der Natur . . . 36)

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"antizipative" Glaube an die Realisierbarkeit dieses Anspruches nicht sinnvoll zu denken ist. Davon muß im folgenden noch ausführlicher die Rede sein. 1.2. Die "objektive Realität" des "praktischen Ideals" und der Zusammenhang von "praktischem Endzweck" und "'Endzweck der Schöpfung". In diesem angezeigten verwandelten Sinne mag nun auch Kants Antwort auf die von ihm selbst erhobene Frage neu zu fassen sein, ob "die Moral ohne Theologie möglich sey? Ja aber nur in Ansehung der Pflichten und Rechte der Menschen, nicht in Ansehung des Endzweckes"16 — welch letzterer, wie man ergänzen darf, dieser Tugendpflicht natürlich keinesfalls bloß äußerlich bleiben kann. In Kants Worten gesprochen: allein die Angehörigen dieses durch die Intentionalität der Tugendpflicht bestimmten Reiches dürften sich sonach verstehen "gleichsam als Brüder unter einem allgemeinen Vater, der aller Glückseligkeit will." (IV 613) Die "Achtung fürs moralische Gesetz" wäre in solchem Freiheitsstand selbst noch einmal überhöht im Sinne der von Kant angeführten Idee einer "Gemeinde zu der darunter vorgestellten sittlichen [!] Gesinnung der brüderlichen Liebe." (IV 876) Jede anders begründete und ausgerichtete "Aussicht in eine höhere, unveränderliche Ordnung der Dinge, in der wir schon jetzt sind" (IV 235), wäre demnach, daran bemessen, auch nach Kants eigenem Urteil als "reduktionistisch" anzusehen. Wenn Kant die religiösen Pflichten ausdrücklich als die "ethisch [!] bürgerlichen Menschenpflichten (von Menschen gegen Menschen)" ausweisen möchte (IV 822 Anm.), so gewinnt dies in der so eröffneten Perspektive offenkundig noch einmal ganz besonderes Gewicht. Gewiß, die "praktisch revolutionierte Denkungsart" macht es sodann freilich notwendig, diese das "praktische Interesse" betreffende, angeblich der "reinen Vernunft" selbst zugehörige Frage: "wie, wenn ich mich so verhalte, daß ich der Glückseligkeit nicht unwürdig sei, darf ich auch hoffen, ihrer dadurch theilhaftig werden zu können?" ihrerseits selbst noch einmal dahingehend zu modifizieren, daß doch solche angeblich "reine Vernunft" analog dem bloßen "Kreisen um die eigene Vollkommenheit" -- selbst noch einmal von sich selbst zu reinigen bliebe, zumal eben hinsichtlich der ausschließlich über die Idee der "größten moralischen Vollkommenheit" zu

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Reflexion 8097 (Akademie-Ausgabe XIX 641); s. V 614 f. Wenn Kant freilich von dem durch praktische Vernunft vorgeschriebenen (!) "Erfordernis des Endzwecks" - als einem in die Menschen "durch ihre Natur (als endlicher Wesen) gelegten unwiderstehlichen Zweck" - spricht (V 578), so ist also auch dies eigentlich nicht im Sinne der "unvermeidlichen Einschränkungen des Menschen und seines praktischen Vernunftvermögens" (IV 654) zu verstehen, sondern bringt eher die spezifische Weltstellung des Menschen als "leiblich-vernünftiges" Wesen zum Ausdruck.

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vermittelnden Postulatenlehre nur so dem "Zweck, der zugleich Pflicht ist", Genüge zu leisten ist. Entsprechend dem engen Zusammenhang zwischen den beiden Fragen "Was soll ich tun?" und "Was darf ich hoffen?" bleibt in der Folge nun auch der Sinngehalt der Postulate ~ und genauerhin das "höchste abgeleitete Gut" — in radikalerer Weise zu charakterisieren, was es freilich auch als notwendig erscheinen läßt, im Ausgang von Kants Ausführungen zu der eigentlich so zu nennenden Ethik das "Ideal des höchsten Gutes, als einem Bestimmungsgrunde des letzten Zwecks der reinen Vernunft" (in Kants erster Kritik: II 676 ff.), in neuer Weise zu bestimmen. Die von dem Theologen Peukert vorgestellte Anregung, Kants "Frage: Was darf ich (für mich) hoffen?" zu transformieren in die Frage "Was darf ich — für den anderen ~ in seinem Tod ~ hoffen?"17, ließe sich unschwer selbst als ein

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H. Peukert, Wissenschaftstheorie . . . 312 Anm.l. Diese von Peukert vorgeschlagene Interpretation wäre durchaus auf Motive der kantischen Postulatenlehre zurückzuführen, ja wäre im Grunde schon in dieser impizit mitenthalten: "Dieses gemeinsame Zugehen auf den Tod als wechselseitiges Anerkennen der Existenz des anderen und als Möglichkeit der Verwandlung in Endgültigkeit wäre in der Unbedingtheit dieses Anerkennens zugleich die praktische Behauptung Gottes als der Wirklichkeit für den anderen, die ihn im Tode nicht vernichtet sein läßt und die deshalb Hoffnung gewährt, auch selbst im Tod bejaht zu sein. Das gemeinsame Zugehen auf den Tod wäre das hoffende Zugehen auf den Tod als Zugehen auf Gott als die Wirklichkeit, die sich im Tod als rettend erweist." (H. Peukert, Kontingenzerfahrung und Identitätsfindung . . . 95) Dieser Gedanke entspräche so recht genau jener Klammer, die aus der Verbindung der von der Tugendlehre aus gestellten Frage "Was soll ich tun?" mit der Hoffnungsfrage resultiert. Damit bliebe nun auch Kants Satz aus der Preisschrift (III 650) zu verbinden: "Die Idee von Gott und Zukunft bekommen durch moralische Gründe nicht objektiv theoretische sondern bloß praktische Realität so zu handeln als ob eine andere Welt wäre." - Es ist hier nicht im einzelnen zu überprüfen, ob und wie weit die letztangeführten Überlegungen sich berühren mit einschlägigen Gedanken von H. Holz - und ob im Falle einer Berührung jedoch das Begründungsverhältnis nicht notwendig ein anderes ist. Jedenfalls erstreckt sich auch für Holz der von ihm als "existenzial" bestimmte Glaube "in dieser erweiterten intersubjektiven Funktion . . . vielmehr . . . auf das fundamentale Menschsein der Anderen, sofern sie erstes konkretes Gegenüber je für den Einzelnen sind. Dies fundamentale Menschsein aber bestimmt sich wiederum durch die Sinnperspektive, d.h. [aber nun:] dieser Glaube erkennt zuerst und letztursprünglich den konkreten Anderen den grundsätzlich gleichen Sinn zu als erstrebenswert und vollziehenswert wie sich selbst (er 'imputiert' ihn dem Anderen). Ohne diesen Glauben gäbe es auch diesen Sinn insgesamt also gar nicht. D. h. also nicht, als ob hier sozusagen nominalistisch nur dem Anderen etwas selbständig zudeklariert würde; sondern der Andere a 1 s Anderer schlechthin, der mir als existentialen Sinn vollziehender Person darin ebenbürtig ist, wird im Medium dieses Glaubens allererst in seiner intersubjektiven Relevanz konstituiert^!] Glaube in diesem Bedeutungsgehalt setzt somit eine Vielheit von Subjekten in der Einheit des 'Ich' und 'Du* usw., also des 'Wir*." (Der philosophische Glaube . . . 418) Verläuft dieser Argumentationsgang in der Vermittlung der darin angesprochenen Dimension der "Intersubjektivität" sowie in deren Verhältnisbestimmung zu den Motiven der Postulatenlehre aber nicht gerade so, daß darin

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Kants Postutatenlehre und erweiterte Ethikotheologie

Grundmotiv der um die Motive der Tugendlehre erweiterten und so verwandelten Postulatenlehre Kants identifizieren. Kants Gedanke, die der Tugendpflicht adäquate, weil in ihr gegründete "schöne Ordnung mit angemessener Glückseligkeit zu krönen" (IV 263), ist anders ohne Rückfall hinter den schon bestimmten "ganzen Zweck der praktischen Vernunft" (IV 265) nicht zu denken. Nur so ist in einem präzisen Sinn die Frage nach dem "unseren höchsten Zwecken genau entsprechenden Ausgang" (Π 682) angemessen zu stellen und dem gemäß der Sinngehalt der Postulate zu charakterisieren. Entgegen der Interpretation Peukerts erweist sich in dieser Perspektive bei Kant keinesfalls das "Postulat der Existenz Gottes . . . primär an der Subjektivität des autonomen Subjekts, nicht primär an der Freiheit des anderen und am Willen zu dessen Glück festgemacht"18 ~ viel eher doch so, daß in der Folge das von Kant entfaltete "Bedürfnis in schlechterdings notwendiger Absicht" als "Postulat in praktischer Absicht", nämlich: "ich will, daß ein Gott, daß mein Dasein in dieser Welt . . . ich beharre darauf und lasse mir diesen Glauben nicht nehmen" (IV 277 f.)-- in adäquater Weise zu modifizieren und, entsprechend der praktischen Intention des "Imperativs, der die Tugendpflicht gebietet", nicht lediglich zu "ergänzen" bliebe. Denn das dem hier vorgeschlagenen Interpretationsversuch zufolge zu denkende "moralische Interesse" könnte bezüglich der "Art, wie wir uns eine solche Harmonie der Naturgesetze mit denen der Freiheit denken sollen" (in der darin zu treffenden "Wahl"), ohne Zweifel nur bei Verlust ihrer spezifischen Intentionalität (den erweiterten "praktischen Endzweck") darauf verzichten. Dieser "gebotene Zweck" verweist in solcher Sicht selbst noch über das Gebiet des Handelns gemäß der Tugend-

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der w e s e n t l i c h e Bezug zwischen "praktischem Endzweck" - der eben nicht "vor-intersubjektiv", ohne konstitutiven Bezug auf den "Zweck, der zugleich Pflicht ist", zu bestimmen ist - und dem "Endzweck der Schöpfung" unberücksichtigt bleibt - anders gesagt: wird der konstitutive Bezug des "ganzen moralischen Zwecks" zu der Bestimmung des "höchsten Guts" von Holz nicht doch vernachlässigt bzw. sogar ins Gegenteil verkehrt? Peukert selbst weist freilich darauf hin, daß seines Erachtens eine "andere Position . . . am ehesten von Kants 'Grundlegung zur Metaphysik der Sitten' aus zu erreichen" wäre, "in der im Zusammenhang mit der dritten Formulierung des kategorischen Imperativs von der Allheit oder Totalität des Systems der als Selbstzweck gesetzten Personen die Rede ist."(Wissenschaftstheorie . . . 343 Anm.13) Zweifellos blieben diese Modifikationen auch für Kants Bestimmung der "eigentlichen Zwecke" der "Metaphysik" (schon in seiner ersten "Kritik") bedenkenswert: "Die Metaphysik hat zum eigentlichen Zwecke ihrer Nachforschung nur drei Ideen: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, sodaB der zweite Begriff, mit dem ersten verbunden, auf den dritten, als einem notwendigen SchluBsatz, führen soll." (II 338 Anm.; vgl. VI 631 ff) Als Ausdruck eines augenfällig radikalen Rückfalls Kants in sublimen Heilsegoismus (so K. Löwith, Wissen, Glaube, Skepsis, Göttingen 1962 (3. Aufl.), 8 f) sind diese Ausführungen Kants jedenfalls vor dem Hintergrund des hier vorgestellten Interpretationsversuchs wohl nicht so ohne weiteres zu entlarven.

Praktischer Endzweck und Endzweck der Schöpfung

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pflicht hinaus und eröffnet so einen Ausblick auf die Thematik der Hoffnung, ohne die freilich in letzter Konsequenz diese praktische Intentionalität nicht verstanden werden kann. Für diese somit wesentlich durch die Tugendlehre bestimmte Thematik der Hoffnung bliebe natürlich noch geltend zu machen, daß doch sie erst in einem fundamentalen Sinn dasjenige einzulösen vermag, was Kant schon früh programmatisch vor Augen steht, nämlich daß "Moral . . . in ihrer Vollendung zur Religion überschreiten will."19 "Ich bin ein Mensch; alles, was Menschen widerfährt, das betrifft auch mich"20 — dieser Satz Kants erlaubt nun im Kontext der eben zuvor angeführten Probleme auch noch eine bedeutsame Wendung ins Geschichtsphilosophische und ermöglicht so eine Verbindung zu dem Gedanken der Menschheit als dem "Wir der Geschichte", der nun freilich erst noch genauer zu differenzieren bliebe. Denn dieses "konkretisierte" "Wir der Geschichte" spezifiziert notwendig den andernfalls bloß im Neutralen verbleibenden interpersonalen Raum und erweitert so erst "den beschränkten interpersonalen Charakter des bloß abstrakten Gattungsbegriffes zu den Bestimmungen von Familie—Population bis zu Rasse und Gesellschaft."21 Hieher gehörte, von dieser modifizierten kantischen ethikotheologischen (und geschichtsphilosophischen) Perspektive aus gesehen, nun auch der Gedanke der "anamnetischen Solidarität" mit jenen, die "keinen Anteil am Leben haben und hatten" ~ was Kant selbst in seiner "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" als Befremdlichkeit notiert, nämlich: "daß die älteren Generationen nur scheinen um der späteren willen ihr mühseliges Geschäft zu treiben, um nämlich diesen eine Stufe zu bereiten, von der diese das Bauwerk, welches die Natur zur Absicht hat, höher bringen könnten; und daß doch nur die spätesten das Glück haben sollen, in dem Gebäude zu wohnen, woran eine lange Reihe ihrer Vorfahren (zwar freilich ohne ihre Absicht) gearbeitet hatten, ohne doch selbst an dem Glück, das sie vorbereiteten, Anteil nehmen zu können." (VI 37) Zugleich damit bleibt dieser vorhin angeführte und gewiß recht bedenkenswerte Satz: "Ich bin ein Mensch; alles was Menschen widerfährt, das trifft auch mich" ~ sodann im Rahmen einer neu interpretierten Postulatenlehre in Rücksicht auf die genannte geschichtsphilosophische Perspektive durchaus zu würdigen als ein zweifellos wesentlicher Aspekt einer Theorie der "Ermöglichung anamnetischer, universal-solidarischer Existenz"22, stünde dies doch offensichtlich in unzertrennlicher Verbindung mit dem

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So im Brief Kants an Mendelsohn vom 16. August 1783. (Akademie- Ausgabe X 347) Zit. η. K. Vorländer. Immanuel Kant. Der Mann und das Werk (2. Auflage) Hamburg 1977,1 305. M. Benedikt, Einleitung zu: Franz Fischer, Proflexion - Logik der Menschlichkeit. Wien-München 1985, 21. H. Peukert, Wissenschaftstheorie . . . 331.

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Kants Postulatenlehre und erweiterte Ethikotheologie

"Grundproblem kommunikativen Handelns . . . , nämlich . . . der Frage nach der Möglichkeit der Solidarität mit den unschuldig vernichteten anderen."23 Kants Postulatenlehre erschiene damit, was Peukert freilich der Theologie als ihre Aufgabe zumuten möchte, als der grundlegende Versuch der "Explikation eines Existenzvollzuges, der als Vollzug über sich hinausreicht und eine Wirklichkeit behauptet, die als wirkende so behauptet wird, daß sie schlechthin von der eigenen Existenz unterschieden ist; sie wird behauptet als die Wirklichkeit, die den anderen im Tod rettet."24 Jeder bloß subjektivistisch-engführenden Interpretation der Motive dieser Postulatenlehre wäre so, von Kant selbst her gesehen, unweigerlich der Weg abgeschnitten. Daß Peukert selbst insbesondere im Ausgang von der berühmten "dritten Formulierung des kategorischen Imperativs . . . Ansatzpunkte" finden möchte, "die Kantische Position weiter zu interpretieren", entspricht nun augenfällig dem in dieser Arbeit vorgestellten Interpretationsvorschlag. Von der modifizierten Postulatenlehre (und ihrem somit immanenten Bezug auf geschichtsphilosophische Perspektiven) aus betrachtet ergibt sich nun wie von selbst auch Kants wohl selbstverständliche Zustimmung zu Peukerts These: "Erlösung läßt sich nicht angemessen in den Begriffen der reinen Subjektivität allein denken."25 In diesem Kontext ist noch ein Passus aus dem (im Jahr 1796, also kurz vor der "Metaphysik der Sitten" erstmals erschienen) Aufsatz Kants "Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie" von einigem Interesse. In einer Anmerkung (III 385 ff.) erläutert Kant sein Verständnis des

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H. Peukert, Wissenschaftstheorie . . . 336.- Vgl. Adornos Anmerkung: "Daß keine innerweltliche Besserung ausreichte, den Toten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen; daß keine ans Unrecht des Todes rührte, bewegt die Kantische Vernunft dazu, gegen die Vernunft zu hoffen." (Negative Dialektik 378) H. Peukert, Wissenschaftstheorie... 346. In Kants Worten gesprochen steht darin erst der "Endzweck der Schöpfung" als "diejenige Beschaffenheit der Welt" auf dem Spiel, "die zu dem Endzwecke unserer reinen praktischen Vernunft. . . übereinstimmt." (V 582) H. Peukert, Wissenschaftstheorie . . . 343 Anm.13. - Von Kants später Stellungnahme aus betrachtet läßt sich sagen: dieser Perspektivenwechsel (der "erweiterten praktischen Vernunft") ist - wenn auch eher beiläufig - wohl von Kant selbst angezeigt, zumal er bezüglich der subjektiv-praktischen Realität des Endzwecks anmerkt: "Wir sind apriori durch die Vernunft bestimmt, das Weltbeste, welches in der Verbindung des größten Wohls der vernünftigen Weltwesen mit der höchsten Bedingung des Guten an demselben, d.i. der allgemeinen Glückseligkeit [!] mit der gesetzmäßigsten Sittlichkeit, besteht, nach allen Kräften zu befördern." Anders wäre die "allgemeine Glückseligkeit" auch gewiß nicht als das "Weltbeste" zu bezeichnen! - Für die angemessene Bestimmung des "höchsten Gutes" ist ja nicht zu vergessen, daß Kant - dies ist bedeutsam für den Sinngehalt der "reinen praktischen" und der "moralischen Teleologie* (s.u. Anm.30) - also in Variation des Leibnizschen Themas die Idee des "höchsten abgeleiteten Gutes" mit der "besten Welt" identifiziert. (IV 256)

Praktischer Endzweck und Endzweck der Schöpfung

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Glaubens in "moralisch-praktischer Bedeutung" durchaus in dem bekannten Sinne seiner Postulatenlehre. Beachtenswert ist dabei nun allerdings nicht nur dies, daß Kant auch an dieser Stelle von einem dem Menschen "gebotenen [!] Zweck" sprechen kann, "der, theoretisch betrachtet, ohne eine darauf hinwirkende Macht eines Weltherrschers, durch meine Kräfte allein, unausführbar ist (das höchste Gut)." Wesentlicher noch für eine Interpretation der Tugendpflicht, ihres "Zwecks" und des darauf gegründeten (und somit erweiterten) Begriffs des "umfassenden Endzwecks" dürfte insbesondere Kants in diesem Zusammenhang vorgetragene Bemerkung betreffend den Erfolg der Handlungen sein: "An ihn [den umfassenden Zweck] aber moralisch-praktisch glauben heißt nicht seine Wirklichkeit vorher theoretisch für wahr nehmen, damit man jenen gebotenen Zweck zu verstehen Aufklärung und zu bewirken Triebfedern bekomme: denn dazu ist das Gesetz der Vernunft schon für sich objektiv hinreichend; sondern nur nach dem Ideal jenes Zwecks so zu handeln, als ob [!] eine solche Weltregierung wirklich wäre: weil jener Imperativ (der nicht das Glauben sondern das Handeln gebietet) auf Seiten des Menschen Gehorsam und Unterwerfung seiner Willkür unter dem Gesetz, von Seiten des ihm einen Zweck gebietenden [!] Willens aber zugleich ein dem Zweck angemessenes Vermögen (das nicht das menschliche ist) enthält, zu dessen Behuf die menschliche Vernunft zwar die Handlungen, aber nicht den Erfolg der Handlungen (die Erreichung des Zweckes) gebieten kann, als der nicht immer, oder ganz [!] in der Gewalt des Menschen ist. Es ist also in dem kategorischen Imperativ der der Materie nach praktischen Vernunft, welcher zum Menschen sagt: ich will, daß deine Handlungen zum Endzweck aller Dinge zusammenstimmen, schon die Voraussetzung eines gesetzgebenden Willens, der alle Gewalt enthält (des göttlichen), zugleich [!] gedacht, und bedarf es nicht, besonders aufgedrungen zu werden." (III 38T)26 Evidenterweise ist dies deshalb von ganz besonderem Interesse, weil dieser Passus damit natürlich ~ auf den erweiterten "praktischen Endzweck" hin betrachtet ~ auch betreffend die so zu vermittelnde Idee des "umfassenden Endzwecks" neue Akzente zu setzen erlaubt. Vielleicht am deutlichsten hat Kant diese einschlägigen Gedanken in den Endpartien der Kritik der Urteilskraft ausgesprochen; resultieren sodann weiterführende Aspekte dieser Postulatenlehre nicht schon aus der bloßen Erinnerung daran, daß der die "ganze Weltvollkommenheit" intendierende Wille sich dabei aber doch im Grunde ~ ganz prinzipiell ~ nicht einmal dessen vergewissert haben kann, "wenigstens" das "Vornehmste in diesem Endzweck" (III 647) je erreicht zu haben, ja darüber prinzipiell in keiner Weise "verfügen" zu können?

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Dieser Passus verdient auch im Kontext der einschlägigen Überlegungen zu Schelling! Kant-Kritik Beachtung. S. dazu u. 348ff.

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Kants Postulatenlchre und erweiterte Ethikotheologie

Bei Beachtung der schon wiederholt erwähnten Unterscheidung zwischen "praktischem (moralischem) Endzweck" und dem "Endzweck der Schöpfung" als dem von Kant so bezeichneten "Ideal der Weltvollkommenheit" (ΠΙ 647) bleibt noch unter einem anderen Aspekt der schon angeführte Passus aus dem "Gemeinspruch"-Aufsatz berücksichtigenswert: denn eben diesem Passus und seiner Kennzeichnung des sich "zur Hervorbringung eines Objekts (das höchste Gut) erweiternden uneigennützigen Willens" folgend wäre das "höchste Gut" als "Ergänzung" (Folge) einer an sich für sich allein schon wirklichen und hinreichenden Beobachtung der "formalen Gesetze" anzusehen ~ eine Charakterisierung freilich, der zufolge jedoch der mit dieser "Uneigennützigkeit" des Willens im "Überschreiten seiner selbst" angesprochene "Fremdbezug" - ein wenig genauer besehen ~ dieser neu konzipierten "moralischen Denkungsart" noch äußerlich bliebe. Darf man nun aber diesen sich zur "Hervorbringung eines Objekts . . . erweiternden uneigennützigen Willen" mit der maßgebenden Idee des "praktischen (moralischen) Endzwecks" des Menschen verbinden, so fällt freilich die von Kant hier angeführte "Willensbestimmung von besonderer Art" unweigerlich noch hinter den hohen Verbindlichkeitsanspruch und die Reichweite des Prinzips der Tugendpflicht zurück, denn damit wäre eine so motivierte sittliche Selbstbestimmung (als der sich erweiternde uneigennützige Wille) unverkennbar selbst zu einer bloßen "Nebensache" herabgesetzt. Ist diese Auskunft Kants hingegen ~ wie es die im selben Jahr 1793 erschienene Religionsschrift doch ebenfalls nahelegt ~ als die entsprechend der Postulatenlehre verstandene "Erweiterung der praktischen Vernunft über das . . . moralische Gesetz" hinaus aufzufassen, so verweist diese so verstandene "Willensbestimmung von besonderer Art" unter genauer Wahrung der Eigenständigkeit des "erweiterten" Anspruchsniveaus der Tugendpflicht (und dem dieser gemäß verstandenen "praktischen Endzweck des Menschen") nunmehr auf den Zusammenhang mit dem über diesen zu vermittelnden "Endzweck der Schöpfung" und gestattet es damit auch, die in dem angeführten Passus des "Gemeinspruch"-Aufsatzes genannte "Idee des Ganzen aller Zwecke" noch genauer zu bestimmen. Auf diese tunfassende Idee des "Ganzen aller Zwecke" (als dem eigentlichen Endzweck) ist diese "Willensbestimmung von besonderer Art" als ein durchaus "reines Vernunftbedürfnis" auch nach Kant ausgerichtet. Dies war ja doch Kants Überlegung aus der wichtigen Anmerkung der Vorrede zur Religionsschrift, daß in der Idee des als "höchstes in der Welt möglichen Gutes" bestimmten Endzweckes sich die praktische Vernunft noch über das moralische Gesetz hinaus "erweitert". Auch in dieser Religionsschrift spricht Kant von dem "Endzweck aller Dinge" als einer die Moralität selbst noch überhöhenden, neu eröffneten Vernunftperspektive, die dieser doch "einen besonderen Beziehungspunkt der Vereinigung aller Zwecke verschafft" (IV 651), und damit wenigstens in einer gewissen Hinsicht noch der kantischen Kennzeichnung der Religion als der "Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher

Praktischer Endzweck und Endzweck der Schöpfung

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Gebote" zugrunde liegt. Dabei ist nun darauf zu achten, daß Kant in dem "Gemeinspruch"-Aufsatz genau besehen jedoch anders argumentiert als in der Religionsschrift ~ und zwar in einer Weise, die tatsächlich einer in Aufnahme der wesentlichen Motive der Tugendlehre modifizierten Postulatenlehre offenbar ungleich besser entsprechen wird (S. u. 305 ff.): Kant selbst nennt nämlich "das Bedürfnis eines durch reine Vernunft aufgegebenen, das Ganze aller Zwecke unter einem Prinzip befassenden Endzwecks (eine Welt als das höchste auch durch unsere Mitwirkung mögliche Gut" . . . ein Bedürfnis des sich noch über die Beobachtung der formalen Gesetze zu Hervorbringung eines Objekts (das höchste Gut) erweiternden uneigennützigen Willens." (VI 132 f Anm.) Diese so vermittelte "Willensbestimmung von besonderer Art" hätte damit notwendig das "oberste Prinzip der Tugendpflicht" in sich "aufgehoben", und nur in diesem (somit erweiterten) Sinne ließe sich nun ~ jetzt freilich bezüglich des Verhältnisses von "praktischem Endzweck" und "Endzweck der Schöpfung" ("Endzweck aller Dinge") ~ auch behaupten, daß letztgenannte Idee über die durch das "oberste Prinzip der Tugendpflicht" revolutionierte Denkungsart "die Vernunft in eine ganz andere Ordnung der Dinge" führt. (V 489)" An dieser Stelle verdient nun - und zwar sowohl mit Blick auf die "praktisch-immanent" gewordene Idee der Freiheit wie auch auf die Bestimmung der "höchsten moralischen Vollkommenheit", aber ganz besonders eben auch in wesentlicher Rücksicht auf den Stellenwert der "progressiven Synthesis" im Rahmen der "reinen praktischen Vernunft" und ihres "ganzen Gegenstandes" dies folgende noch genaue Beachtung. Die vorgestellte "praktisch-immanent" gewordene "Idee des Unbedingten" bleibt notwendigerweise auf Kants Bestimmung des "Ideals" zu beziehen; obwohl dieses "Ideal" nämlich nach Kant "noch weiter als die Idee . . . von der objektiven Realität entfernt zu sein" s c h e i η t [!] - das Ideal ist bekanntlich "die Idee, nicht bloß in concreto, sondern in individuo, d. i. als ein einzelnes, durch die Idee allein bestimmbares, oder gar bestimmtes Ding" --, so ist diesem doch "praktische Kraft" als regulatives Prinzip zuzuerkennen und liegt auch nur so "der Möglichkeit der Vollkommenheit gewisser Handlungen zum Grunde". Dies scheint nun sowohl betreffend die Charakterisierung der Freiheit als dem "dynamisch Unbedingten", wie auch bezüglich der Möglichkeit und Notwendigkeit der "progressiven Synthesis in consequentia" auf dem "Gebiet der reinen praktischen Vernunft" von einigem Interesse zu sein. Nun hat sich nämlich doch diese radikal bestimmte, "wahre" revolutionierte Denkungsart

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Aus diesem Grund ist es wenigstens m Unverständlich (ja genau genommen falsch), wenn Cohen behauptet: "Der kategorische Imperativ, die Gemeinschaft moralischer Wesen ist schlechthin als Endzweck zu denken."(Kants Begründung . . . 267; vgl. ebd. 273)

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Kants Postulatenlehrc und eiweiterte Ethikotheologie

und die Wirklichkeit der dieser gemäßen Freiheit als jenes Maß erwiesen, ohne welches, als dem eigentlich "unentbehrlichen Richtmaß der Vernunft", die "Idee des vollkommensten Menschen" nicht zu bestimmen ist, "und wir haben kein anderes Richtmaß unserer Handlungen als das Verhalten dieses göttlichen Menschen in uns, womit wir uns vergleichen, beurteilen und dadurch uns bessern, obgleich es niemals erreichen können." (II 512 f.) Auf diesem "Ideal der moralischen Vollkommenheit" beruht bekanntlich die Begründung der "weiten Pflichten" ~ und eben auf diese bezieht sich interessanterweise der Kanon der moralischen Beurteilung. Dahin weist auch Kants Zuversicht auf die von ihm angesprochenen "Anlagen zu größerer Vollkommenheit, die zum Zwecke der Natur in Ansehung der Menschheit in unserem Subjekt gehören." (IV 62) Dem Anschein seiner Wirklichkeitsferne zum Trotz erweist dieses "Ideal" (als praktisches Vernunftideal) in der so qualifizierten Wirklichkeit der Freiheitsidee seine "praktische Kraft"28 "durch die Tat". Es ist im weiteren nun auch nicht zu übersehen, daß Kant ausdrücklich in der Religionsschrift dieses "Ideal der moralischen Vollkommenheit", "welche(s) uns zur Nachahmung vorgelegt wird" und auch "Kraft geben kann", letztlich auf den "Sohn Gottes" als den "allein Gott wohlgefälligen Menschen", die "personifizierte Idee des guten Prinzips" (IV 712 f.), bezieht, was von besonderem Interesse doch auch deshalb ist, weil dieses eben nur durch das "oberste Prinzip der Tugendpflicht" zu kennzeichnen ist. Was nun aber die Frage nach dem Ermöglichungsgrund der solcherart "revolutionierten Denkungsart" betrifft, so ist darauf zu sehen, daß der Religionsschrift zufolge freilich auch nicht der Mensch selbst als "Urheber" dieses "Ideals der moralischen Vollkommenheit" gelten darf, vielmehr doch diese Idee selbst (zwischen Idee und Ideal scheint Kant hier nicht zu unterscheiden) "in dem Menschen Platz genommen hat, ohne daß wir begreifen, wie die menschliche Natur für sie auch nur habe empfänglich sein können." (IV 712 f.) Dennoch soll wiederum gelten, daß diese "Idee eines Gott moralisch [!] wohlgefälligen Menschen . . . in unsrer Vernunft" selbst liegen soll. (IV 715)29

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Es ist in diesem Zusammenhang vielleicht nicht uninteressant zu sehen, daß Kant schon in seiner im Jahr 1770 vorgelegten Schrift "Über die Form und die Prinzipien der Sinnen- und Geisteswelt" nicht nur von einer "perfectio noumenon" spricht, sondern diese auch in zweifacher Form unterscheidet: diese "perfectio noumenon" ist zum einen in theoretischer Betrachtung "summum ens", in moralischer Perspektive aber "perfectio moralis". Vgl. IV 714: "Das Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit (mithin einer moralischen Vollkommenheit, so wie sie an einem von Bedürfnissen und Neigungen abhängigen Weltwesen möglich ist) können wir uns nun nicht anders denken, als unter der Idee eines Menschen, der nicht allein alle Menschenpflicht selbst auszuüben, . . . sondern auch, obgleich durch die größten Anlockungen versucht, dennoch alle Leiden bis zum schmählichsten Tode um des Weltbesten willen, und selbst für seine Feinde, zu übernehmen, bereitwillig wäre."

Praktischer Endzweck und Endzweck der Schöpfung

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Überdies bleibt in diesem Zusammenhang an die Charakterisierung des Postulates als eines "keiner Erklärung seiner Möglichkeit (mithin auch keines Beweises) fähigen, praktischen Imperativs" nachdrücklich zu erinnern, daß "nicht Sachen, oder überhaupt das Dasein eines Gegenstandes, sondern nur eine Maxime (Regel) der Handlung eines Subjekts" zu postulieren sei (III 411): nimmt man dies nun, ebenso wie Kants Charakterisierung des "praktischen Glaubens", in einem genauen Sinn, dann kann wohl kein Zweifel darüber bestehen, daß (wie aus dem unmittelbaren Kontext der im folgenden zu zitierenden Stelle deutlich wird) der "praktische Glaube an diesen Sohn Gottes" (IV 713) nur im Lichte der "praktischen Revolution der Denkungsart", d. i. dem "obersten Prinzip der Tugendlehre", schon von Kant selbst konzipiert ist - was nun freilich bedeutete, daß erst von solchem "Anspruchsniveau" aus gesehen der Mensch auch nach Kant allein hoffen darf, "Gott wohlgefällig (dadurch auch selig) zu werden" und nur so "sich für denjenigen zu halten" vermag, der ein "des göttlichen Wohlgefallens nicht unwürdiger Gegenstand ist." Damit sind wiederum religionsphilosophische Motive angesprochen, die an späterer Stelle noch ausführlicher zur Sprache kommen sollen. Im Grunde sind also entsprechend zu der vorhin schon angeführten Unterscheidung zwischen "praktischem Endzweck" und dem darüber hinausreichenden "Endzweck der Schöpfung" als dem "Ideal der Weltvollkommenheit" (III 647) nimmehr zwei "objektive Zwecke" — d. i. solche, "die man haben soll" — zu unterscheiden, die beide freilich je auf ihre Weise "von der bloßen [!] Vernunft" als solcher "aufgegeben" sind (IV 653) — und zwar in dem bestimmten Sinn, als der "Endzweck der Schöpfung" ohne den ersteren (jedenfalls ohne unerlaubte Verkürzung) eben gar nicht zu denken ist. Der gemäß dem "obersten Prinzip der Tugendlehre" konzipierte "moralische Endzweck" ist als "praktischer Endzweck" zwar durchaus "Zweck an sich selbst", steht aber dennoch im weiteren noch einmal in dem umgreifenderen Horizont des als Idee des "Endzwecks der Schöpfung" letztumfassend entworfenen "Zwecks an sich selbst", d. i. dem "das Ganze aller Zwecke unter einem Prinzip befassenden Endzweck". (VI 132 Anm.) Genau dies erweist sich sodann auch als Kernthema, als eigentlicher und letzter "Gegenstand der moralischen Teleologie" (III 647)30, welcher allein in dieser Weise seinen umfassenden Stellen-

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Dahingehend wäre der richtige Hinweis Trendelenburgs noch zu präzisieren, der moralische Beweis Kants gründe "auf einer teleologischen Weltansicht. Seine Basis ist der Zweck; aber nicht wie er in der Natur herrscht", sondern wie er "im Ethischen . . . gegeben* sei. (Zit. n. M. Albrecht, Kants Antinomie . . . 149) - Entsprechend der Unterscheidung zwischen dem "praktischen Endzweck" und dem umfassenden "Endzweck der Schöpfung" scheint diejenige zwischen "reine(r) praktische(r) Teleologie, d.i. eine(r) Moral" (die "ihre Zwecke in der Welt wirklich zu machen bestimmt ist": V168) und der im engeren Sinne so bezeichneten "moralischen Teleologie", notwendig zu sein: letztere

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Kants Postulatenlehre und erweiterte Ethikotheologie

wert gewinnt, weil doch ohne diesen notwendigen Bezug zur Tugendlehre weder das "Vornehmste in diesem Endzweck" noch auch das "Ideal der Weltvollkommenheit" zureichend zu bestimmen ist. Wenn mit dem "Vornehmsten in diesem Endzweck" allein erst "die menschliche Vernunft wahrhafte Kausalität zeigt, . . . wo Ideen wirkende Ursachen (der Handlungen und ihrer Gegenstände) werden" (Π 324), dann entspricht notwendigerweise ausschließlich ihr allein das "praktische Fürwahrhalten" im Unterschied zu allen anderen Weisen des "Glaubens". Nur dieser darf somit als jener "Vernunftglaube" gelten, der so erst aus der in dem angeführten Sinn verstandenen "praktischen Erweiterung der Vernunft" erwächst. Folglich ist auch nur so die "Art des Fürwahrhaltens durch einen praktischen Glauben" (V 597) angemessen zu bestimmen. Daß nun dieser Glaube für Kant als "freies Fürwahrhalten", als ein "Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft" (IV 276), nicht als eine Pflicht zu behaupten ist, dies bedeutet Kant zufolge allerdings keinesfalls, daß dieser Glaube in seiner Verbindlichkeit nicht als eine notwendige Konsequenz dieses Begründungszusammenhanges anzusehen wäre: denn "konsequent zu denken" implizierte für Kant vielmehr zweifellos diesen unauflöslichen Bezug zum praktischen Vernunftglauben, wäre doch andernfalls auch die Verbindlichkeit eines "praktisch notwendigen Zwecks des reinen Vernunftwillens" (IV 277) ein für alle mal verspielt.31 Gleichwohl bleibt zu beachten, daß in der Folge der praktischen Wirklichkeit des "Ideals" und deren Konstitution des Gottesbegriffs dieses "Fürwahrhalten" des "praktischen Glaubens" (gegründet somit in der praktischen "Setzung") sich nicht dem Grade nach, sondern eben der Art nach vom theoretischen Fürwahrhalten und dessen "Gewißheit" unterscheidet: ein Wesen, das gar "nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln kann" und "eben darum in praktischer Rücksicht wirklich frei" ist (IV 83)32, kann — so scheint Kant hier doch zu argumentieren ~ ohne Selbstwiderspruch der Vernunft und ihrer Intention doch nur in Anerkennimg der Idee Gottes als der

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nämlich zielt auf "das Prinzip der Beziehung der Welt, wegen der moralischen Zweckbestimmung gewisser Wesen in derselben, auf eine oberste Ursache, als Gottheit".(V 570) So steht in ihr also das "Verhältnis dieses alle unsere Erkenntnisvermögen übersteigenden Wesens zum Objekte unserer praktischen Vernunft" in Frage. (V 585 f) Ganz ausdrücklich ist das Postulat Gottes in einem notwendigen (unbedingten) Bedürfnis der Vernunft begründet. (Ζ. B. III 270 f) Insbesondere mit Blick auf die hier im dritten Teil versuchte Interpretation der Postulatenlehre verdient Kants gelegentlicher Hinweis genaue Beachtung, daß die auf dem "praktischen Vernunftgebrauch" beruhende "Idee von einem höchsten Wesen" "in uns apriori zum Grunde liege". (V 562) "Der Mensch handelt nach der Idee von einer Freiheit, als ob er frei wäre, und eo ipso ist er frei." (Vorlesung über die philosophische Religionslehre 121, zit. n. R. Eisler. Kant-Lexikon 169) Das notwendige Handeln nach der Idee der Freiheit ist in praktischer Rücksicht die Wirklichkeit dieser Freiheit selbst.

Praktischer Endzweck und Endzweck der Schöpfung

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Bedingung der Möglichkeit moralisch-sinnvollen Handelns leben, zumal es diese Implikationen in der "praktischen Wirklichkeit" immer schon — gleichsam "unerkannt anerkannt" ~ mitbejaht hätte und folglich ihre theoretisch- reflexive Leugnung einer "konsequenten Denkungsart" widersprechen müßte. (S. u. 310ff.) Noch einmal anders gesagt: so wie moralisches Handeln nur unter der Voraussetzung der Idee der Freiheit möglich ist (die Idee der Freiheit darin also "konstitutive" Bedeutung erlangt), so wäre davon ausgehend das "als ob" Gottes als die voraus-gesetzte Einheit und Affinität von Natur und Freiheit auszuweisen. Diese von Kant so vermittelte "Hoffnung der endlichen Gelingung aller unserer guten Zwecke" (IV 859) wäre ohnedem gar nicht als rational auszuweisen. Besagt dies aber nicht mehr als der von Kant freilich ebenfalls eingeräumte Sachverhalt, ohne diese grundlegende "Annehmung Gottes" keinen befriedigenden, d. h. verständlichen Grund für Dasein, "Zweckmäßigkeit und Ordnung" der Welt angeben zu können? (S. III 273) Für die Idee Gottes (als Postulat) müßte sonach,in dieser Hinsicht wenigstens, gar nichts anderes Gültigkeit haben als dasjenige, was Kant für die "Idee der Freiheit" als unabdingbar notwendige Forderung aussprach: daß die "Idee der Freiheit nur als notwendige Voraussetzung der Vernunft in einem Wesen gilt, das sich eines vernünftigen Willens bewußt ist, d. i. eines Vermögens, sich zum Handeln nach Gesetzen zu bestimmen."33 Sogleich wird sich zeigen, daß die im Kontext der "Naturzweck"-Thematik und der Bestimmimg des Naturzusammenhanges als eines "Systems der Zwecke" vorgestellte Vernunftperspektive, "daß also die Teleologie keine Vollendung des Aufschlusses für ihre Nachforschungen, als in einer Theologie, findet" (V 514), nun im Rahmen der Ethik als dem "System der Zwecke" nicht nur in analogem Sinne aufgenommen ist, sondern überdies hier noch eine ganz spezifische Zuschärfung erfährt. Folgt man Kants begrifflicher Bestimmung der eigentlichen Ethik als "Tugendlehre", die als solche nun "noch eine Materie (einen Gegenstand der freien Willkür), einen Zweck der reinen Vernunf, der zugleich als objektiv- notwendiger Zweck, d. i. für den Menschen als Pflicht vorgestellt wird, an die Hand" gibt (IV 509) — Ethik ist nach Kant präzis bestimmt als "das System der Zwecke der reinen praktischen Vernunft" (IV 510)34 —, so ergibt sich bei Beachtung des entwickelten Begründungszusammenhanges als Folge, daß der von Kant so häufig gebrauchte (zum "terminus technicus" gewordene) Begriff "Ethikotheologie" also ausschließlich auf die modifiziert-erweiterte Postu-

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H. J. Paton, Der kategorische Imperativ... 344. Es ist angemessen, wenn G. Krüger die Notwendigkeit der "kritischen Begründung der Ethik" im Aufweis dessen erkennen will, "welche Stellung er [der Mensch] demnach in der Schöpfung einnimmt."(Philosophie und Moral . . . 58) Diese Ethik steht so eben in untrennbarem Bezug zum "Weltbegriff der Philosophie", ja ist im Grunde selbst nur dessen systematische Explikation.

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latenlehre zu beziehen und auch in dieser Art in einem strengen (präzisen) Sinne allein aufrechtzuerhalten ist. Wenn Kant in seiner Vorstellung "der Idee und der Notwendigkeit einer Metaphysik der Sitten" (IV 319 ff.) von der philosophischen Idee eines "Systems der Freiheit" zu berichten weiß, so gewinnt dies in dem hier beschäftigenden Problemkontext noch einen ganz spezifischen Stellenwert. Überdies: Kants -- freilich im Rahmen seiner Klärung des "Begriffs einer objektiven Zweckmäßigkeit der Natur" (V 513 f.) vorgetragene -- These, "daß also die Teleologie keine Vollendung des Aufschlusses für ihre Nachforschungen, als in einer Theologie, findet", erweist sich somit offenbar, ganz im Sinne der vorgeschlagenen Interpretation der "moralischen Teleologie" und deren absoluten "praktischen Prinzipien", gerade mit Blick auf die nunmehr wesentlich umfänglicher konzipierte "Ethikotheologie" als ganz besonders bedeutsam. Was Kant zuvor allerdings schon von einer Physikotheologie zu sagen wußte: deren zentraler Begriff einer "alle mögliche Vollkommenheit" in sich vereinigenden "einigen Substanz" sei "selbst der Erweiterung des Vernunftgebrauchs mitten in der Erfahrung, durch die Leitung, welche eine solche Idee auf Ordnung und Zweckmäßigkeit gibt, zuträglich" und sei überdies "nirgend aber einer Erfahrung auf entscheidende Art zuwider" (II 550) ~ dieser Gedanke wäre nun ohne weiteres auf das erweiterte Feld der "moralischen Teleologie" auszudehnen und eröffnete so zugleich eine neue Perspektive der "Ethikotheologie". Ihr fällt damit erst die Aufgabe zu, den "praktisch-moralischen Endzweck" des Menschen mit der Idee des "Endzwecks der Schöpfung" zu vermitteln. (S. bes. V 580 ff.)35

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Es ist hier nicht der allerdings recht interessanten Frage nachzugehen, ob nicht zuletzt auch noch der junge Hegel motivliche Zusammenhänge von ganz ähnlicher Art vor Augen hat, so wenn er beispielsweise in einem Brief an Schelling (aus dem Jahr 1795) das Problem anspricht, ob und wie weit wir "nach Befestigung des moralischen Glaubens die legitimierte Idee von Gott jetzt rückwärts brauchen, z. B. in Erklärung der Zweckbeziehung usw., sie von der Ethikotheologie her jetzt zur Physikotheologie mitnehmen und da jetzt mit ihr walten."(Briefe von und an Hegel 1.17, zit. n. W. Jaeschke, Die Vernunft in der Religion . . . 97.) Kants Idee der Einheit von "physischer und moralischer Teleologie" scheint doch hier von Hegel aufgegriffen worden zu sein. - Auf diesen Sachverhalt hat mit Recht K. Düsing in einem Diskussionsbeitrag hingewiesen, macht er doch auf Hegels Bemerkung aufmerksam, "man habe zu erörtern, wie die Welt für ein moralisches Wesen bestimmt sein müsse, und man müsse von der Ethikotheologie zur Physikotheologie zurückgehen, um zu zeigen, wie die Zweckmäßigkeit der Natur von einem moralische Zwecke setzenden Wesen in der Welt aus begründbar ist."(Natur und Subjektivität. Zur Auseinandersetzung mit der Naturphilosophie des jungen Schelling. Referate, Voten und Protokolle der II. Internat. Schelling-Tagung Zürich 1983. Stuttgart-Bad Canstatt 1985,229.)- In seinem Aufsatz "Die Rezeption der kantischen Postulatenlehre in den frühen philosophischen Entwürfen Schellings und Hegels" (S.77) versucht Düsing das durch die kantische Perspektive motivierte Ansinnen des jungen Hegel so zu erläutern: "Der moralische Glaube an Gott wendet sich zurück zur Natur und Welt

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Die im Felde der theoretisch-spekulativen Vernunft formulierte Grund-Idee eines "einigen weisen und allgewaltigen Welturhebers" als notwendiger "Grund einer solchen systematischen Einheit" (d. i. "die systematische und zweckmäßige Ordnung des Weltbaues") hat Kant bekanntlich sehr zurückhaltend und kritisch beurteilt: "Diese Idee ist also respektiv auf den Weltgebrauch unserer Vernunft ganz gegründet. Wollten wir ihr aber schlechthin objektive Gültigkeit erteilen, so würden wir vergessen, daß es lediglich ein Wesen in der Idee sei, das wir denken . . ." (Π 601 f.) Wie nun aber, wenn es doch um die Freiheit der praktischen Vernunft und ihren unabdingbaren Endzweck zu tun ist, die ja nach Kant "ihre und ihrer Begriffe [!] Realität durch die Tat" erweisen soll (IV 107) und es darum keinesfalls lediglich ein "Wesen in der Idee" zu sein braucht, das wir bloß "denken" — wenn demnach also der "problematische Begriff" des Unbedingten durch das "apodiktische Gesetz der reinen praktischen Vernunft" eben seine Wirklichkeit "offenbart": fällt damit nicht, wiederum vor dem Hintergrund der hier leitenden Konzeption der modifizierten Postulatenlehre, auch ein neues und erhellendes Licht auf die "zween Kardinalsätze unserer reinen Vernunft: es ist ein Gott, es ist ein künftiges Leben" (II 633) - also auf jene "zwei großen Zwecke, worauf diese ganze Bestrebung der reinen Vernunft eigentlich gerichtet war"? (II 677) Es widerspräche nach Kant wohl notwendig auch der Thematik der Unbedingtheit dieser Idee des "Endzwecks", wollte man die Gottesfrage lediglich in dem verengenden "kosmotheologischen" Horizont (den "physikotheologischen" Weg eingeschlossen) formulieren: dies bedeutete nämlich auch nach Kant unweigerlich, diese Gottesthematik im Grunde darauf zu reduzieren. Auch wäre es mit der Unbedingtheit des ~ jetzt aber ausschließlich über die maßgebenden Prinzipien der eigentlichen Tugendlehre vermittelbaren — praktischen Endzwecks unvereinbar, wollte man die Idee des "Endzweckes der Schöpfung" ohne den ersteren (als dem doch "Vornehmsten in diesem Endzweck": III 647) formulieren, gilt doch gewiß auch hier, daß der "Idee des Endzweckes der Schöpfung" ~ er ist freilich der "letzte und vollständige Zweck" (IV 250) —

als dem Wirkungsfeld der menschlichen Freiheit, in dem der praktisch geforderte Endzweck möglich sein muß, in dem also im allgemeinen die zweckmäßigen Voraussetzungen für eine Verwirklichung des Endzwecks angenommen werden müssen.* - Hegels Ansicht läßt sich vielleicht auch mit I. Schüßler so formulieren: "Denn in einer zuletzt praktisch gegründeten Metaphysik, die in der Realisierbarkeit der menschlich-endlichen Freiheit als des praktischen Endzwecks ihren Dreh- und Angelpunkt hat, scheint die Naturteleologie zunächst die dieser angemessene Verfassung der Natur, d. h. deren Geschaffensein durch einen göttlichen Weltgrund für sich allein schon hinreichend zu bezeugen."(Der Wahrheitscharakter der Metaphysik . . . 65) - Nach Kant ist es die im "Endzweck der Schöpfung" vorgestellte Gottesidee, die so selbst erst die Idee des Schöpfer-Gottes als "Urquell" - und damit "Weisheit"! - bestimmen - und rechtfertigen läßt: vom "Herrn der Gnaden" zum "Herrn des Seins"!

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Kants Postulatenlehre und erweiterte Ethikotheologie

ausschließlich in dieser so verstandenen erweiterten "praktisch-dogmatischen Rücksicht . . . hinreichende objektive Realität" (ΙΠ 632) zugesichert werden kann. Wenn aber "menschliche Weisheit" nach Kant erst "in der Zusammenstimmung des Willens eines Wesens zum Endzweck" besteht, dann ist freilich dieser gemäß dem "obersten Prinzip der Tugendlehre" entworfene "praktische Endzweck" seinerseits notwendige Voraussetzung für eine zureichend ausgewiesene Idee des "umfassenden Endzwecks". Diese Überlegungen wollten so auch einsichtig machen, daß Kants Postulatenlehre auch nicht einmal lediglich als Antwort auf die Frage zu lesen ist: "Unter welchen Bedingungen hat die Existenz des Menschen und der Welt einen Sinn?"36; diese erlaubte selbst noch ~ darüber hinausgehend ~ eine Präzisierung, sowohl was die Frage wie auch die darauf sodann zu gebende neue Antwort betrifft. Es hat sich gezeigt, daß dieses das "Dasein Gottes" betreffende Postulat als "theoretischer, als solcher aber unerweislicher Satz, sofern dieser mit unserem praktischen Vernunftgebrauch unzertrennlich zusammenhängt" (IV 252), mit dem im Sinne des "obersten Prinzips der Tugendlehre" verstandenen, als "Pflicht aufgegebenen Endzweck" vereint, ein wesentlich umgreifenderes (tieferes) Verständnis der Postulatenlehre in Aussicht stellt. Denn diese so zutage tretende Wirklichkeit "wahrer Autonomie", d. i. erst die dem Anspruch der Tugendpflicht angemessene "moralische Freiheit" und die ihr gemäßen "Gesetze der Freiheit" sind es nun, die damit den eigentlichen Angelpunkt der kantischen Postulatenlehre darstellen und so der vorhin angeführten Frage Krings' noch einen spezifischeren Sinn verleihen. Nim gilt jedoch für jene an diesen "Urbildern praktischer Vollkommenheit" orientierte und qualifizierte "praktische Intentionalität" und den für sie konstitutiven Zweck-Bezug natürlich in eminenter Weise, daß man dies nicht "zu bewirken hoffen" kann, "als nur durch die Übereinstimmung meines Willens mit dem eines heiligen und gütigen Welturhebers." (IV 261) Dies war doch der schon vorgetragene Gedanke Kants, daß die höchste praktische Weisheit des Menschen noch einmal der Übereinstimmung mit den "Zwecken" einer "höchsten selbständigen Weisheit" (IV 262) anheimzustellen bzw. auch von dieser abhängig ist. Die unbedingte "Hoffnung der endlichen Gelingung aller unserer guten Zwecke" (IV 859) ist ohne den gemäß der revolutionierten Denkungsart neu bestimmten Gehalt des "höchsten Guts" (sowohl als "abgeleitetes" wie auch als "ursprüngliches") nicht zu verstehen.37

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H. Krings, Vom Sinn der Metaphysik oder über den Unterschied zwischen Ursache und Bedingung 107 . In: ZphF 91 (1985) Jaeschkes Einwand ist damit gegenstandslos: "Doch ist diese Hoffnung mit der Erwartung der eigenen Glückseligkeit verknüpft - und deren Einwirken auf die reine Achtung ist schwerlich auszuschlieBen, zumal die Glückseligkeit unser unmittelbarer und natürlicher Zweck ist."(W. Jaeschke, Die Vernunft in der Religion . . . 84) Mit einigem Recht kann

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Erst die solcherart unverkennbar erweiterte Perspektive erlaubt es, von dem "Bedürfnis" des durch reine Vernunft entworfenen und durch sie aufgegebenen, eben das "Ganze aller Zwecke unter einem Prinzip befassenden Endzwecks" zu sprechen ~ und zwar einem solchen "des sich noch über die Beobachtung der formalen Gesetze zur Hervorbringung eines Objekts (das höchste Gut) erweiternden uneigennützigen Willens". (VI 132) Auch wenn das moralische Gesetz als alleiniger Bestimmungsgrund des "obersten Prinzips der Moral" unangetastet bleibt (d. i. "auch keine 'Materie' der Pflicht vor der Form der Gesetzlichkeit vorher" geht, wo doch das "moralische Gesetz" nun "apriori und unmittelbar dem Willen Grund" ist und so "diesem gemäß allererst den Gegenstand bestimmte": IV 182), so ist doch Kants Versuch zu beachten (ohne damit in pure Heteronomie zurückzufallen), die praktische Vernunft als "Vermögen der Zwecke", und auch das "höchste Gut als Objekt der reinen praktischen Vernunft" wie auch als deren Endzweck zu bestimmen. Damit mag nun auch die Art und Weise verständlich erscheinen, in der Kant in den einschlägigen Ausführungen seiner dritten Kritik das Verhältnis zwischen dem "moralischen Gesetz" und dem "Zweck" charakterisieren möchte: für den Rang des Menschen als "absolutem Endzweck der Schöpfung" hat es sich als schlechthin entscheidend erwiesen, daß ohne diesen letzteren das "Dasein der Welt gar keinen Wert haben" könnte, "weil in ihr kein Wesen existierte, das von einem Wert den mindesten Begriff hat. Wären dagegen auch vernünftige Wesen, deren Vernunft aber den Wert des Daseins der Dinge nur im Verhältnisse der Natur zu ihnen (ihrem Wohlbefinden) zu setzen, nicht aber sich einen solchen ursprünglich (in der Freiheit) selbst zu verschaffen imstande wäre: so wären zwar (relative) Zwecke in der Welt, aber kein (absoluter) Endzweck, weil das Dasein solcher vernünftiger Wesen doch immer zwecklos sein würde." Und dann heißt es in doch recht aufschlußreicher Weise weiter: "Die moralischen Gesetze [!] aber sind von der eigentümlichen Beschaffenheit, daß sie etwas als Zweck [!] ohne Bedingung, mithin gerade so, wie der Begriff eines Endzwecks es bedarf, für die Vernunft vorschreiben: und die Existenz einer solchen Vernunft, die in der Zweckbeziehung ihrer selbst das oberste Gesetz sein kann, mit anderen Worten die Existenz vernünftiger Wesen unter moralischen Gesetzen, kann also allein als Endzweck vom Dasein einer Welt gedacht werden. Ist dagegen dieses nicht so bewandt, so liegt dem

also Brugger darauf hinweisen: "Die wahre Glückseligkeit ist demnach das Gesamtgut des vernünftigen Wesens, sofern es ein vernünftiges Wesen ist. Damit aber erweist sich die wahre Glückseligkeit als wesentlich durch die Sittlichkeit bedingt. Sie ist zwar nicht Sittlichkeit, aber sie enthält sie als ihr inneres Wesensgesetz. Es besteht demnach ein apriori notwendiger Zusammenhang zwischen Glückseligkeit und Sittlichkeit wenigstens in der Art, daß wahre Glückseligkeit nicht ohne Sittlichkeit möglich ist." (W. Brugger, Kant und das höchste Gut 54)

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Kants Postulatenlehre und erweiterte Ethikotheologie

Dasein derselben entweder gar kein Zweck in der Ursache, oder es liegen ihm Zwecke ohne Endzweck zum Grunde." (V 575) Die "Vorschrift" [!] eines unbedingten Zwecks ist es diesem Passus zufolge also, die letztendlich die Stellung des Menschen als "absoluten Endzweck" überhaupt erst begründet -also weder das bloße Vermögen der Willkür, "sich willkürlich Zwecke zu setzen", noch die Bescheidung bei der Erfüllung der "strengen Pflicht" (die von allem Zweckbezug doch bekanntlich eben absehen soll) vermag dieser geforderten Unbedingtheit zu genügen. Das "moralische Gesetz" ist und bleibt "formale Vernunftbedingung des Gebrauchs unserer Freiheit, verbindet [so] für sich allein, ohne von irgend einem Zwecke, als materialer Bedingung [!], abzuhängen; aber es bestimmt uns doch auch, und zwar apriori [!] einen Endzweck, welchem nachzustreben es uns verbindlich macht, und dieser ist das höchste durch Freiheit mögliche Gut in der Welt. Die subjektive Bedingung, unter welcher der Mensch (und nach allen unseren Begriffen auch jedes vernünftige Wesen) sich, unter dem obigen Gesetze, einen Endzweck setzen kann, ist die Glückseligkeit. Folglich das höchste in der Welt mögliche, und, so viel an uns ist, als Endzweck zu befördernde, physische Gut ist Glückseligkeit: unter der objektiven Bedingung der Einstimmung des Menschen mit dem Gesetze der Sittlichkeit, als der Würdigkeit glücklich zu sein." (V 576 f.)

1.3. Zu Kants Bestimmung des "Postulates" und die entsprechende Konzeption des "praktischen Glaubens". Es lohnt sich, in diesem Zusammenhang auch daran zu erinnern, in welcher Weise Kant den Terminus "Postulat" in der ersten "Kritik" einführt — nämlich als "Prinzipium der Modalität" (II 261): "Nim heißt ein Postulat in der Mathematik der praktische Satz, der nichts mehr als die Synthesis enthält, wodurch wir einen Gegenstand uns zuerst geben, und dessen Begriff erzeugen . . . und ein dergleichen Satz kann darum nicht bewiesen werden, weil das Verfahren, was er fordert, gerade das ist, wodurch wir den Begriff . . . zuerst erzeugen." (II 262 f.) Eben dies nun: daß "das Verfahren", welches der Satz "fordert, gerade das ist, wodurch wir den Begriff. . . zuerst erzeugen", scheint doch ganz besonders eindringlich auch darauf zu verweisen, daß die "praktische Wirklichkeit" selbst es erst ist, die als solche den Begriff Gottes als den eines "lebendigen Gottes" erst "erzeugt" (und in diesem Sinne konstitutiv ist) - d. h. aber: den Begriff Gottes auch "von dem Urgründe der Zwecke in der Natur, bis zum Begriff einer Gottheit" ergänzt. (V 562) Dies meinte wohl auch Kants Hinweis, der "Begriff von Gott" sei ursprünglich nicht ein Begriff der "Physik", sondern ein "zur Moral gehöriger Begriff1. (IV 271 f.) Es ist die "praktische Wirklichkeit" selbst, die in diesem Sinne die Wirklichkeit Gottes "setzt", demgegenüber das Postulat Gottes als "theoretische Position" "erst" die

"Postulat" und "praktischer Glaube"

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reQexiv-nachträgliche, weil schon objektivierend-sprachliche Explikation des in dieser Setzung der "praktischen Wirklichkeit" implizit "Mit-gesetzten"38 ist. Wünschenswert klar verdeutlicht dies auch ein wenig bemerkter Passus aus Kants Logik, der auch für den von Kant eingeräumten Status des "praktischen Glaubens" recht aufschlußreich ist: "Man kann keiner theoretischen Idee objektive Realität verschaffen oder dieselbe beweisen, als nur der Idee von der Freiheit; und zwar, weil diese die Bedingung des moralischen Gesetzes ist, dessen Realität ein Axiom [!] ist. -- Die Realität der Idee von Gott kann nur durch diese und also nur in praktischer Absicht, d. i. so zu handeln, als ob ein Gott sei, — also nur für diese Absicht bewiesen werden." (III 523) Erst dieser Grund-satz der praktischen Wirklichkeit der (positiven) Freiheit und ihr Objekt ist Ausgang der Vermittlung des Gottesgedankens. Das in dem Postulat des "Daseins Gottes" gedachte (als "höchstes Gut" freilich schon näher "symbolisch" bestimmte und dargestellte, s. dazu u. 374 ff.) Absolute des (praktischen) Vernunftgebrauchs verdankt sich der reflexiv-objektivierenden Ausgestaltung des "in actu" der praktischen Setzung und deren Intentionalität doch immer schon "antizipativ Mitgesetzten". Das "in actu" vollzogene ~ und eben in diesem Sinne vorausgesetzte ~ "Vertrauen in die Verheißungen des moralischen Gesetzes" erweist sich damit gewissermaßen als eine Weise eines "ursprünglich-praktischen Glaubens", der so in einem weiteren Gedankenschritt es erst ermöglicht, den reflexiv formulierten Gottesgedanken als die dann erst reflexiv einzuholende (wenn auch objektivierende) Implikation des Vertrauens dieses "ursprünglichen Glaubens" zu explizieren und im weiteren ~ genauer noch — sodann den Gottesbegriff als den "terminus ad quem" solchen Glaubens zu formulieren. Erst die reflexiv-objektivierende Explikation des implizit (vorgängig) "immer schon" Mitgesetzten (Mitbejahten, Mit-postulierten, s. u. 313 ff) erklärt so auch die mögliche und notwendige Aufnahme des "theoretischen Vernunftideals" in diesem so formulierbaren notwendigen Gottes-

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"Die Postulate sind zwar theoretische Bestimmungen, aber sie entsprechen der Postulation, in der sich die reine Vernunft als ein Verlangen nach Totalität konstituiert." (P. Ricoeur, Die Freiheit im Lichte . . . 218) Es bezeichnet so "die 'hypothetische' Verfassung der existentiellen Überzeugung, die im Verlangen nach Vollendung, nach Totalität die praktische Vernunft in ihrer wesentlichen Reinheit konstituiert." (ebd.) - Vielleicht noch angemessener bestimmt diesen Zusammenhang Kaulbach: "Auf ihrer Reflexionsstufe macht philosophische Vernunft die vom handelnden BewuBtsein gebrauchten sinngebenden Weltperspektiven bewuBt und bringt sie auf die Sprache von 'Kardinalsätzen' der Philosophie, von 'Postulated wie dem des höchsten Gutes. Diesen ist GlaubensgewiBheit zu eigen, die in der Philosophie ein wissenschaftliches Selbstbewufitsein hat." (F. Kaulbach, Kants Auffassung von der Wissenschaftlichkeit . . . 13) - Zu der folgenden Charakterisierung der Wirklichkeit dieses "praktischen Glaubens" s. wiederum I. Schüßler, Der Wahrheitscharakter . . . 80 ff. (Zu Kants Religionsphilosophie s. auch die wichtige Studie v. A. W. Wood, Kants Moral Religion.)

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gedanken und führt damit erst zu der berühmten Stellungnahme Kants betreffend den Status der Hoffnungsfrage, welche nun aber -- eben diesem hier vorgeschlagenen Interpretationsversuch zufolge -- in ihrem genauen Wortlaut beachtet zu werden verdient: "Die dritte Frage: nämlich: wenn ich tue, was ich soll, was darf ich alsdenn hoffen? ist praktisch und theoretisch zugleich [!], so, daß das Praktische nur als ein Leitfaden zu Beantwortung der theoretischen, lind wenn diese hoch geht, spekulativen Frage führt. Denn alles Hoffen geht auf Glückseligkeit, und ist in Absicht auf das Praktische und das Sittengesetz eben dasselbe, was das Wissen und das Naturgesetz in Ansehung der theoretischen Erkenntnis der Dinge ist. Jenes läuft zuletzt auf den Schluß hinaus, daß etwas sei (was den letzten möglichen Zweck bestimmt [!]), weil etwas geschehen soll". (II Ó77)39 Diese Kennzeichnung der Hoffnungsfrage als "praktisch und theoretisch zugleich" verdient doch auch schon deshalb Interesse, weil darin "Praxis und Theorie" bei Kant unverkennbar in eigentümlicher Weise in bestimmter Einheit aufeinander bezogen bleiben, zumal doch dem allein auf spekulativem Weg gewonnenen Begriff des Absoluten als dem "transzendentalen Ideal" nun auch für Kants "Vernunftglauben" in ganz bestimmter Weise seine Bedeutung erhalten bleibt ~ und zwar schon deshalb, weil und insofern dieser "praktische

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Es ist in der Folge also nur bedingt richtig (und jedenfalls vereinfachend), wenn G. Krüger in Abhebung von der mathematischen Konzeption des Postulates zu bedenken geben möchte: "In der praktischen Philosophie wird der Begriff des Postulates dagegen modifiziert: die menschliche Vernunft erheischt hier die Möglichkeit eines Gegenstandes, nicht die einer Handlung (diese erheischt das Gesetz); gerade der Gegenstand ist hier das, was man voraussetzen soll, und apodiktisch gewiß ist nicht er, auch nicht die Handlung, die vom theoretischen Zweifel gehemmt wird, sondern das Gesetz."(Philosophie und Moral. . . 200) - Man mag auch gegen die in diesem dritten Teil des vorliegenden Buches versuchte Interpretation der Postulatenlehre einwenden, daB sie die von Kant ausdrücklich vollzogene Unterscheidung zwischen dem "Postulate der reinen Mathematik" und dem "Postulate der reinen praktischen Vernunft" (und damit die Differenz zwischen der "Möglichkeit einer Handlung" und der "Möglichkeit eines Gegenstandes") ignoriere; dieser Einwand relativiert sich in sachlicher Hinsicht aber doch wohl auch insofern, als Kant in der späteren "Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie" (III 411 Anm.) diesen Unterschied ausdrücklich unberücksichtigt läBt, d.h. aber das "Postulat der moralisch- praktischen Vernunft" als "praktischen Imperativ* bestimmt: "Man postuliert also nicht Sachen, oder überhaupt das Dasein irgend eines Gegenstandes, sondern nur eine Maxime (Regel) der Handlung eines Subjekts." - Vgl. dazu besonders auch Schellings Charakterisierung des "Postulates", man hätte "auch nur aus dem von Kant gebrauchten Wort 'Postulat' . . . erkennen können, daB die Idee von Gott im Kriticismus überhaupt nicht als Objekt eines Fürwahrhaltens, sondern bloß als Objekt des Handelns aufgestellt werde."(Schelling, Ausgewählte Werke. Schriften v.17941798,168 Anm.) - Bemerkenswert ist es in diesem Zusammenhang wohl auch, wenn Kant in der späten Reflexion 8101 die Unsterblichkeit als "Glauben von zweitem Rang" bezeichnet!

"Postulat" und "praktischer Glaube"

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Glaube" in seiner ursprünglichen Intentionalität auf das höchste Gut als den "ganzen Gegenstand der praktischen Vernunft" ausgerichtet ist und auf deren immanenten, immer schon (und damit keinesfalls erst in einem "zweiten Schluß": V 583) mitbejahten Ermöglichungsgrund nun eben auch dieser theoretische Vernunftbegriff, als dessen theoretische Explikation sich dieser erweist, notwendig hinbezogen bleibt. Diese Hoffnungsfrage zielte so, als "theoretisch und praktisch zugleich", wesentlich auch auf die zu vermittelnde Einheit der Frage nach dem Praktisch-Unbedingten (der Freiheit) und dem Theoretisch- Unbedingten, vereinigte somit sowohl progressive wie auch regressive Vernunft-Synthesis und intendierte damit die vernunftnotwendig zu denkende Einheit von "Urquell" und "Endzweck" (III 636) — jene Idee des "umfassenden Endzwecks" also, von der sodann aber auch nicht mehr so ohne weiteres zu behaupten ist, sie sei "bloß ein Begriff unserer praktischen Vernunft". Die Idee eines "Endzwecks aller Dinge", der behauptete "besondere Beziehungspunkt der Vereinigung aller Zwecke", erweist sich als "vernunftnotwendig", weil dieser doch im Grunde gar nichts anderes als jene objektivierende, auf "Totalität" hinzielende Explikation dessen darstellt, was so "vorgängig" in aller unbedingtpraktischen Wirklichkeit (und damit dem "praktischen Endzweck") schon voraus-gesetzt ist, und so auch im reflexiv-objektivierenden (gott-setzenden) Bewußtsein gesetzt ist ~ als voraus-gesetzt. Der "ganze Gegenstand der reinen praktischen Vernunft", die "Idee des höchsten Guts" selbst, ist als der theoretisch explizierte und gemäß den regulativen Ideen der "Einheit" und "Totalität" entworfene Ursprungs- und Zielgrund alles Wirklichen aufzufassen - und nur so ließe sich auch (in Vermeidung von Mißverständnissen) von dem praktischen Glauben sagen, daß der "Handelnde dessen 'Gegenstand' [das höchste Gut] nur um seines eigenen Handeln-könnens willen entwerfen und annehmen muß."40 Zutage tritt damit die nach Kant aufgrund des metaphysischen Vernunftinteresses zu denkende Idee der Einheit von "physischer und moralischer" Teleologie und dieser so vernunftimmanent resultierende Gedanke des "metaphysischen Endzwecks". Damit wäre sodann auch der ausdrücklich von Kant selbst erhobenen Forderung zu entsprechen: "Der Begriff von Gott ist einmal da; man muß ihn aus dem Gebrauche genetisch entwickeln, indem man nicht den Sinn, den man damit wirklich verbindet, sondern die Absicht aufsucht, die bei allen diesen Begriffen zum Grunde liegt."41 Nur in diesem Sinne sind,

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F. Kaulbach, Objektwahrheit und Sinnwahrtieit... 134. Kant, Akademie-Ausgabe XXIII 473.- Für diese hier nun zu entfaltenden Problemzusammenhänge ist auch Kants Hinweis auf die "in der Geschichte der menschlichen Vernunft" sich gleichsam "läuternde" "Idee der Gottheit" - von dem "nur rohe(n) und umherschweifende(n) Begriffe von der Gottheit" bis zum "Ideal des höchsten Gutes" recht bedenkenswert: in Aufnahme einer Wendung Hegels ließe sich sagen, daß dem im

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wiederum in Abwehr vielleicht naheliegender Mißverständnisse, Kants Sätze zu interpretieren: "In praktischer Rücksicht aber machen [!] wir uns diese Gegenstände selbst, so wie wir die Idee derselben dem Endzwecke unserer reinen Vernunft behilflich zu sein urteilen, welcher Endzweck, weil er moralisch notwendig ist, dann freilich wohl die Täuschung bewirken kann, das, was in subjektiver Beziehung, nämlich für den Gebrauch der Freiheit des Menschen Realität hat, weil es in Handlungen, die dieser [der Freiheit] ihrem Gesetze gemäß sind, der Erfahrung dargelegt werden, fur Erkenntnis der Existenz des dieser Form gemäßen Objektes zu halten." (ΙΠ 638)42 Allein damit ist das "Annehmen in theoretischer Absicht" (ΠΙ639) zu begründen, darf dieses doch keinesfalls schon gelten als "ein Beweis von seinem [Gottes] Dasein schlechthin . . ., sondern nur in gewisser Rücksicht . . ., nämlich auf den Endzweck, den der moralische Mensch hat, und haben soll, bezogen, . . . wo dann der Mensch befugt ist, einer Idee, die er, moralischen Prinzipien gemäß, sich selbst macht, gleich als ob er sie von einem gegebenen Gegenstande hergenommen, auf seine Entschließungen Einfluß zu verstatten." (III 645)43 Kants These war bekanntlich die: "Ein jedes Wesen, das nicht anders

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jeweiligen freiheitlichen Selbstverständnis des Menschen sich manifestierenden "Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit" korrelativ ein "Fortschritt im BewuBtsein der Gottheit" bei Kant selbst, wenn auch in dem bloßen Rahmen der "reinen Vernunftreligion", entspricht - ein Gedanke, der bekanntlich für die nachkantische Entwicklung richtungsweisend geworden ist: "Eine größere Bearbeitung sittlicher Ideen, die durch das äußerst reine Sittengesetz unserer R